Ich nehme dich an die Hand - Romina Power - E-Book

Ich nehme dich an die Hand E-Book

Romina Power

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Beschreibung

In diesem intensiven Roman in Form eines Tagebuchs und inspiriert von ihren eigenen persönlichen Erfahrungen, stellt sich Romina Power der Krankheit ihrer Mutter und dem Schmerz. Sie tut dies mit großer Sensibilität, ja sogar mit Leichtigkeit, indem sie zwischen verschiedenen Perspektiven wechselt. Daria durchlebt die ergreifende Erinnerung an eine Mutter, die schön und unerreichbar war und nun durch ihre Krankheit am Boden zerstört ist; sie akzeptiert ihren unaufhaltsamen körperlichen Verfall ohne falsche Bescheidenheit; und schließlich findet sie dank ihrer spirituellen Praxis und einer guten Portion Ironie die Kraft, sich von dem Drama der Gegenwart zu distanzieren. Nach und nach kehrt sich die Mutter-Tochter-Beziehung um: Die Mutter, zunehmend geschwächt, ist auf die Pflege ihrer Tochter angewiesen und wird fast wieder zum Kind. Das Ende ist unausweichlich, das weiß Daria. Das langsame Vergehen der Tage hilft ihr, sich mit der Vergangenheit zu versöhnen und gibt ihrer Beziehung eine neue Bedeutung. Als der Tod schließlich erscheint, ist sie bereit, ihn zu akzeptieren, als ob sie einen Rosenstrauß erhalten würde. - Titel der italienischen Originalausgabe: „Ti prendo per mano“, Mondadori Electa (2015) - Übersetzung von Sylvia Völker, unterstützt von Tamara Schmidt und Uta Klengel

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Seitenzahl: 158

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Die Autorin

Romina Power

ist Sängerin, Schauspielerin, Schriftstellerin und Malerin.

Sie wurde in Los Angeles geboren und kam im Alter von neun Jahren nach Italien. Mit dreizehn Jahren wurde sie von der Filmwelt entdeckt: Sie drehte vierzehn Filme in vier Jahren und nahm ihre erste Schallplatte auf. Im Alter von achtzehn Jahren festigte sie ihre musikalische Karriere mit dem Erfolg von Acqua di mare, und es folgten viele Hits, sowohl in Italien als auch im Ausland, im Duo mit Al Bano Carrisi.

Im Jahr 1989 veröffentlichte sie das Buch Cercando mio padre, Tyrone Power (Auf der Suche nach meinem Vater, Tyrone Power).

Ihr erster Roman, „Ho sognato Don Chisciotte (Ich habe von Don Quijote geträumt), erschien im Jahr 2000, gefolgt von Upaya, einer Box mit einem mittellangen Film, den sie geschrieben und inszeniert hat, einer Kurzgeschichte und einem indischen Tagebuch (2005).

Im Jahr 2005 übersetzte sie „Kalifornia. It's here now“ von dem spirituellen Meister Bhagavan Das.

Es folgten zwei weitere Romane, „Ti prendo per mano“ und „Karma Express“ in den Jahren 2015 und 2017.

Romina Power lebt derzeit in Italien.

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

Copyright (2023) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titel der italienischen Originalausgabe:

„Ti prendo per mano“, Mondadori Electa (2015)

Übersetzung von Sylvia Völker

Unterstützt von Tamara Schmidt und Uta Klengel

Titelbild © helovi [iStock]

Foto Rückseite © Gianmarco Chieregato

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Für meine wunderschöne Mutter

Gerade als die Raupe dachte die Welt sei zu Ende, verwandelte sie sich in einen Schmetterling.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Ich nehme dich an die Hand

Danksagung

New York, 9. März 2011

„Ich wusste, dass ich das Richtige getan habe, als ich dir das Leben geschenkt habe, Daria!“, ruft meine Mutter aus, als ich ihr die Nachricht überbringe, dass ich sie besuchen werde.

Ihr Dienstmädchen Noëlle reist gerade ab und lässt sie allein mit dem durch einige Renovierungen unordentlichen Haus. Sie sagte mir klipp und klar, dass sie einen langen Urlaub brauche.

Als ich sie frage, für wie lange, sagt sie: „Auf unbestimmte Zeit.“

Tucson, Arizona, 5. April 2011

Es dämmert und ich sitze im Warteraum des Flughafens von Tucson.

Ich habe zwei Wochen mit Mama verbracht. Sie war wirklich glücklich, dass ich sie besucht habe.

Diese Tage mit ihr waren etwas Besonderes. Ich kaufte ihr einen neuen Herd, ich begleitete sie zur Bank und zum Zahnarzt, wir spielten Backgammon.

Wir haben viel gelacht.

Ich denke an das Gesicht des Zahnarztes zurück, als er auf ihre Füße schaute und statt Schuhe oder Sandalen nackte Füße mit Flip-Flops und perlenbesetzten Fußkettchen sah, die wie Sandalen aussahen, aber keine waren.

Manchmal verliert Mama die Geduld, aber nie mit mir.

„Wir wollen, dass du noch lange bei uns bist!“, sagte ich ihr eines Morgens als ich das Frühstück servierte.

„Dich das sagen zu hören, ist das schönste Geschenk, das du mir machen könntest, meine Liebe“, antwortete sie mit einem breiten Lächeln.

Jedes Mal, wenn ich sie umarme, fühlt es sich an, als würde ich ihr etwas zu essen geben.

Wir ernähren uns nicht nur von Essen. Liebe und Wärme geben uns viel mehr. Schon ein Telefonanruf kann den Unterschied zwischen Leben und Tod, zwischen Freude und Schmerz ausmachen, zwischen Einsamkeit und jemandem, der dir zuhört.

Ich habe mich verliebt. Nicht in einen Mann, sondern in eine Wohnung. Ein Loft in Soho, groß und geräumig, in der obersten Etage. Ich liebe es so sehr. Es ist der perfekte Ort für mich, und wenn alles gut geht, werde ich den Vertrag am Montag unterschreiben. Dieser Umzug wird einen Wendepunkt markieren, der die nächsten zehn Jahre meines Lebens verändern wird. Ich muss die Zeit bestmöglich nutzen: indem ich Bildhauereien mache und mich als Künstlerin in den USA verwirkliche, um mich danach im Ruhestand an einen Strand in Südamerika zurück zu ziehen.

New York, 10. April 2011

Der Taxifahrer, der mich nach Manhattan bringt, ist ein Sikh aus Indien. Er trägt einen Bart und einen Turban.

„Die Menschen hier sind seltsam. Sie sind leicht zu beeindrucken“, sagt er mit einem ausgeprägten indischen Akzent.

Einmal, so erzählt er mir, fuhr ein Typ gegen sein Auto, er stieg aus und zerrte ihn an der Krawatte. Der andere fing an zu zittern, nur weil er dachte, er sei Bin Laden.

Nach dem 11. September wurde das Leben für ihn hier unmöglich, erklärt er, also beschloss er zu gehen. Er hat das Gefühl, dass ein neuer Weltkrieg bevorsteht, der schlimmer ist als die vorherigen.

„Ich bin seit siebzehn Jahren, zwei Monaten und einem Tag hier“, sagt er mir. Ich erzähle ihm von meiner großen Liebe zu Indien. Er, von seiner Frau und seinen Gefühlen für sie. Seine Beschreibung ihrer Beziehung ist so süß, dass ich gerührt bin. Ich weine dort, im Taxi, mitten in New York.

Es sind schon fünf Jahre vergangen seit dem Ende meiner Ehe. Ich bin allein geblieben in dieser ganzen Zeit. Ja sicher, es gab ein paar Flirts, aber mehr nicht.

New York, 15. April 2011

Es ist seltsam, die New Yorker Skyline am Horizont zu sehen und daran zu denken, dass mein Vater und Großvater hierherkamen, hier lebten und arbeiteten und dass nun ich dran bin. Heute bin ich diejenige, die aus dem Fenster schaut, auf die im Nebel verborgenen Wolkenkratzer, auf die großen hölzernen Wassertanks, auf die Skyline mit ihren wechselnden Wolken.

Ich schaue auch auf meine Träume, die wie schwebend über der Stadt liegen. Sie gesellen sich zu denen meiner Vorfahren und zu all den Menschen, die über die selben Bürgersteige gegangen sind. Wie sie werde auch ich für eine Weile ein Teil dieser Stadt sein.

Ich, die das Meer liebt, ziehe nach New York. Ich werde in den Triumph von Beton, Kreativität, Gier und Korruption eintauchen. Hier ist ein neuer Künstler, der nach New York kommt, um seine Träume in die Wände dieser Metropole zu ritzen.

Stuart wird seinen Morgenspaziergang verändern, die Hunde von Soho kennenlernen. Zumindest werde ich andere Straßen, andere Gesichter, Menschen anderer Kulturen sehen.

Ich werde Tanzstunden nehmen. Ich werde meine Wohnung orientalisch einrichten.

New York, 30. April 2011

Die meisten Menschen gehen die Straße entlang und telefonieren dabei mit ihrem Handy. Alle zusammen, aber gleichzeitig isoliert in dieser riesigen Stadt. Alle sind in ihrer eigenen Welt gefangen und jagen einer Fata Morgana hinterher, der Illusion von Geld und der falschen Sicherheit, die es einem geben kann.

Millionen von Füßen haben die Bürgersteige Manhattans überquert und zertreten. Ich bin eine unzählige weitere Person, die hier einen kleinen Raum füllt.

New York, 2. Mai 2011

Ich habe schon ein Tanzstudio um die Ecke gefunden. Und dann, am nächsten Abend, ging ich ins Theater und habe eine nette Show namens Radio gesehen, wirklich gut geschrieben: neunzig Minuten Show mit Leuten, die alle sehr jung sind und von der gleichen Schauspielschule kommen.

Die Leute hier wirken vielleicht ein bisschen entfremdet, aber auf der anderen Seite können sogar völlig Fremde manchmal angenehm und freundlich sein. Wie gestern Abend im Sushi Samba, wo ich mit einem Cousin, der auf der Durchreise war, zu Abend gegessen habe. Eine Gruppe junger Kellner machte mir Komplimente über meine Kleidung: Ich trug Hosen, eine weiße orientalische Jacke und mit weißen Perlen verzierte Sandalen.

Auch heute Morgen habe ich ein weißes Leinenkleid und indische Sandaletten mit sehr hohen Absätzen angezogen. Es ist lange her, dass ich helle Kleidung getragen habe. Als ich spazieren gehe, treffe ich einen schwarzen Jungen, der mich ansieht und ruft: „Hallo! Junge Dame, meine heutigen Gebete sind in Erfüllung gegangen, weil ich dich auf meinem Weg getroffen habe!“

Ich lächle und er fährt fort: „Du kochst heute nicht. Er führt Dich heute Abend zum Essen aus.“

„Er? Was für ein Er? Es gibt keinen Er!“ Ich lächle wieder.

„Na ja, ich wohne in der Gegend!“, antwortet er mit einem anerkennenden Blick.

Mir gefällt das jedenfalls.

New York, 10. Mai 2011

New York ist alles und das Gegenteil von allem. Es funkelt, es glänzt und es stinkt. Es ist dreckig, obwohl sie es ständig reinigen. Ich genieße es, Menschen zu beobachten, ihren Gesprächen zuzuhören, und im Gegensatz zu Frankreich, wo ich die letzten fünfzehn Jahre gelebt habe, mag ich die Vielfalt, die man hier in den Vereinigten Staaten atmet. Die Tatsache, dass nicht jeder die gleiche Kleidung trägt oder die gleiche Zeitung liest. All dies vermittelt ein Gefühl von Frische und Freiheit. Ein Mädchen geht mit ihrem Hund die Straße entlang. Es ist ein sehr lebhaftes kleines weißes Tier, mit einem weichen Fell fast wie ein Stofftier. Er sieht aus wie ein Welpe.

Ich frage nach dem Alter. „Zehn Jahre“, sagt sie.

Als ich sie erstaunt ansehe, erklärt sie: „Er hat noch nie Fleisch gegessen.“ Ein vegetarischer Hund. Dinge, die nur in den USA passieren!

Selbst wenn die Sirenen nicht heulen, gibt es in dieser Stadt ein ständiges Hintergrundgeräusch, wie eine allgegenwärtige Vibration.

Während ich den West Broadway entlanglaufe, beobachte ich alles: die Bürgersteige, die Pflanzen, die Menschen, die Graffiti, die Schaufenster, die Gebäude, den Müll, den Himmel. Jeder, oder fast jeder, ist bereit, mit dir auf der Straße zu plaudern. Du fühlst dich nicht allein hier, auch wenn du es bist. Anders als in Europa gehen hier viele Menschen in Restaurants und Bars, ohne irgendeine Begleitung zu haben.

Ich hätte nie gedacht, dass ich an einem so betongefüllten Ort leben könnte.

New York, 5. Juli 2011

Ich bin vor fünf Tagen in dieses Loft gezogen.

Ich schaue durch die Fenster auf die Stadt, beobachte die grauen Gebäude und den sich verändernden Himmel. Ich sehe, wie sie sich im Schein der funkelnden Lichter oder im nebligen Morgensmog verwandelt. Jeder Tag ist wie ein Bild, das sich mit dem Wetter und den Jahreszeiten verändert. Durch meine beiden großen Fenster blickt man nach Norden auf das Chrysler Building, mit dem Empire State Building im Vordergrund und Wassertanks, die über die Dächer verstreut sind. Im Westen, zwischen zwei Gebäuden, erblicke ich das Wasser des Hudson. In der Ferne ein im Bau befindlicher Turm.

Die Bäume auf den Terrassen wirken wie Kostbarkeiten, luftig, schön. Sie heben sich von den roten Ziegeln, dem Beton und dem Stahl ab. Ich vermute, dass die Menschen, die hier gezwungen sind, weit ab von der Natur zu leben, dies versuchen zu kompensieren und so New York noch mehr lieben. Hier können nur Menschen leben, die gelernt haben, es wirklich zu lieben.

Ich bin gerade dabei, umzuziehen. Ich habe bereits die Rechnungen übernommen, aber ich weiß noch nicht, wann ich diesen Platz wirklich als meinen eigenen empfinden kann.

Was die Mode angeht, sind die New Yorker sehr individualistisch: Sie kreieren ihren eigenen Stil.

Nur in einem Laden in New York kannst du zum Beispiel einen alten Samtsessel für zweitausend Dollar kaufen oder ein gebrauchtes T-Shirt für tausend, weil „Give Peace A Chance“ aufgedruckt ist. Sie werden dir sagen: „Es ist ein Unikat.“

New York, 11. Juli 2011

New York ist etwas Besonderes. Das war mir noch nicht klar. Wenn ich es jetzt an einem Sonntagmorgen im Juli leer sehe, gepflegter als viele andere Städte, finde ich es fast attraktiv. Es ist immer noch viel einladender als jeder andere Ort, an dem ich in letzter Zeit war, mit Ausnahme von Indien und Irland.

New York, 12. Juli 2011

Ich bin zum ersten Mal allein in meinem Loft. Das ist aufregend. Ein bisschen einsam vielleicht, aber spannend.

Der Vorbesitzer hat eine Matratze auf dem Treppenabsatz zurückgelassen

Stuart ist aufgeregt, weil er beim Einkaufen im Supermarkt eine läufige Golden Retriever-Hündin getroffen hat. Und er, der alle seine Attribute an der richtigen Stelle hat, sucht nun nach der ersten Partnerin, die ihm über den Weg läuft. Das macht er immer. Im Kühlschrank finde ich eine Flasche Weißwein, die mein Vorgänger hinterlassen hat. Darauf ist ein Post-it-Zettel, auf dem steht: „Willkommen in Manhattan. Wenn Sie sich hier nur halb so wohl fühlen, wie James und ich es siebenundzwanzig Jahre lang taten, werden Sie sehr glücklich sein. Wir wünschen Ihnen alles Gute in Ihrem neuen Zuhause!“

Ich stoße auf mein neues Leben und mein neues Zuhause an. Ich trinke die ganze Flasche leer, dann schleppe ich die Matratze in die Mitte des Wohnzimmers und werfe mich darauf.

In der Morgendämmerung scheint die Sonne, die vom Gebäude gegenüber reflektiert wird, direkt in meine Augen.

In den frühen Morgenstunden sind die Straßen noch leer, genau wie der Broadway. Die ersten, die aufstehen, sind die Chinesen, die Waren von Lastwagen abladen und sich in ihrer Sprache unterhalten.

Ich gehe in eine Bar auf der anderen Straßenseite. Nach und nach erwacht die Stadt zum Leben. Ich mag es, hier zu sitzen und die Leute zu beobachten. Es ist, als wäre man in einem Film.

Ich bestelle Eier Florentiner Art und einen guten heißen Cappuccino mit Sojamilch.

Ich weiß nicht wie, aber vor ein paar Tagen habe ich mir die Hand am Dorn eines verrotteten Feigenkaktus verletzt. Gestern Abend, vor dem Schlafengehen, habe ich die Wunde desinfiziert und schaffte es sogar, den Dorn zu entfernen. In das kleine Loch, das er hinterlassen hat, träufelte ich Jod. Ich habe kein Pflaster draufgemacht, in der Hoffnung, dass es schneller heilt, und ich glaube, es hat funktioniert.

Stuart ist ein wenig enttäuscht von diesem Haus. Okay, es gibt keine Treppe wie in dem vorherigen. Das einzige niedrige Fenster ist in meinem Badezimmer und ich muss es geschlossen halten, weil es sich von unten nach oben öffnet. Er schaut diese elf Stockwerke hinunter und seufzt wehmütig. Seine kleine schwarze Nase kann keinen Geruch von der Straße erschnuppern.

New York, September 2011

Der Umzug ist nun abgeschlossen. Ich kann jetzt die Stadt von meinen Fenstern aus beobachten. Seit fünf Nächten schlafe ich nun schon in der Wohnung, meine Sachen sind endlich angekommen.

Vor drei Tagen hatte ich die ersten Gäste. Chris und Sara, zwei wirklich süße und hilfsbereite Freunde, kamen mich aus Australien besuchen.

Ich liebe es hier. Ich mag die Freiheit, die ich spüre. Ich mag es, Leute zu beobachten, ohne beobachtet zu werden, in der Menge zu verschwinden. Ich mag die unendlichen Möglichkeiten, die diese Stadt bietet.

New York, 27. September 2011

New York ist immer noch ein Rätsel für mich, und ich weiß immer noch nicht, was es wirklich bedeutet, hier zu leben.

Ich sitze in einem kleinen mexikanischen Restaurant in der Nähe meines Hauses und warte auf meine Tortilla-Suppe.

Es ist Samstagabend. Ich esse allein, aber es geht mir gut.

Vor zwei Abenden wollte ich mit jemandem ausgehen, aber ich fühlte mich schlecht, so schlecht wie noch nie. Als ob das noch nicht genug wäre, gab es auch noch einen heftigen Sturm. Alles schien uns daran hindern zu wollen, uns zu treffen.

Es ist zehn Monate her, dass ich ein Date mit einem Mann hatte, aber seltsamerweise vermisse ich es nicht.

Am Nachmittag beleuchtet Sonnenlicht das Loft. Es dringt durch einen Spalt ein und durchflutet nach und nach den ganzen Raum. Ich könnte stundenlang den Horizont und die Wolken betrachten. Tagelang.

Das Empire State Building wechselt jede Nacht die Farbe. Es gibt Momente, in denen die Spitze in Wolken gehüllt ist. Wenn es viel regnet, verschwindet es komplett. Kurz vor Sonnenuntergang wird das Gebäude jedoch zu einem goldenen Blatt, welches das orangefarbene Licht reflektiert.

Auf dem Broadway fahren den ganzen Tag über rote Doppeldeckerbusse voller Touristen, die alle Käppis und Sonnenbrillen tragen. Wer weiß, was sie von da oben sehen! Was kann man überhaupt von einer Stadt wahrnehmen, wenn man mit dunklen Brillengläsern in einem Bus hindurch fährt?

Die Stadt muss man atmen, du musst sie riechen, dich in ihr verlieren und deine Lieblingsplätze finden, vielleicht sind sie ein wenig versteckt.

New York, Oktober 2011

Eines Abends ging ich mit einem Freund spazieren und wir waren auf der Suche nach einem Restaurant, weil wir wirklich hungrig waren.

Nach dem Abendessen bestand er darauf, einen kleinen Spaziergang im Central Park zu machen.

Es hätte wie eine romantische Idee erscheinen können, vielleicht Hand in Hand durch Pfützen und totes Laub zu laufen. Wie in Filmen.

„Aber ist er nicht geschlossen? Und ist es nicht gefährlich?“, frage ich.

„Nein“, antwortet er, „er ist immer offen.“

Wir nähern uns dem Park, der in der Tat offen ist. Es riecht frisch.

„Siehst du? Es ist alles ruhig.“

Er sagt, er wolle mir das Imagine-Mosaik zeigen, das John Lennon gewidmete Denkmal, als wir plötzlich den Befehl „Raus aus dem Park!“ hören, der sehr laut über das Megaphon gerufen wird.

Ein Polizist hat gerade eine obdachlose Frau, die sich unter einer Brücke verschanzt hatte, hinausgeschoben. Er schickt auch uns weg, wie Adam und Eva aus dem Garten Eden, gefolgt von der Frau, die murmelt und dann, in ihrem niedlichen Brooklyn-Akzent, die Situation so ironisiert: „Wenn er ein Leben hätte, das geil ist, würde er sich nicht so verhalten. Ich bin fast taub!“

New York, 13. Dezember 2011

Heute ist alles vom Schnee versteckt. Erst Hagel, dann Schnee, der still und heimlich fällt und Dächer und Wassertanks mit großen weißen Kegeln bedeckt.

An Tagen wie diesen scheint das Empire nicht zu existieren. Es könnte auch nicht da sein.

Ich schaue aus dem Fenster auf den Rauch, der aus den Schornsteinen aufsteigt. Es scheint fast so, als würden die langen, tiefhängenden Wolken, die den Dezemberhimmel füllen, aus dem Rauch entstehen.

New York, 15. Dezember 2011

Manchmal fegt ein heftiger Wind durch die Straßen, aber es gibt auch Morgen mit unglaublich blauem Himmel, die dich dazu bringen, deine Meinung über diese Stadt zu ändern, genau wie beim Gang durch eine Menschenmenge: Die Gleichgültigkeit der Menschen ist abschreckend, und dann fängt plötzlich jemand deinen Blick auf, sagt dir etwas Nettes oder bringt dich zum Lächeln und du spürst, wie die Freude zurückkehrt.

Tubac, Arizona, 6. Januar 2012

Ich bin gekommen, um meine Mutter in Arizona zu besuchen. Wir haben die Feiertage endlich wieder gemeinsam verbracht.

Ich war allerdings nicht auf das vorbereitet, was mir gerade mitgeteilt wurde.

Ich brachte meine Mutter zu ihrer Ärztin, einer indischen Ärztin, einer Frau, die nach einer gründlichen Untersuchung bei ihr ein Plattenepithelkarzinom des Darms diagnostizierte.

Ich weiß nicht, wie ich die Nachricht verkraften soll. Ich weiß nicht, wie sie auf die Nachricht reagiert hat, und ich weiß nicht einmal, was sie zu tun gedenkt. Vielleicht dauert es eine Weile, bis man es verarbeitet. Vielleicht hat sie es nicht richtig verstanden. Vielleicht haben die Ärzte sich geirrt, das kann passieren.

Tubac, 10. Januar 2012

Ich habe mir angewöhnt, meiner Mutter nach dem Frühstück ein paar Auszüge aus dem Buch des Dalai Lama vorzulesen.

Sie mag es so sehr, dass sie möchte, dass ich, wenn ich nach Hause komme, meine Stimme aufnehme, während ich es lese, und ihr dann die Bänder schicke.

Der Fernseher ist fast ständig auf TCM Turner Classic Movies eingestellt, auf dem hauptsächlich Schwarz-Weiß-Filme mit gut bearbeiteten Bildern gezeigt werden. Mama erinnern sie an andere Zeiten, ästhetisch ansprechende Zeiten, in denen sie, eine Diplomatenfrau, treu, verliebt, unerreichbar, von Party zu Party wanderte und eine Spur von gebrochenen Herzen hinterließ.