Ich mag mich irren - Felix Longolius - E-Book

Ich mag mich irren E-Book

Felix Longolius

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Beschreibung

Irgendwann verliert Felix Longolius den Sinn für die Realität. Die Irrtümer schleichen sich erst langsam in sein Leben, dann reißen sie ihn mit, und er gerät in einen Strudel von Vorstellungen, die mit seiner Außenwelt nicht mehr übereinstimmen. Er meint, telepathisch mit Geheimdiensten und Aliens zu kommunizieren, hält sich als Weltpolizei verantwortlich für Krieg und Frieden und fährt zum Flughafen, um dort seine Verlobte, die Prinzessin von Frankreich, abzuholen.

Seine Gedankenwelt bringt ihn schließlich in die Psychiatrie, Diagnose paranoide Schizophrenie. Über fünfzehn Jahre lebt Felix Longolius inzwischen mit der Krankheit, die sein Leben fast zerstört hat. Und die ihn trotzdem reizt, katapultiert sie ihn doch in unermessliche Höhen, auch wenn der Fall auf den Boden der Tatsachen unausweichlich ist. In seinem Buch gibt er faszinierende Einblicke in die Gedankenwelt eines Schizophrenen und lotet die Grenzen der Normalität aus.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumPrologMama, was passiert?Fall in den KaninchenbauAm Anfang war der HypertextEndstation Lübeck-Travemünde, StrandDas Märchen vom WeltpolizistenSchizophrenie, akutDer AbstimmungsapparatTelepathie: ungenügendAtombomben über HamburgHalbe KapselnStrebsamster Psychiatrie-Patient des JahresDie Geister waren nie fortTelepathischer GerichtsprozessHeurekaIch sehe drei OptionenProgrammieren, bis der Obermedizinalrat kommtSie können mich mal … ordentlich begutachtenAußerirdischeNeustartDas ManuskriptDer WeltfernsehsenderStrahlenkanonenSendeschlussEpilog

Über dieses Buch

Irgendwann verliert Felix Longolius den Sinn für die Realität. Die Irrtümer schleichen sich erst langsam in sein Leben, dann reißen sie ihn mit, und er gerät in einen Strudel von Vorstellungen, die mit seiner Außenwelt nicht mehr übereinstimmen. Er meint, telepathisch mit Geheimdiensten und Aliens zu kommunizieren, hält sich als Weltpolizei verantwortlich für Krieg und Frieden und fährt zum Flughafen, um dort seine Verlobte, die Prinzessin von Frankreich, abzuholen. Seine Gedankenwelt bringt ihn schließlich in die Psychiatrie, Diagnose paranoide Schizophrenie. Über fünfzehn Jahre lebt Felix Longolius inzwischen mit der Krankheit, die sein Leben fast zerstört hat. Und die ihn trotzdem reizt, katapultiert sie ihn doch in unermessliche Höhen, auch wenn der Fall auf den Boden der Tatsachen unausweichlich ist. In seinem Buch gibt er faszinierende Einblicke in die Gedankenwelt eines Schizophrenen und lotet die Grenzen der Normalität aus.

Über den Autor

Felix Longolius, Jahrgang 1980, studierte Journalismus, jobbte später in der EDV-Abteilung eines Verlags und stünde heute woanders, wäre er nicht mit 22 Jahren an Schizophrenie erkrankt. Er lebt in Hamburg. Charlotte Krüger studierte Philosophie und Politik und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

FELIX LONGOLIUS

CHARLOTTE KRÜGER

Mein Leben zwischenWahn und Wirklichkeit

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Christof Blome, Hamburg

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Einband-/Umschlagmotiv: © FinePic/shutterstock

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-4942-9

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Prolog

Der Weltfrieden ist nur eine Fantasie entfernt. Aber der Weg von der Fantasie in die Welt ist weit.

Sie waren hinter mir her, doch sie wussten gar nicht, mit wem sie es zu tun hatten. Mit einem kleinen Rucksack und zwei Umhängetaschen hatte ich mich 2010, nach der richterlichen Anordnung einer gesetzlichen Betreuung, von meiner Heimatstadt Hamburg aus auf die Flucht begeben – und auf Weltreise. Ich floh vor den Behörden und den drohenden Zwangsmaßnahmen.

Zuvor hatte ich einiges versucht, um gegen das Betreuungsverfahren anzugehen. Einen Anwalt aufzusuchen, hielt ich allerdings für ein Unding. Schließlich sollte man, so redete ich mir ein, in Deutschland keinen Anwalt brauchen, um eine nicht gewollte Betreuung abzuwenden. Ich will mich nicht aufregen, aber für mich war es bald eindeutig, dass dies eine Kette von Fehlentscheidungen war und keine der beteiligten Instanzen die jeweils anderen belasten wollte. Es war wie bei einer Verschwörung. Aber ich will mich nicht aufregen.

Damals hoffte ich, das würde alles bald hinter mir liegen, wenn ich erst beim Bundesgerichtshof gegen die Behörden gewonnen hätte. Dann würde ich rehabilitiert und für die Strapazen entschädigt, die mir entstanden waren, weil man mich für verrückt erklärt hatte. Mit dem Geld wollte ich die Weltreise finanzieren, denn Knöpfe werden, wie ich später feststellen sollte, momentan nicht als Zahlungsmittel akzeptiert. Verdient hatte ich mir die Reise durch mein erfolgreiches Engagement für den Weltfrieden ohnehin. Der Plan war also klar, rational und durchdacht.

Eine gewisse chaotische Ruhe umgab mich. Daraus schöpfte ich die Kraft, die ich für meine Flucht brauchte. Ich stopfte die unhandliche Kartusche meines Laserdruckers in mein überschaubares Gepäck. Mit ihr hatte ich Briefpapier und Umschläge von höchster Relevanz bedruckt. Einer ging nach Tokio, an das Hauptquartier von Canon. Ich besaß einen Scanner der Firma, zu dessen Lieferumfang auch ein Standfuß gehörte. Mit dem ließ sich meiner Meinung nach überhaupt nichts anfangen, und die Konzernleitung von Canon sollte sich überlegen, wie viel Müll man sparen könnte, wenn man das Plastikteil wegließe.

Ein anderer Umschlag ging nach Myanmar, an die erstbeste öffentliche Adresse, die ich auf den steinzeitlichen Webseiten der Regierung finden konnte: das Tourismusministerium. Darin steckten eine Goetheabhandlung aus der Feder meines Urgroßvaters, eine Karl-Marx-Briefmarke der Deutschen Bundespost und meine letzten drei Fünf-Euro-Scheine. Ich hatte diese Utensilien, insbesondere die westdeutsche Marx-Ehrung, mit Bedacht, aber doch auch sehr intuitiv zusammengestellt. Auf diese Weise wollte ich den Nachrichtendienst von Myanmar mit dem deutschen BND ins Gespräch bringen. Solche Fährten für Geheimdienste, Politiker oder auch Freunde legte ich häufig. Dabei war ich mir stets ganz sicher, dass sie meine Nachrichten schon richtig verstehen würden.

An Familie Obama schickte ich die komplizierten Unterlagen der Hamburg-Wahl, damit sich die Töchter – die mich im Übrigen für meine unglaublichen Taten sehr bewunderten – einen besseren Wahlmodus überlegten. Als Anschrift hatte ich den Bundesstaat Washington angegeben, obwohl die Hauptstadt Washington DC natürlich auf der anderen Seite der USA liegt. Den Umschlag einfach ans Weiße Haus zu adressieren, hielt ich für unnötig. Wenn ich richtiglag, hatte Barack Obama ein derartiges Interesse daran, von mir Post zu erhalten, dass sie auf jeden Fall ankommen würde.

Die Druckerkartusche war eine dieser billigeren Nachbauten, von denen immer nur die Hälfte funktioniert. Doch diese eine hatte wirklich gute Dienste geleistet, und ich war überzeugt, dass sie mit ihrer ganz eigenen Toner-Mischung aus der Nachfüllfabrik eine Art Fingerabdruck auf den bisherigen Briefen hinterlassen hatte. Auf der Reise und schließlich von »den Osterinseln« aus, dem Ziel meiner Flucht, wollte ich mit ihr Nachrichten in die Welt verschicken, die eindeutig von mir stammten. Der neu entstandene internationale Geheimdienst unter dem Dach der Vereinten Nationen würde diesen Toner-Fingerabdruck zuordnen können, da war ich mir sicher. Die UNO würde erkennen, dass der Brief mit dem Teilabschnitt eines Rätsels für Nachwuchs-Geheimdienstagenten (dessen Lösung übrigens war, dass Rassismus und Waffen doof sind), der ungefragt in Uganda in der Post eines Krankenhauses landete, mit dem gleichen Toner gedruckt war wie meine sagenhaften anderen Sendungen, deren Empfänger allesamt auf wundersame Weise zu Helden des Weltfriedens wurden. Ein passender Canon LBP 2900 ließe sich auf der Reise sicherlich auftreiben, denn den Laserdrucker konnte ich unmöglich auch noch mitschleppen.

Ein knappes Jahr lang schlug ich mich abseits der Konventionen durch. Ich war halb und ganz obdachlos und dabei immer bemüht, meinen Laptop und meine Webseiten einsatzbereit zu halten, als wäre ich Hacker im Auftrag des Herren. Beziehungsweise im Auftrag der Damen und Herren, und welche Geschlechter es bei den Außerirdischen noch geben mag. Zwischenzeitlich strandete ich auf dem Weg zum Bundesgerichtshof in einem Krankenhaus in Essen – sie wussten wohl wirklich nicht, mit wem sie es zu tun hatten –, aus dem ich jedoch auf unwahrscheinliche Weise nach sieben Wochen wieder entlassen wurde.

Leider endete meine Reise nicht wie geplant auf dem grün bewachsenen Vulkangestein der Osterinsel und damit auf der anderen Seite des Erdballs, sondern wieder auf dem quietschenden PVC-Boden einer Psychiatrie. Ich war wahrscheinlich nicht nur dünn, sondern abgemagert und besaß außer meinem Rucksack und den Umhängetaschen, den Unterlagen vom Betreuungsverfahren, meiner Druckerpatrone, zwei Tackern und allerlei weiteren Büroutensilien und meiner überbordenden Vorstellungskraft nicht mehr viel.

Später kam ich für insgesamt 21 Monate ins betreute Wohnen nach Hannover. Als mein Freund Simon Ende Januar 2013 mit seinem alten VW Polo extra kam, um mich zurück nach Hamburg zu holen, hatte sich mein Kram von den drei kleinen Taschen zu einer vollen Wagenladung vermehrt. Simons Idee, mein Klapprad den anderen Bewohnern des Hauses zu überlassen, hatte seine Berechtigung. Am Ende bekamen wir aber auch das noch ganz knapp ins Auto. Dann flogen wir scheppernd über die Autobahn, um den Einzugstermin mit dem Hausmeister meiner neuen, eigenen Bleibe nicht zu verpassen.

Mein erstes Facebookposting von dort, ein Foto, das mich lächelnd vor einer auf dem Boden liegenden Matratze in einer ansonsten gähnend leeren Wohnung zeigte, bekam vier Likes und ein halbes Dutzend Kommentare mit Willkommensgrüßen – keine schlechte Quote bei unter dreißig Kontakten und, wenn man gut dreißig Monate lang als weit von der Realität verrückt galt. In der geschlossenen Station der Psychiatrie hatte ich öfters die Hoffnung, sogar die konkrete Vorstellung, meine Freunde würden draußen vor dem Gebäude für meine Freilassung demonstrieren. Und es macht mich beim Erinnern eigentlich gerade wütend, dass sie es nicht taten. Andererseits: Ich habe zwar dauerhafte Freundschaften, davon jedoch wenige. Die Demonstration wäre also ohnehin klein ausgefallen. Zumindest am Anfang.

In einer psychotischen Phase schien mein Hirn Funktionen der Außenwelt übernommen zu haben: Es beantwortete sich viel zu viele Fragen selbst. Aus Einsamkeit, wegen traumatischen Zeiten in der Vergangenheit, weil es aktuell sehr schwierig war, die Drogen, warum auch immer. Ich dachte dann anders, oder Seltsames mehr, als die Leute um mich herum. Und für die anderen war ich dann scheinbar unerreichbar, sofern ich nicht gerade etwas von ihnen wollte. Wenn man lange gesponnen hat, dann kommt ein ziemlich großes Netz dabei heraus. Außenstehende haben den Eindruck, dass ich mich in diesem Netz verheddere, für mich ist es aber eher wie ein Trampolin, das mich in ungeheuerliche Höhen katapultiert. Man denke an die viel beschworene Nähe von Wahnsinn und Genie: Eine Psychose kann auch wahnsinnig interessant sein! Und zwar, wenn die Unabhängigkeit von der Realität Wunschvorstellungen in Erfüllung zu gehen lassen scheint. Auch deshalb kann es unerwartet schwer sein, davon loszukommen.

Jetzt, nach der Behandlung in der Psychiatrie, die über weite Strecken eher ein Verwahren gewesen war, wollte oder musste ich bereits zum zweiten Mal in meinem Leben neu beginnen.

Zunächst ging es gut damit voran, mir ein Leben in »Freiheit« aufzubauen. Die Flucht war vorbei, die weißen Kittel waren weit weg, und die Tür würde nur noch dann verschlossen sein, wenn ich selbst den Schlüssel drehte. Meine Höhle war 21 Quadratmeter groß und lag in einem Hochhaus. Aber immerhin, ein Anfang. Ich versuchte, mich in diesem »normalen« Leben einzurichten. Viel brauchte es dafür nicht, und meine Freunde halfen mir. Kumpel Ruby fuhr mit mir gleich nach dem Einzug zum Baumarkt, um Teppich zu besorgen. Mit Freundin Naomi kaufte ich Bretter und Winkel für ein Wandregal und einen Badezimmerschrank. Da uns für den Transport nur ihr Smart zur Verfügung stand, besteht das Regal jetzt aus mehreren kleinen Teilen. Aber es hält. Von meiner Freundin Mona bekam ich fürs Erste eine Herdplatte, die ich einige Wochen später durch einen richtigen Herd und insbesondere einen Backofen (für Lasagne) ersetzte. Irgendwann, nachdem ich mir lange Gedanken über die Konstruktion gemacht hatte, fuhr ich noch mit meinem Onkel Gert los, um Material für ein halbhohes Bett zu kaufen, unter dem es noch etwas Stauraum gab.

Mir war inzwischen klar geworden, dass die Leute, vor denen ich so lange geflohen war, vielleicht doch ganz gut wussten, mit wem sie es zu tun hatten. In gewisser Hinsicht – wenn auch bestimmt nicht in jeder – wussten sie es sogar besser als ich selbst. Mit dieser Erkenntnis nahm ich wieder Kontakt zu der psychiatrischen Tagesklinik auf, in der ich sechs Jahre lang bei einem Arzt in Behandlung gewesen war. Allerdings landete mein Spruch auf dem Anrufbeantworter offenbar im Nirgendwo, jedenfalls rief mich niemand zurück, was so frustrierend war, dass ich es nicht noch einmal versuchte. Zweieinhalb Jahre zuvor hatte ich den Kontakt zum Doc dort schlicht deshalb abgebrochen, weil er logischerweise nicht bestätigen konnte, dass die Stimmen, die ich wieder begonnen hatte zu hören, auf Telepathie zurückzuführen seien.

Nun meldete ich mich stattdessen in der Praxis eines niedergelassenen Psychiaters. Den hatte ich nach meiner allerersten Landung im Krankenhaus 2003 bereits einige Monate aufgesucht, bis er und mein damaliger Betreuer mich überzeugen konnten, in die Tagesklinik zu gehen. Jetzt konnte er jedoch beim besten Willen nicht so viel Zeit für mich freimachen, wie es in der Tagesklinik möglich gewesen wäre. Dort waren es luxuriöse dreißig Minuten im Monat – wenn es mir gut ging –, und dreißig Minuten pro Woche, wenn es mir schlechter ging. Zudem gab es die Option, in die tägliche Therapie aufgenommen zu werden. So ging ich bald auch zu einer offenen Psychose-Sprechstunde in die Höhle des Löwen, nämlich ins Universitätsklinikum Eppendorf (UKE), in dessen Einzugsgebiet ich nach all der Zeit wieder gelandet war. Obwohl ich während der fünf Monate auf der geschlossenen Station dort uneinsichtig gewesen war und alle juristischen Register gezogen hatte, durfte ich von jetzt ab regelmäßig, etwa ein Mal die Woche, mit einer Psychotherapeutin in Ausbildung sprechen.

Weil es jedoch einen gehörigen Restbedarf gab, herauszufinden, was eigentlich los gewesen war mit mir und der Welt – und mit der Welt und mir –, fing ich an, ein Buch zu schreiben. Denn das, was in den diversen Krankenakten über mich steht, ist schwer zu vereinbaren mit dem, wie ich mich und die Welt damals erlebt habe. Um eine Brücke zwischen beidem zu schlagen, stellte ich mir vor, mich Psychiatrie-Studenten als Unterrichtsgegenstand zur Verfügung zu stellen. In einem ausgedachten Hörsaal, kaum größer als ein Seminarraum, hielt ich Vorträge über meine Wahn-Erfahrungen und formulierte meine Gedanken über das Verhältnis von Wahn und Wirklichkeit. Ich schuf dieses Szenario auf der einen Seite, weil ich »meinen Fall« ganz klar für wert hielt, wissenschaftlich erforscht zu werden. Echte Studenten würden aus meinem Buch vieles lernen können. Vielleicht trügen sie ja sogar noch Neues zum Verständnis bei, mit wem man es in meinem Fall zu tun hatte. Auf der anderen Seite strukturierte die Idee mein Schreiben. Und schreiben wollte ich sowieso. Von einem literarischen Versuch nach meiner ersten Psychose – »Mr. T-Cup und der (große) Abstimmungsapparat«, von dem noch die Rede sein wird – hatte ich bereits etwas Übung und war dann auch ziemlich überzeugt, dass mir da gerade etwas gelingt.

Ich wollte all das aufschreiben, was ich erlebt hatte. Um es aufzubewahren, und vielleicht auch, um die Grenze zwischen der Realität und der Fantasie auszuloten. Mit dem Manuskript, dessen Abfassung vom Wahn unterbrochen wurde, feierte ich später angenehme Erfolge. Im Februar 2016 durfte ich die »Welt am Sonntag« mit dem Wissen kaufen, dass darin ein vierseitiger Artikel mit Ausschnitten meines Schreibens enthalten sein würde. Sechs Wochen danach saß ich spät an einem Mittwochabend im Studio von »Stern TV« und wurde live zu meinen Erinnerungen und meinem Umgang damit befragt. Das war beides aufregend, auch heilsam.

Es gab in dem Manuskript neben dem Seminar noch einen zweiten Erzählstrang, der mit dem Universitätsseminar verwoben war. Ich hatte ihn gleichzeitig erschaffen und erzählte ihn aus meinen Erinnerungen nach. Es ging darin um ein Geheimdienst-Team, das beim Bundesnachrichtendienst den Auftrag bekommt, mich mit ziemlich fantastisch anmutenden technischen Möglichkeiten zu überwachen. Das sollte ein wichtiges Element meines nächsten Wahns werden.

Dieses Gefühl, ständig unter Beobachtung zu stehen, ist eines der Teile, aus denen sich meine Schizophrenie zusammensetzt. Die anderen Teile sind vielleicht Gene, Drogen, Einsamkeit, Neugierde und Fantasie. Ein Puzzle, das immer wieder auseinanderfällt und neu zusammenzupassen scheint, je genauer ich die einzelnen Teile betrachte. Bei der Beschäftigung mit meinen wahnhaften Phasen und ihren Ursachen habe ich bislang jedenfalls keine einfachen Wahrheiten gefunden, sondern empfinde die Suche nach Erklärungen als sehr dynamische Angelegenheit. Irgendwie auch wie den Versuch, ein Stück Seife unter der Dusche trocken zu bekommen, nur sinnvoller.

Selbst wenn ich den einen Satz finden sollte, der meine Schizophrenie beschreibt, würde mich das nicht heilen. Dafür scheint es in meiner Psyche zu viele physiologische, gehirnimmanente Sonderbarkeiten zu geben, wie ein Sprachzentrum, das ohne die Medikamente so laut werden kann, dass ich Stimmen höre, die nicht von mir zu stammen scheinen. »Ich mag mich irren« bringt es schön auf den Punkt, denn ich mochte meinen Wahn. Meine Sympathie fürs Irren ist auch ein verzweifeltes Aufbäumen gegen die biografischen Altlasten und die Scham, die die Psychosen hinterlassen haben. Aber sie ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass ich seit meinem ersten Wahn den Verdacht habe, mein Leben könne nur noch in diesem Zustand aufregend und emotional sein.

Aber warum irre ich mich? Die genetische Disposition und physiologische Anomalien mögen wichtige Faktoren sein. Doch ich weigere mich unwillkürlich, die Ursachen für die Welt der Stimmen und anderer magischer Wahrnehmungen fernab meines Verantwortungsbereichs zu suchen. So standen einmal zwei Dutzend Außerirdische als eine Art Hologramm vor mir, und die waren sehr nett und sahen ausgesprochen gesund aus. So gesund, dass es unangebracht gewesen wäre, ihnen zu sagen, dass sie nur einem kranken Hirn entsprungen sind.

Die Drogen mögen dafür herhalten, zu erklären, wie ich die Psychosen hätte vermeiden können. Und dafür, dass es mir bisher nicht gelungen ist, eine Familie aufzubauen. Und dafür, dass ich keine Tätigkeit gefunden habe, mit der ich die Welt etwas dauerhafter mitgerettet hätte, als nur für die Zeit des Wahns. O. k., an den Drogen ist was dran! Aber es gibt genügend kluge Leute, die ohne Drogen eine Schizophrenie entwickeln. Und mit denen will ich mich viel lieber identifizieren.

Etwa ein halbes Jahr lang ging es übrigens gut, nach so langer Zeit in der Psychiatrie in einer eigenen Wohnung zu leben. Dann sandte mir der Bundesgerichtshof einen Beschluss zu. Er besagte, dass der BGH in Bezug auf das von mir angefochtene Betreuungsverfahren keinen weiteren Beschluss fassen werde. Dabei hatte ich dem BGH gar nicht geschrieben. Zwar hatte ich mich Hilfe suchend an die meisten der rund vierzig Anwälte, die beim Bundesgerichtshof zugelassen sind, gewandt – aber nicht an das Gericht selbst. Und dieses teilte mir nun mit, dass mein Fall endgültig erledigt sei.

Mit diesem Brief begann ein neuer Wahn. Ich nahm telepathisch Kontakt zu den Geheimdiensten auf – die verstanden meine Sorgen und die Zusammenhänge, in denen ich dachte. Dann wollte ich die Agenten vom Guten überzeugen. Ich dachte mir vieles aus, um die Welt zu verbessern. Ich wollte mehr Demokratie und überall Frieden. Und ich suchte nach einem Weg, wie ich diese Strahlenkanonen wieder loswerden konnte, mit denen sie mich unentwegt beschossen und die allem Anschein nach auf Drohnen gesattelt werden konnten. Also versuchte ich die Agenten zu überzeugen, die Strahlenkanonen anders einzusetzen – etwa im Rettungsdienst, um Menschen nach Unfällen auf abgelegenen Landstraßen wiederzubeleben, bevor ein Krankenwagen zu ihnen gelangen konnte. Die Medikamente waren da schon seit ein paar Wochen ausgeschlichen.

Das war, je nach Betrachtung, meine dritte oder vierte, aber jedenfalls die letzte Psychose, die in einer Behandlung endete.

Jetzt, drei Jahre später, sind mir die Medikamente ein willkommenes Werkzeug. Das damit bearbeitete Material, die Welt, scheint zwar noch Geheimnisse zu bergen, die sich mir nur psychotisch auftun würden. Aber das ist nicht mehr als eine Ahnung. Die Dosis stimmt. Die vielen Katzengoldschätze, die ich krank entdeckte und dachte, mir damit die Welt kaufen zu können, lasse ich nur noch in der Erinnerung strahlen, es sei denn, ich will mich an meiner Fantasie erfreuen. Nun, eigentlich halte ich auch heute nicht alles Erlebte für Fantasie und nicht alles vermeintlich Psychotische für krank. Die richtige Dosis bedeutet für mich auch, Stimmen hören zu können, die mir lieb sind. Für ein Leben, in dem ich sagen könnte: »Nehmt mir bitte alle meine Stimmen weg, ich halte sie für Halluzinationen!«, ist der Zug abgefahren und auch noch der Bahnhof abgerissen.

Nun schreibe ich meine Geschichte nochmal ganz von vorne auf und hoffe, sie zu lesen ist unterhaltsam und birgt Neuigkeiten über den Menschen im Weltall und das Denken darin. Dieser neue Anlauf steht unter besonders guten Voraussetzungen. Denn mit auf die Reise durch die Irrungen des Wahns und die Wirrungen der Wirklichkeit begibt sich Charlotte Krüger, die sich bereits für die Arbeit an dem Zeitungsartikel mit mir in die Kommentatorenkabine für das, wie ich finde, spektakuläre Spiel meiner Vergangenheit gegen die Realität gesetzt hat. Sie wird das Herauszeichnen von Faszinationen, dem Witz und den Abgründen, die entstehen, wenn meine entgrenzte Fantasie auf die Leute und Dinge dieser Welt trifft, wortgewaltig fördern und beraten. Wenn es möglich ist, beim Lesen meiner Geschichte in eine andere Realität einzutauchen – und dann beim Aufblicken klarer zu sehen als vorher –, wäre einiges erreicht.

Mein Vorwort, begonnen am Sommeranfang 2016

Felix Longolius

Mama, was passiert?

Eine Psychose ist, wie zu weit aufs Meer hinauszuschwimmen, nur dass die Kraft nicht nachlässt. Mit den bewusstseinserweiternden Drogen ist es auch oft, als überlasse man sich den Gewalten des Ozeans – ich habe dabei mal besser, mal schlechter vorausberechnet, wie einen die Strömung wieder an die Küste schwemmt. Während ich später im Wahn versuchte, auf abenteuerliche Weise andere Ufer zu erreichen, ging ich in der Schulzeit noch mit den anderen baden – und kehrte vorerst auch immer wieder ans Land zurück.

Es war nicht »alles gut«, und es war auch nicht »alles klar« – ganz im Gegenteil! Den Gitarrengurt über den hageren Schultern blickte ich stirnrunzelnd unter meinen dichten Augenbrauen hervor ins Publikum, während ich den Kopf mit den selbst geschnittenen, blonden Haaren über das Mikrofon neigte und sang. Das Licht blendete tierisch, nein, Tiere würden sich nicht freiwillig so blenden lassen.

Alles klang etwas komisch, nicht nur, weil Karl im zweiten Song eine Saite gerissen war und er sich backstage eine andere Gitarre hatte leihen müssen. Wie immer hatten wir auch kurz vor dem Auftritt noch etwas Gras geraucht. So mussten wir uns nicht mit Fragen beschäftigen, die einen normalerweise nervös gemacht hätten. Etwa, ob wir in der Lage wären, ein gutes Konzert zu spielen.

Es war gewiss keine sorglose Zeit damals. Aber an Abenden wie diesem, wenn ich mit meinen Freunden aus der Schule Musik machte, war ich glücklich. Von der Krankheit, die später mein Leben bestimmen sollte, wusste ich noch nichts, und die ersten Warnzeichen blieben unerkannt. Ob ein Spezialist für Schizophrenie damals schon eine Diagnose hätte stellen können, werde ich nie herausfinden. Sorgen, Nervosität, Konzentrationsschwäche, unruhiger Schlaf – hey, wer hatte das nicht in der Pubertät? Typisch wären auch sozialer Rückzug und Energieverlust gewesen. Davon war ich jedoch, wenn ich auf der Bühne stand, weit entfernt. Depressive Verstimmungen kannte ich bereits, aber wer hätte ahnen können, dass das nur der Anfang war?

Ich war in den letzten Jahren ziemlich schnell in die Höhe geschossen, und das karierte Hemd, das ich an diesem Abend als Bühnenoutfit trug, war mir eigentlich ein bisschen zu weit. Diese Hemden trug ich später sogar ganz bewusst, seit ich die Studenten in Nicaragua auch bei der größten Hitze mit weißen Krägen herumlaufen gesehen hatte. Daran wollte ich mir ein Beispiel nehmen.

Ich hatte eine überbordende Attitüde entwickelt, mich um die Welt zu sorgen. Auf die Fragen »Alles gut?« und »Alles klar?« war meine Standard-Antwort: »In Afrika verhungern gerade Kinder.« Es gab die selbst gespannte Richtschnur, mich bei Unterhaltungen politisch zu geben oder zumindest anders, als man es erwarten würde. Damit feierte ich auch Erfolge, etwa insofern ich – wenn es nicht gerade um die Ungerechtigkeit der Welt ging – überwiegend gewollt als besonders lustig wahrgenommen wurde. Es bedeutete auch ein Stück Freiheit von den Konditionierungen des Alltags. Allerdings brachte ich es aus einem wie auch immer entstandenen Zwang zur Kreativität in vielen Situationen nicht über mich, einfach zur Begrüßung »Hallo« zu sagen. Damit handelte ich mir oft die Aufforderung ein, nicht so viel nachzudenken. Was damit gemeint war oder was ich gegen das Nachdenken hätte tun sollen, ist mir hingegen heute noch nicht klar.

Ich trat ans Mikrofon und sang: »Mama, was passiert?«, unser, glaube ich, heimlicher Hit, in dem ich fragte, warum im Fernsehen die weißen Männer dick sind und die schwarzen Kinder, wegen ihrer Hungerbäuche, ebenfalls dick sind, obwohl die Weißen alles fressen, und warum man Schifffahrt nach der neuen Rechtschreibung mit drei »f« schreiben sollte – »wer soll das raffen?«. Meine Texte schrieb ich einfach so runter. Mit ein bisschen mehr Arbeit wäre eine gewisse Verwirrung wohl nicht so stark zum Ausdruck gekommen, aber das war uns egal. Wir kokettierten sogar damit.

Das »Logo« im Hamburger Uni-Viertel war gut besucht. Vorn in der ersten Reihe sah ich die üblichen Verdächtigen aus meiner Oberstufe. Mein Lieblingsfreund Simon stand bestimmt auch irgendwo im Publikum. Wir waren ein typisches Schul-Duo. Eines Tages hatte ich in der großen Pause auf der Schultreppe geraucht und, wie zu der Zeit wohl meistens, ziemlich besorgt dreingeblickt. Da hörte ich plötzlich neben mir seine Stimme: »Guck doch mal, wie schön die Sonne scheint!« Im Nachhinein hätte ich mir manchmal gern den Ernst bewahrt, mit dem ich damals auf den Boden, und zwar sprichwörtlich den der Tatsachen geguckt habe. Aber ich will diese Freundschaft auf keinen Fall missen.

Schräg hinter mir, am Keyboard, stand meine Freundin Isabell. Während die meisten Frauen in ihrem Alter nur Prinzessinnen sein wollten, hätte sie eine Regentschaft wohl genutzt, um die Monarchie abzuschaffen, und wäre auch sonst darauf vorbereitet gewesen, sich politisch einzumischen. Sie war mit einem kreativen Humor gesegnet, oft angriffslustig, aber selten bis nie verletzend. Isabell prägte den Satz, dass man sich irgendwann eine Musikrichtung aussuchen müsse. Sie selbst entschied sich für Reggae.

Über sie lernte ich Noah kennen, den man mit seiner sinnlichen Art und den gewaltigen schwarzen Dreadlocks einfach lieben musste. Eines Tages dachten wir uns zusammen den Bandnamen aus. Wir saßen in seinem Zimmer, rauchten das »Doppelte Lottchen«, wie Noahs Bong mit den zwei Wasserkammern hieß, und tauften uns nach einem Kinderbuch von »Dr. Seuss« die »Itch-a-pods«. Dabei handelt es sich um Tiere, die auf einem sehr hohen Fußweg irgendwo zwischen hier und dort vor- und zurückrennen, weil »hier« zu nah und »dort« zu weit ist. Ein Name, in dem zumindest phonetisch ein englisches Wort für Marihuana vorkam, passte sowieso.

Wir komponierten alles selbst, waren aber, wie alte Aufnahmen beweisen, nicht sonderlich an musikalischer Perfektion interessiert. Im Gegenteil, man kann sich wohl, wenn man dazu geneigt ist, in unserer Abwesenheit über unsere Performances von damals lustig machen. In den vielleicht knapp zwei Jahren, in denen es unsere Band gab, spielten wir aber recht viele Konzerte und zogen das mit der Musik, und eben auch das mit dem vielen Gras, voll durch.

Den Abend spulten wir inzwischen fast routiniert ab, es war unser drittes Mal in diesem Laden. Während wir beinahe vergaßen, unsere Gurkentruppe selbst lustig zu finden, sieht man auf dem Video von dem Auftritt, wie das Publikum erstaunlich ausgiebig zu unserer Musik tanzt. Auch sind Leute zu sehen, die sich in den Arm nehmen, und man hört Gespräche darüber, wie das Leben in Berlin so ist.

Wenn ich mir heute die alten Aufnahmen ansehe, frage ich mich, ob man den weiteren Verlauf der Dinge noch hätte stoppen können. Hätte es ein Leben geben können, in dem ich nicht in den Wahn abgedriftet wäre? Vielleicht wurde mir die Veranlagung dazu schon in die Wiege gelegt, und die Krankheit hätte so oder so eine Gelegenheit gefunden, sich zu entwickeln. Am häufigsten bricht sie im Alter von sechzehn bis fünfundzwanzig aus. Lebenskrisen, Liebeskummer, Leistungsdruck – selbst eine durchschnittlich schwierige Pubertät bietet eine Menge Stoff, um zu verzweifeln, doch die meisten Menschen überstehen sie, ohne psychisch krank zu werden. Bei mir kam noch eine schwierige Familiensituation hinzu, aber auch damit bin ich ja nicht allein. Ärzte warnen ziemlich unisono vor dem Risikofaktor Cannabis, und davon konsumierte ich reichlich. Hätte ich den Verlauf bremsen können?

Zweifelsohne gab es in dieser Zeit ein paar Weichenstellungen. Wenn ich ein magisches Schienenfahrzeug hätte, könnte ich in der Zeit zurückfahren und die Stelle suchen, an der ich auf ein anderes Gleis hätte wechseln müssen. War Alice der Anfang? Oder war es der Biss in die Pilze? Ja, die Pilze waren wohl ein Fehler. Vielleicht müsste ich aber noch weiter zurück. Hatte es nicht damals in der noblen Isestraße begonnen?

Dort war ich ungefähr zwei Jahre vor dem Auftritt im »Logo« auf einer Privatparty. Obwohl ich Zigaretten rauchte, hatte ich mit meinen 15 Jahren noch keine Ahnung, was Kiffen überhaupt war. Unten vor der Haustür machte ein Joint die Runde. Mein erster von Tausenden.

Es endete damit, dass ich eines von diesen mit Teppich ausgelegten Treppenhäusern vermutlich sehr schlimm versaute, indem ich mich aus dem ersten Stock über das Geländer erbrach. Das ist mir eindeutig heute noch peinlich – ein bisschen ist es mir auch heute erst peinlich.

Und trotzdem: Ich muss den Rausch sehr genossen haben. Schon am nächsten Abend fuhr ich mit einem Mitschüler zum Hauptbahnhof, um Haschisch zu kaufen. Eine ganz besonders unseriöse Weise, sich etwas zu rauchen zu besorgen. Aber zumindest fällt mir auf, dass ich meine Interessen damals anzupacken und durchzusetzen vermochte. Vor Ort liefen wir ein bisschen rum, wurden angesprochen, fragten nach was zu kiffen, der Dealer verschwand ein paar Minuten und brachte das Gewünschte. Illegal, dreckig, auch gefährlich, aber mir war es egal.

Der Biss in die Pilze folgte zwei Sommer später, als ich mit Isabell und Noah von den »Itch-a-pods« per Interrail durch Europa reiste. Die beiden waren einen Tick älter, ich wurde während des Urlaubs siebzehn, und Isabell und ich hatten gerade begonnen, ein Paar zu sein. Dass Noah auch in sie verknallt war, war definitiv besser zu überstehen, weil wir die kleine Bong »Betty« und immer genügend Gras dabeihatten.

Abgesehen von Noahs Liebeskummer waren wir ein super Trio. Wir gaben unseren Rucksäcken Namen: Isabells hieß die »Schnecke«, Noahs war der »Red Tank« oder so ähnlich und meiner die »Peace Machine«, weil ich irgendwann ein Friedenszeichen draufgesprüht hatte. Außerdem hatten wir ein Zelt dabei und eine oder sogar zwei Gitarren. Dass ich die genaue Anzahl nicht mehr erinnere, spricht für mich Bände. Aber wir kamen gut rum.

Am vorletzten Tag erreichten wir Amsterdam und waren wild entschlossen, »magic mushrooms« auszuprobieren, also psychogene Pilze. In einem der »Headshops« empfahl man uns, 25 Gramm frische, saftige Pilze zu nehmen. Jeder. Das kam uns viel vor, aber die Frau aus dem Geschäft war beinahe in unserem Alter und erklärte, dass man frische Pilze viel höher dosieren müsse als getrocknete. Also kauften wir uns Baguette und bereiteten uns jeder ein, in meiner Erinnerung dreißig Zentimeter langes, unvorstellbare Halluzinationen bringendes Abendbrot zu.

Wir hatten unser Zelt auf dem Campingplatz »Vliegenbos« aufgeschlagen, wo es trotz der Nähe zur Stadt schön ruhig war. Nach dem Essen liefen wir erst mal herum. Der Anfang des Rauschs war ultralustig. Allerdings lief mir der Rotz dermaßen aus der Nase, dass mein Stofftuch bald durch war – wohl die ersten Zeichen einer Überdosis. Auf einem kleinen Wanderweg genossen wir gespannt, wie sich die Welt um uns herum zu verändern schien, und staunten buchstäblich bis zum Umfallen. Zunächst konnte ich auch wieder aufstehen. Noah unterhielt sich die ganze Nacht mit anderen Leuten vom Campingplatz, und Isabell ging es auch eher gut. Aber ich lag allein im Zelt und durchlebte den blanken Horror. Ich habe gelitten und geschrien oder zumindest versucht zu schreien. Glücklicherweise schlief ich in den Morgenstunden ein.

Am nächsten Tag herrschte bei mir ein Gefühl vor, als hätte ich die Nacht mit dem Teufel höchstpersönlich verbracht. Sie überstanden zu haben war nur ein schwacher Trost. Später sank ich in die türkisen Sitze des 90er Jahre ICs, der uns zurück nach Hamburg brachte, wo wir abends, äußerlich unversehrt, ankamen.

Wenn ich zu Hause die Tür aufschloss, war oft niemand da. Wir lebten im sehr vorzeigbaren Eppendorf in der Hochallee in einer superschönen Viereinhalb-Zimmer-Altbau-Wohnung, die ich unter der Woche ganz für mich allein hatte. Mein Vater war vor sieben Jahren gestorben, und meine Mutter arbeitete, seit ich fünfzehn war, in Schwerin, hundert Kilometer von Hamburg entfernt. Mein drei Jahre älterer Bruder war mit achtzehn  ausgezogen.

Meine Mutter blickte auf andere Menschen wie auf eine andere Spezies – mit einem klaren, analytischen Verstand. Das machte sie sicher zu einer guten Anwältin. Jedenfalls war sie in der Lage, Streitigkeiten anderer zu schlichten oder überhaupt erst ans Licht zu bringen. Und sie hatte früh gelernt, sich durchzusetzen.

Meinen Bruder und mich zog sie allein auf. Später kämpfte sie auch noch gegen die verhasste letzte Freundin meines Vaters um unseren Pflichtteil am Erbe. Doch war sie oft sentimental, oder eher tieftraurig, was wir Kinder, unter Verlust der eigenen Sorglosigkeit, aufzuhellen versuchten.

Eines Tages, sie war gerade von der Arbeit gekommen, standen wir in der Küche, und sie sagte, eines ihrer Beine mache nicht mehr, was sie wolle, und auch, dass sie auf dem einen Auge nicht mehr richtig sehe. Es war das erste Mal, dass sie mir gegenüber über ihre Symptome für eine Multiple Sklerose sprach, auch wenn sie die Diagnose da noch gar nicht hatte.

Bald war ich angeblich schuld daran. Ich nahm das ernst und wollte es wiedergutmachen. Gerne hätte ich ihr geholfen! Ich konnte aber keine Stellschraube finden, an der ich hätte drehen können, um ihren Zustand zu verändern. Dennoch sollte ich mich immer wieder bei ihr entschuldigen. Einmal für alles, als wäre das ein Wundermittel. Aber wenn ich »Entschuldigung« sagte, dann hatte es für sie den falschen Tonfall, und sie äffte mich zeitlebens damit nach.

Wir lebten mehr oder weniger nebeneinanderher. Jeden Montag lagen 50 oder meist 100 Mark in dem Bonbonglas im Küchenregal – ich hatte also Geld für das Betäubungsmittel, das ich da schon zu jeder Tageszeit wollte und hatte. Ein Beutel Gras für 50 Mark, ein »Fuffibeutel«, hielt etwa drei bis vier Tage. Ich war nicht der Einzige, der das Zeug besorgte, aber definitiv eine solide Bank, was die Frage »Hast du was zu rauchen dabei?« betraf. Die meiste Zeit kifften wir, wo es uns gefiel, auf dem Schulweg, in Kneipen und auch allein. Wenn Isabells Eltern oder meine Mutter da waren, wurden die Dope-Tabak-»Köpfe« der »Bong« formvollendet in einem Zug »geflutscht« und aus dem Fensterspalt gepustet.

Mit sechzehn war ich Dauerkiffer und brauchte den Stoff auch, um über die Vorwürfe meiner Mutter hinwegzukommen. Es war ein Teufelskreis. Ein Mal, genau ein Mal, versuchte ich ernsthaft, mir von anderen Erwachsenen helfen zu lassen, und sprach bei der sogenannten Verbindungslehrerin vor. Ich weinte aus vollem Herzen. Sie gab mir die Nummer eines Psychologen. Als sie sich später erkundigte, ob ich Kontakt zu ihm aufgenommen hätte, musste ich jedoch verneinen und behauptete, es gehe gerade wieder zu Hause. Bei einem Psychologen Hilfe suchen – auch darüber hätte sich meine Mutter lustig gemacht.

Wenn sie am Wochenende da war, wurde die Situation ziemlich toxisch. Sie kam rein, und ich versuchte, ihr die Wohnung als ordentlich zu verkaufen, woraufhin wir uns stritten. Am Ende sollte ich ihr dann eine Flasche Wein kaufen. Mein Versteckspiel mit der Kifferei war insoweit erfolgreich, als sie sie verdrängte oder wirklich nicht erkannte, was für ein Geruch in der Luft lag. Auch die Erkrankung meiner Mutter wurde von beiden Seiten, so gut es ging, verdrängt, von mir mit illegalen Drogen, von ihr mit Alkohol und mit der verzweifelten Suche nach anderen Schuldigen als dem verdammten eigenen Körper.

Oft spielte ich mit dem Gedanken, vor der markerschütternd keifenden und oft betrunkenen Mutter zu fliehen, blieb aber bis zu meinem vorletzten Schuljahr bei ihr wohnen. Dann bezog ich eine kleine Wohnung in einem stadtauswärts gelegenen Stadtteil. Ich hatte mir Stoffe für einen rot-gelb-grünen Vorhang gekauft, den ich an eine goldene Gardinenstange aus Plastik hängte. Das machte bei Sonnenschein ein wirklich schönes Licht. Aber meine Gefühle folgten wohl dem Rhythmus der Drogen. Jede halbe oder ganze Stunde rauchte ich eine blaue Gauloises, sie gaben sozusagen den Takt. Alle drei, vier Stunden frischte ein Joint die Melodie auf, unter der die meisten Sorgen, aber auch die Welt um mich herum, so erfolgreich verdrängt wurden. Kamen Freunde zusammen, spielte ein ganzes Orchester auf, denn dann soffen wir auch.

Alle zwei Monate gaben wir uns, trotz meiner Horrornacht in Amsterdam, den Halluzinationen hin, dem großen Finale. Das Runterkommen danach war wie ein Neustart für alles, die Musik kam zu einem Ende, die Schallplatte eines Lebensabschnitts war durchgelaufen, und der Tonabnehmer kratzte stundenlang an der Endrille dieses wirklichkeitsscheuen Gefühlskreislaufs entlang. Am Morgen nach einer durchtrippten Nacht schnitt ich mir immer die Haare. Dabei war ich recht geschickt, selbst am Hinterkopf. Und es kam immer gut was runter, weshalb diese Nächte vielleicht auch seltener waren.

Auch damals, als ich im »Logo« auf der Bühne stand, waren meine Haare recht kurz. Das war zwar noch vor meinem Auszug, aber ich steckte an diesem Abend wohl schon recht tief drin im Schlamassel. Das lag aber nicht nur an den Drogen – nein, es hatte mit Sicherheit auch etwas mit Alice zu tun.

Fall in den Kaninchenbau

»Woher weißt du, dass ich verrückt bin?«, fragte Alice.»Musst du ja sein«, sagte die Grinsekatze,»sonst wärst du nicht hier.«

Das Wunderland lag vor mir. Unten im Zuschauerraum war der Garten, ausstaffiert mit allerlei Resten von »Schaumstoff Lübke«, die wir in den letzten Tagen herbeigeschafft hatten. Humpty Dumpty war da, gespielt von einem meiner Mitschüler aus dem Darstellenden-Spiel-Kurs, und das weiße Kaninchen huschte auch irgendwo herum. Ich stand auf der Bühne und hatte, wie schon im letzten Jahr, eine der Hauptrollen.

Unsere Lehrerin hatte das Skript ausgesucht. In der elften Klasse hatten wir mit ihr bereits einen Mix aus »Romeo und Julia« und »Der Widerspenstigen Zähmung« vorgeführt, arrangiert mit Beatles- und psychedelischen 70er-Songs. Meine Rolle war der Petruccio gewesen, und meine Aufgabe bestand darin, Kate, gespielt von Tanja, zu zähmen. Die Lehrerin hatte sich das prima ausgedacht. Tanja war schon im richtigen Leben nicht für mich zu gewinnen.

Jetzt, in der zwölften Klasse, war die Lehrerin mit »Alice im Wunderland« auf uns zugekommen. Ein Roman wie ein Drogentrip. Ein Mädchen springt aus reiner Langeweile einem nervös vor sich hinbrabbelnden weißen Kaninchen hinterher, als dieses in einem Loch im Garten verschwindet. Sie landet in einem kleinen Raum mit einer noch kleineren Tür, hinter der ein seltsamer, schöner Garten liegt: das »Wunderland«. Dort spielt sie mit einer durchgeknallten Herzdame Krocket, sagt mit einer sprechenden Raupe Verse auf und isst von einem Pilz, um größer oder kleiner zu werden, je nachdem, ob sie ihn von links oder von rechts annagt.

Als wäre das alles nicht schon abgefahren genug, hatte sich unsere Lehrerin eine ganz besondere Theaterfassung des Romans ausgesucht – eine, die den Stoff mit der Entstehung des Buches verwob. Ich sollte den Autor Lewis Carroll spielen und zwar vor dem Hintergrund, dass manche Literaturhistoriker bei ihm von pädophilen Neigungen ausgehen, weil er mit Vorliebe junge Mädchen fotografierte, manchmal auch nackt. Zu seiner Erzählung soll ihn die zehnjährige Tochter eines Dekans inspiriert haben, die er bei einem Picknick an der Themse kennengelernt hatte. Diese »echte« Alice tauchte in dem Stück ebenso auf wie die »fantastische«. Zu allem Überfluss hatte sich die Theaterlehrerin aber noch überlegt, ein Bild mit einer dritten »Alice« auf die Bühne zu hängen. Die Lehrerin erlaubte sich, ein Foto einer Mitschülerin für das Stück zu verwenden. Was um alles in der Welt. Wie mir erklärt wurde, war sie als Mannequin entdeckt worden. Die Modebranche nahm sich das Recht, Schulmädchen halb oder ganz nackt abzubilden, gleichzeitig wurden die Fotos von Lewis Carroll als Anzeichen pädophiler Neigungen gedeutet. Ich als Felix Longolius und als Lewis Carroll stand nun auf der Bühne und musste »Alice« anhimmeln. Oder sollte da eine Verbindung hergestellt werden?

Es dauerte nicht lang, bis ich davon ausging, dass mir Lehrerin und Mitschülerinnen mitteilen wollten, das Mädchen passe zu mir und ich zu ihr. Die Angel, die ich im Sumpf dieses ganzen Quatschs stehend ausgeworfen hatte, um Sinn zu finden, hatte sich ganz offensichtlich in meinem Schritt verhakt. Alice war in den Kaninchenbau gesprungen, und ich fiel taumelnd hinterher.

Die Grenze zwischen Realität und Fantasie war erstmals porös geworden. Ich nahm das, was auf der Bühne stattfand, in gewisser Weise zu ernst, als wäre das Ganze für mich inszeniert worden. Das Foto war wie eine Botschaft, die ich gern entgegennahm. Dass der Absender meine eigene Psyche gewesen sein könnte, kam mir nicht in den Sinn.

Schon immer hatte ich Fehlzeiten von mindestens 20 Tagen im Halbjahr gehabt, weshalb ich zumindest an meiner Fähigkeit gefeilt hatte, Wissenslücken selbständig zu schließen oder zu überspielen. In den ersten Schuljahren schaffte ich trotz der Fehlzeiten alles mit links. »Dem fliegt alles zu«, hieß es in der Familie. Gute Noten waren zudem sehr lukrativ für mich, da es dafür relativ horrende Geldgeschenke von den Verwandten gab. Mittlerweile hatte ich längst den Grundstein, ja, das ganze Fundament für die Wahl zum am meisten Verspäteten oder »biggest late-comer« gelegt. Ich gewann den Titel im Abibuch übrigens zwei Mal in Folge, da ich beim ersten Abitur-Versuch wegen null Punkten in Rudern durchfiel. Insgesamt hatte ich wohl keine 50 Prozent Anwesenheit aufs Parkett gezaubert.

Oft flüchtete ich vor der Situation daheim zu Isabell. Sie war ein Jahr älter als ich. Nachdem sie mit der Schule fertig war, wollte sie sich auf ihr eigenes Leben konzentrieren. Sie trennte sich von mir, was mich psychisch betrachtet in den Grundfesten erschütterte, in die ich aus den kaputten Mauern meiner Familie kommend umgezogen war.