Ich tanze so lange ich kann - Sylvia Sassonov - E-Book

Ich tanze so lange ich kann E-Book

Sylvia Sassonov

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Beschreibung

Die Diagnose "Multiple Sklerose" warf das erfolgreiche Model Sylvia Sassonov völlig aus der Bahn: Von einem Tag zum anderen platzten alle Lebensträume. Doch nach einer Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser setzte sie sich mit den psychischen Faktoren dieser heimtückischen und völlig unberechenbaren chronischen Krankheit auseinander und stellte sich der Herausforderung ihres Lebens: Mut und Zuversicht angesichts scheinbar unentrinnbarer Hoffnungslosigkeit zu finden.

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Seitenzahl: 201

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Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

TEIL 1

TEIL 2

TEIL 3

TEIL 4

Fußnoten

Sylvia Sassonov

Ich tanze so langeich kann

Der Mut, sich einer unheilbaren Krankheit zu stellen

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Bastei Lübbe Taschenbücher in der Bastei Lübbe AG

© 2004 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: Bianca Sebastian

Titelbild: Autorenfoto

Datenkonvertierung E-Book:

Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-8387-4662-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

TEIL 1

AM ANFANG DER KRANKHEIT EINBLINDER FLECK

Die Krankheit begann im Frühling 1994. Ich hatte im Jahr davor meine erste Liebesbeziehung mit einer Frau gehabt. Diese Frau war wie meine zweite Haut. Ich glaubte, bei ihr meine Urheimat gefunden zu haben. Wir waren uns so ähnlich, wahrscheinlich zu ähnlich. Ich wünschte mir, mit dieser Frau zusammen alt zu werden. Aber die Realität richtete sich nicht nach meinen Träumen. Nach sieben Monaten verließ sie mich. Vielleicht war ich ihr zu jung, noch zu unreif, vielleicht hatte sie Angst vor ihren eigenen Gefühlen bekommen … Ich musste die warme Badewanne unserer Zärtlichkeit verlassen und knallte wie ein Asteroid auf den Erdboden.

Auf sieben Monate Himmel folgten sieben Monate Hölle. Ich war verletzt, orientierungslos. Jeden Tag die gleiche Leere und jeden Morgen beim Aufwachen dieselbe zermarternde Frage: Was habe ich falsch gemacht?

Sieben Monate lang versuchte ich, die Freundin zurückzuerobern. Damals lebte ich in dem Glauben, dass man, wenn man genügend Druck auf die Wirklichkeit ausübt, diese nach seinen Wünschen schon zurechtbiegen kann. Das Resultat meiner Bemühungen war, dass sie sich immer weiter von mir zurückzog. Im Februar ging ich dann in eine Lesbendisko und sah meine Herzdame dort Arm in Arm mit einer anderen.

Ich wollte nicht mehr leiden. Ich wollte wieder stark und froh und unverletzbar sein.

Zu dieser Zeit machte mir mein Chef den Hof. Vielleicht hatte er das schon früher getan, und ich hatte es nur nicht wahrgenommen. Wenn ich an seiner offenen Bürotür vorbei zum Kopiergerät ging, schickte er mir bewundernde Blicke hinterher. Ich musste oft an seiner Tür vorbei.

Ich wurde von ihm immer häufiger in sein Büro gebeten, meist wegen nichtiger Anlässe. Und wenn ich ihm dann gegenüber saß, diesem mächtigen Mann im Anzug, mit seinen musternden Augen, fühlte ich mich jedes Mal ein bisschen wie das Kaninchen vor der Schlange. Ich spürte, dass ich ihm gefiel, und er gefiel mir auch. Obwohl er schon über fünfzig war und einen Ring an seiner rechten Hand trug. Ihn umgab eine Aura von Macht und Kompetenz. Es hieß in der Firma, er sei ein Tyrann. Er war bei keinem der Mitarbeiter beliebt, aber von allen gefürchtet. Wen er mit unheilschwangerer Miene in sein Büro zitierte, der kam zwei Kleidergrößen kleiner wieder raus. Er hatte die Gabe, auf leisen Sohlen gerade dort aufzutauchen, wo geschwatzt, geraucht oder gefaulenzt wurde. Er leistete selbst sehr viel und erwartete das auch von anderen. Schlamperei bei der Arbeit und Nachlässigkeit ließ er nicht durchgehen. Nur zu mir war er charmant und jovial. Ich verdankte das wohl meiner Jugend und meinem frischen Aussehen.

Die Blicke, die er mir nachschickte, wurden immer intensiver, immer zehrender. Ich quittierte sie jetzt manchmal mit einem koketten Lächeln. Warum tat ich das? Er war schließlich ein Mann, und ich liebte Frauen. Aber ich war allein zu dieser Zeit und oft einsam. Ich brauchte irgendeinen neuen Auftrieb. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass sich dieser erfolgreiche und von den Kollegen so gefürchtete Mann ausgerechnet für mich interessierte. Es war ein Spiel mit dem Feuer, welches meiner weiblichen Eitelkeit gefiel, auch wenn mein Herz völlig unberührt davon blieb. Vielleicht dachte ich, mit einem Mann wäre es leichter, da wäre die Wunde, wenn man verlassen wird, nicht so tief. Ich hatte kaum Erfahrungen mit Männern. Sie waren für mich Wesen von einem anderen Stern.

Dann kam der Tag, an dem mein Chef in die Offensive ging. Es war der 8. März. Ich kopierte gerade einige Statistiken, als er mit leisen Schritten hinter mich an das Kopiergerät trat.

»Darf ich Sie heute Mittag zum Essen einladen?«

Ich war perplex, obwohl ich mit solch einer Anmache doch längst gerechnet hatte. Ich sagte: »Ja.« Naiv, neugierig, dumm. Nicht ahnend, welche Lawine ich mit meinem »Ja« ins Rollen gebracht hatte.

Er wartete in seinem Mercedes ein paar Querstraßen weiter, weit genug von der Firma entfernt. Als ich vor dem Wagen stand, öffnete er mir die Tür von innen und sah mich staunend an. »Was für eine schöne Frau!«

Wir fuhren über die Lindauer Autobahn in Richtung Starnberger See. Dort hatte er kürzlich bei einer seiner Radtouren, wie er mir erzählte, ein nettes Lokal entdeckt.

»Es ist wie ein Wunder, dass du jetzt neben mir in diesem Auto sitzt.« Er duzte mich und bat mich, auch ihn beim Vornamen zu nennen. »Sag Hans zu mir. Das Sie ist so steif.« Er plauderte drauflos. »Du gefällst mir schon lange. Dein Lachen, dein erfrischendes Wesen haben es mir gleich angetan«, gestand er mir.

Das Lokal, in welches er mich führen wollte, hatte an diesem Dienstag Ruhetag. Deshalb gingen wir bloß am Seeufer spazieren. Er erzählte mir von sich. Er hatte karrieremäßig die oberste Sprosse der Leiter erklommen, sein Job bot ihm keine Herausforderung mehr. Zum Ausgleich machte er weite Reisen und betrieb verschiedene Extremsportarten. Was er suchte, was er brauchte, waren Adrenalinausstöße; er war immer auf der Jagd nach einem neuen Kick. Er war seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, mit derselben Frau. Mir gefiel, dass er nicht schlecht von seiner Frau sprach. »Sie ist ein guter Kumpel.« Allerdings sei die Ehe, so sagte er, seit Jahren nur noch eine reine Zweckgemeinschaft. Jeder gehe seine eigenen Wege. Während des Erzählens griff er nach meiner Hand. Ich entzog sie ihm nicht. Ich fand Hans, meinen Chef, weder besonders sympathisch noch besonders unsympathisch. Ich hatte mich nun einmal auf das Glatteis begeben und war gespannt, was als Nächstes passierte.

Er sagte: »Du bist eine ganz besondere Frau. Du hast noch diese natürliche Ausstrahlung.«

Solche Komplimente machten mich glücklich. Zumal mein Selbstwertgefühl im Jahr davor diesen empfindlichen Stoß bekommen hatte.

Ich hatte an diesem Tag schon Feierabend, aber ihn erwartete noch ein wichtiger Termin. Deshalb gingen wir nach zwei Stunden zu seinem Auto zurück. Bevor er den Wagen startete, streichelte er mir zart über meine Brüste.

Obwohl ich es vorzog mit Frauen Zärtlichkeiten auszutauschen, genoss ich die Berührung seiner Fingerkuppen. Ich war lange nicht mehr so berührt worden.

Während der Fahrt sagte er, er würde gern ein paar Tage mit mir verreisen. Im April an den Bodensee, wenn dort die Apfelbäume blühen, das würde einer romantischen Frau wie mir bestimmt gefallen.

In meinem Kopf war eine Leere. Worauf ließ ich mich hier ein?

»Willst du mit mir verreisen?«, fragte er sanft.

»Ja.« Meine Lippen sagten diese zwei Buchstaben, aber es war eine andere, die das sprach. Mein Ich hatte sich in den letzten Stunden irgendwie verflüchtigt. Ich fühlte mich in der Nähe dieses Mannes wie gelähmt, nahezu paralysiert. Er faszinierte mich und er schüchterte mich ein. Es war so verwirrend!

Als ich aus seinem Wagen stieg, sagte er einen Satz, der mir nahe ging. »Ich will auf dich aufpassen, Küken.«

***

In der Nacht erwachte ich von einer drückenden Übelkeit. Ich schaffte es gerade noch bis ins Bad, wo ich meinen kompletten Mageninhalt in die Kloschüssel spuckte. Als ich mich aufrichtete, erfasste mich ein so heftiger Schwindel, dass ich mich am Waschbecken festhalten musste.

Was hatte diese Übelkeit ausgelöst? Sonnenstich kam nicht in Frage, weil die Sonne an diesem Tag kaum geschienen hatte. Eine Salmonellenvergiftung? Ich hatte an diesem Tag, außer meinem Frühstück sowie einem Apfel und einer Brezel am Abend, doch gar nichts gegessen. Vielleicht wollte mir mein Körper mit dieser Brechattacke signalisieren, dass ich den Mann, der am Vortag in mein Leben getreten war, schleunigst wieder ausspeien sollte. Eine Kollegin sagte später einmal treffend über den Chef: »Der Herr X ist ein richtiger Kotzbrocken.«

Heute weiß ich, dass diese Nacht der sichtbare Beginn meiner Krankheit war.

Am nächsten Tag ging ich nicht zur Arbeit. Mein Kopf hämmerte, mir war ganz schwindelig, ich fühlte mich wie aus Glas. Ich rief meinen Chef an und meldete mich für einen Tag krank.

Erstaunt fragte er, was mir denn fehle, dann wünschte er mir gute Besserung und sagte in einem leicht mahnenden Ton, dass unsere private Verbindung kein Freibrief dafür sei, häufig krank feiern zu dürfen.

Ich schluckte. Ich hatte in den drei Jahren, die ich in der Firma war, noch keinen einzigen Tag wegen Krankheit gefehlt. Doch ich fühlte mich zu schwach, um mich über seine Worte zu empören.

So verbrachte ich diesen 9. März im Bett und fütterte meinen malträtierten Magen mit Tee und Zwieback. Am Abend ging es mir wieder etwas besser. Nur das leichte Schwindelgefühl hielt noch zwei Tage lang an.

***

Unser verpatztes Mittagessen holten wir zu Beginn der darauf folgenden Woche nach. In seinem schwarzen Mercedes wartete Hans auf mich an unserem geheimen Treffpunkt. Wir fuhren zu einem feinen Fischlokal. Es machte meinem Chef Freude, mich gut auszuführen. Er war ein Kavalier – von der Hutkrempe bis zur Stiefelspitze. Ich war zwar nicht verliebt, genoss seine Einladungen aber sehr. Dieser Mann strahlte Erfahrung und Sicherheit aus. Ich hatte in den letzten Tagen versucht, meine Gedanken auf ihn zu konzentrieren und nicht mehr an die Verflossene zu denken. Es gelang mir sogar zeitweise.

Wir überzogen unsere Mittagspause – wenn man mit dem Chef speist, ist so etwas möglich – und nach dem Essen gingen wir noch an der Isar spazieren. Je länger wir uns unterhielten, desto netter fand ich diesen Mann. Dass er verheiratet war, störte mich nicht. Im Gegenteil. Dann stand er wenigstens nicht plötzlich mit seinen Koffern vor meiner Tür und sagte: »Hallo, hier bin ich! Ich will bei dir einziehen«, oder brachte gar seine Hemden zum Bügeln vorbei. Einen verheirateten Mann kann man besser auf Distanz halten. Und das war mir wichtig, wenn ich schon ein Verhältnis mit einem Mann einging.

Hans wollte vieles von mir wissen. Er interessierte sich für mein Leben, für meine Familie, vor allem aber interessierte ihn, was ich in der Ex-DDR gemacht hatte, bevor ich 1991 in den Westen gekommen war.

Ich hatte von meinem siebzehnten bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr als Fotomodell gearbeitet. Ich ließ mich damals für Modeaufnahmen ablichten, auch für Nachtwäsche und Dessous. Nebenher hatte ich als Mannequin in einer Damenkonfektions-Firma gejobbt, für Damenoberbekleidung und Miederwaren. Ich hatte zuvor eine Berufsausbildung als Zahnarzthelferin gemacht und auch abgeschlossen, nach der Lehre jedoch sofort gekündigt. Wozu sich acht Stunden täglich in einer Arztpraxis abmühen, wenn ich für ein einziges Foto-Shooting so viel Geld bekam, wie eine Vollzeit beschäftigte Zahnarzthelferin in einem ganzen Monat? Schließlich hatte ich auch genügend Aufträge.

Hans imponierte das. Er sagte: »Wenn eine Frau von deinem Wuchs kein Geld mit ihrem Körper verdient, ist sie dumm.« Er wollte wissen, ob ich die Fotos aus meiner Model-Zeit noch habe.

Ich bejahte das.

Ob er diese Fotos mal sehen dürfe, fragte er.

Ich antwortete: »Mal sehn. Vielleicht. Gelegentlich mal.«

***

Am nächsten Tag rief mich Hans vor der Arbeit an und sagte in chefmäßigem Ton: »Bitte vergiss nicht, mir gleich die Fotos mitzubringen.«

Ich hatte keine Lust, einem mir doch eigentlich noch wildfremden Mann meine Dessous-Fotos zu präsentieren; irgendetwas sträubte sich in mir. Ich sagte ihm, dass ich es mir anders überlegt hätte und ihm die Fotos lieber nicht zeigen wollte.

»Aber du hast es mir doch versprochen!«

Versprochen hatte ich ihm gar nichts. Ich hatte »Mal sehn« gesagt. Meine Worte klangen mir noch im Ohr. Aber wenn ein Mann wie Hans sagte, zwei plus zwei ist fünf, war es unklug auf vier zu beharren.

»Versprochen ist versprochen.« Ich hörte Tadel aus seiner Stimme heraus. »Oder stehst du nicht zu deinem Wort?«

Mit dem letzten Satz packte er mich bei meinem Ehrgefühl. Dieser Mann war ein Meister im Manipulieren. Er liebte es, andere Menschen zu beeinflussen und ihnen seinen Willen aufzuzwingen, das sollte ich im Laufe des Sommers noch erfahren. Dies hier war eine erste Kostprobe, der Vorläufer, und er schien zu gewinnen.

»Also gut«, seufzte ich. »Ich bringe dir die Fotos heute nach Feierabend in dein Büro.«

»Alle«, sagte er mit Nachdruck. »Auch die Dessous-Aufnahmen.«

***

Nach Dienstschluss erschien ich mit einem Pappkarton voll der Früchte aus meiner Girlie-Zeit im Büro meines Chefs.

Er empfing mich freudestrahlend. »Komm rein!« Er drückte mir einen Kuss auf die Wange und knipste die rote Lampe über seiner Bürotür an, welche den Kollegen signalisierte, dass er nicht gestört werden wollte. Das machte er sonst nur bei internen Besprechungen.

Als ich ihm die Fotos auf den Tisch legte, schob er die Modeaufnahmen achtlos beiseite. Sie interessierten ihn nicht. Aber sämtliche Fotos, auf denen ich Nachtwäsche, Dessous oder Badeanzüge trug, nahm er sehr genau ins Visier. »Das ist ja wunderwunderhübsch …«

Da saß der Chef in seinem korrekten Anzug zwischen den Leitz-Ordnern, meine Fotos vor sich auf dem Schreibtisch ausgebreitet, wie Tarot-Karten vor einer Wahrsagerin.

Wenn ein Kollege die rote Lampe an der Tür übersähe und jetzt hereinkäme …

In den Augen meines Chefs lag kein Staunen und keine Bewunderung mehr, nur noch eine animalische, kaum verhohlene Lüsternheit. Ich fühlte mich wie ein Insekt unter der Lupe eines Sezierers. Am liebsten hätte ich die Fotos so, wie sie vor ihm auf dem Tisch lagen, mit einem Streichholz angezündet.

»Hast du in deinem Schrank noch andere Sachen?«

Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte und sah ihn verständnislos an.

»Na schärfere Sachen.«

Als er meinen entgeisterten Blick sah, lenkte er sofort ein. »Schon gut.«

Ich spürte, wie mir die Sache entglitt, wie ich in eine Richtung und in eine Rolle gedrängt wurde, die nicht die meine waren.

Ein Foto hatte es meinem Chef ganz besonders angetan. Ich stand darauf vor einer Wand aus Palmen, hatte den Kopf in den Nacken gelegt und meine Arme lasziv zum Himmel gestreckt. Auf diesem Foto war viel Haut zu sehen.

Er sah es sich lange an. Dann fragte er: »Schenkst du mir dieses Bild?«

Das wollte ich nicht. Bei der Vorstellung, einem Mann womöglich als Masturbiervorlage zu dienen, lief es mir kalt den Rücken herunter. Ich dachte an Voodoo-Kult. Es hieß da, dass diejenigen, die im Besitz eines Fotos von einem anderen Menschen sind, angeblich Macht über diesen haben. Auch wenn es abergläubisch sein mochte, ich nahm Magisches ernst. »Ich schenke es dir nicht«, sagte ich.

Er sah mich bezwingend an. »Dann kaufe ich es dir ab. Zweihundert Mark. Fünfhundert Mark. Ich gebe dir dafür, was du willst.« Mit fanatischem Blick starrte er abwechselnd mich und das Foto an.

Ich wollte nur noch ganz schnell raus aus diesem Büro und diese prekäre Situation hinter mir lassen. Und deshalb, nur deshalb sagte ich: »Okay. Ist gut. Behalt es!«

Hans nahm das Foto erfreut an sich. »Danke, Küken. Ich wusste, dass du mir meinen Wunsch nicht abschlägst. Ich werde dein Bild immer bei mir tragen.«

Ich raffte die übrigen Fotos zusammen und verließ fluchtartig sein Büro.

Als ich kurz darauf auf die Straße trat, bemerkte ich den verschwommenen Fleck vor meinem linken Auge zum ersten Mal. Ein Teil meines Gesichtsfeldes war wie in Nebel getaucht. Eine Wimper auf der Pupille? Ich rieb mit dem Handrücken über mein Auge, ich blinzelte – der Fleck blieb. Wenn ich die Blickrichtung änderte, wanderte der Fleck mit. Wird schon wieder weggehen, dachte ich. Wahrscheinlich waren meine Augen übermüdet, denn ich hatte in der letzten Zeit oft bis in die Nachtstunden hinein gelesen.

Zu Hause angekommen, kochte ich mir eine Tasse Tee. Ich fühlte mich mies. Ich hatte an diesem Tag zwei Dinge getan, die ich nicht tun wollte. Ich hatte einem fremden Mann meine Pin-up-Fotos gezeigt und ihm sogar noch eines geschenkt. Damit hatte ich mich selbst zum Sexobjekt degradiert.

Heute könnte mich niemand mehr gegen meinen Willen zu so etwas bewegen. Aber in diesem Frühling 1994 war ich wie weiches Wachs. Formbar, manipulierbar, leicht zu beeinflussen. Ich hatte noch nicht gelernt, auf meine innere Stimme zu hören und einem anderen Menschen Grenzen zu setzen.

***

Der blinde Fleck vor meinem linken Auge blieb. Er breitete sich sogar noch weiter aus, so dass ich bald alles verschwommen sah. Mir erschien mit diesem Auge auch alles viel dunkler, wie durch ein Rußglas. Die Farbe Rot nahm ich nur noch als ein verwaschenes Braun wahr. Sobald ich mich bückte, durchfluteten Schmerzattacken meinen Kopf. Wenn ich die Augäpfel rollte, stach es hinter dem linken.

Allmählich machte mir die Sache Angst. Vielleicht hatte ich den grauen Star? Oder wuchs ein Tumor in meinem Gehirn, der mir langsam den Sehnerv abquetschte? Nach einer Woche Verschwommensehen, fasste ich mir ein Herz und ging zu der Augenärztin in unserem Ort.

Sie untersuchte mit einem Spiegel meinen Augenhintergrund, sie leuchtete mir in die Pupille, sie ließ mich Zahlen von einer Tafel ablesen, von denen ich mit dem linken Auge nur die in der allerobersten Reihe erkannte. Dann machte sie bei mir noch eine Gesichtsfeld-Untersuchung. Ich wurde in einem abgedunkelten Raum vor einen Apparat gesetzt, bekam einen Schalter in die Hand und sollte bei jedem Lichtpunkt, den ich im Kreis aufleuchten sah, auf einen Knopf drücken. Es gab viele Lichtpunkte, größere und kleinere, sternschnuppenartig blitzten sie auf und verloschen wieder.

Diese Untersuchung zeigte bei mir einen Gesichtsfeld-Defekt im unteren Halbfeld meines linken Auges; ich hatte in einem Abschnitt des Kreises keinen einzigen Leuchtpunkt wahrgenommen.

»Bei Ihnen stimmt was mit dem Sehnerv nicht«, meinte die Ärztin. »Ich überweise Sie zur genaueren Diagnostik in die Augenklinik. Gehen Sie gleich morgen hin!«

***

Am nächsten Tag fuhr ich mit der U-Bahn in die Augenklinik. Mir war mehr als mulmig zu Mute. Was stimmte mit meinem Sehnerv nicht? Ein Tumor? Warum hatte sie mich in die Augenklinik überwiesen?

Ich fühlte mich ziemlich verloren in diesem riesigen Klinikkomplex, zwischen all den Apparaturen. Auf dem Weg zu den verschiedenen Diagnostikstellen verlief ich mich mehrfach. Später wurden meine Gehirnströme gemessen, ich wurde vor einen Bildschirm gesetzt, bekam Elektroden auf meine Kopfhaut geklebt und musste mit einem Auge einen roten Punkt auf einem Schachbrettmuster fixieren, während die weißen und schwarzen Kästchen jede Sekunde wechselten. VEP hieß das in der Fachsprache: Visuell evozierte Potenziale.

Nach einer Anzahl verschiedener Untersuchungen stand die Diagnose fest: Optikusneuritis. Ich bekam eine Überweisung für die Neurologische Abteilung der Klinik, die für solche Sachen zuständig ist.

Maßlos erleichtert stieg ich mittags wieder in die U-Bahn. Kein Tumor! Kein grauer Star! Bloß eine Sehnerv-Entzündung und die heilt von allein wieder ab, wie der Arzt meinte. Dieser Arzt hatte sich erboten, mich für zwei Wochen krankzuschreiben, aber ich wollte meinen Chef nicht enttäuschen. Ich ging noch am gleichen Nachmittag wieder zur Arbeit und machte dort ein fröhliches Gesicht.

***

Eine Woche später hatte ich einen Termin bei einer Neurologin. Eine junge, sympathische Ärztin, die zufällig im selben Ort wohnte wie ich. Wir hatten uns schon oft gesehen. Sie ließ mich auf einem Bein hüpfen, mit geschlossenen Augen auf einer Linie laufen und prüfte mit einem Hämmerchen meine Reflexe. Der neurologische Befund war normal. Um alles abzuklären, bestellte sie mich jedoch für die kommende Woche zur Lumbalpunktion, bei welcher eine Nadel in meinen Lendenwirbelbereich geführt und Rückenmarkflüssigkeit entnommen werden sollte. Ich bekam auch einen Termin zur Kernspintomografie. Allerdings erst drei Wochen später, weil für die gesamte Innenstadtklinik nur ein einziger Kernspintomograf zur Verfügung stand.

Auf meine Frage, was ich denn jetzt gegen meine Sehnerv-Entzündung machen solle, antwortete sie bloß, ich solle einfach abwarten und mich ein bisschen schonen.

***

Doch eine Schonzeit gab es nicht. Mein Chef hatte an mir Feuer gefangen, er brannte lichterloh. Jeden Tag kam er wie ein liebeshungriger Kater in mein Büro, nur um einen Blick auf mein Dekolletee zu erhaschen, seine schon altersfleckige Hand einmal kurz auf meinen jungen Po zu legen. Meine Jugend hatte es ihm angetan, wie er mir gestand, meine Frische und Unversehrtheit. Er nannte mich sein »Küken«, seine »junge Lolita«, sich selbst bezeichnete er als »den grauen Wolf«.

Wenn ihm seine vielen Termine für einen Besuch keine Zeit ließen, rief er mich vom Haustelefon an und sagte mit sehnsuchtsvoller Stimme, dass er mein Foto gerade vor sich auf dem Schreibtisch liegen habe. Die Sache mit ihm begann mir bereits zu diesem Zeitpunkt lästig zu werden. Ich hatte kein gutes Gefühl im Bauch. Wie wurde ich den Mann wieder los?

Mein Chef wollte mehr Zeit mit mir verbringen. Ständig sprach er jetzt davon, dass er an den Bodensee fahren und sich mit mir für ein paar Tage aus dem Alltag ausklinken wollte. Sein Job ließe ihm kaum noch Luft zum Atmen.

»Fahr mit mir«, bat er. »Es werden für uns beide schöne Tage.«

Warum ließ ich mich zu dieser Reise überreden?

Ich dachte: Gut, diesen einen Wunsch erfülle ich ihm, dann mache ich aber reinen Tisch und sage ihm, dass ich lesbisch bin. Und dass er mich, bitteschön, nach dieser Fahrt in Ruhe lassen soll. Wir können ja Freunde bleiben …

***

Als ich in seinen frisch polierten Wagen stieg, überkamen mich heftige Bauchschmerzen. Den Film anhalten und ausder falschen Rolle aussteigen, dachte ich. Ich war gerade dabei, den größten Verrat an mir selbst zu begehen.

Es war April, die Obstbäume blühten, weiße Schäfchenwolken zogen über den Himmel, aber ich nahm alles nur wie durch einen Schleier wahr. Hans griff mir dauernd ans Knie, streichelte zärtlich meine Hand, sagte, wie sehr er sich auf die Tage und Nächte mit mir freue. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin kein so junger Hirsch mehr, keiner von der stürmischen Sorte. Ich werde deinen Körper zu genießen wissen wie ein exzellentes Mahl.«

Das Brummen des Motors, Hans’ optimistisches Lachen, die Sonne – mir war alles zu viel. Ich sehnte mich nach einem stillen, abgedunkelten Raum für mich allein. Mein blindes Auge irritierte mich. Wenn die Fahrt nur schon vorüber wäre!

Hans erklärte mir die Gegend, durch die wir fuhren. Er brauchte keinen Reiseführer, denn er kannte den ganzen Landstrich. Mittags hielten wir Rast in einem urigen Lokal. Ich wusste, dass ich auf dieser Reise das erste Mal seit sehr langer Zeit wieder mit einem Mann schlafen würde. Mein Innerstes rebellierte dagegen.

Das Hotelzimmer, das er für eine Woche gebucht hatte, war geschmackvoll eingerichtet. Vom Balkon aus sah man den glitzernden Bodensee. Aber ich konnte die Aussicht nicht genießen. Beim Anblick des Doppelbettes bekam ich Angst. Als ich meine Kleider in den Schrank hängte, dachte ich, dass ich für diesen Mann nur ein Körper war, eine Portion Frischfleisch oder – wie er es ausgedrückt hatte: »ein exzellentes Mahl«.

Warum bin ich hier? Was tue ich hier? Das ist doch überhaupt nicht mein Weg!

Zuerst ging er ins Bad, dann ich. Eine peinliche Situation. Als ich in ein Badetuch gehüllt wieder herauskam, lag er schon auf dem Bett und sah mir glücklich und erwartungsvoll entgegen. Ich ließ das Handtuch fallen.

»Wie schön du bist!« …

Hinterher fühlte ich mich leer, benutzt und preisgegeben. Obwohl er nicht grob zu mir war und das an Zärtlichkeit aufbrachte, was er meinte, als Mann an Zärtlichkeit aufbringen zu müssen, war es für mich nicht schön gewesen. Weil sich unsere Seelen vollkommen fremd waren. Weil jede tiefere Verbindung fehlte. Sexualität ohne Liebe ist eine Form ohne Inhalt.

Wir lagen noch beieinander, als er mit sensationsglitzernden Augen fragte, ob ich es schon einmal mit zwei Männern gleichzeitig getan habe.

Nach einer solchen Erfahrung würde ich mir wahrscheinlich die Pulsadern aufschneiden, für jeden Mann an jedem Handgelenk eine. »Nein«, entgegnete ich, »und ich habe auch kein Verlangen danach.«

Ich hatte ihm dummerweise erzählt, dass ich mal eine Liebesbeziehung mit einer Frau hatte und jetzt wollte er wissen, wie ich es ihr damals »besorgt« habe.

Aber hier schnitt ich ihm das Wort ab. Meine Liebe zu dieser Frau war mir zu heilig, um von diesem Phallokraten und Schlüsselloch-Gucker in den Dreck gestampft zu werden.

Mein Chef sprach gern über Anzügliches; diese Themen heizten seine Fantasie an, die man sicher schon als pervers bezeichnen konnte. Es gehörte zu seinen sadistischen Vorlieben, bei Themen, über die ich nicht reden wollte, besonders vehement nachzubohren. Aber während dieser Reise zeigte er noch ein halbwegs menschliches Gesicht.