Ich pfeife auf den Tod! - Babak Rafati - E-Book

Ich pfeife auf den Tod! E-Book

Babak Rafati

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Beschreibung

Babak Rafati war FIFA- und DFB-Schiedsrichter – bis zum 19. November 2011, als er sich unmittelbar vor dem Spiel 1. FC Köln gegen 1. FSV Mainz 05 das Leben nehmen wollte. Nach dem Suizid von Robert Enke erschütterte sein Selbstmordversuch die Öffentlichkeit. Monatelang wurde über Rafatis Motive gerätselt. In seiner schonungslosen Beschreibung gibt er – ausgehend von der Nacht des Suizidversuches – zum ersten Mal Antworten, die alle Menschen betreffen, die unter extremen Leistungsdruck, Mobbing und Erschöpfung leiden. Seine Tat war die Folge einer Depression, hauptsächlich verursacht durch die brutalen Gesetze des Profisports. Rafatis Bericht gibt Einblicke in das „System Schiedsrichter“, an dem er fast zerbrochen wäre. Es ist nicht nur eine schonungslose Abrechnung mit sich selbst und menschenverachtenden Mechanismen im deutschen Fußball, sondern auch Protokoll einer mentalen Heilung, das vielen Menschen Mut machen kann, alles was einen krank macht hinter sich zu lassen.

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Babak Rafati

Ich pfeife auf den Tod

Wie mich der Fußball fast das Leben kostete

Kösel

Redaktion: Stefan Linde

Copyright © 2013 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Weiss | Werkstatt | München

Umschlagmotiv: © picture-alliance/Mika

ISBN 978-3-641-10516-7

www.koesel.de

Inhalt

Endstation Sehnsucht

Höllenqualen

Mein Weg aus der Depression

Zurück ins Leben

Danksagung

Anhang - Checkliste für Angehörige und Depressive

Endstation Sehnsucht

»Wir alle sind dazu aufgerufen, liebe Trauergemeinde, unser Leben wieder zu gestalten, aber in ihm einen Sinn, nicht nur in überbordendem Ehrgeiz zu finden. Maß, Balance, Werte wie Fairplay und Respekt sind gefragt. In allen Bereichen des Systems Fußball. Bei den Funktionären, bei dem DFB, bei den Verbänden, den Clubs, bei mir, aber auch bei euch, liebe Fans. Ihr könnt unglaublich viel dazu tun, wenn ihr bereit seid, aufzustehen gegen Böses. Wenn ihr bereit seid, euch zu zeigen, wenn Unrecht geschieht. Wenn ihr bereit seid, das Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft (…) zu brechen.

Ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen, des Nächsten, des Anderen. Das wird Robert Enke gerecht. Ich bedanke mich für eure Aufmerksamkeit.«

DFB-Präsident Theo Zwanziger bei der Trauerfeier für Robert Enke am 15. November 2009

■ ■ ■

Es ist der Rausch, ein Stadion zu erleben, das von den Rufen der über 50.000 Fans zu vibrieren scheint. Die Pauken, die Fanfaren, die Schlachtgesänge der Fans. Eine Woge aus Farben, Lichtreflexen, Gerüchen und der Hitze von Körpern spült deinen Verstand in einen Trichter, der alles einsaugt und alles verschmilzt in pure Emotion. Du denkst nicht mehr. Du schreist. Hirnlos und berauscht von Adrenalin. Von diesem Jubel getragen schwebst du mit wie auf einer Wolke durch den Stadiongang in die Arena. Noch wenige Sekunden und du bist allein unter zehntausenden Menschen. Ich bin Schiedsrichter. Schon mit meinem Anpfiff setze ich eine Marke: Ist er zu kurz, kraftlos und ängstlich, habe ich verloren – ist er schneidend laut, alles durchdringend und entschlossen, habe ich schon mal allen klargemacht, ich will Respekt – alles hört auf mein Kommando. Unten am Mittelanstoß, in der Sekunde vor dem Anpfiff, spürst du in elektrischen Stößen die Spannung. Du bist ganz nah dran am Jetzt. 22 Spieler, die einem Ball hinterherjagen. Die mit allen Tricks und Finessen der Fußballprofis nur eines wollen: Tore schießen. Gewinnen. Dann mein Pfiff, die Entladung, die Erlösung. Wir alle sind süchtig nach diesem Rausch, wenn der Ball dem Tor entgegenfliegt – ein anschwellender Schrei aus zahllosen Menschenkehlen, wenn der Ball im Netz einschlägt. Dann weht ein Sturm den Namen des Siegers durchs Stadion, der Rhythmus von dumpfen Pauken reißt die Zuschauer hoch, Trainer und Spieler fliegen mit jubelnden Armen von den Ersatzbänken zum Spielfeldrand. Wir alle wissen, dass wir Süchtige sind, eine weltweite Bruderschaft, süchtig nach diesem Gefühl des Spiels in den großen Fußballarenen der Welt. Ich bin der Schiedsrichter inmitten dieser Tumulte mit ihren verbissen kämpfenden Akteuren. Ich habe sie alle erlebt, dicht neben mir gespürt, ihre schweißüberströmten Körper, ihren Schmerz, ihren Atem dampfen gesehen, sie ihren Hass herausschreien gehört, ihre Verzweiflung in der Niederlage. Ronaldo, Messi, Schweinsteiger, Podolski … Immer wieder sehe ich ihre Gesten des Triumphs. Das ist der Kern dieser Sucht – die Angst vor dem Spiel und die Erlösung, wenn du gesiegt hast. Ich muss ihnen nur in die Gesichter schauen, ihre Konzentration, das Vibrieren ihrer Muskeln und ihre Emotionen spüren, und ich weiß, dass sie meine Sucht teilen. Es ist eine gefährliche Sucht.

# # # 19.11.2011, 2:30 Uhr # # #

»Fußball ist ein Geschäft, das Menschen verbrennt. Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak.« Wie ein endloser Fluch kreisen die Worte meines Schiedsrichterchefs in dieser Nacht durch meinen Kopf. Wieder und immer wieder brennt die Warnung wie eine Zündschnur über meine Haut. Legt Feuer in meine Seele und lässt mich vor Schmerz erschauern. Ich spüre, dass der Fluch Wahrheit wird, dass ich tatsächlich dabei bin zu verbrennen. Es ist halb drei Uhr morgens und ich stehe am Fenster meines Hotelzimmers und sehe in der Dunkelheit die Silhouette des Kölner Doms. Links davon der Rohbau eines Hochhauses, der wie ein schwarzer Obelisk in den Himmel sticht, umflort von den blinkenden Warnleuchten der Baukräne. Ich kann nicht schlafen. Ich bin erschöpft und doch hellwach. Ich habe Angst. Zum ersten Mal in meinem Leben panische, körperlich zermürbende Angst. Angst vor dem Spiel, das ich am Nachmittag um 15:30 Uhr anpfeifen soll. Die Angst kommt in Wellen, überschwemmt mich und droht mich zu ersticken. So ist das, wenn sich einem die Kehle zuschnürt.

Mir blieben noch 13 Stunden bis zum Anpfiff. 1. FC Köln gegen 1. FSV Mainz 05. 50.000 Menschen in der RheinEnergieArena. Millionen vor dem Fernseher, vor den Radios bei der Stadionschalte. Ein Spiel, in dem ich nur verlieren konnte. Es hatte sich alles bis zu diesem Punkt angestaut. Die persönlichen Verletzungen, die Angst vor der Zukunft, was mein Ansehen anbelangt, die Selbstzweifel, die seelische Verkrampfung und die Anspannung bis hin zur Ausweglosigkeit. Durch die Überflutung mit all den negativen Erlebnissen der letzten 18 Monate drohte ich zu ersticken. Wer in einer so existenziellen Krise ist, kann nicht mehr rational denken. Die Ereignisse in diesem zurückliegenden Zeitraum liefen wie ein Film durch meine Gedanken und ich verspürte dabei immer größeren seelischen Schmerz. Als ob jemand mir immer wieder am ganzen Körper Messerstiche versetzen würde. Ich wollte das abstellen, all die Gedanken, die Verzweiflung, diesen unfassbaren Schmerz. Ich flehte, dass es endlich aufhören möge. Aber es wurde immer mehr. Ich sah keinen anderen Ausweg, als mir das Leben zu nehmen. Am Abend vor dem Spiel geht unser Schiri-Team traditionell gemeinsam essen. Normalerweise ist das ein sehr entspannter Plausch über alles, was in der Liga so läuft, wir stimmen uns auf das Spiel ein, besprechen Problemzonen der Paarung, ihrer Spieler, Trainer und des ganzen Umfelds. Es wird kaum Alkohol getrunken, weil der Schiedsrichterjob ein Hochleistungssport ist, da muss jeder fit sein. Eigentlich bin ich als unterhaltsamer Mensch bekannt, der mit ein paar flotten Sprüchen jede noch so miese Stimmung in einer Runde innerhalb kürzester Zeit umdrehen kann. Diesmal war mir nach Späßchen nicht zumute. Ich war innerlich in Aufruhr und hatte anders als sonst keine Lust auf das gemeinsame Essen, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, denn was hätten die Kollegen sonst von mir denken sollen? Ich habe eine Führungsfunktion und muss Zuversicht und Stärke ausstrahlen. Für Fehlentscheidungen ist immer der Teamchef verantwortlich, auch wenn er von der Linie von seinen Assistenten die falschen Signale für eine Entscheidung bekommen hat. Durch Zweifel entstehen Unsicherheiten, die bei einem Bundesligaspiel nichts zu suchen haben. Schiedsrichter und Assistenten sind eine Einheit, sie müssen sich blind verstehen. So versuchte ich, meine Ängste und meinen ganzen Frust über die Situation zu überspielen, was nicht ganz gelang. Mein Team spürte die Anspannung, ich nahm an dem kargen Gespräch kaum Anteil.

Ich war innerlich so festgefahren in meinen negativen Gedanken, dass ich mich auf der Anreise nicht mal über das bevorstehende Spiel unterhalten konnte. Ich stand wie vor einer weißen Wand, unfähig, auch nur die Namen der Trainer und die Gesichter der Spieler beider Mannschaften abzurufen. Ich hätte mit meinen Teamkollegen reden können, aber nicht nur, dass mir die Kraft fehlte, ihnen zu sagen, wie es in meinem Innersten aussah – ich schämte mich davor, mein Gesicht völlig zu verlieren. Sie hatten meine zum Teil öffentliche Demontage nach meinen Spielen in den Medien und in den Schiedsrichtergremien beim DFB seit Monaten mitverfolgt. Das konnte nicht ohne Folgen für mein Ansehen beim Team geblieben sein. Sie mussten mich insgeheim schon abgeschrieben haben, auch sie würden denken, dass dieser Spieltag mein Endspiel sein könnte, wenn wir Fehler machen würden. Jeder schien irgendwie für das kommende Spiel nur auf meinen nächsten Fehler zu warten.

Ich hatte seit Monaten mit meinem Schicksal gehadert und meine Umgebung zunehmend als Bedrohung gesehen. Überall witterte ich Intrigen und Heckenschützen, Konkurrenten, die mir schaden oder mich ausbooten wollten. Hinter jedem sorglos dahingesagten Satz vermutete ich eine hintergründige Botschaft, über deren verborgenen Sinn ich stundenlang nachgrübeln konnte. Jedes Wort legte ich auf die Goldwaage.

Auch körperlich war ich massiv angeschlagen. Ich hatte unter der Woche das Training mehrfach abbrechen müssen, weil die vielen negativen Gedankenschleifen mich körperlich regelrecht lähmten. Du willst laufen, du sagst »lauf los!« – aber mein Körper spielte nicht mehr mit. Er weigerte sich einfach zu funktionieren. Krämpfe, Gefühllosigkeit in den Beinen, eine totale Laufblockade – das waren Alarmzeichen, auf die ich hätte achten müssen. Aber längst hatte ich vergessen, meinen Körper wie einen Freund zu behandeln. Ich war jemand, der ihn ständig nur forderte, ausbeutete, verschliss, ohne zu hören, was in mir vorging. Für meine Fitness lief ich jeden zweiten Tag 13 Kilometer auf Zeit. Plötzlich hatte ich keine Kondition mehr. Blieb stehen. Atemlos, unfähig, einen Schritt weiterzulaufen. »Halt ein! Komm zu dir! Was machst du mit dir?«, schienen mir Körper und Seele zuzurufen. Ich schrie nur vor Wut über mein Versagen.

Ein Schiedsrichter muss immer auf Höhe des Spielgeschehens sein. Und das bedeutet: Laufen. Spurten. Laufen. Nach sportmedizinischen Untersuchungen 10 bis 15 hochintensive Laufkilometer pro Spiel – mit bis zu 50 Sprints zwischendurch. Die Laufintensität hat sich im Spitzenfußball nach sportmedizinischen Untersuchungen in den vergangenen Jahren mehr als verdoppelt. Fußball ist sehr schnell geworden. War ich noch schnell genug? Für dieses Spiel, auch das machte mir Angst, würde ich nicht nur mental, sondern auch körperlich nicht die Leistung abrufen können, die einem in der Profiliga abverlangt wird. Was wäre, wenn ich – diesmal mitten auf dem Spielfeld – wieder diese Lähmungen spüren und nicht laufen könnte? Es ist etwas ganz Schlimmes, wenn man plötzlich dem eigenen Körper nicht mehr vertrauen kann. Statt ihn zu pflegen, nach den Ursachen zu suchen, war ich wütend, weil er nicht funktionierte, da ich hier eine zusätzliche Quelle für Fehler und Versagen befürchtete.

Gerade jetzt ließ er mich im Stich. Dass ich selbst es war, der nicht mehr funktionierte, kam mir nicht in den Sinn. Jeder muss in meinem Gesicht gesehen haben, wie extrem unruhig ich da schon innerlich war. Ich war wie erstarrt, so wert- und wortlos fühlte ich mich. Und trotzdem ahnte ich selbst in diesem Zustand nicht, was für eine höllische und qualvolle Nacht mir noch bevorstehen würde. Dabei schien aus heutiger Sicht alles auf diesen Punkt zuzulaufen. Die meiste Zeit aßen wir schweigend, leichten Grillfisch mit Salat oder Nudeln, nie Fastfood, und starrten vor uns hin. Mir ging es nicht gut, ich war missmutig. Aber ich hatte selbst zu diesem Zeitpunkt nicht im Geringsten etwas geplant oder auch nur ansatzweise daran gedacht, dass ich mir das antun würde, was dann kam. Allerdings entwickelte der Abend eine Eigendynamik mit einer so rasanten Beschleunigung, der ich nicht gewachsen sein sollte. Als wir am Vorabend in Köln angekommen waren, wäre mir nicht in meinen schlimmsten Träumen eingefallen, welche dramatische Entwicklung mein Leben in den kommenden Stunden nehmen würde.

Unser Schiri-Team reist zur Sicherheit immer schon am Vortag des Spiels an, damit am Spieltag alle pünktlich vor Ort sind. Noch nie hat es in der Bundesliga einen Spielausfall gegeben, weil ein Schiedsrichter fehlte. Schon als wir im ICE von Hannover nach Köln saßen, werden meine Schiedsrichterassistenten Holger Henschel und Patrick Ittrichwohl gespürt haben, dass ich angeschlagen war. Wir kennen uns von vielen Spielen, jeder weiß, wie der andere tickt. Unser vierter Mann an der Linie, Frank Willenborg, 38 Jahre alt und seit 2004 DFB-Schiedsrichter, mit 1,88 Metern und 82 Kilo nicht zu übersehen, würde uns am nächsten Tag in Köln erwarten. Patrick Ittrich ist 32, ein drahtiger Polizeibeamter aus Hamburg, 1,80 Meter groß. Mit Holger Henschel verbinden mich zehn Jahre Spielerfahrung, aus der eine Art Freundschaft gewachsen ist. Holger ist 38 Jahre alt, in Braunschweig Rechtsanwalt von Beruf, 1,84 Meter groß. Eine gewisse Körpergröße ist wichtig, wenn die Spieler auf einen zustürmen und protestieren. Seit 2000 ist er selbst DFB-Schiedsrichter, loyal, erfahren und hat im Fußball schon alles mitgemacht.

Zuletzt im Frühjahr, am 1. April, beim Spielabbruch im Skandalspiel St. Pauli gegen Schalke, konnte er wieder miterleben, wie schnell sich das Stadion in einen Hexenkessel verwandeln kann. Schiedsrichter Deniz Aytekin hatte das Spiel in der 88. Minute beim Stand von 0:2 abgebrochen, nachdem Fans einen vollen Bierbecher gegen Schiedsrichterassistent Thorsten Schiffner geschleudert hatten und der zu Boden gegangen war. Es war die sechste Niederlage in Folge für die Stanislawski-Elf von St. Pauli und entsprechend aufgeheizt war die Stimmung. Der Fall ging bis vor das DFB-Schiedsgericht und St. Pauli bekam eine empfindliche Strafe. Trainer der Königsblauen von Schalke 04 bei diesem Spiel war Ralf Rangnick, der nur fünf Monate später, im September 2011, wegen akutem Erschöpfungssyndrom von einem Tag auf den anderen aus der Öffentlichkeit verschwand. Noch an diesem Abend hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich selbst auf dem Weg war, ein Opfer meiner Fußballleidenschaft zu werden. Jeder Arzt hätte die Symptome zu deuten gewusst, wenn ich nur Hilfe gesucht hätte. Aber ich tat es nicht. Ich weigerte mich zuzugeben, wie krank ich selbst schon war.

# # # 19.11.2011, 2:50 Uhr # # #

Während ich nach draußen auf die dunkle Stadt starrte, reflektierten im Fensterglas im Sekundentakt die blau aufleuchtenden Ziffern der Digitaluhr am Fernseher. Puls. Puls. Puls. Die ganze Nacht über hielt mich dieses Licht schon wach. Zehn vor drei Uhr. Ich konnte es nicht ausschalten, genauso wenig wie die gleichförmig wiederkehrenden Gedankenketten in meinem Kopf.

Für die Menschen da draußen versprach dieser 13. Spieltag der Bundesliga an diesem 19. November 2011 viel Spannung. Am Samstagabend erwartete im Topspiel des Tages der deutsche Rekordmeister FC Bayern München in der Allianz Arena den amtierenden Deutschen Meister Borussia Dortmund, für die Dortmunder eine Aufholjagd um den ersten Platz in der Tabelle und die erneute Meisterschaft. Viel Nervenkitzel versprach auch das Duell Borussia Mönchengladbach gegen Werder Bremen, die den Anschluss an den Tabellenführer halten wollten. Zwei Spiele mit den vier bestplatzierten Mannschaften. Schalke spekulierte auf einen Heimsieg in der VELTINS-Arena gegen Nürnberg, Freiburg spielte gegen Hertha BSC, Wolfsburg gegen Hannover 96. Für mich drohte der kommende Tag zu einer Katastrophe zu werden. Es waren nicht die anderen Spiele – es war das eine Spiel. Mein Spiel. Mein Endspiel.

Dieses Spiel wäre der Schlussakt, in dem mein ganzes Leben für den Fußball, meine Erfolge, meine Träume – und jetzt auch meine Angst – kondensiert würden auf 90 Minuten und eine Spielfläche von 105 mal 68 Meter im viereckigen Kasten des RheinEnergieStadions des Kölner FC.

Ausgerechnet hier in Köln hatte vor über sechs Jahren, am 6. August 2005, meine Karriere als Schiedsrichter in der 1. Bundesliga im deutschen Profifußball begonnen. 1. FC Köln gegen Mainz 05, mein erstes Spiel. Dieselbe Stadt, dasselbe Stadion, dieselben Mannschaften, derselbe Schiedsrichter. Ich würde wieder der Schiedsrichter sein.

Wochenlang hatte ich damals diesem Tag entgegengefiebert, trainiert, Videoanalysen der Spieler, ihrer Taktik und ihrer Tricks angeschaut. Ich war vorbereitet. Ich würde ein gutes Spiel abliefern. Ich weiß noch, wie sicher ich auf den Platz gelaufen bin. Meine Familie, die Kollegen, Freunde, Nachbarn – alle würden mich in der Sportschau sehen, würden sehen, dass ich wieder einen wichtigen Schritt auf dem Weg nach ganz oben geschafft hatte. Ich, Babak Rafati. Der Himmel über Köln schien offen und weit, ich würde weiter aufsteigen, erst die FIFA Champions League, die großen Finalspiele – am Ende vielleicht sogar die Weltmeisterschaft, der Traum eines jeden Schiedsrichters, die Krönung meiner Karriere. Die Kölner hatten damals 1:0 gewonnen. Abends hatten wir Einstand gefeiert. Ich war erschöpft, aber glücklich gewesen. Ausgerechnet mit der Begegnung, mit der alles begann, sollte alles wieder enden?

Dieses Glück war in dieser Nacht nur noch eine schemenhafte Erinnerung, die sich schnell verflüchtigte, immer wenn ich sie aufzurufen versuchte, um mich irgendwie noch zu motivieren für das Spiel, das jetzt immer bedrohlicher vor mir stand. Heute Nacht fühlte ich keine Freude – nur Angst vor meinem letzten Spiel. Ich könnte es schaffen, ich müsste mich nur zusammenreißen, es allen zeigen. Ich dürfte nur keine Sekunde unachtsam sein, müsste das Spielgeschehen im Griff behalten, souverän entscheiden und nur keinen Fehler machen. Und schon hing ich wieder in der Endlosschleife: »Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak. Fußball ist ein Geschäft, das Menschen verbrennt.« Ich kam aus dieser Fallgrube nicht mehr heraus, mir fehlte jede Kraft. Ich würde Fehler machen. Ich hatte aufgehört, an mich selbst zu glauben. Bei dem Spiel, das vor mir lag, stand der Verlierer schon fest – das würde ich sein. Ausgerechnet hier in Köln.

Ich weiß nicht, ob es eine Art Vorsehung war, die mir gerade in dieser Stadt besonders eindrucksvoll die Rote Karte zeigen, den letzten Tritt ins Abseits verpassen wollte – oder war es nur meine innere Stimme, die diesem Zufall solche Bedeutung gab? Einfach nur meine innere Stimme, die sich in dieser Nacht mit aller Gewalt Gehör verschaffte, so laut, dass ich sie diesmal nicht wieder überhören würde. Meine innere Stimme, die schon viel früher als der Schiedsrichter Babak Rafati wusste, dass endgültig Schluss sein musste, die mir immer wieder sagte: »Babak, das ist nicht mehr dein Spiel. Du wirst dieses Spiel nicht spielen, lass los, bevor es zu spät ist.« Doch ich war noch nicht so weit zu hören. Ich wollte nicht wahrhaben, dass ich das Ende erreicht hatte. Zu viele Jahre hatte ich Wochenende für Wochenende um meinen Aufstieg hart kämpfen müssen. Sollte ich das alles aus einer getrübten Stimmung heraus einfach so aufgeben, hinschmeißen, abhauen – was würden die anderen sagen? Wie würde ich dastehen vor all den Menschen, die ich liebte?

Ich versuchte seit Stunden zu schlafen, jedoch fiel mein Auge immer wieder auf diese Digitaluhr unterhalb des übergroßen TV-Flatscreen vor meinem Bett. Perfekt für Fußballübertragungen. Das Blinken der Uhr macht wahnsinnig, wenn man schlafen muss und nicht schlafen kann. Wenn man sich im Bett dreht, sich unruhig von Seite zu Seite wirft. Sich zur Ruhe zwingt und dadurch immer unruhiger und dann wütend wird, weil einen der Schlaf jetzt erst recht flieht. Das Licht scheint den ganzen Raum zu fluten. Es pulst durch das Kopfkissen, unter dem du deinen Kopf vergräbst. Durch das Handtuch, das du dir über die Augen legst. Und in meiner Verzweiflung über meine Schlaflosigkeit glaubte ich sogar, das Ticken zu hören – obwohl mein Verstand sagte, Babak, das ist eine Digitaluhr.

Diese Uhr, ihr blaues Licht würde in den kommenden Stunden meinen Wahnsinn beschleunigen. Das Pulsen dieser Uhr würde der Countdown in meinen Untergang sein. 2:55 Uhr. Es entwickelte sich ein extrem unerbittlicher Kampf mit dieser Uhr. Es war ein Wettrennen gegen die Zeit, denn ich rechnete immer wieder aus, wie viel Zeit bis zum Anpfiff blieb. Jede Sekunde ein Impuls, jedes Mal eine Sekunde, die mich weitertrieb Richtung Spielbeginn. 15:30 Uhr Anpfiff. Köln gegen Mainz. Hellmut Krug, nicht gerade einer meiner Förderer, würde im Stadion sitzen und seine Aufgabe wäre, auf einen Fehler von mir zu lauern. Es gibt kein Spiel ohne Fehler für einen Schiedsrichter, immer wieder verschwindet das Spiel im Graubereich. Niemand ist unfehlbar. »Fußball ist ein Geschäft, das Menschen verbrennt. Jeder darf einen Fehler machen – nur du nicht, Babak.« Herbert Fandel, von dem dieser Satz stammt und Vorsitzender der DFB-Schiedsrichterkommission, würde Krugs Fehlerliste aufgreifen und dann würde alles seinen Lauf nehmen. Wie sollte ich dieses Spiel so unausgeschlafen überstehen? Ich war an einem Punkt angelangt, wo es kein Zurück mehr zu geben schien.

Nach dem Abendessen waren wir ins Hotel zurückgefahren. Unten in der Hotellobby saß Malik Fathi von Mainz 05, weil die Mannschaft im selben Hotel untergebracht war. Ich wollte gut Wetter machen, nach meinen vier »verpfiffenen« Spielen, zum Teil mit Fehlentscheidungen gegen Mainz 05, und ging auf ihn zu. Immer wieder Mainz 05. Dieser Verein und ich hatten in dieser Vorsaison eine üble Vorgeschichte. HSV gegen Mainz 05. Mein »Wembley-Tor« in Hamburg, 6. März 2011. 1:0 gegen Mainz 05. Eine Fehlentscheidung! Der Aufruhr danach. Unvergessen. Und acht Monate später immer noch nicht bewältigt. Die Fans waren immer noch geladen. Ich wusste, dass morgen die ganze Bundesliga beim kleinsten Fehler von mir wieder Kopf stehen würde. So wollte ich Fathi ein versöhnliches Signal geben. Ich tippte ihm freundlich auf die Schulter, machte auf locker, machte ein bisschen Smalltalk, merkte aber schnell, wie die Blockade in meinem Kopf mich um jedes Wort ringen ließ und meine Fassade zu kollabieren drohte. Ich quälte mir noch ein paar aufmunternde Worte für das morgige Spiel raus und ging. Normal trinken wir noch kurz an der Hotelbar ein Abschlussbier, an diesem Abend aber standen wir alle unter dem Eindruck des bevorstehenden Spiels. Und nachdem wir uns schon beim Essen angeschwiegen hatten, ließ ich das letzte Bier an der Bar ausfallen, zumal ich keine Lust verspürte, einen weiteren Smalltalk führen zu müssen. Wir gingen alle viel früher als sonst auf unsere Zimmer. Und hier begann der Anfang vom Ende eines Albtraums. Der Punkt, auf den ich mich wie von unsichtbaren Fäden gezogen seit Monaten zubewegt hatte.

Als ich mein Zimmer betrat, spürte ich sofort, dass an diesem Abend alles anders werden sollte. Das Zimmer kam mir unwirklich, imaginär, wie gefüllt mit einem Nebel vor. Als ich eintrat, hatte ich das Gefühl, dass es mich mit einem Ruck einsaugte, mich eine treibende Kraft hinter die Tür dieses Hotelzimmers wuchtete. Die Tür flog hinter mir, wie von einem Sturm getrieben, sehr heftig zu, Luft heulte durch die Fugen hinaus und ließ mich zurück in einem Vakuum. Ich saß in meinem Kerker. Man hört immer, dass ein Mensch, kurz bevor er stirbt, sein ganzes Leben noch mal in Millisekunden in einer Art Zeitrafferfilm an sich vorüberziehen sieht. Bei mir dauerte dieser Film eine ganze Nacht. Schicht für Schicht, Stück für Stück würde ich die Bilder meiner Erinnerungen bis in alle Einzelteile zerlegen, bis ich den Kern wiederfinden würde, der mein Leben war und von dem ich annahm, dass ich es für immer verloren hatte. In dieser Nacht suchte ich den Punkt, wann es begonnen hatte schiefzulaufen. Und ich fragte mich, warum ich es nicht aufgehalten hatte. Warum ich nicht gesehen, nicht verstanden, nicht erkannt hatte, was dabei war, mich zu zerstören. Warum ich nicht rechtzeitig reagiert hatte, um mich zu retten. Warum ich es nicht geschafft hatte, mich abzuwenden und ein neues Leben zu beginnen. In dieser Nacht schien alles so logisch zu sein. Ich war schuld. Ich hätte selbst alles ändern können. Dieser Prozess des Erkennens, so scheint mir heute, ließ sich nur durch die enorme Gewalt der Verzweiflung freisetzen. Das hier ist die Geschichte meiner Zertrümmerung.

■ ■ ■

Katastrophen beginnen meist ganz unscheinbar. Bei mir begann der Riss, der mein Leben wie eine Eisscholle in Stücke sprengen sollte – mit einem Riss in meinem hinteren Oberschenkelmuskel. Er war nicht die Ursache, aber das Symptom, dass mein Leben dabei war, aus dem Gleichgewicht zu kippen. Es geschah in der 10. Minute beim Spiel Dynamo Tiflis gegen Banik Ostrau, dem damaligen FC Bayern Tschechiens, im Sommer 2010. Ein peitschendes Ziehen, das kalt brannte. Ich war gewohnt, körperlichen Schmerz zu ignorieren, und pfiff das Spiel bis zum Ende durch. In den folgenden Tagen hatte ich wegen meiner beruflichen Belastung keine Zeit gefunden, mich von einem Arzt behandeln zu lassen – oder anders ausgedrückt: Ich hatte mir die Zeit nicht genommen, auf meinen Körper zu achten.

Ich war nicht nur Schiedsrichter im Profifußball, sondern auch Filialleiter einer Bank und hatte doppelten Terminstress. Vor allem, wenn in der Vorwoche wegen des Trainings und der Spiele einiges im Büro liegen geblieben war. Zudem war ich sicher, dass es sich nur um eine leichte Blessur handelte, die ich wie gewohnt einfach so wegstecken würde. Vier Tage später fuhr ich auf den Sommerlehrgang der Schiedsrichter im idyllischen Altensteig-Wart bei Stuttgart, in Baden-Württemberg. Das Ziehen im Oberschenkel hatte nicht nachgelassen.

Dieser Lehrgang ist als »Schiri-TÜV« berüchtigt, weil bei den dort stattfindenden körperlichen Leistungsprüfungen die Fitness für die kommende Saison getestet wird. Unter anderem gibt es den Sprinttest (6 x 40 Meter in je maximal 6,2 Sekunden) und anschließend den Konditionstest (HIT-Test-Intervall, bei dem eine Strecke von 150 Meter in 30 Sekunden gelaufen und 50 Meter in 35 Sekunden gegangen werden). Dieser Belastung muss man sich 20 Mal hintereinander aussetzen. Das Prozedere ist bei den Mannschaften der Bundesliga in ihren Trainingslagern ähnlich und auch Bestandteil ihrer Saisonvorbereitung, die sehr kraftraubend ist. Wer im Urlaub während der Sommerpause nicht regelmäßig hart trainiert und auf die Gewichtsreduktion geachtet hat, muss bei schlechten Bewertungen um seine Aufstellung fürchten. Zu den Läufen über 13 Kilometer Distanz, die ich jeden zweiten Tag frühmorgens oder nach der Arbeit absolvierte, hatte ich mir zusätzliche Trainingseinheiten im Fitnessstudio auferlegt.

Als ich in Altensteig-Wart ankam, war ich in Sorge, ob ich wegen meiner Verletzung die Qualifikation für die kommende Saison meistern würde. Das Sommertrainingslager stand zudem unter den besonders ungünstigen Vorzeichen der Machtkämpfe und Intrigen zwischen DFB, Liga und der Schiedsrichterkommission. Es hatte Skandale gegeben. Da war der Wettskandal um die gekauften Bundesligaspiele um den Bundesligareferee der Zweiten Liga, Robert Hoyzer. Und die Geschichte um die angebliche homoerotische Beziehung zwischen dem ehemaligen Unparteiischen Manfred Amerell, bis kurz zuvor Sprecher des DFB-Schiedsrichterausschusses, und dem Bundesligareferee Michael Kempter, die dermaßen eskalierte, dass am Ende die Steuerfahndung bis in die Spitze der Schiedsrichterkommission gegen 70 Schiedsrichter wegen angeblich nicht versteuerter Honorare bei Auslandsspielen ermittelte.

Die damit einhergehenden Machtkämpfe im DFB hatten schließlich meinem Förderer im DFB, Volker Roth, nach 16 Jahren den Job als Schiedsrichterobmann gekostet. Der DFB warf Roth vor, im Fall Manfred Amerell seiner Informationspflicht nicht nachgekommen zu sein. Was Roth unter Hinweis auf die Statuten, seine Sorgfaltspflicht und seine Vertrauensposition gegenüber den ihm anvertrauten Schiedsrichtern immer energisch bestritten hatte. Vergeblich. In Wirklichkeit war es wohl so, dass im Intrigantenstadl DFB der eine oder andere Roth aus ganz anderen Gründen schnellstmöglich loswerden wollte und die Gelegenheit dafür günstig schien. Der machtbewusste Roth, in den fast 16 Jahren als Schiedsrichterobmann zu einer wehrhaften Institution herangewachsen, ließ sich von niemandem in seinen Bereich hineinreden. Damit wurde er vermutlich zum Problem. Den einen war er mit 68 Jahren zu alt und den anderen vor allem zu unbeugsam.

Einer seiner gefährlichsten Gegenspieler im DFB war Hellmut Krug, von Beruf Oberstudienrat. Der ehemalige FIFA-Schiedsrichter war Abteilungsleiter der DFB-Schiedsrichter und betrieb zunächst verdeckt und dann ganz offen die Entmachtung Roths, angeblich weil er Reformen durchsetzen wollte, die Roth verweigerte. Es hieß immer, es ginge ihm vor allem um die Modernisierung der Schiedsrichtergilde und deren Anpassung an die Erfordernisse des modernen Fußballs. Es ging ihm aber auch und vermutlich nicht zuletzt um die Macht. Nachdem der Putsch Krugs gegen seinen Vorgesetzten Roth jämmerlich gescheitert war, drehte Roth den Spieß um und betrieb konsequent den Rausschmiss seines alles andere als stets illoyalen Mitarbeiters. Krug musste im Spätsommer 2007 gehen. Für Hellmut Krug dürfte dies existenzielle Auswirkungen gehabt haben. Der einstige Gymnasiallehrer hatte mit Beginn seiner hauptberuflichen Tätigkeit für den DFB auch seinen Job als »Sportfachkraft der AOK in Gelsenkirchen« aufgegeben. Damit war der einst so siegesgewiss wirkende Hellmut Krug nach einem Monat Krieg gegen Roth plötzlich ohne Aufgabe und stand mit dem Rücken zur Wand. Das jedenfalls könnte erklären, wie erbittert die Auseinandersetzung im Weiteren geführt wurde. Roth war seinen Widersacher endlich los. Dachte er.

Der zweite große Gegenspieler Roths aber war die Deutsche Fußball Liga (DFL), der Zusammenschluss der deutschen Fußballvereine, die mehr Einfluss wollte, den sie gegen Roth aber nicht durchsetzen konnte. Und jetzt passierte Folgendes: Kurz nach seinem Ausscheiden beim DFB wechselte Krug wenige Wochen später die Seiten und heuerte am 1. Oktober 2007 bei der DFL als »Schiedsrichterberater« an, die ihn zum Entsetzen Volker Roths als DFL-Vertreter zurück in die Schiedsrichterkommission entsandte. Krug fuhr plötzlich in einer Mercedeslimousine als Dienstwagen beim DFB vor und hatte ein Gehalt, von dem er als »AOK-Sportfachkraft« vermutlich nur geträumt haben dürfte. Damit saßen sich Krug und Roth wieder unversöhnlich an einem Tisch gegenüber. Roth lehnte jedes Gespräch mit Krug ab. Er hatte seinen erklärten Gegner zurück, der jetzt, davon durfte man ausgehen, mit allen Mitteln und der Macht der DFL im Hintergrund auf Roths Abschied hinwirkte. Auf Beobachter wirkte es so, als sei ein Ziel Roths Eigenständigkeit zu brechen und den Einfluss der DFL und damit der Vereinsbosse auf die Schiedsrichter zu erhöhen.

Die Deutsche Fußball Liga vertritt die Interessen der deutschen Profifußballvereine gegenüber dem Deutschen Fußball-Bund (DFB). Die Schiedsrichter wiederum unterstehen dem DFB, weil sie unabhängig von den Interessen der Vereine die Spiele leiten sollen. Spiele, für deren Veranstaltung und Finanzierung wiederum die DFL zuständig ist. Dafür verkauft sie im Namen der Vereine die Übertragungsrechte für Fernsehen, Hörfunk und Internet und sitzt damit auf einem milliardenschweren Geldsack, aus dem die DFL mit ca. vier Millionen Euro im Jahr – und hier schließt sich der Kreis – den DFB mitfinanziert. 2012 vereinbarte die DFL für die Übertragungslizenzen der kommenden vier Spielzeiten eine Summe von über 2,2 Milliarden Euro. Als der Bezahlsender Sky im Frühjahr 2012 nach einem Bieterverfahren den Zuschlag erhielt, stieg die Aktie zeitweise um 22 Prozent.

Wer das Geld hat, hat das Sagen – das ist auch im deutschen Fußball so. Fußball ist ein Milliardengeschäft. Aus den traditionellen Fußballvereinen sind mittlerweile Wirtschaftsunternehmen geworden, die man gemessen an ihren Millionenumsätzen mit DAX- oder MDAX-Unternehmen vergleichen kann. Der FC Bayern hatte im Geschäftsjahr 2010 / 2011 einen Umsatz von 321 Millionen Euro bei einem Gewinn von 32 Millionen Euro. Der FCB lag damit an vierter Stelle der umsatzstärksten Fußballvereine Europas hinter Real Madrid mit 480 Millionen, dem FC Barcelona mit 450 Millionen und Manchester United mit 367 Millionen. Auch viele der anderen Bundesligavereine spielen ganz oben mit, Schalke 04 mit über 200 Millionen Umsatz oder der HSV mit 128 Millionen. Und damit man sieht, wie der sportliche Erfolg von BVB-Trainer Jürgen Klopp die Finanzen beeinflusst: Borussia Dortmund schaffte mit der Meisterschaft den Sprung von 33 Millionen Umsatz auf 138 Millionen Euro innerhalb eines Jahres. Somit hängen sehr viele wirtschaftliche Interessen an diesen Vereinen, die auch die Infrastruktur einer ganzen Region beeinflussen können. Was wiederum die Politik auf den Plan ruft. Den modernen Profifußball umgibt ein Machtgeschiebe, in dem der Sport in den Hintergrund zu treten scheint. Den Akteuren kommt eine immense Bedeutung zu. Entsprechend steigt auch der mediale Unterhaltungsfaktor für alle, die an diesem gigantischen Geschäft maßgeblich beteiligt sind. Und dazu gehören auch die Medien.

Der Druck auf die Schiedsrichter ist mit den schwindelerregenden Umsätzen in den vergangenen Jahren immens gestiegen. Denn eine Mannschaft, die wegen nachteiliger Schiedsrichterentscheidungen aus der Bundesliga oder den europäischen Wettbewerben fliegt, verliert zig Millionen Einnahmen durch eine fehlende Beteiligung an den Vermarktungs- und TV-Rechten. Fehlende Millionen bedeuten weniger Geld für Spielereinkäufe – und einen immer weiteren Abstand zur internationalen Spitze, denn dort wird von den Vereinen erst richtig Geld verdient. Zynisch gesprochen stellen also Schiedsrichter für jeden Vereinspräsidenten eine potenzielle Gefahr für den reibungslosen Ablauf ihrer Geschäfte dar, und dementsprechend emotional sind auch die Reaktionen der Vereine, ihrer Manager, Trainer und der Spieler auf dem Platz, wenn die Spiele nicht in ihrem Sinne laufen.

Um solche Gefahren für die Vereine schon im Vorfeld zu minimieren, so war die Befürchtung unter vielen Schiedsrichtern, sollte Hellmut Krug jetzt Einfluss im Sinne der DFL, hin zu einer noch stärkeren Professionalisierung des Schiedsrichterwesens, nehmen. Daneben ergab sich für Krug mit dem Seitenwechsel zur mächtigen Liga die möglicherweise nich ganz unwillkommene Gelegenheit, seinem Erzrivalen Volker Roth weiter das Leben schwer zu machen und ihn womöglich so doch noch zur Demission zu veranlassen. Krug und Roth belauerten sich monatelang, wer von beiden zuerst den entscheidenden Fehler machen würde. Krug war nicht irgendwer, er hatte Kompetenz und Machtinstinkte und war mit der DFL im Rücken zu einem mächtigen Mann im deutschen Fußball geworden.

Krug begann 1984 im Alter von 28 Jahren seine DFB-Karriere als Schiedsrichter im Profifußball. Insgesamt leitete er über 240 Bundesligaspiele, ein DFB-Pokalfinale, als FIFA-Schiedsrichter 29 Länderspiele und 40 Europapokalspiele, darunter mehrere Finales, 1994 war er Schiedsrichter bei der Fußballweltmeisterschaft und dreimal wurde er zum Schiedsrichter des Jahres gewählt. Krug hatte alles erreicht, wovon ich träumte. Ich sage das ohne Neid, weil ich uneingeschränkt seine fachliche Kompetenz anerkenne. Nach seinem Ausscheiden als aktiver Schiedsrichter war er ab 2003 in der Schiedsrichterausbildung tätig. Krugs Machtspiele im DFB aber sind mir immer fremd geblieben. Volker Roth hatte mich immer gefördert, ich galt im Kollegenkreis als Anhänger Roths und zeigte Krug deshalb auch immer sehr deutlich, was ich von seinen Spielchen gegen Roth hielt. Und damit rutschte ich mit dem Machtwechsel und der jetzt fehlenden Deckung durch Roth automatisch in Hellmut Krugs Wahrnehmungsbereich.

Im Umfeld des Skandals um die Beziehung zwischen dem inzwischen verstorbenen Schiedsrichter Amerell und seinem Kollegen Kempter wurde Roth zu Unrecht vorgeworfen, er habe, als er von Amerells Neigungen erfuhr, nicht umgehend die DFB-Spitze informiert. Trotzdem wurde der Druck irgendwann zu stark und schließlich war die Stunde des Untergangs gekommen. Ich wäre nicht erstaunt, wenn bei der DFL daraufhin der eine oder andere Korken geknallt hätte. Kurz zuvor hatte sich DFL-Präsident Rauball bei der Präsidiums- und Vorstandssitzung des DFB mit dem Satz »Ich vertraue darauf, dass Herr Zwanziger ein Gespräch mit Herrn Roth sucht, ob es möglich ist, dass er sein Amt am 9. April an Herrn Fandel übergibt«, für eine Art Zwangsrücktritt von Roth ausgesprochen. Es war jedenfalls ein unwürdiger Abgang für diesen verdienten, fähigen und – für die, die ihn nicht besser kannten – als sperrig verschrienen Mann. Roth musste nach nicht nur meiner Einschätzung wohl auch deshalb gehen, weil er der DFL eben nicht gutwillig genug schien und seinen Schiedsrichterbereich gegen Einflussnahmen von außen durch meterdicke Betonmauern abschottete. Mauern, die so stark waren, dass Roth von Rauball vorgeworfen wurde, wir Schiedsrichter würden wie eine Art Geheimbund geführt – was doch eigentlich denen einfallen konnte, die gerne mehr Einfluss genommen hätten, Roth aber nicht umspielen konnten.

Roth war selbst erfolgreicher Unternehmer und trat den Vereinsbossen und den DFL-Managern gegenüber entsprechend selbstbewusst auf. Er hatte eine hohe Sozialkompetenz, trotz all des Leistungsdrucks, den er konsequent aufrecht erhielt. Er verstand es, einen Schiedsrichter per Klartext hart zu kritisieren – und ihn dennoch motiviert und einsichtig aus dem Gespräch zu verabschieden. Er baute seine Leute auf. Langfristig. Er gab einem Sicherheit. Was er sagte, war immer sachlich begründet. Harte Kritik gab’s nur unter vier Augen und nie vor den anderen und danach reichte er einem immer wieder die Hand zur Versöhnung. Wenn einer mal ein Tief hatte und in den Medien durchgeprügelt wurde, machte er nicht viele Worte und wusste die normalen sportlichen Schwächeperioden seines Schiedsrichters mit geschickt defensiven Spielansetzungen national wie auch international zu überbrücken. Roths designierter Nachfolger war Herbert Fandel. Roth war ein Meister im Ansetzen und Fandel hatte als sein bester Schüler gelernt, wie man Schiedsrichter auf risikolose Spiele ansetzt und sie damit aus der Schusslinie der öffentlichen Aufmerksamkeit nimmt – weshalb ich mir sicher bin, dass keine meiner späteren Ansetzungen – vor allem die bei Mainz 05 – ein Zufall waren. Aber dazu später.

Roth ging mit seinen Schiedsrichtern durch dick und dünn. Es gab in meinen Anfängen einige Fälle, bei denen Schiedsrichter nicht ihre Leistung erbrachten und die Medien sie entsprechend hart kritisierten. Aber Roth entzog ihnen nicht das Vertrauen, sondern hielt über mehrere Jahre öffentlicher Kritik stets zu ihnen, was sich im Nachhinein immer bewährt hat. Diese Schiedsrichter sind ihm heute noch – wie ich weiß – dafür dankbar, denn sie haben sich in der Bundesliga und international zu absolut festen Größen entwickelt. Bei Roth konnte jeder sicher sein, der Chef steht hinter einem und bei Bedarf auch schützend davor.

Einmal schrieb ein Journalist im Internet, dass ich wegen meiner persischen Herkunft nur ein »Quoten-Schiedsrichter« sei und der DFB mich nur dulde, weil man auch einen Ausländer als Schiedsrichter präsentieren wolle. Das war nicht nur ausländerfeindlich – sondern schlicht falsch: Denn ich bin deutscher Staatsbürger. Und ich fühle mich als Deutscher. Ich träume sogar als Deutscher. Volker Roth reagierte sofort und unnachgiebig über den DFB und drohte mit der Staatsanwaltschaft, sodass der Artikel bald aus dem Netz entfernt wurde. Das war die Rückendeckung und Stärkung, die Volker Roth jedem seiner Schiedsrichter gab. Bei ihm war man keine Nummer. Sondern Mensch.

Als Roth ein anderes Mal bei einer Pressekonferenz gefragt wurde, was er denn dazu sage, dass ich zum dritten Mal zum schlechtesten Schiedsrichter gewählt worden sei, sagte Roth ganz einfach nur: »Nichts«. Auf die Nachfrage, dass er dazu doch eine Meinung haben müsse, sagte er nur: »Ein Schiedsrichter muss nicht beliebt sein, sondern autoritär. Diese Umfrage wird bei Spielern durchgeführt. Was soll denn da anderes herauskommen? Ich selbst sehe, was unsere Schiedsrichter können, und wir haben zudem intern Fachleute, die das bewerten.«

Roth schien druckresistent gegen jede Einflussnahme von außen. Er ließ jeden Schiedsrichter seine eigene Persönlichkeit auf dem Spielfeld frei entfalten. Hauptsache, man hatte eine – und war durchsetzungsstark. Er wusste durchaus, dass einige – wie auch ich – im Auftreten nicht beliebt waren und polarisierten, aber er störte sich nicht daran, denn er wollte keine durchgeklonten »Lieblinge« für die Bundesliga programmieren, sondern Persönlichkeiten als überragende Spielleiter. Roth sagte es nicht nur, sondern stand dazu und handelte danach, dass ein Schiedsrichter nicht unfehlbar sein könne – was ich später noch bitter vermissen sollte. Er schützte seine Schiedsrichter in der Öffentlichkeit, wenn sie zu Unrecht kritisiert wurden, und das machte uns stark.

Als ich am 26. August 2007 im Zweitligaspiel Alemannia Aachen – Kickers Offenbach von einem Reporter in einer Szene während der Livekonferenz kritisiert wurde, ließ Volker Roth noch während der laufenden Berichterstattung einen seiner Mitarbeiter in der Redaktion anrufen. Der Reporter solle sich bitte revidieren, da er die Regel völlig falsch und zu Lasten des Schiedsrichters ausgelegt hätte. Der Chefredakteur informierte seinen Reporter und in der anschließenden Zusammenfassung stellte dieser alles wieder klar. Das war kein Eingriff in die redaktionelle Freiheit. Roth hatte eine nachweisbare Falschinformation zu meinen Lasten umgehend richtiggestellt. Ich erfuhr von dieser Geschichte erst Monate später, als der besagte Reporter mich wieder traf und mir diese Story erzählte und sich für seinen Irrtum entschuldigte. Auch das war Roth. Tue Gutes und sprich nicht darüber. Für ihn war das eine Selbstverständlichkeit.

Mit der gleichen Souveränität ignorierte er auch stets Beschwerdebriefe von Vereinsvorsitzenden gegen seine Spitzenschiris. Besonders heftige Beschwerden konterte Roth, indem er den kritisierten Schiedsrichter erst recht für die folgenden Topspiele des betreffenden Vereins ansetzte, womit er die Vereinsvorstände zur Verzweiflung trieb – ihm aber in der DFL nicht gerade Sympathien einbrachte – was sich noch rächen sollte. Selbst Krug genoss damals als aktiver Schiedsrichter unter Roth als Schiedsrichter-Boss diesen uneingeschränkten Schutz. Als Uli Hoeneß von Bayern München, den ich heute noch sehr schätze, einmal über Krug heftig schimpfte und diesen für zukünftige Spiele der Bayern ablehnte, pfiff Krug trotz dessen ein halbes Jahr später erneut ein Spiel der Bayern. Roth vertrat die klare Meinung, dass das System Schiedsrichter unabhängig sei und sich von niemandem reinreden lassen dürfe.

Das war Volker Roth in meiner Erinnerung. Und dieser Mann sollte jetzt gehen. Roth selbst vermutete wohl damals nicht zu Unrecht Heckenschützen weit oben aus dem Bereich der DFL, wo bekanntlich auch Roths Gegenspieler Hellmut Krug seine Strippen zog. Nur wenige Details dieser Intrigen sind in die Öffentlichkeit gelangt. In dieser Hinsicht führt die heutige Schiedsrichterkommission ihre Schiedsrichter tatsächlich wie einen Geheimbund. Roths Schiedsrichter haben zum Beispiel – was kaum bekannt ist – noch den Versuch unternommen, mit einer Petition an das DFB-Präsidium und Theo Zwanziger Roths Entlassung zu verhindern. Ich zitiere aus dieser Petition, weil sie so gut beschreibt, wie sehr die Arbeit Volker Roths – bis auf wenige Ausnahmen – von der Gesamtheit der Schiedsrichter geschätzt wurde:

»Mit Bestürzung und Unverständnis haben wir die (medialen) Rücktrittsforderungen an den Vorsitzenden des DFB-Schiedsrichter-Ausschusses, Volker Roth, vernommen. Einstimmig bekennen wir uns hiermit zur hervorragenden Arbeit und zum Führungsstil von Volker Roth. Die hohe Wertschätzung der deutschen Schiedsrichter im Ausland – dokumentiert durch die Leitung mehrerer internationaler Endspiele in den vergangenen Jahren und nahezu wöchentlichen Anforderungen zu Spielleitungen in anderen nationalen Ligen – ist nicht zuletzt ein Verdienst des Wirkens von Volker Roth in den letzten eineinhalb Jahrzehnten. Wir fühlen uns von Volker Roth mit Weitsicht, hoher Fachkompetenz, respektvoll, tolerant und unabhängig geführt, vertreten und begleitet. Für Volker Roth steht immer die Sache im Vordergrund, nicht die eigene Person. Sein Ansinnen ist es immer, dem Fußball, den Vereinen und den unzähligen Fans, in der Spitze und in der Breite bestmöglich ausgebildete Schiedsrichter für die Leitung der Spiele zur Verfügung zu stellen. Dass wir Schiedsrichter als Sportler und Menschen dabei Situationen auf dem Spielfeld auch falsch wahrnehmen und einschätzen, liegt in der Natur der Sache. Volker Roths Bestreben ist es immer, die Qualität der Schiedsrichter zu verbessern, zu optimieren und eine einheitliche Regelauslegung zu erzielen. Unser einstimmiger Wunsch ist, dass wir durch Volker Roth bis zur geplanten Übergabe beim nächsten Bundestag weitergeführt werden.«

Diese Petition richtete sich nicht einmal gegen Fandel, sie setzte sich im Weiteren sogar für Fandel als Nachfolger Roths ein –, aber sie hat das DFB-Präsidium trotzdem nie erreicht. Ausgerechnet Roths designierter Nachfolger Herbert Fandel machte Druck und unterband das Ansinnen einer Petition mithilfe einiger seiner Getreuen. Roth sollte am Ende nicht einmal den regulären Übergang auf seinen bereits benannten Nachfolger Herbert Fandel abwarten dürfen und sofort gehen. Womit der zweite Hauptakteur meiner Geschichte, so wie ich sie erlebt habe, benannt wäre: Herbert Fandel.

Fandel studierte Klavier, war Sieger des Mendelssohn-Wettbewerbes in Köln 1988, spielte Rundfunkaufnahmen ein und gab Konzerte im In- und Ausland. Warum ein so talentierter Konzertpianist später hauptberuflich als Leiter der Kreismusikschule Bitburg-Prüm in der Provinz landete, weiß keiner. Auf die Frage, warum er Schiedsrichter geworden sei, sagt Fandel, der in seiner Eifler Mundart gefärbt spricht: »Ich wollte etwas darstellen und dem Fußball helfen. Ich wollte das Gefühl haben, etwas gelernt zu haben und zu können – wie ein Handwerker.« In Wahrheit hatte ihn sein Vater zum Fußball gebracht. Sein Erweckungserlebnis habe er als 13-Jähriger gehabt. »Hier, Herbert, du pfeifst«, habe ihm sein Vater gesagt, als bei einem Spiel seiner Jugendmannschaft der Schiedsrichter ausgefallen war, erinnert sich Fandel an diesen »wunderbaren Moment«. »Ich durfte Verantwortung tragen.«

Fandels Karriere gleicht meiner, 16 Jahre quälte er sich Wochenende für Wochenende durch sämtliche untere Klassen, bis er 1989 Bundesligaschiedsrichter unter Volker Roth wurde. Insgesamt leitete er über 50 Spiele in der zweiten und 247 Spiele in der ersten Bundesliga. Er wurde FIFA-Schiedsrichter, war wie ich damit unter den deutschen Top Ten. 2000 nahm er an den olympischen Spielen in Sydney und der Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz teil. DFB-Pokal-Finale, UEFA-Pokal-Finale, Champions-League-Finale und viermal Schiedsrichter der Saison, dreimal zusammen mit Markus Merk. Fandel belegte – ebenso wie ich – zeitweise Platz 1 auf der Kicker-Liste der schlechtesten Schiedsrichter, zum Beispiel im Mai 2006, nicht zuletzt wegen seines rigorosen Auftretens und seiner arroganten Körpersprache auf dem Platz, die – wie bei mir – auch immer wieder kritisiert wurde.

Fandel ist wie Krug ein Toppprofi. Fandel war mit allen per Du. Aber wie ein richtiger Kumpel kam er mir nie vor. Er hatte in meinen Augen immer etwas Berechnendes, erschien mir wie ein großer Stratege, der Menschen mit seinem eleganten Charme einnimmt und bei dem ich es für möglich hielt, dass er sie dann gezielt für seine Zwecke manipuliert. Wenn Fandel sagt, der Einzelne müsse hinter dem Ganzen zurückstehen, ist allergrößte Vorsicht geboten, denn mit dem großen Ganzen meint er vermutlich nicht selten sich selbst, allein schon wegen seiner hünenhaften Körpergröße. Im Zuge der Bekanntmachung der »Manfred Amerell-Affäre« sprach sich Fandel zwar öffentlich gegen eine geforderte vorzeitige Abberufung Roths aus, unterstützte ihn aber nach meinem Eindruck intern nicht mit aller Kraft. Am 21. Mai 2010 war es soweit: Herbert Fandel wurde Nachfolger von Volker Roth als Vorsitzender der DFB-Schiedsrichterkommission. Ihr Verhältnis dürfte danach nicht völlig unbelastet gewesen sein. In einer Reportage über ihn sagte Fandel über sein Verständnis des Schiedsrichters: »Wir sind ja im Prinzip keine Teamsportler wie Fußballer – wir sind Einzelkämpfer.«

Fandel wäre nie Schiedsrichterobmann gegen den Willen von Krug geworden. Jetzt, wo Roth weg war, wurde Krug mit der DFL-Unterstützung im Rücken zum stärksten Mann im Schiedsrichterbereich, der mit Fandel nicht gerade einen kritischen Gegenspieler, sondern eher einen willfährigen »Sidekick« bekam. Krug moderierte Entscheidungen, Fandel führte aus, so der Eindruck vieler Beobachter. Beide waren allem Anschein nach über Jahre eng befreundet gewesen. Das schien sich nach dem ersten Putschversuch Krugs gegen Volker Roth geändert zu haben. Fandel, wie auch Krug, war von Roth jahrelang intensiv gefördert worden und hatte vermutlich gute Gründe, sich gegenüber Roth loyal zu zeigen und sich auf dessen Seite zu schlagen – was ihm nicht weiter schwergefallen sein dürfte, als schnell sichtbar wurde, dass Krug den Kürzeren ziehen würde. Er habe Krug die Freundschaft gekündigt, der Krug sei bei ihm unten durch, »mit dem nicht mehr«, hörte man in Schiedsrichterkreisen Fandel jetzt häufiger sagen. Das muss sich dann aber schlagartig mit der Bestellung Krugs zum mächtigen Berater für das Schiedsrichterwesen bei der DFL geändert haben, denn danach erweckten beide rasch wieder den Eindruck, keine Probleme miteinander zu haben und vielmehr persönlich gut miteinander auszukommen.

Eigentlich hatte Fandel nie wie jemand gewirkt, der vorhatte, Roths Nachfolger zu werden. Fandel sagte immer, er wolle den Job nicht, weil er zu schlecht bezahlt sei, er habe Familie, da müsse das Gehalt stimmen. Irgendetwas muss hier passiert sein, dass Fandel dann trotzdem den Job von Volker Roth übernahm. Plötzlich sah man Fandel und Krug wieder im vertraulichen Zwiegespräch. Und irgendwie schienen sie auch sonst wieder »ziemlich beste Freunde« zu sein, wobei der Krug den Fandel durch die Gegend schob. Wahrscheinlich hatten die beiden Karrierestrategen entdeckt, dass sie einander brauchen würden, um die Dinge im DFB nach ihren Vorstellungen zu verändern. Über Fandel konnte Krug nun, falls er das wollte, aus dem Hintergrund im bisher von Roth abgeschotteten Bereich der DFB-Schiedsrichter die Strippen im Sinne der Liga ziehen – und Fandel über Krug, was er letztlich auch erreichte, via DFL für die passenden Gehaltsstrukturen im gesamten Schiedsrichterwesen sorgen. Eigentlich sind derartige Einflussnahmen der Liga nicht vorgesehen, denn Deutschland unterliegt der UEFA-Konvention, die eine klare Trennung zwischen den Vereinen und der Schiedsrichterorganisation vorsieht. Diese Gewaltenteilung ist sinnvoll, denn schließlich sollen Schiedsrichter unabhängig und ohne Einflussnahme von außen das Spielgeschehen leiten. Würden die Schiedsrichter über die DFL direkt von den Vereinen angestellt und bezahlt, müssten sie vermutlich – sprichwörtlich – nach deren Pfeife tanzen. Genau deshalb sieht die UEFA-Konvention eine Trennung vor.

Unter diesem Gesichtspunkt erschien es vielen von uns seltsam, dass ein bei einem Unternehmen wie der Deutschen Fußball Liga GmbH angestellter »Berater« für das Schiedsrichterwesen wie Hellmut Krug gleichzeitig auch als Mitglied der DFB-Schiedsrichterkommission über das berufliche Schicksal der Schiedsrichter mitentscheiden durfte. Schon damals gab es den wiederholt von DFL-Vorsitzenden Christian Seifert geäußerten Wunsch, den Komplex der Schiedsrichter im Profifußball aus dem DFB zu lösen und in eine neu zu gründende Tochtergesellschaft unter je 50-prozentiger Leitung von DFL und DFB zu überführen – angeblich, um die Professionalisierung besser vorantreiben zu können. Die Notwendigkeit schien kaum jemandem plausibel, zumal das deutsche Schiedsrichterwesen ohnehin zu den weltweit modernsten gehört. Es sei denn, Geld und Einfluss würden eine genauso große Rolle spielen. Dazu kam es bis heute nicht, einerseits wegen der UEFA-Konvention, andererseits aber auch, weil es vielleicht gar nicht mehr notwendig ist, da mit Krug im Spitzengremium der Schiedsrichter und Fandel als Sidekick die Machtfrage im Sinne der DFL endlich gelöst scheint. Fandels und Krugs Machtübernahme war in meinen Augen der vorläufige Höhepunkt atemloser Indiskretionen, Intrigen und Machtspiele im DFB. Auch der wegen seines Krisenmanagements heftig kritisierte DFB-Präsident Theo Zwanziger wollte, dass endlich Ruhe einkehrte. Damals ahnte ich noch nicht, was Roths unwürdiger Abgang für mich bedeuten würde. Einerseits hatte ich mich mit Fandel immer gut verstanden. Jeder wusste aber, wie loyal ich Roth gegenüber eingestellt war. Ich spürte nunmehr das Misstrauen Fandels auf der einen und auf der anderen Seite, bei der Deutschen Fußball Liga, die von mir als solche empfundene unerbittliche Gegnerschaft Hellmut Krugs. Ich steckte plötzlich zwischen zwei gewaltigen Mühlsteinen.

■ ■ ■

In diesem Machtvakuum kamen nun alle Schiedsrichter zum ersten Mal nach dem Führungswechsel wieder im Sommerlager 2010 zusammen. Fandel stand im schwarzen Trainingsanzug vor uns und nahm als neuer Schiedsrichterobmann die Leistungsprüfung ab. Was mir sofort auffiel: Das Verhältnis von Fandel zu mir hatte sich abrupt geändert. Da war nichts Freundschaftliches mehr – sondern nur noch kühle Geschäftsmäßigkeit. Mein neuer Chef, den ich auf vielen Spielen begleitet hatte und mit dem mich ein freundschaftliches Verhältnis verband, schien mich nach Kräften links liegen zu lassen.

Die ersten fünf Sprints schaffte ich ohne Beschwerden, doch beim sechsten und letzten Sprint hatte ich, gerade ins Ziel gelaufen, zu schnell abgestoppt und verspürte wieder den kalten Schmerz an der lädierten Stelle, der diesmal so stark war, dass es mich zu Boden warf. Ich wusste, dass etwas Ernstes passiert war, und hatte vor Schmerz und Wut Tränen in den Augen. Fandel ging an mir vorbei und sagte nur beiläufig: »Och, was machste, Jung?« Und weg war er.

Diesmal musste ich sofort zum Arzt. Die Diagnose war niederschmetternd: mehrfacher Muskelfaserriss. Die Heilung würde Wochen dauern. Schlimmer war, dass ich für die ersten Spieltage in der Bundesliga schon angesetzt war und jetzt erfuhr, welche tollen Spiele mir entgehen würden. Es geht dabei nicht nur um Einkommensverluste – sondern vor allem um die Unsicherheit, wie lange man draußen ist. Ob man überhaupt wieder reinkommt, mitten in der Saison. Vor allem in der für mich entstandenen ungünstigen Machtkonstellation. Ich musste unter allen Umständen vermeiden, dass im Schiedsrichterkollegium angesichts meines Alters Diskussionen aufkamen, ob ich mit Anfang vierzig noch über ausreichend Fitness für diesen Leistungssport verfügen würde. Eine ganze Saison ohne Spiele kann bei dem irrsinnigen Konkurrenzdruck das völlige Aus bedeuten. In Deutschland gibt es knapp 80.000 Schiedsrichter im DFB – und nur 20 bis 25 kommen in den Spitzenkader. Ich war einer von ihnen – noch.

Ich war tief verunsichert, was nun geschehen würde. Die Verletzung bedeutete auch privat einen großen Verlust. Ich hatte auf meinen Sommerurlaub und viele Annehmlichkeiten verzichtet, um für diesen Test zu trainieren und mich für die kommende Bundesligasaison zu qualifizieren. Körperliche Fitness ist unabdingbar. Ein Schiedsrichter trainiert in einer Woche ohne Spielbelastung drei- bis viermal. Erst seit kurzer Zeit wird der Beruf Schiedsrichter als Hochleistungssport eingestuft. Das Training ist umfassend. Ausdauer ist nur die Grundvoraussetzung, sie alleine reicht aber längst nicht mehr aus, weil die Belastung des gesamten Bewegungsapparates extrem hoch ist. Wird zum Beispiel die Rumpfmuskulatur nicht ausreichend trainiert, gibt es schnell auch Probleme mit der Wirbelsäule oder der Achillesferse. Grundschnelligkeit ist gefragt, die Fähigkeit, mit den Spielern auf gleicher Höhe über das Feld zu spurten, ist wichtig, weil ein Schiedsrichter immer auf der Höhe des Spielgeschehens bleiben muss und Spielern hinterherläuft, die halb so alt, professionell trainiert und in allen sportlichen Belangen besser betreut sind. Das Alter und die Regenerationsfähigkeit gewinnen daher zunehmend an Bedeutung. Die nationale Altersgrenze liegt bei 47 Jahren, die aber nur noch selten erreicht wird.

Die wochenlangen Anstrengungen waren nunmehr umsonst gewesen. Nach der Heilung konnte ich von vorne anfangen und ich war entsprechend frustriert. Die zwei folgenden Tage stand ich bei den Sportübungen nutzlos am Trainingsplatz und sah zu, wie einer nach dem anderen seinen Test bestand. Auch den theoretischen Teilen konnte ich wegen der starken Schmerzen und meiner Enttäuschung nur halbherzig folgen.

Der einzige Lichtblick war, dass ich auf diesem Lehrgang Frieden schließen konnte mit dem Journalisten der BILD Christian Kitsch, mit dem ich schlechte Erfahrungen gemacht hatte. Kitsch war früher Amateurschiedsrichter gewesen und hatte dann die Seiten gewechselt, um seit 2006 als Experte bei der BILD über seine Bundesligakollegen zu berichten. Die Medien sind nach fehlender Fitness der zweite große Bedrohungsfaktor im kurzen Leben eines Schiedsrichters im Profifußball. Reporter haben viel Macht. Dank meines oft zu selbstbewussten Auftretens auf dem Platz, das mir Reporter wie Kitsch immer wieder gerne ankreideten, hatten wir uns beide zu »Lieblingsgegnern« auserkoren. Im Gegensatz zu Fandel und Krug hatte ich es nach der alten Schule von Volker Roth stets abgelehnt, mir in den Medien Allianzen zu schmieden. Im Gegenteil. Kitsch hatte mir mal unmittelbar nach einem Bundesligaspiel eine SMS mit der Aufforderung geschrieben, dass ich mich einem Interview »stellen« sollte. Darin teilte er mir mit, dass ich bei Erfüllung des Interviewwunsches die Note zwei in der BILD-Bewertung (analog Schulnoten) bekommen würde. Ohne meine Erläuterungen sehe er keine andere Möglichkeit, als mir die Note vier zu geben. Diese Schiedsrichterbewertungen in BILD und Kicker waren gefürchtet. Es drohte Imageverlust. Dreimal schon war ich im Kicker zum schlechtesten Schiedsrichter der Bundesliga gewählt worden.

Daher hätte ich die Kitsch-SMS als Einladung zum Gespräch verstehen müssen, aber damals empfand ich es irgendwie fast schon als Erpressung. So war ich. Stolz. Unbeugsam. Undiplomatisch. Andere würden sagen: pressetechnisch »nicht bundesligatauglich«. Völlig wütend und unnachahmlich in meiner dickköpfigen Art war ich nach der SMS aus der Kabine auf Kitsch zugestürmt und hatte ihm zugerufen, dass ich so nicht mit mir umspringen lassen würde. Er könne mir gerne jede Woche die Summe dieser beiden Noten – nämlich die Sechs – geben, wenn er es für richtig hielte. Kitsch hatte diesen Fehlpass dankend aufgenommen und verwandelt. In der Folgezeit, so mein Eindruck, würdigten er und seine Kollegen meine Reaktion in Form schlechter Noten und entsprechend kritischer Berichte über meine Arbeit. Ich war selbst schuld. Aber das war eben mein Gerechtigkeitsgefühl, über das ich noch häufiger stolpern sollte. Ich war immer völlig unwillens, mich irgendwelchen Machtspielchen zu beugen. Mit der heutigen Erfahrung und dem nötigen Abstand ist mir bewusst, dass ich sachlicher und souveräner hätte reagieren sollen. Mein Widerstand hatte Gegendruck erzeugt.

Nun ging ich also auf ihn zu und sagte: »Lass uns doch mal offen reden, ein paar Sachen aus der Welt schaffen!« Wir begannen ein Gespräch, in dem wir uns zunächst sehr offen die Meinung geigten und dann mehr und mehr auf eine menschliche Ebene kamen. Ich sagte zu ihm: »Ich weiß, dass ich auf dem Platz eine arrogante Ausstrahlung habe. Privat bin ich aber ein lockerer und umgänglicher Typ.« Das brach das Eis und ich erlebte einen anderen Kitsch. Und er mich, wie ich wirklich bin. Es ist immer so, wenn man vernünftig miteinander reden kann, entdeckt man den Menschen hinter den vielfach schroffen und verletzenden Reaktionen, die jeder erlebt, der in der Bundesliga an der Spitze steht, egal auf welcher Seite. Wir unterhielten uns volle zwei Stunden. Wir einigten uns, in Zukunft fair miteinander umzugehen. Es fühlte sich gut an, Frieden zu schließen. So nahm ich am Ende doch noch etwas Positives von diesem für mich insgesamt enttäuschenden Sommerlehrgang mit, der für mich mit einer so großen Beunruhigung endete. Die Verhältnisse sollten sich tatsächlich bald weiter zuspitzen.

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Ich setzte mich in der folgenden Verletzungszeit ständig unter Druck. Einmal die Woche erstattete ich bei Fandel Bericht über den Fortschritt meiner Heilung. Er fragte nicht weiter nach meiner Befindlichkeit, sondern wollte nur ungeduldig wissen, wann ich endlich wieder fit sei, er müsse planen. Fandel hatte in seiner aktiven Zeit selbst viel mit Verletzungen zu tun gehabt. Er hatte deshalb vor Erreichen der Altersgrenze seine Tätigkeit als Schiedsrichter aufgeben müssen und war in die DFB-Schiedsrichterbetreuung gewechselt. Fandel wusste also genau, wie negativ Verletzungen auf die Psyche eines Leistungssportlers wirken. Vermutlich übertrug er seine eigenen schmerzlichen Erfahrungen auf mich und sah nur eine geringe Chance, dass ich mich schnell erholen würde. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich das Gefühl, wie es sein muss, wenn man als schwach eingeschätzt und vielleicht irgendwann einmal als nutzlos abgeschrieben wird. Zu dem ganzen Stress, den ich mit der Verletzung, der Behandlung, meinem Arbeitgeber, den verpassten Bundesligaspielen hatte, kam jetzt auch noch die ernste Sorge, dass mich Fandel von seiner Liste streichen würde. Ich setzte mich selbst unter Druck, um den Anschluss in der Bundesliga nicht zu verpassen. Ich wollte so schnell wie möglich wieder fit werden, um den Trainingsrückstand aufzuholen. Der Spezialist, zu dem ich jetzt mehrfach in der Woche 180 Kilometer nach Hamburg fuhr, hatte mir keine Hoffnung machen können, dass meine Verletzung binnen weniger Tage auskuriert sein würde. Viel zu früh nahm ich mein Lauftraining wieder auf und zog mir erneut an der gleichen Stelle eine Zerrung zu. Völlig niedergeschlagen musste ich das Training abbrechen und mich weiteren Behandlungen unterziehen. Mittlerweile rollte der Ball in der Bundesliga wieder, und das machte das Warten auf die Heilung noch schwieriger und schmerzhafter. Ohne es zu merken, geriet ich in einen Stress, der meine bislang unerschöpflichen Energiereserven angriff.

Zu den Sorgen um meine Verletzung und meine Zukunft als Schiedsrichter unter den geänderten Machtverhältnissen addierte sich der Stress, da ich als Torrichter für internationale Spiele nominiert wurde und somit noch viel häufiger unterwegs sein würde. Zu den Wochenendspielen in der Bundesliga mit zwei Tagen kamen nun noch drei Tage in der Woche im Ausland hinzu. Deshalb war man berechtigterweise am folgenden Montag nicht begeistert, als ich mich wegen meiner Verletzung zusätzlich krank meldete. Ich setzte mich unter enormen Druck, denn ich wollte auf keinen Fall die Anforderungen und Erwartungen meiner Vorgesetzten enttäuschen. Die Kollegen und Vorgesetzten hatten mir ohnehin schon sehr viel Verständnis für meine Schiedsrichtertätigkeit entgegengebracht. Mit meinem Chef hatte ich eine sehr großzügige Vereinbarung getroffen, die half, die Doppelbelastung aus Arbeit und Sport zu koordinieren. Obwohl ich durchschnittlich nur 60 Prozent meiner Dienstzeit anwesend war, hatte ich als Filialleiter eine 100 prozentige Zielvereinbarung für ein definiertes Umsatzziel wie alle anderen Mitarbeiter auch, die Vollzeit arbeiteten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Leistungsziele trotz meiner Halbtagsarbeit in der Sparkasse immer überschritten. Ich war gut. Aber manchmal saß ich eben bis in den späten Abend am Schreibtisch, um meine Akten aufzuarbeiten. Auch in den wenigen freien Minuten am Wochenende.

Daher beschloss ich meine Arbeitszeit für zwei Jahre zu reduzieren, um mehr Zeit und Kraft in den Fußball investieren zu können. Mit meinen Vorgesetzten vereinbarte ich, dass ich vorläufig in eine Fachabteilung wechsele, damit ich den Anforderungen des Fußballs gerecht werde, und später wieder in meine alte Tätigkeit zurückkehren kann. Man hatte mir auch immer wieder in der Sparkasse signalisiert, dass man mich nach der sportlichen Karriere gerne in höheren Positionen sehen würde.

Die Doppelbelastung ist einer der größten Stressfaktoren im System Schiedsrichter. Schiedsrichter sollen und müssen ein zweites berufliches Standbein haben. Allein schon weil das Alter biologische Grenzen für die körperliche Leistungsfähigkeit setzt und bei einem verletzungsbedingten Ausscheiden Arbeitslosigkeit droht, darf man sein gesichertes Einkommen im erlernten Beruf nicht aufgeben. In den unteren Klassen ist der zeitliche Aufwand noch nebenbei an den Wochenenden zu bewältigen. In der Profiliga stellt sich das ganz anders dar. Das »Hobby« Schiedsrichter wird zum zweiten Beruf, der zunehmend in zeitliche Konkurrenz mit der bisher ausgeübten Arbeit tritt.

Das Private bleibt zuerst auf der Strecke. Wenn ich abends nach Beruf und Training oder einem Spiel nach Hause kam, war ich einfach alle. Ich hatte kaum noch Zeit für meine Freundin Rouja und für meine Familie. Auch Freunde sah ich immer seltener und schlimmer noch: Ich merkte zunächst gar nicht, dass es so war. Es ist ein Spagat, bei dem der Abstand zwischen den Füßen umso schneller breiter wird, je höher man aufsteigt. Die Erholungspausen für Körper und Seele werden immer kürzer. Der Körper muss funktionieren und wird gnadenlos ausgebeutet.

Selbst wenn ich schwer grippekrank war, ging ich zur Arbeit. Ich konnte die wenige Zeit, die ich wegen der Spielbefreiungen noch in der Filiale war, nicht auch noch fehlen. Als Filialleiter hatte ich eine Vorbildfunktion und wollte meine Glaubwürdigkeit bei meinen Arbeitskollegen nicht infrage stellen lassen. Es wäre einfach ganz schlecht angekommen, wenn sie mich nach meiner Krankmeldung unter der Woche schon tags darauf in der Samstags-Sportschau wieder übers Spielfeld hätten laufen sehen. Genauso wenig konnte ich am Montag nach dem Spiel fehlen, selbst wenn ich völlig ausgelaugt war nach den physischen Anstrengungen des Spiels mit seinen psychischen Belastungen und ich auch wegen der Reisestrapazen dringend Zeit zur Regenerierung benötigt hätte. Ich hatte keine Pausen mehr. Zeitmanagement wurde für mich zu einer Obsession. Der Kalender, meine Uhr und der ständige Drang zur Zeitoptimierung übernahmen die Regie über mein Leben. Jede Minute war verplant. Einfach mal richtig abhängen – oder wie man heute sagt »die Seele baumeln lassen« – war gestrichen, kam für mich nicht infrage. Jede Sekunde wurde auf Auslastung und Effizienz getrimmt.