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Vom Kriegsbeginn bis zum Untergang – Josef Wimmer hat den 2. Weltkrieg an nahezu allen Fronten hautnah miterlebt. Lesen Sie jetzt die unglaubliche Autobiografie eines jahrelangen Frontkämpfers – ehrlich, unverblümt, ohne Pathos. „Ich war dabei“ lautet der simple wie treffende Titel von Josef Wimmers Autobiografie. Mit 17 Jahren meldet er sich freiwillig zu den Pionieren. Es folgen fast sechs Jahre Kriegsdienst an vorderster Front, schließlich Kriegsgefangenschaft und zuletzt eine Karriere in der Bundeswehr. „Es war ein einziges höllisches Inferno, das kaum einen klaren Gedanken zuließ. Die Russen kämpften um diese Stadt mit einem unglaublichen Fanatismus, der unseren Truppen Grenzen setzte. Und wieder stiegen große, schwarze Rauchpilze in den vom Pulverdampf geschwängerten Himmel auf.“ „Plötzlich beschlich mich eine furchtbare Angst vor dem Ungewissen. Wie lange würden unsere Fronten noch halten?“ In seiner Autobiografie berichtet Josef Wimmer unverblümt von seinem Werdegang, von falschen Hoffnungen als Freiwilliger und dem Zusammenstoß mit der brutalen Realität an der Front. Im Laufe des Krieges nimmt Wimmer an zahlreichen bekannten und bedeutenden Operationen teil. Als Pionier ist er Frontkämpfer und befindet sich somit zumeist mitten im Schwerpunkt der unmenschlichen Kämpfe. Die wichtigsten Stationen von Josef Wimmers Waffengang: Polen-Feldzug 1939, Frankreich-Feldzug 1940, Ostfront ab 1942, Stalingrad, Kaukasus-Front, Italien 1943, Schlacht um die Normandie im Sommer 1944, Ardennen-Offensive im Winter 1944/1945, Westfront bis zum Kriegsende ... Das sind sechs Jahre Krieg, in denen er den ganzen Horror des Frontalltags miterlebt. Wimmer wird mehrfach verwundet, doch kämpft er bis zum letzten Tag für ein Regime, an das er schon lange zu glauben aufgehört hat. Nach Ende des Krieges gerät Wimmer in US-amerikanische Gefangenschaft, in der er eine unfaire Behandlung durch sadistische Wachleute erfährt. Später meldet er sich freiwillig zur Bundeswehr und steigt zum Stabsfeldwebel auf. Wimmers Autobiografie entstand in Zusammenarbeit mit dem renommierten D-Day-Experten Helmut Konrad von Keusgen. Es handelt sich bei diesem Buch um die Neuauflage des lange vergriffenen Originals aus dem Jahr 2011. Lesen Sie jetzt die packende Autobiografie eines Mannes, der an Süd-, Ost- und Westfront bis zum bitteren Ende gekämpft hat.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ich war dabei…
Josef Wimmer
Co-Autor: Helmut Konrad von Keusgen
Diese Neuauflage obliegt dem Originaltext mit der alten deutschen Rechtschreibung.
Generalkarte
Vorwort
Reichsarbeitsdienst
Beim Pionier-Bataillon 71
Wimmer, sofort zum Chef!
Einmarsch nach Polen
Das Antlitz des Krieges
Zurück ins Reich und Neugliederung
Nach Westen…
Über Belgien nach Frankreich
Am Chemin des Dames
Sie werden mit einem steifen Arm leben müssen…
Zwischendurch mal kurz zu Hause
Wieder bei der Kompanie
Auf Leben und Tod
Beim Ersatz-Bataillon 68
Auf der Krim
Hunger, Krätze und Läuse
„Operation Trappenjagd“
Gegen die Festung Sewastopol…
Jalta
Stalingrad
Eine Katze, die Ruhr und Gelbsucht
Im Kaukasus
Die Wahrsagerin
Die Erfüllung der Prophezeiung
Soldatenhochzeit, Haft und eine Audienz beim Papst
Ein neues Soldatenleben
In der Normandie
Kämpfer, die nicht mehr kämpfen wollten…
An die Westfront
Die Ardennen-Offensive
Mein dritter Rückzug
Im Ruhr-Kessel – und verlassen…
Ein Schwarzer mit Maschinenpistole…
Elend auf den Hunger-Wiesen
In der Hölle von Attigny
Das Ende der Qualen
Wieder Soldat…
Anmerkung von Helmut Konrad von Keusgen
Bildnachweis
Anhang
Impressum
Vorwort
Es fiel mir nicht leicht, diesen Erlebnisbericht nach so vielen Jahren niederzuschreiben, sich wieder an Situationen und Umstände zu erinnern, die einst grausame Realität waren. Während dieser Arbeit mußte ich mich zwangsläufig zurückversetzen und wurde noch einmal mit den schrecklichen Begebenheiten des Krieges konfrontiert, als sich Leben und Tod aufs engste berührten. Es kamen Erinnerungen an furchtbare Stunden und Tage, in denen uns der Tod in seine Arme nahm. Nicht der Mensch war die Macht, der wir standhalten mußten, sondern der Tod. Es war ein so ganz anderer Tod, als jener, dem wir im Frieden begegnen. Selbst einem hartgesottenen Krieger trieb es Tränen des Schmerzes in die Augen, wenn gute Kameraden, mit denen man eben noch gesprochen hatte, plötzlich tot neben einem lagen und ins Nirgendwo starrten oder halb zerfetzt im Geäst von der Artillerie verstümmelter Bäume hingen, und jeden Augenblick konnte es einen selbst erwischen… Die Welt des Krieges hatte uns verhärtet, hatte uns auf dem Weg des Leidens und des Grauens den wahren Sinn des Lebens vergessen lassen. Oft habe ich gedacht, wie kann Gott nur so etwas Schreckliches zulassen?
Es waren schwere Jahre der Arbeit, der Sorge und des Leids, nur ab und zu mit kleinen Freuden versehen. Immer wieder hatte ich versucht, aufkommende Gedanken an schreckliche Situationen zu verdrängen, doch muß man damit leben und sie psychisch irgendwie bewältigen. In meinem folgenden Bericht habe ich nichts weggelassen und nichts beschönigt, aber es bleibt festzustellen, daß uns Überlebende weder Krieg, Not, Gefangenschaft, Entbehrungen und das grenzenlose Unglück unseres Volkes nicht resignieren ließen, noch uns niedergezwungen haben. Wir wurden nur härter.
Wir sollten uns der Vergänglichkeit unseres Lebens bewußt sein und deshalb die eigenen Erlebnisse für unsere Mitmenschen und die Nachkommen niederschreiben. Erlebtes gerät zu leicht in Vergessenheit, und wer schweigt, erlaubt anderen, Geschichte zu deren Gunsten zu schreiben. Die Vergangenheit birgt eine Lehre für die Zukunft. Nicht nur der Staat eines jeden Landes prägt die Geschichte – seine Untertanen tun es auch. An den Folgen des Zweiten Weltkrieges haben wir Deutsche noch heute schwer zu tragen, und um sie irgendwann endlich zu bewältigen, brauchen wir eigene zuverlässige Dokumentationen betreffs des Kriegsgeschehens. Die eine Seite unserer damaligen deutschen Geschichte erzeugt Scham und Trauer über das menschliche Vergehen und Versagen, so wie die andere Seite aber auch Stolz und Bewunderung für diejenigen hervorruft, die durch ihren selbstlosen Einsatz ihrem Volk im guten Glauben aufrichtig gedient und Leid abzuwenden versucht haben. Ich verwehre mich ganz entschieden dagegen, daß alle Deutschen schlecht gewesen seien, nur weil sie einem diktatorischen Regime gedient haben oder dienen mußten. Unmenschlichkeit ist, genau wie die Humanität, keine Frage der Nationalität. Das deutsche Volk brachte an der Front und in der Heimat große Opfer – und wer glaubte damals nicht an ein anständiges Deutschland, militärische Ritterlichkeit und eine bessere Zukunft?
Während der Arbeit an meinem Erlebnisbericht, den ich bereits zum Anfang der 1970er Jahre begann, mehr als zehn Jahre daran schrieb und für den ich mehrere ehemalige Kameraden aufsuchte, befolgte ich den Grundsatz, mich lediglich an die Tatsachen und realen Fakten zu halten. Auf Dinge und Umstände, derer ich mir nach der langen Zeit nicht mehr sicher war, habe ich verzichtet, sie zu beschreiben. Auch möchte ich mich bei jenen Kameraden bedanken, die mich bei der Erarbeitung dieses Buches durch ihre Mithilfe unterstützt haben – ganz besonders aber bei dem Schriftsteller Helmut Konrad Freiherr von Keusgen.
Das Pionier-Bataillon 71, dem ich einst angehörte, wurde außer im Traditionsbuch der 50. Infanterie-Division und auf einer kleinen Erinnerungstafel im Bundeswehrmuseum in München niemals sonst erwähnt. Mit diesem Buch möchte ich auch zum Andenken an dieses Bataillon beitragen.
Josef WimmerKöln, Januar 2011
Reichsarbeitsdienst
Am 17. Oktober 1920 in Alt-Schalkowitz, im Kreis Oppeln in Oberschlesien geboren, erlebte ich eine unruhige und schwere Kindheit und Jugend mit vielen Wirrnissen, sozialen Schwierigkeiten, Nöten und der Scheidung meiner Eltern. Meine familiäre Welt war zerbrochen und gespalten, und ich litt unter dieser Zerrissenheit.
Eines Tages kam mein Vetter zu Besuch. Er diente bei einer Panzer-Einheit in Bamberg. Seine schicke Uniform imponierte mir sehr, und ich wollte von ihm viel über seinen Dienst erfahren. Seine Erzählungen weckten in mir den Wunsch, mich freiwillig zum Militär zu melden. Trotz meines jugendlichen Alters war ich schon sehr kräftig und sportlich gut trainiert, somit den körperlichen Anforderungen durchaus gewachsen. Da ich aber das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, brauchte ich noch die Zustimmung meines Vaters und die Befürwortung des Bürgermeisters unseres Wohnortes. Ich erhielt sie problemlos und meldete mich zur Marine. Mein Vater war Mitglied der SA und hatte als Schießwart etliche Gewehre und Pistolen zur Verwahrung im Haus. Von nun an durfte ich ihn immer zum Schießstand begleiten. Mit Begeisterung nahm ich an den Schießübungen teil – mit großem Erfolg.
Im Januar 1938 erhielt ich die Aufforderung zur Musterung nach Lübben im Spree-Wald. Als ich mit 12 anderen jungen Männern in einer Reihe stand, kam ein Stabsarzt in den Saal, und ich lernte einen neuen, mich befremdenden, vulgären und rüden Umgangston kennen. Er ließ jeden von uns einzeln und nackt vortreten und betrachtete ihn sich eingehend. Dann befahl er schroff: „Das Ganze kehrt, bücken und die Kimmen auseinander!“
Neben mir blieb der Stabsarzt stehen und sagte zu meinem Nachbarn: „Mann, haben Sie einen furchtbaren Arsch. Bei Ihnen wächst ja schon das Gras in der Kimme.“
Der Angesprochene antwortete: „Auf dem Weg hierher mußte ich sehr nötig, und ich konnte nur Gras zum Abwischen nehmen.“
Das Gelächter war groß, doch wurden wir sofort und zum ersten Mal militärisch resolut zur Ordnung gerufen. Nach dieser Untersuchung wurde uns die Wehrtauglichkeit mündlich bestätigt.
Nur vier Wochen später erhielt ich im Februar die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst in Raddusch/Spreewald zum 14. April 1938. Meine Berufsausbildung ging am 31. März desselben Jahres zu Ende, und ich schaffte meinen Abschluß mit „befriedigend“. Meine Vorbereitungen, die ganzen privaten Gebrauchsgegenstände für den Reichsarbeitsdienst einzukaufen, waren bereits angelaufen und sogleich in meinen Koffer eingepackt. Am 1. April bestieg ich in Bückgen/Grube-Ilse einen Personenzug und fuhr über Calau nach Raddusch. Schon vom Bahnhof aus konnte ich die schwarz-rot-weiße Fahne des Reichsarbeitsdienstes mit den charakteristischen Symbolen, dem Spaten und den Ähren, an einem hohen Mast wehen sehen.
Am Eingangstor des Lagers der I./81 wurde ich von einem Wachtposten in die Schreibstube geleitet. Dort prüfte man meine Papiere, und ich mußte weitere Fragen zu meiner Person beantworten. Dann wies man mich der 7. Gruppe des 3. Zuges zu.
Die hölzernen Mannschaftsbaracken waren im Viereck aufgestellt, in deren Mitte sich der Appellplatz befand. Noch am selben Tag empfingen alle Neuzugänge ihre Ausrüstung, die Uniform und das Bettzeug. Abends waren dann alle Gruppen vollständig ausgestattet. Zum ersten Abendessen im großen Speiseraum wurde bereits im Gleichschritt marschiert, dort der Küchendienst einer jeden Gruppe eingeteilt, der für das Auftragen der Speisen sowie das Abräumen des Geschirrs und die Reinigung der benutzten Tische verantwortlich war. Jeden Samstag mußte der Speisesaal gründlich gereinigt werden.
Am zweiten Tag trat die ganze Abteilung zum Empfang des Lagerchefs an – einem Oberfeldmeister. Die Begrüßung erfolgte in strammer Haltung. Daran anschließend fand eine Belehrung betreffs Sinn und Zweck des Reichsarbeitsdienstes statt.
Nach vier Wochen harten Drills mit dem Spaten (Marsch, rechts um, links um, Paradeschritt), sportlichen Übungen und theoretischem Unterricht erfolgte unsere Vereidigung auf den „Führer“ des Deutschen Reiches. Von nun an wurden wir als Arbeitsmänner bezeichnet.
Jeden Tag von Montag bis Freitag marschierten wir in den nahen Spree-Wald, um die uns zugewiesenen Arbeiten mit dem Spaten zu verrichten. Die sumpfigen Wiesen mußten entwässert werden. Vor der ersten Arbeit wurden die Gruppen durch Vormänner oder Truppführer in der Handhabung der Geräte unterwiesen, denn die meisten Kameraden in diesem Lager kamen aus den Großstädten Leipzig und Dresden und konnten noch nicht einmal einen Nagel in die Wand schlagen. Dann hoben wir Gräben aus – je nach Bedarf, einen bis eineinhalb Meter tief, mit fester Böschung. Für diese festen Böschungen wurden auch Faschinen (Reisig-Geflechte) eingearbeitet. Für jeden Arbeitstag erhielten wir ein Taschengeld von 25 Reichspfennig. Oft sangen wir: „Fünfundzwanzig Pfennig ist der Reinverdienst, ein jeder muß zum Arbeitsdienst.“
Für unsere bescheidenen Ansprüche waren die 25 Pfennig zwar genug, dennoch bedeutete das für mich erstmals, daß ich selbst wirtschaften und mein Geld einteilen mußte. Da ich weder Alkohol trank noch rauchte, kam ich mit dem Geld einigermaßen aus. Auch meine Bahnfahrten konnte ich bezahlen. Nach zwei Monaten durften wir erstmals in den Wochenend-Urlaub fahren.
„Zum Andenken“ schrieb ich auf die Rückseite dieses Fotos, bevor ich es meiner Mutter sandte. Die Aufnahme entstand am 17. August 1938 in Raddusch/Spreewald, und ich wollte darauf so hart wirken, wie ein „echter“ Arbeitsmann…
Im Arbeitslager ging der gelernte Trott weiter – exerzieren mit Spaten-Griff. Die Übungen waren fast dem Gewehr-Griff (so, wie man ein Gewehr anfaßt) gleichzusetzen. Ich sah das alles von der sportlichen Seite, und deshalb fiel es mir nicht so schwer, wie den Schülern aus den Großstädten, die nur stöhnten und schimpften. Auch das Stopfen der Strümpfe und das Annähen von Knöpfen war für mich nicht schwierig. Der weiße Drillichanzug und die sonstige Wäsche wurden jeden Samstag mit einer Wurzelbürste und Schmierseife gewaschen. Der Spaten wurde zweimal in der Woche mit speziellen Mitteln blankgerieben, so daß er in der Sonne wie ein Spiegel blinkte. Ebenso wurden das Koppelzeug und die Stiefel auf Hochglanz gebracht – und wehe, man fiel beim Appell auf… Strafwache und Strafexerzieren waren die üblichen Konsequenzen.
Nach drei Monaten bekamen wir unseren Einsatz in Lübbenau. Für den weiten Weg von mehr als zehn Kilometer erhielten wir neue Fahrräder. In Lübbenau kultivierten wir dann bis zum Ende unserer Dienstzeit ein großes Feld (auf dem danach die bekannten Lübbenauer Spreewald-Gurken angebaut wurden).
Durch die vormilitärische Ertüchtigung und den Unterricht wurden wir moralisch, psychisch und politisch für die Gesinnung des Dritten Reiches geschult. Man bekam einen anderen „Horizont“, man war kein Spieljunge mehr, man wurde zum politischen Denken erzogen – ausschließlich im Interesse der Nationalsozialisten…
Seit 1937 bestand die „Achse Berlin-Rom“, ein enges Einvernehmen zwischen Hitler und Italiens „Duce“(Führer) Benito Mussolini. Die „Deutsche Raumfrage“ brachte politische Spannungen in Europa. Am 12. März 1938 waren deutsche Truppen in Österreich eingerückt.
Was wußten wir jungen Kerle schon von den politischen Hintergründen… Die ganze Angelegenheit wurde uns lediglich im Unterricht mitgeteilt, und trotz der Einkreisung der Tschechoslowakei wurden wir von einer Verlegung zu einem Einsatz am Westwall verschont. Dafür wurde die II./81 ins Saargebiet verlegt. So mußten wir für diese Abteilung die Arbeit in Lübbenau übernehmen. Ende August wurde in der Kreisstadt Vetschau eine große Parade durchgeführt. Es war unsere einzige Schauparade außerhalb des Lagers.
In diesem Monat erhielt ich die Nachricht, daß meine Einberufung zur Marine um ein Jahr zurückgestellt wurde. Das war eine herbe Enttäuschung für mich, weil ich mir doch vorgestellt hatte, die Dienstzeit im Anschluß an den Reichsarbeitsdienst anzutreten. So schrieb ich an die Freiwilligen-Annahmestelle der Marine in Emden, mich zu einem anderen Truppenteil einzuberufen. Als Begründung gab ich an, Berufssoldat werden zu wollen und mich für 12 Jahre zu verpflichten. Nach etwas mehr als zwei Wochen bekam ich schriftliche Nachricht vom Kreiswehrbereich – meine Einberufung zum Pionier-Bataillon 71 für den 15. November 1938.
Am 27. September 1938 war meine Dienstzeit beim Reichsarbeitsdienst nach dem allgemein üblichen halben Jahr beendet. Alle Ausrüstungsgegenstände mußten im sauberen Zustand abgegeben werden. Es war ein Abschied von Gruppe, Zug und Abteilung mit einem dreimaligen „Hurra!“ auf den „Führer“ und auf ein Nimmerwiedersehen – und über Nacht waren wir wieder Zivilisten.
Beim Pionier-Bataillon 71
Die Vorbereitungen und diversen Ergänzungen der vielen Dinge für das tägliche Leben und meine Zukunft beim Pionier-Bataillon liefen in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, auf Hochtouren. Meine Mutter sorgte für zusätzliche warme Unterwäsche, Socken und Taschentücher. Dann ging ich zum Bahnhof, um herauszufinden, wie ich zum Tibor-Lager bei Mittenwalde kommen könnte. Wegen der langen Bahnfahrt mit einem Personenzug 3. Klasse und einem langen Umsteigeaufenthalt war ich gezwungen, schon einen Tag früher loszufahren.
Es herrschte tiefe Dunkelheit, als ich spät abends auf der Bahnstation in Mittenwalde ankam. Ich nahm meinen Koffer aus der Gepäckablage und stieg aus, sah nach links und rechts… Doch bei der fahlen Beleuchtung konnte ich nichts erkennen. Zudem ließ die Lokomotive Dampf ab, dessen Nebel mir die Sicht dann gänzlich nahm. So ging ich in dieselbe Richtung, die auch die anderen Fahrgäste genommen hatten.
An der Sperre zeigte ich meine Fahrkarte und fragte den Beamten, wie ich wohl zur Kaserne gelangen könnte.
„Da fährt heute nichts mehr hin, da mußt’e laufen, so fünf bis sechs Kilometer. Geh’ste geradeaus und bleib’ste auf der Hauptstraße…“
Ich nahm meinen Koffer und ging los.
Auf der Straße war kein Mensch mehr zu sehen, und dann die Fremde in der Dunkelheit… Aus der Ferne hörte ich irgendwann und von irgendwoher Hunde bellen und dachte, daß da wohl auch eine menschliche Behausung sein müßte… Der Koffer wurde indessen immer schwerer, und so trug ich ihn abwechselnd mal links, mal rechts. Die Straße war auch nicht die beste. Mit meinen leichten Halbschuhen stolperte ich in der Finsternis mehrmals durch unsichtbare Vertiefungen.
Nach einiger Zeit erkannte ich einen Dorfeingang mit Straßenlaternen. Sie standen etwa einhundert Meter weit auseinander, und ihre gelblichen Glühlampen waren in fast zehn Meter Höhe unter einem weißen Tellerschirm angebracht. Viel war von der Umgebung auch hier nicht zu erkennen, nur der Bürgersteig war einigermaßen gut auszumachen. Da die Hunde, die ich schon so lange gehört hatte, nun immer stärker und immer lauter bellten, stieg eine bange Sorge in mir auf… Beim Weitergehen sah ich dann eine erste spärliche Fensterbeleuchtung. Ich wagte mich an die Haustür und klopfte zaghaft an. Von innen vernahm ich ein raschelndes Geräusch und gleichzeitig rief jemand: „Wer ist da?“
Ich erwiderte: „Ich möchte zum Tibor-Lager.“
Die Stimme antwortete: „Da gehen Sie immer weiter geradeaus, dann kommen Sie hin!“
Einen Moment lang stand ich sprachlos da und wußte nicht, wie mir geschehen war – es hatte niemand die Tür geöffnet… So nahm ich wieder meinen Koffer und ging weiter. Nur das furchteinflößende Hundegebell begleitete mich.
Irgendwann ließ ich auch die letzte Straßenlaterne hinter mir, und ich wurde von der völligen Dunkelheit verschlungen. „Immer geradeaus“, hatte es geheißen… Ich überschritt eine kleine Brücke, die beim Darübergehen auffallend sonderbare Geräusche machte. Kurz darauf stieß ich auf eine Straßengabelung. Wo ging es nun geradeaus weiter? Ich war ratlos. Da entdeckte ich in der Dunkelheit und am Rand der Straße ein kleines Hinweisschild. Ich konnte aber in der Finsternis darauf nichts entziffern. Da ich nicht rauchte, hatte ich weder ein Feuerzeug noch Streichhölzer bei mir und somit auch keine Möglichkeit, irgendein Licht zu entzünden. Ich entschied mich, nach rechts weiter zu gehen.
Plötzlich stellte ich an den schemenhaften Konturen von dichten Bäumen fest, daß ich mich in einem Wald befand. Angst stieg in mir auf. Ich rief: „Hallo…! Hallo…!“
Aber nur ein schwaches Echo klang zurück. So ging ich wieder bis zur Straßengabelung zurück und schlug den anderen Weg ein.
Nach etwa einem Kilometer sah ich auf einer sanften Anhöhe links von mir Licht. Meine Unruhe legte sich, und nachdem ich nach links von der Straße abgebogen war, sah ich einen Schlagbaum quer über dem Weg, dahinter ein geschlossenes, hohes Gittertor. Beim Näherkommen erkannte ich auch einen Wachtposten mit seinem Gewehr auf und ab gehen. Da rief mich er mich auch schon an und fragte nach meiner Parole. Ich antwortete ihm: „Ich bin Einberufener – stehend!“
„Kommen Sie näher! Bitte die Papiere!“
Nachdem ich meinen Koffer abgestellt hatte, suchte ich in der Brusttasche meiner Jacke nach den Unterlagen.
Dann drückte der Posten auf eine Klingel. Ein weiterer Soldat trat aus einem kleinen Gebäude. Das Tor wurde geöffnet und ich konnte eintreten. Der hinzugekommene Soldat nahm mich mit in die Wachstube. Der wachhabende Unteroffizier warf einen prüfenden Blick auf meinen Einberufungsbescheid und verglich meinen Namen mit jenen auf einer langen Liste. Dann wollte er wissen, woher ich noch so spät komme; und ich mußte etliche Fragen beantworten. Im gesamten Kasernenbereich herrschte völlige Ruhe, und für den Unteroffizier war niemand, der mich bei der zuständigen Kompanie hätte aufnehmen können, erreichbar. Da es keinen anderen Platz zum Schlafen gab, bot man mir an, mich auf die hölzerne Ruhepritsche in der Wachstube zu legen. Müde wie ich war, nahm ich das Angebot an und schlief sofort ein.
Als ich geweckt wurde, war es bereits hell. Ich war pünktlich am 1. Oktober 1938 im Pionier-Bataillon 71 eingetroffen, das zu dieser Zeit im Kreis Schwiebus, östlich Frankfurt/Oder neu aufgestellt wurde. Ein Raum zum Frischmachen wurde mir gezeigt. Danach führte mich einer der Wachtposten durch das Kasernengelände, vorbei an zweistöckigen großen Häusern und Hallen. Dazwischen standen einige Kiefernbäume, und neue Straßen waren angelegt worden. Die ganze Anlage machte auf mich einen positiven Eindruck.
Wir waren gerade an einem der Kasernengebäude angekommen, als dieses von den ersten Soldaten im Laufschritt verlassen wurde. In der Schreibstube gab ich sämtliche Papiere ab, einschließlich der Fahrkarte (deren Kosten ich später erstattet bekam). Hier herrschte ein sehr reger Betrieb. Ehe ich richtig zur Besinnung kam, sagte man mir:
„Sie gehören jetzt der 2. Grenz-Pionier-Kompanie, Bataillon 71, an und kommen zum 3. Zug, 7. Gruppe. Der Zug liegt im Haus 3.“
Ein Gefreiter vom Dienst, mit aufgesetztem Stahlhelm, brachte mich zu meiner neuen Unterkunft. Der Weg führte vorbei an einer Kantine und an Wirtschaftsgebäuden, in dem sich die Speisesäle befanden. Alle Gebäude standen in der Nähe des Tibor-Sees.
Im Haus 3 betraten wir ein Zimmer (militärisch als Stube bezeichnet), in dem der Zugführer saß, dem ich vorgestellt wurde. Der Zugführer, Feldwebel Gasse, begrüßte mich und leitete mich an meinen Gruppenführer weiter – einen Unteroffizier namens Enoch. Auch der begrüßte mich freundlich und führte mich in eine Stube (in der wir noch fast ein ganzes Jahr lang wohnen sollten). Der Unteroffizier stellte mich dem Stubenältesten vor, einem Oberpionier OA (Offiziersanwärter) namensReinhold Matern.
In der Stube standen sieben Betten. Sechs davon auf einer Seite des Raumes, je zwei übereinander. Das Bett, in dem Matern schlief, stand allein und in einer Ecke. Daneben stand sein Kleiderschrank, und daneben ein Vorratsschrank für die Kaffeekanne, einen Besen und einen Eimer. In der Mitte standen zwei große Tische und sieben Holzschemel.
Im Laufe des Tages füllte sich unsere Stube mit der gesamten Gruppe (die Belegschaft einer Stube – üblicherweise 10 Personen – entspricht einer militärischen „Gruppe“). Jeder bekam einen halben Schrank für seine Ausrüstung zugewiesen. Irgendwann war unsere Gruppe komplett, und wir saßen in der Stube zusammen, waren uns noch fremd. Der aus Wien stammende neue Kamerad, Alfred Thomann, erzählte von seiner Heimatstadt, dem Prater, dem Stephansdom, den Wiener Madels und dem Heurigen. Georg Rennhack kam aus Peitz/Spreewald und berichtete von diesem – den ich bereits kennengelernt hatte, der aber den anderen neu erschien. Die beiden Berliner, Emil Grünke und Helmut Hartmann, ereiferten sich, von der deutschen Hauptstadt zu berichten, von den Mädchen und vom Tanz in den Cafés und im Grunewald. Manche von uns saßen auf den Bettkannten, die anderen auf den harten Schemeln am Tisch.
Dann wurden wir vom Unteroffizier zum Einkleiden gerufen. In der Bekleidungskammer herrschte Hochbetrieb. Welches Bekleidungsstück einem auch vom sogenannten Kammerbullen gegeben wurde, es hieß: „Paßt!“
Schwerbepackt kehrten alle in ihre Stuben zurück. Vor dem Schrankspiegel setzten manche nochmals ihren Stahlhelm auf, um zu prüfen, wie sie damit aussehen – und insgeheim war man stolz, endlich ein Soldat zu sein.
Dann wurden die Bekleidungsstücke unter Anleitung des Stubenältesten ordentlich in den Schrank geräumt. Auf dem Schrank, den man beim Militär als Spind bezeichnet, wurde der Tornister und darauf der Stahlhelm abgelegt. Der Tornister war bereits vollständig gepackt, samt Kochgeschirr, Feldflasche, Butterdose und Eßbesteck. Eine Decke und eine Zeltplane waren auf dem Tornister festgeschnallt. An diesem ersten Tag wurde die Mahlzeit noch ohne ein vorheriges Antreten eingenommen, das Abendessen stubenweise beim Furier abgeholt. Die erste Nacht verbrachten alle in tiefem Schlaf.
Mit der Vermehrung der Grenztruppen im Oktober und November 1938 hatte das Grenz-Infanterie-Bataillon 122 als Aufstellungskader der neuen Grenz-Infanterie-Regimenter das Tibor-Lager Ende September bereits geräumt. In den ersten Oktobertagen traf das Stammpersonal zur Aufstellung des neuen Grenz-Pionier-Bataillons 71 ein, das aus einem bereits existierenden Stamm des Pionier-Bataillons 23 sowie den Neuzugängen (zunächst zwei Kompanien) bestand. Die 1. Kompanie wurde von Hauptmann Otto und die 2. von Oberleutnant Linke geführt. Kommandeur des Bataillons war Major Scholz, sein Adjutant Oberleutnant Raßmussen. Die Rekruten stammten vorwiegend aus Groß-Berlin, der Mark Brandenburg, dem Rheinland und vereinzelt auch aus anderen Teilen Deutschlands und Österreichs. Das Tibor-Lager mit den dort befindlichen Truppen unterstand samt Standortkommandantur dem dortigen Standortkommandanten, Oberst Hamann (der später an die Sowjets ausgeliefert und von ihnen gehenkt wurde).
Zu einer Zeit, zu der ich mich früher noch einmal auf die andere Seite legte, schallte am nächsten Morgen der Weckruf des UvD (Unteroffizier vom Dienst) auf den Fluren: „Kompaniiie aufsteeeh’n!“
Kurz darauf ging er von Stube zu Stube, und die Stubenältesten erteilten ihre Meldungen. Wir eilten in die Waschräume und verscheuchten mit kaltem Wasser die restliche Müdigkeit aus unseren Gesichtern. So begann meine Rekrutenzeit.
Seit ein paar Tagen trugen wir nun die feldgrüne Uniform des Heeres, die Schulterklappen schwarz abgesetzt. Das Käppi auf dem Kopf hatte einen schwarzen Winkel um die Kokarde, die Schirmmütze schwarze Ränder. Das war das äußere Erkennungszeichen der Pioniere.
In den ersten Tagen gab es viel Durcheinander, und es blieb keine Zeit zum Umsehen und zu langem Überlegen. Das Pionier-Bataillon 71 war in den Ost-Verteidigungswall eingebettet und mußte Spezialausbildungen für besondere Aufgaben durchstehen, die später für jeden einzelnen Pionier von großem Nutzen waren. Jeder Tag war mit etwas Neuem ausgefüllt. Dann empfingen wir unsere Gewehre – alles neue Karabiner des Typs 98k mit Bajonett.
Am ersten Wochenende herrschte dann große Stille im Kompaniebereich. Man kam zum erstmals zum Nachdenken über das, was jetzt begonnen hatte. Die erste Post wurde nach Hause geschickt, und mir war es dabei schwer ums Herz. Ich fragte mich, ob ich den jetzigen und noch zu erwartenden Anstrengungen wohl standhalten könnte. Der Arbeitsdienst war dagegen ein Kinderspiel gewesen. Ich dachte an die Schulzeit und den damals aufkommenden Wunsch, Soldat zu werden. Die Erkenntnis war nun, daß die Praxis immer ganz anders aussieht, als man es sich vorher gedacht hat. Es gab auch niemanden, dem man sich mit all seinem heimlichen Kummer offenbaren konnte. Man mußte die Zähne zusammenbeißen und die Tränen unterdrücken. Es hatte sich inzwischen auch herausgestellt, daß ich der Jüngste der ganzen Kompanie war.
Die Gruppenführer unter sich (links Unteroffizier Enoch).
Bald begann das Exerzieren mit dem Gewehr: Rechts um, Kehrtwendungen, dann Griffe klopfen, auf die Schulter und präsentieren. Bevor wir endlich schießen konnten, mußten viele Stunden lang und immer wieder Zielübungen durchgeführt werden. Das alles verlief bei mir gut, weil es für mich ja nichts Neues war, hatte mein Vater mich doch sehr oft mit zum Schießen genommen. Das Lob des Zugführers tat mir gut.
Der Parademarsch mußte exakt ausgeführt werden – mit durchgedrückten Knien, und die Beine bis zur Höhe des Koppelschlosses hochgeworfen. Es machte mir Spaß, wenn die Kompanie exerzierte. Auch der Gefechtsdienst gehörte zum Ausbildungsprogramm, ebenso Stoßtrupps und das Stürmen von Befestigungen sowie die Ausbildung zum Nahkampf. Der Dienst war hart. Die Parole hieß: Einer für alle, alle für einen!
Wehe dem, der sich vor der Härte drücken wollte, zum Beispiel beim Ponton-Tragen. Es dauerte lange, bis die Schulter eine Hornhaut bekam… Dennoch war unser Ehrgeiz groß, und jeder wollte der Beste sein. Die Besten wurden belobigt und erhielten Sonderurlaube.
Es ging auf Weihnachten und Neujahr zu, und man sehnte sich nach einem Urlaub daheim. Aber bis dahin mußten wir perfekt militärisch grüßen können. Anfang Dezember durften wir unter Leitung unseres Gruppenführers zum ersten Mal den Ausgang zum nächsten Dorf vornehmen. Wir kehrten in jener Gaststätte ein, in der schon andere Gruppen aus unserer Kompanie eingekehrt waren. Wir tranken unser Bier, und anschließend ging es zurück in die Kaserne.
Alle zehn Tage erhielten wir unser Taschengeld – pro Tag 50 Reichspfennige, zusätzlich 10 Pfennige Sonderzulage für jeden Tag (eine Art „Wüstenzulage“, zum Beispiel, wenn wir auf zu abgelegene Truppenübungsplätze marschieren mußten). Mit der Sparsamkeit habe ich es sehr ernst genommen, denn ich wollte mir zum ersten Urlaub ein extra Lack-Koppel mit Seitengewehr kaufen (25,- Reichsmark) und eine neue Hose (40,- RM) sowie eine elegante Schirmmütze (15,- RM). Da war der Verzicht auf die Kantine oder das Kino oft etwas, das ich mir selbst auferlegen mußte.
Fast sechs Monate lang dauerte unsere gesamte und äußerst intensive Spezialausbildung, da von den Pionieren ein umfangreiches militärisches Können mit großer technischer Vielseitigkeit verlangt wurde. Der Dienst war sehr abwechslungsreich. Jeden Tag standen andere Ausbildungsbereiche auf dem Dienstplan. Morgens erst Frühsport, dann Exerzieren, Schießausbildung und Unterricht mit ständig wechselndem Programm. Gewehr, Pistole, Maschinengewehr und Flammenwerfer und sämtliche Ausrüstungsgegenstände wurden uns vertraut gemacht. Dazu kam die Bau- und Sperr-Ausbildung, die Schulung der Verbände, das Fahren auf dem Wasser und die Sprengausbildung.
Die Bauausbildung bezog sich auf den Bau von Stegen, Behelfsbrücken und Übersetzmitteln. Wir lernten die Begriffe der Baueinzelheiten: Endaufleger, Ufer- und Stoßbalken (die man rechtwinklig zur Brückenlinie verlegen mußte), feste und schwimmende Stützen, sowie den Oberbau. Die Schulung der Verbände bezog sich auf Stiche und Bunde mit Leinen oder Draht, Kreuzbunde, einfacher Ankerstich, doppelter Ankerstich, Schleuderbund, Wickelbund, Zimmermannsschlag (zum Heben von Balken), Bandeisen zur Halterung von Balken, Schraubenbolzen (für mehrschnittige Verbindungshölzer), die Verwendung von Knaggen aus Kant- oder Rundholz sowie Bretterstücken, Zimmerverbände, gerade und schräge Zapfen, einfache Überlattungen, das Rammen von Pfählen (von leichten und schweren für den Behelfsbrückenbau). Die Handrammen bestanden aus Hartholz mit Griffen für zwei bis drei Pioniere, je nach Untergrund. Auch wurde im Tibor-See von einer Rammfähre aus gerammt. Behelfsmäßige Übersetzmittel (Flöße) wurden aus leeren Tonnen oder aus Holz hergestellt. Für den Bau von Übersetzmitteln benutzte man kleine und große Schlauchboote (kleine für zwei bis drei Ruderer, große für vier bis sechs). Die kleinen Schlauchboote eigneten sich auch für einen Schützen-Laufsteg über einen Fluß. Mit den großen Booten konnte man Schützengruppen von bis zu zwölf Soldaten pro Boot übersetzen. Oder man baute Schlauchboot-Fähren sowie Brücken mit einer Tragfähigkeit bis zu drei Tonnen Gewicht.
Für die Anfertigung von Stegen, Brücken und Behelfsfähren wurden Sägen, Äxte, Beile, Zangen, Drahtscheren, ein Maßstab von zwei Meter, Nägel und Eisenklammern gebraucht. Außer des Werkzeugs für den Behelfsbrückenbau gab es noch das sogenannte Standard-Brückengerät A und B. An einem Tag in jeder Woche stand Brückenbau auf dem Dienstplan. Danach wußten wir jedes Mal, was wir getan hatten.
Der Ponton-Wagen war ein Spezial-Anhänger, der die halbe Ausrüstung für eine Fähre trug. Dazu gehörten ein Ponton, die eisernen Strecken- und Rödelträger, Belagbolzen aus Holz, Anker, Halteleinen und das schwere Ankertau (das auch für den Pionier-Schlag, der „Taufe“ eines neuen Pioniers, diente). Der Ponton mußte von 20 Pionieren auf den Schultern getragen werden; und auf dem Ponton stand währenddessen der Gruppenführer, der den Trägermarsch-Takt angab. Wehe, wir schaukelten so sehr, daß er herunterfiel.
Beim Bau von Fähren wetteiferten wir miteinander. Jeder Zug wollte der schnellste sein. Der Bau einer Fähre dauerte etwa 10 bis 12 Minuten. Oft lag die Dauer der Bauzeit an der Entfernung zu den bereitgestellten Mitteln. Die Hauptausbildung richtete sich allerdings auf den Umgang mit Sprengmitteln. Wir mußten unterscheiden zwischen Sicherheitsbestimmungen und Vorsichtsmaßnahmen. Gruppen- oder Zugführer vermittelten uns die technischen Begriffe und erteilten Anleitungen zur Anwendung von Spreng- und Zündmittel – nicht nur zum Zwecke der Zerstörung, sondern in erster Linie als technisches Hilfsmittel für Bauvorhaben und beim Minenverlegen. Uns Anfänger sollten betreffs des Sprengens die Grundlagen für einfache Holz- und Stahlsprengungen erteilt werden. Dafür gab es feste Faustregeln und Berechnungsformeln, die als Basis dienten.
Außer dem Exerzier- und Truppendienst, dem Wasser- und Felddienst sowie sonstiger Ausbildungsbereiche gehörte auch der Sprengdienst zur Ausbildung. Ehe man sich jedoch mit der Ausführung einer Sprengung befaßte, mußte man gewisse Regeln für die Handhabung, Lagerung und den Transport von Spreng- und Zündmitteln beherrschen. Hinzu kamen die Grundkenntnisse für die Berechnung von Ladungen. Man mußte unterscheiden zwischen handelsüblichen Sprengmitteln wie Dynamit, Donarit, Schwarzpulver und der militärischen Sprengmunition TNT. Jede Art dieser Verwendungsmunition hatte ihre eigene Sprengformelbezeichnung. Hinzu kommt ein fest bestimmter Zündtrupp. Die erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten sollten durch Übungen und häufige Wiederholungen auch der kleinsten Handgriffe ständig geprobt und gewissermaßen verinnerlicht werden. Dieses galt auch für alle Unteroffiziere und Offiziere. Die Sicherheitsbestimmungen bildeten die Grundlage der gesamten Ausbildung.
Auf Wache im Tibor-Lager.
Nach unserer sechsmonatigen Ausbildung mußte das komplette Pionier-Bataillon 71 auf einem Sportplatz zwischen dem Lager und dem Ort Skampe zu einer Besichtigung antreten. Gruppenweise in Linie, erwarteten wir in unserer besten Uniform den Divisionskommandeur, General Sorsche. Nach der Meldung durch unseren Bataillonskommandeur, Major Scholz, und den einzelnen Kompaniechefs, ging der General sämtliche Gruppen ab und verlangte von jeder eine Exerzierübung.
Die Besichtigung unseres Pionier-Bataillons durch General Sorsche.
In diesem Frühjahr wurde unsere Kompanie zu einem Sondereinsatz abkommandiert. Ein gefallender Soldat, der in der Tschechoslowakei im Einsatz gewesen war, wurde auf einem Friedhof in seiner Heimat im Kreis Schwiebus zu Grabe getragen. Unsere Kompanie sollte ihm das Ehrengeleit geben. Am Grab feuerten wir drei Schüsse Ehrensalut, und ein Trompeter blies das Lied vom guten Kameraden. Erschütternd war es, zuzusehen, wie die junge Witwe fast ins Grab gefallen wäre, wenn ihre Begleitung sie nicht im letzten Moment festgehalten hätte. Noch lange stand ich unter dem Eindruck dieses traurigen Ereignisses.
Dann kam der Tag der Wehrmacht. Aus dem gesamten Bataillon wurde eine spezielle Parade-Kompanie zusammengestellt. Ich war auch dabei. Wir marschierten, mit der Bataillonskapelle voran, durch Schwiebus. Menschenmassen säumten die Straßen. Im Parademarsch und „die Augen rechts!“ defilierten wir am Bataillonskommandeur und einer Abordnung der Stadt vorbei. Die Zuschauer jubelten vor Begeisterung.
Zu Beginn des Monats Juni 1939 kamen wir zum Scharfschießen auf unseren Übungsplatz, der inmitten eines großen Kiefernwaldes lag. Rechts und links befanden sich Schutzbunker für die verschiedenen Pappscheiben-Bedienungsmannschaften. In etwa 500 Meter Entfernung diente ein hoher Erdwall als Kugelfang.
Nach dem offiziellen Scharfschießen befahl unser Kompaniechef eine besondere Übung. Dazu mußten ein Unteroffizier, ein Feldwebel und ein Leutnant abwechselnd ein Maschinengewehr bedienen, mit dem sie über die Köpfe der Soldaten der „angreifenden“ Kompanie schießen sollten – und die Geschosse flogen schräg in den Wald hinein. Der Zweck der Übung sollte darin bestehen, daß wir uns an den Geschoßknall gewöhnen sollten, der so ganz anders wirkte, als der Knall hinter der Waffe.
So ging einige Zeit mit dieser Übung dahin, bis plötzlich ein schriller Aufschrei alles stoppte. Es war ganz in meiner Nähe geschehen; ein Kamerad vom 2. Zug war von einem Querschläger aus dem Wald direkt unter dem Stahlhelmrand getroffen worden und auf der Stelle tot. Bis die Staatsanwaltschaft eintraf, durfte sich niemand vom Ort des tragischen Ereignisses entfernen. Nach der Feststellung des Sachverhalts wurde der Abmarsch in die Unterkünfte befohlen. Unserem Chef drohte ein Gerichtsverfahren mit ernsten Konsequenzen.
Der getötete Kamerad stammte aus Schwiebus und wurde bald zur Beisetzung freigegeben. Am Tag der Bestattung war die ganze Kompanie sowie der Bataillonskommandeur anwesend, um ihm mit der Trauergemeinde eine letzte Ehre zu erweisen. Mit fünf Kameraden stand ich in der Kirche am aufgebahrten Sarg als Ehrenwache unter Gewehr. Die Trauer über den Tod des Kameraden war derart belastend und irritierend, daß man keinen anderen Gedanken finden konnte, als Ehrenwache.
Für alle Angehörigen der Kompanie war eine belastende Stimmung entstanden, und die Schuldfrage war aufgeworfen worden. War unser Kompaniechef mit seiner Übung zu weit gegangen?
Wimmer, sofort zum Chef!
Am 20. Juli 1939 wurde unser Pionier-Bataillon nach Rokitnitz im Sudetenland, in eine tschechoslowakische Kaserne verlegt. Der Pionierstab und die 1. und 2. Kompanie stellten ein Vorauskommando ab, zu dem auch ich gehörte. Unter Führung des Unteroffiziers Enoch unternahmen wir zu diesem Ort einen Marsch mit Lastkraftwagen. Die Kaserne in Rokitnitz war zwar sauber, aber für die Kompanien noch nicht hergerichtet. Aus dem Lager mußten Betten und Strohsäcke geholt und in die Stuben verteilt werden.
Einer der großen tschechischen Bunker bei Rokitnitz im Sudetenland, an denen wir Pioniere üben mußten.
Rokitnitz war ein schöner, ruhiger Ort mit vielen Cafés und Gaststätten, und schnell freundeten wir uns mit der Bevölkerung an. Die jungen Mädchen der kleinen Stadt schienen geradezu verrückt nach Soldaten zu sein… Hier ging nun unser Bataillon zum ersten Mal die großen Verteidigungsbefestigungen an. In der Ausbildung übten wir vorher an den sogenannten tschechischen Ohrenständen (kleine Vorfeld-MG-Bunker), dann größere Bunker mit Schießscharten und MG-Kuppeln oder Kanonen-Scharten. Stürmen, einnehmen und verteidigen, sprengen mit Spezial-munition (Hohlladungen), Flammenwerfer-Einsatz, Gewehr- und scharfen MG-Beschuß – jeden Tag. Übung folgte auf Übung, bei Tag und auch bei Nacht.
Annäherungsübungen an einen Bunker mit Flammenwerfern.
Wir waren noch immer Rekruten und „genossen“ noch immer die harte Ausbildung – und noch immer war unser Respekt vor den Vorgesetzten riesengroß. Lief etwas nicht richtig, jagte uns der Gruppenführer zur Strafe durchs Gelände. Oft schien uns das ganz und gar nicht die richtige Methode zu sein. Aber wir wurden abgehärtet, gut trainiert, gedrillt darauf, hart im Geben und hart im Nehmen zu sein. Jeden Tag Stoßtruppausbildung – jeweils 12 Soldaten gegen die verschiedenen Bunker in der Befestigungslinie. Tag und Nacht mußten wir uns durch Flächen-Drahthindernisse an die Turm- oder Seitenschießscharten heranarbeiten. Verbissen schufteten alle Kameraden; allen voran zwei Soldaten mit Drahtscheren, um geräuschlos eine Gasse durch den Stacheldraht zu bahnen. Mühsam robbten, krochen oder glitten wir dann über den Boden, durch Trichter und bis an die Bunker heran. Möglichst geräuschlos sollte unsere Annäherung erfolgen. Dann kam unsere Übungsmunition zum Einsatz: Blenden und sprengen der Türme… Die Besatzungen der Kampfstände waren nicht selten verblüfft, als deren „Einnahme“ dann ganz plötzlich erfolgte.
…Und so sah ein Gruppenunterstand aus, nachdem wir ihn gesprengt hatten…
In den fast vier Wochen, die wir in Rokitnitz verbrachten, gab es witterungsmäßig schöne und schlechte Tage. Kälte, Nässe und Nebel waren in der hochgelegenen Region an der Tagesordnung. Die Übungen waren so kriegsgemäß wie möglich inszeniert worden. Dann folgte eine große Nachtübung als Abschluß der bisherigen Ausbildung, gewissermaßen als Wertmesser für das Gelernte. Nach Beendigung dieser Übung wurde noch ein fünf Tage dauernder Fußmarsch über 250 Kilometer durchgeführt. Wir vier vom MG-Trupp wechselten uns beim Tragen des schweren Maschinengewehrs ständig ab. Oft trug es auch Oberleutnant Ernst Linke – als Beweis seiner Loyalität und Kameradschaft.
Die als ”Gulaschkanone” bezeichnete mobile Feldküche begleitete uns auf dem langen Marsch auf einem eigens dafür gemieteten Lastwagen eines Privat-Spediteurs (links Unteroffizier Enoch, in der Mitte Oberleutnant Linke, rechts der Bataillonskommandeur Major Scholz).
Als wir uns dann dem Zielort näherten, wurde eine Marschpause eingelegt, um unsere Gefechtsausrüstung und die Bekleidung in Ordnung zu bringen. In Marschordnung rückten wir in das Dorf ein, die Gewehre auf den Schultern. Die Einwohner begrüßten uns freudig. Dann wurden allen die Quartiere zugewiesen – ich bekam keins… Als ich diesbezüglich beim „Spieß“ anfragte, wurde ich zum Kompaniechef befohlen. In strammer Haltung meldete ich mich bei ihm: „Pionier Wimmer zur Stelle!“
Der Chef trat an mich heran und sagte: „Ich brauche einen guten Burschen, der mir meine Sachen in Ordnung hält. Wollen Sie das machen…?“
Ich war von diesem unerwarteten Anliegen irritiert, sagte aber: „Jawohl, Herr Oberleutnant!“
„Nach dem Essenempfang kommen Sie gleich in mein Quartier“.
Wir gingen zum Quartier. Die Begrüßung der Quartiersleute war sehr freundlich, und sie wiesen uns die Zimmer zu. Ich brachte mein Maschinengewehr und die anderen Dinge in mein Zimmer und machte mich frisch. Anschließend begann die Putzstunde. Der Abend sollte mit einem Manöver-Ball enden, und dahin sollten alle durch das Dorf marschieren.
Mit musikalischer Begleitung marschierten wir zu jener Gaststätte in Rokitnitz, in der unser Manöver-Ball stattfinden sollte.
Abends feierte die Kompanie in dem großen Saal einer Gaststätte. Die Musiker unseres Bataillons spielten auf, und die Gruppen saßen an langen Tischen beisammen. Zum Auftakt wurden die Quartiersleute und die Mädchen zum Tanz geführt, die Müdigkeit war längst verflogen. Aufmerksam beobachteten wir die Bühne, auf der die Musiker standen, und warteten darauf, daß sie zu spielen begannen, um dann sofort zu jenen Mädchen zu spurten, die wir uns vorher schon ausgeguckt hatten.
In Ausgehuniform als Pionier der 2. Kompanie des Grenz-Pionier-Bataillons 71 kurz vor dem Ende meiner dreimonatigen Rekrutenzeit.
Erst vier Tänze hatte ich absolviert, da trat der Trompeter vor und stieß ein lautes Signal aus. Alles verharrte. Dann sagte er laut: „Pionier Wimmer, sofort zum Chef kommen!“
Ich war verblüfft. Warum, um alles in der Welt, sollte ich mich hier beim Chef melden?
Im Schankraum waren alle Unteroffiziere und Offiziere versammelt. Ich meldete mich bei unserem Kompaniechef, der mir unvermittelt ein Glas Bier in die Hand drückte und laut sagte: „Meine Herren, hier steht Pionier Wimmer vor Ihnen, das ist mein bester Mann aus der ganzen Kompanie. Oder ist vielleicht jemand anderer Meinung? Meine Herren, Sie sind nun Zeugen, daß ich mit Wimmer auf unsere Freundschaft trinke.“
Ich hatte das Gefühl, gleichzeitig zu erröten und zu erbleichen… Ich war von dem, das ich gerade gehört hatte, völlig irritiert. Da fragte mich der Oberleutnant: „Wie heißt Du mit Vornamen?“
„Josef“, sagte ich halblaut.
Er entgegnete: „Und ich heiße Ernst. Prost, Josef!“
„Prost, Herr Oberleutnant.“
Noch am selben Abend erklärte mir der Chef, er werde am nächsten Tag den Bataillonskommandeur über diesen ungewöhnlichen Akt der Verbrüderung eines Offiziers mit einem Mannschaftsdienstgrad informieren. (Wir duzten uns dann jedoch nur, wenn wir allein miteinander waren. Unsere Freundschaft sollte unser ganzes Leben lang anhalten…)
Oberleutnant Ernst Linke, vom 1.10.1938 bis zum 15.10.1940 Chef der 2. Grenz-Pionier-Kompanie 71.
Am nächsten Tag wurden alle Pioniere per Eisenbahn zurück ins Tibor-Lager gefahren. Nach dem Einrücken in die Kaserne, mit Musikkapelle und großem Defilee im Parademarsch, mußte unsere Kompanie antreten, der Chef hielt eine Rede, dann wurden wir in unseren wohlverdienten Heimaturlaub entlassen. Doch vorher sollte ich noch in die Stube des Unteroffiziers Enoch kommen. Er sagte: „Bilden Sie sich nichts auf die Sache mit dem Chef ein; Sie sind genau so ein Soldat wie vorher auch.“
Mir wurde klar, daß durch die Verbrüderung mit dem Chef eine große Bürde auf mir lastete. Nun entstand bei den Kameraden und Unteroffizieren der Gedanke, daß der Chef jetzt in mir jemanden hat, der ihm über alle Vorkommnisse bei den Mannschaften und Unteroffizieren genau berichtet… Aber genau das lag mir gänzlich fern.
Ein Anker – das markante Symbol der Pioniere.
Wie so oft, hatten wir auch im August 1939 eine Alarm-Übung. Zu unserer Überraschung mußten wir nun unsere gesamte Ausrüstung in der Waffen- und Bekleidungskammer abgeben, und niemand wußte so richtig etwas mit der Situation anzufangen. Nur in leichter Felduniform verließen wir motorisiert unsere Kaserne und fuhren in die Nähe von Schneidemühl. Dort wurden wir in einem Depot neu eingekleidet und bewaffnet. Aus unserer Kompanie wurde ein neues Pionier-Feld-Bataillon zusammengestellt. Aus jedem bisherigen Zug wurde eine neue Kompanie aufgestellt, die man mit Reservisten aus dem Ersten Weltkrieg auffüllte und solchen, die ihre Ausbildung und sogar Reserveübungen bereits absolviert hatten. Diese ungewöhnliche Übung dauerte nur ein paar Tage, und bald waren wir wieder in unserer heimatlichen Kaserne. Aber in der Nacht vom 26. zum 27. August erschreckte uns schon wieder ein Alarm, und wir wurden in einen Mobilmachungsraum bei Schönow gefahren. Von dort aus marschierten nun die zusammengezogenen Einheiten (nur nachts) in die Richtung der polnischen Grenze.
In der Nähe der Grenze, östlich Kletschin, bezogen wir unseren Bereitstellungsraum auf einem großen Gutshof, dessen Scheune uns als Quartier diente. Es erging der Befehl, daß tagsüber keine Truppenbewegungen stattfinden durften. Die Ruhephase wurde zum Instandsetzen von Ausrüstungen und Bekleidung, zum Waffenreinigen und zum Schlafen genutzt. Das schwülwarme Wetter ließ die überbelegte Scheune noch enger erscheinen. Der Dienstplan hing am hölzernen Scheunentor.
Als wir uns schon zur Ruhe begeben hatten, erschien am Abend des 31. August ein Melder des Bataillonsgefechtsstandes und sagte: „Oberleutnant Linke sofort zum Kommandeur!“
Eine halbe Stunde später wurde die Kompanie zu einer großen Besprechung zusammengerufen. Wir wußten, daß Hitlers Forderungen an Polen eine gefährliche Atmosphäre der Spannung und der Kriegsvorbereitungen erzeugt hatte, glaubten aber, daß man sich doch noch irgendwie geeinigt habe.
(1934 hatte Adolf Hitler mit Polen einen Nichtangriffspakt geschlossen. Nachdem sich die polnische Regierung jedoch geweigert hatte, die alte Hansestadt Danzig, die nach dem Ersten Weltkrieg ohne Abstimmung mit dem Deutschen Reich von diesem abgetrennt und als Freistaat der Aufsicht des Völkerbundes und der Zuständigkeit Polens unterstellt worden war, an das Deutsche Reich zurückzugeben und den Korridor nach Ostpreußen zu öffnen, kündigte Hitler sein Abkommen im Frühjahr 1939 auf. Daraufhin folgten hektische diplomatische Vermittlungsversuche, die jedoch an Hitlers Willen für eine gewaltsame Lösung der sogenannten „Raumfrage“ scheiterten. Am 31. August 1939 löste er den „Fall Weiß“ aus – den Angriff auf Polen. Als propagandistischen Vorwand benutzte man die vorgetäuschte Besetzung des Reichssenders Gleiwitz durch ein polnisches Kommando. So hatte sich am 1. September das Gros des deutschen Heeres mit 57 Divisionen in zwei Angriffskeilen in Bewegung zu setzen. Aus Pommern und Ostpreußen sollte die Heeresgruppe Nord unter Generaloberst von Bock vorstoßen, aus Schlesien und der Slowakei die Heeresgruppe Süd unter Generaloberst von Rundstedt. Insgesamt standen für diesen Angriff, der von den Luftflotten 1 und 4 mit 1.107 Maschinen unterstützt wurde, etwa 2.500 Panzer zur Verfügung. Die Polen verfügten über insgesamt 40 Divisionen und 16 Brigaden mit 1.132 leichten Panzerfahrzeugen und 745 Flugzeugen. Bis zum 31. August hatte die polnische Heeresleitung unter Marschall Rydz-Smigly den Hauptanteil ihrer Streitkräfte, 26 Divisionen und 10 Brigaden, an der 1.900 Kilometer langen polnischen Landesgrenze aufmarschieren lassen.)
Nach seiner Rückkehr erklärte uns Oberleutnant Linke die gegenwärtige Situation; daß die Reichsregierung bis zur Stunde vergeblich auf eine Antwort oder das Erscheinen eines polnischen Unterhändlers gewartet habe und unter diesen Umständen ihre Vorschläge als abgelehnt angesehen werden.
Dann mußte von unserer Kompanie ein freiwilliger Stoßtrupp aufgestellt werden, der den Befehl erhielt, die noch intakte Verkehrs- und Schleusenbrücke an der Staatsgrenze zwischen den Seen von Vakatinowo und Piesno unversehrt und durch eine Handstreichaktion einzunehmen. Es hieß: „Meine Herren, um 3:00 Uhr setzt sich der Stoßtrupp zum Zielort in Bewegung. Im Morgengrauen, um 4:45 Uhr, wird die deutsch-polnische Grenze überschritten!“
Dann begab sich außer des Stoßtrupps die Kompanie endgültig zur Nachtruhe. Der Stoßtrupp wurde nun mit zusätzlichen Kampfmitteln ausgerüstet.
Einmarsch nach Polen
Leise wurde die Kompanie zum Aufbruch geweckt. Schweigend ging es nach vorn, an die Grenze. Jede laute Unterhaltung mußte unterbleiben. Man hörte nur den gleichmäßigen Tritt der vielen Stiefel. Vereinzelt klapperte ein Schanzzeug oder eine Gasmaskendose, oder ein leiser Fluch würde hörbar, wenn jemand in der Dunkelheit gestolpert war oder in ein Loch getreten hatte. Die Kompanie marschierte in den Bereitstellungsraum vor der besagten Brücke und war um 3:30 Uhr bereit zum Einmarsch nach Polen.
Wir lagen abwartend auf dem kalten Erdboden, und mir klapperten die Zähne. Aber es war nicht nur die Kälte, die uns frösteln ließ.
Es begann zu dämmern, und das erste Morgenlicht war grau und fahl, und ein milchig-weißer Bodennebel verhüllte alle Gegenstände, verhüllte auch das, was uns erwartete… Viele Gedanken gingen mir durch den Kopf. Ich dachte an meine Eltern und an mein bisheriges Leben. Da kam das Kommando: „Auf! Marsch! Zum Angriff!“
Der Krieg begann exakt um 4:45 Uhr. Ich hatte manches vom Krieg, besonders vom Weltkrieg gehört und noch mehr darüber gelesen. Wie würde es nun werden? Auch dieser Krieg würde Opfer fordern, doch wollten wir nicht hinter unseren Vätern zurückstehen, waren dazu bereit.
An der Brücke stießen wir auf unseren Stoßtrupp, der keine Verluste erlitten hatte. Die Gruppe ordnete sich wieder in die Kompanie ein. Zwar war die Brücke bereits schon vorher durch eine Sprengung halb zerstört worden, doch noch immer benutzbar. Ein Kamerad des Stoßtrupps berichtete: „Wir schlichen uns an die Brücke heran, aber es regte sich nichts. Es war auch nicht zu erkennen, ob die Brücke überhaupt besetzt war. Die Brücke sollte im Laufschritt passiert werden. Aber gerade als die Ersten losrennen wollten, krachte es, und eine Staubwolke stieg auf. Holzbalken, Steine und Erdbrocken wirbelten herum und fielen auf die sumpfigen Wiesen und auf die Straße. Die Brücke war gesprengt worden. Wir sahen in diesem Augenblick zwei polnische Soldaten in den nahen Wald laufen, aber niemand kam auf den Gedanken, hinter ihnen her zu schießen.“
Mit einigem Unbehagen marschierten wir nun in einem fremden Land, und wir fragten uns, was nun noch alles geschehen sollte… Wir waren in ständiger Anspannung und auf der Lauer, um nicht überraschend überfallen zu werden. Plötzlich tackerte in einiger Entfernung rechts ein Maschinengewehr. Es folgten vereinzelte Schüsse, dann noch einmal ein Feuerstoß. Stille… Nur aus der Ferne war ein dumpfes Brummen vernehmbar, das langsam anschwoll und dann hoch über uns hinwegzog – deutsche Bomber, die ihre Bomben zu fernen Zielen trugen.
Der Nebel löste sich auf, und plötzlich war es hell. Vor uns tauchten die ersten Zäune und Häuser von Valentinowo auf. Eine Gartentür wurde geöffnet, und ein Mann trat auf die Landstraße. Als er uns erblickte, hob er erschreckt die Hände: „Oh, oh, die Deutschen!“ rief er.
Langsam fügte er mit hartem Akzent hinzu: „Ich habe abgerüstet!“
Wir zogen wortlos an ihm vorüber, und zögernd nahm er seine Hände wieder herunter.
Etwas weiter verdeckten Johannisbeersträucher und eine Strohmiete fast vollständig ein niedriges Haus, aus dem aufgeregte Stimmen drangen. Unserer Angriffsrichtung entsprechend marschierten wir durch die Gärten hinter den Scheunen, dann die Dorfstraße entlang und vertrieben allein durch unser Erscheinen ein paar ängstliche Einwohner, die gerade damit begonnen hatten, eilig ihren Hausrat auf einen Wagen zu laden.
Am südlichen Ausgang von Valentinowo schloß unsere Kompanie auf die Infanterie auf, die mit uns die Grenze überschritten hatte. Es ging weiter, auf das Kloster Gorka zu. Ein polnisches Kommando war dort gewesen; man konnte es sehen, aber das Kloster war nicht mehr besetzt. Nach den Aussagen eines deutschsprechenden Mönches waren die Polen erst eine halbe Stunde zuvor abgezogen.
Ohne Aufenthalt ging es weiter. Das nächste Angriffsziel war ein Wiesengrund. Wieder krachte es im Gelände vor uns, und eine Holzbrücke über die Lobsonka flog in die Luft. Sofort wurde die 2. Kompanie mit ihrer Wiederherstellung beauftragt.
Inzwischen war es sehr warm geworden. Mehrere polnische Frauen und Männer brachte uns Erfrischungen und Blumen. Einige Optimisten wagten schon, auf einen „Blumenkrieg“ zu hoffen, wie es im Sudetenland geheißen hatte.
Im Ort Lobsens waren alle Häuser leer. Den Rest des Tages mußten wir nur marschieren. Die weitläufige Feldlandschaft war leicht wellig und von einzelnen kleinen Gehölzen durchzogen. Ein Gehöft, an dem wir vorbeikamen, mußten wir durchsuchen, ob sich darin polnische Soldaten aufhielten. Die Bewohner verneinten dieses. Wir fanden auch niemanden darin.
Bald erreichten wir das Dorf Sczerbin, dann ging es weiter über Schönfelde nach Witzleben und auf einer schattenlosen Straße über Hermannsdorf nach Debenke. Bei unserem Einmarsch in Hermannsdorf wurde die Kirchenglocke geläutet. Unsere erste Nacht im fremden Land verbrachten wir dann in Zwei-Mann-Zelten.
Am 2. September wurde wieder marschiert. Die Dörfer, durch die wir zogen, standen meistens leer. Die Bevölkerung war nach Osten geflohen oder bereits deportiert. Das Vieh irrte herrenlos umher oder brüllte in den Ställen. Einige Kameraden molken Kühe, und so hatten wir ein zusätzliches und nahrhaftes Getränk.
Unterwegs überholten uns mehrere Panzerspähwagen, die zur Brigade Netze gehörten und nach Nakel fuhren. Am Horizont quollen dunkle Qualmwolken brennender Gehöfte empor. In einem Ort stand in einem Treppenhaus auf einem Podest eine große Gipsstatue des 1935 verstorbenen polnischen Staatsherrn Josef Pilsudsky, und ein Soldat sagte: „Ja, Du hast das nicht gewollt, aber nun ist es doch so gekommen, weil der Beck sich vor den Karren der Engländer hat spannen lassen.“ Dann stieß er die Figur um. Als sie polternd auf den Boden aufschlug, zerbrach sie in viele Stücke.
Der 3. September war wieder ein strahlend schöner Spätsommertag. Es war ein Sonntag. Unsere Nachbar-Division, die Tuchler Heide bereits erreicht hatte, ging in Richtung Kulm vor. Wir marschierten bis Gumnowitz. Hinter uns ging eine Batterie in Stellung. Ein polnisches Aufklärungsflugzeug zog über uns einen weiten Bogen. Es wurde heftig mit Karabinern und Maschinengewehren beschossen – jedoch ohne Erfolg.
Unser Marsch ging weiter nach Dabrowka. In der Ferne sahen wir hohe Rauchsäulen. Hin und wieder hörten wir auch entferntes Knallen, das die Älteren unter uns, die den Ersten Weltkrieg oder die Grenzlandkämpfe 1919/20 mitgemacht hatten, als Artilleriefeuer erkannten. Bei Kazin entdeckten wir dann auch mehrere flache Erdtrichter und silbrig glänzende Granatsplitter auf dem Ackerboden. Plötzlich wurden wir aus südöstlicher Richtung, von Kazin her, beschossen. Es rauschte über uns, vor und neben uns, es blubberte auf den Boden und zerplatzte – Granatwerfer!
Alle lagen wir flach auf dem Bauch. Man wollte sich am Liebsten in die Erde verkriechen… Dann unternahm die Infanterie einen Entlastungsangriff nach vorn. Ich sah ihre ersten Verwundeten – die ersten Verwundeten, die ich in meinem Leben sah…
Wir gruben uns ein, und der Abend verschaffte uns Gelegenheit, uns an die Fluggeräusche der Granaten zu gewöhnen. Unsere Artillerie beschoß über uns hinweg erkannte Befestigungen östlich von Neuheim. Die Polen antworteten nur mit vereinzelten Schüssen. Bei Anbruch der Dunkelheit wurde das Feuer gänzlich eingestellt. Wir empfingen Verpflegung, stellten Wachen auf und fielen erschöpft in tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen wurde uns erst richtig bewußt, daß wir am Vortag unsere „Feuertaufe“ erhalten hatten – wir befanden uns tatsächlich im Krieg… Vor dem Weitermarsch gab man die Lage bekannt:
„England und Frankreich haben uns gestern den Krieg erklärt. Von dem uns gegenüber befindlichen Feind wird angenommen, daß er seine Stellung geräumt hat. Heute werden die ersten Benachrichtigungskarten ausgegeben, damit wir die uns zugeteilte Feldpostnummer nach Hause schreiben können. Zusätzliche Mitteilungen sind nicht erlaubt!“
(Am 3. September hatten Polens Verbündete, Großbritannien und Frankreich, dem Deutschen Reich den Krieg erklärt – aber ein wirksames Eingreifen zugunsten Polens war ihnen so schnell nicht möglich…)
Inzwischen folgte der Vormarsch unserer Infanterie den weichenden Polen nach Osten und Süden. Wir Pioniere hielten zu den einzelnen Infanterie-Regimentern in vorderster Front Verbindung. Wir erhielten nun unseren ersten Einsatzbefehl…
In einem größeren Waldstück war die Vormarschstraße durch eine Baumsperre und Minen blockiert. Der 1. Zug, zu dem auch ich gehörte, sollte diese Aufgabe lösen. Ich wurde mit meinem MG-Trupp von Unteroffizier Matern darüber informiert, daß unsere Räumungsarbeiten vom Feind nicht überfallartig gestört werden konnten. Unsere Stellung und die Beobachter lagen etwa einhundert Meter voraus, damit ich ein günstiges Schußfeld hatte. Aber auf der anderen Seite rührte sich nichts.
Nachdem die Räumarbeiten erledigt waren, wurde der Vormarsch und der Zug der nachfolgenden Fahrzeuge fortgesetzt. In Marschordnung, aber gruppenweise auseinandergezogen, suchten wir den Anschluß an die Spitze, um nichts zu versäumen. Wir rätselten, wo die Polen wohl geblieben waren.
Auf unserem Marsch sahen wir dann die ersten drei toten Infanteristen neben der Straße liegen – Männer in feldgrauen Uniformen mit ihren Stahlhelmen auf den Köpfen. Sie lagen da, als wenn sie schliefen… Wie plötzlicher Frost zog es durch unsere Reihen, die Gespräche verstummten. Alle sahen nur hinüber zu den Toten. Man sah das fahle, fast weiße Gesicht eines Soldaten, dessen Stahlhelm ihm ins Genick gerutscht war. Ein anderer, der etwas weiter hinten lag, hatte beide Hände ausgestreckt, so als ob er jemanden herzlich habe begrüßen wollen und dabei vornüber gefallen war. Der dritte der Männer lag mit dem Gesicht zur Erde. Eindrucksvolle, unvergeßliche Bilder prägten sich in die Psyche ein. Mir wurde klar, daß diese drei Toten nicht die einzigen sein würden, die ich in diesem Krieg zu sehen bekam.
Inzwischen hatten wir die Kompanie während ihrer Ruhepause eingeholt. Die Division erhielt jetzt eine neue Order. Der Feind war nach Süden ausgewichen und lag in einer ausgebauten Stellung, die in dem Bogen zwischen Brahe und Bromberger Kanal den Zugang nach Bromberg verwehrte. Wir überquerten die Straße nach Wahlstatt, ließen Ossowitz links liegen und tauchten in den südwestlichen großen Forst bei Strelitz ein. Es wurde „geöffnete Marschordnung“ befohlen – zunächst Schützenreihe.
Auf Schritt und Tritt fanden wir weggeworfenes polnisches Kriegsmaterial, sogar Waffen und Uniformstücke. Wir kamen an einem verlassenen polnischen Biwak mit halbverbrannten Wagen vorbei. Geknickte Bäume ließen darauf schließen, daß man das Lager aus der Luft beschossen hatte. Zwei tote Pferde lagen da mit aufgedunsenen Leibern, heraushängenden Zungen und ausgestreckten Hinterbeinen. Das Bild des Krieges nahm in meinem Kopf immer klarere und grausamere Konturen an.
Am frühen Morgen erreichten wir den Südostrand des Forstes vor Bromberg. Mehrere dumpfe Schläge, von denen die Luft erzitterte, waren uns unterwegs nicht entgangen. Man konnte auch den Rauch sehen, doch hatten wir uns daran bereits gewöhnt. In unserem Blickfeld erschienen einzelne Hausdächer und viele Obstbäume. Die Stadt dahinter war nur zu vermuten. Das Gerücht, wir würden noch an diesem Nachmittag mit Musik in Bromberg einmarschieren, verbreitete sich schnell; darum die Uniform in Ordnung bringen. Aber es wurde still, und unsere Rast im Wald dauerte lange. So bezogen wir für die Nacht ein Biwak. Von allen Frontabschnitten hörte man gute Durchbruch-Erfolge. An der ganzen Front waren die Polen im Fliehen begriffen. Aber immer, wo sich für sie die Möglichkeit bot, eine Sperre zu errichten, sprengten sie ganze Baumreihen und Brücken aller Art.
Wir Pioniere waren die Wegbereiter für den Vormarsch. Es war inzwischen bekannt, daß sämtliche Brücken über die Brahe zerstört und der Staudamm gesprengt war, so daß der Fluß unverhältnismäßig viel Wasser führte. Nur zwei Kilometer nördlich der Stadt gab es eine weitere Brücke, die noch passierbar war. Die 1. Pionier-Kompanie bekam den Auftrag, sie für Fahrzeuge zu verstärken.
Ein Spähtrupp erkundete am Waldrand, in der Nähe von Bromberg, eine modern eingerichtete Heilstätte, die den Polen als Lazarett gedient hatte und nun verlassen war. Der Feind mußte in panischer Eile abgezogen sein. Dennoch wurden unsere Spähtrupps mehrfach aus dem Hinterhalt beschossen. Größte Vorsicht war geboten.
In den frühen Morgenstunden des 5. September hatten sich die Infanterie und wir Pioniere mit ihren Spitzen bis an den Stadtrand von Bromberg vorgeschoben und zum Einmarsch aufgestellt. Von Musik war keine Rede mehr.
Wir befanden uns im Nordosten der Stadt, an der Straße nach Osielsk. Die Spitze der Division trat an. Im selben Augenblick wurde die Situation klar. Wer noch geglaubt hatte, im einst überwiegend von Deutschen bewohnten Bromberg als Freund empfangen zu werden, hatte sich gründlich geirrt. Aus allen möglichen Verstecken fielen Schüsse. Es knallte aus Fenstern, Kellerlöchern und Dachluken; auch von Balkonen, die extra mit Sandsäcken geschützt waren, wurde auf uns geschossen. So schnell wir konnten, rannten alle von der Straße. Wer keinen Platz in einem Hauseingang oder einer Toreinfahrt fand, mußte sich dicht an der Hauswand hinlegen. Ich ging sogleich mit meinem MG 34 in Stellung, um das Feuer auf den Feind aufzunehmen. Aber unmittelbar nach einem Schuß war der jeweilige Schütze verschwunden. Die Infanterie ging langsam von Haus zu Haus weiter, und wir Pioniere in Begleitung mit.
Die Schüsse peitschten in den engen Straßen durch die Luft und klangen hier ganz sonderbar. Sollte es jetzt zu einem Häuserkampf kommen, konnte das für uns sehr fatal werden, weil wir so etwas niemals geprobt hatten… Im Vorgehen erreichten wir zur rechten Seite einen Kasernenkomplex. Es war eine leerstehende Artillerie-Kaserne. Doch schnell wurde sie von den einzelnen Stäben in Besitz genommen. Dann wurden die ersten gefangenen Heckenschützen völlig nackt in die Kaserne geführt. Die polnischen Soldaten hatten sich schnell ihrer Uniformen entledigt, um bei der Vernehmung besser behandelt zu werden. Da aber die ersten Verluste unter den deutschen Soldaten in der Stadt schon an der Frontspitze eingetreten waren, wurden die Gefangenen nicht gerade feinfühlend behandelt.
Es gab keine klare Kampflinie, denn Zivilisten, Flüchtlinge und Soldaten liefen überall durcheinander. Ich kam zu keinem Schuß und konnte lediglich Feuerschutz leisten. Aber man mußte aufpassen, und beim langsamen Vorgehen wurde die Mann-Deckung auf beiden Seiten der Straße, an den Wänden der Häuserreihen, streng eingehalten. Durch die Schützenreihen wurde durchgesagt, daß es sich wahrscheinlich um Freischärler handelte, die gegen uns kämpften.
Ab Mittag ebbte der höllische Gefechtslärm dann merklich ab. Wir erreichten Hohenholm und kamen an ein Sägewerk. Gleich daran anschließend verlief der langgestreckte Bartelsee, ähnlich einem Kanal. Von unserem Pionier-Bataillon erging der Befehl, daß die Kompanie Linke einen Behelfsübergang von etwa 25 Meter Breite über den Kanal errichten sollte. Die Baustelle lag günstig, denn hier war genug Bauholz zum Aussuchen vorhanden. Die Kompanie ging in das Sägewerk und entledigte sich der mitgeführten Waffen und Geräte. Zu dieser Zeit waren auch die Gerätewagen angekommen, die das notwendige Handwerkszeug brachten. Ein Boot, das quer im Wasser stand und auf dem auch noch einige Eisenträger lagen, sollte nun als schwimmender Unterbau dienen.
Bereits an diesem 5. September, am 5. Tag der Kampfhandlungen, befahl General Edward Rydz-Smigly den Rückzug der polnischen Truppen hinter die Weichsel…
Das Antlitz des Krieges
Am Morgen des 6. September ging es schon sehr früh über den fertigen Übergang und in Richtung des langgestreckten Ein-Straßen-Dorfs Langenau. Unser Zugführer, Leutnant Ripke, hatte den Befehl erhalten, einen Spähtrupp in die Ortschaft zu führen. Vom Feind sah und hörte man nichts… Unser Marsch führte direkt an einer großen Bucht vorbei, mit viel Stamm-Holz. Da schoß plötzlich die polnische Artillerie Schrapnellgranaten. Sie krepierten über der Bucht, an deren Rand wir uns gerade befanden. Wie ein dichter Regen stoben Tausende größerer und kleiner Stahlsplitter auf das Wasser herunter und erzeugten hochaufspritzende Fontainen.
Beim nächsten Abschuß gingen wir in dem Graben neben der Straße in Deckung – und marschierten in ihm auch weiter. Als die Straße eine Biegung in südliche Richtung machte, konnten wir schon den Ort mit der kleinen Kirche sehen. Als wir plötzlich gezielt beschossen wurden, gingen wir mehr erstaunt als erschreckt in Deckung. Mit meinem Maschinengewehr ging ich sofort in Stellung und erwiderte das Feuer auf den Dorfrand. Gruppenweise sollten dann unsere Pioniere unter meinem Feuerschutz vorgehen.
Bald hatten wir die ersten Häuser erreicht und wollten sie nach polnischen Soldaten durchsuchen. Doch welcher Anblick sich uns nun bot, erschütterte uns zutiefst. Fast in jedem Zimmer der von uns durchsuchten Häuser lagen tote Zivilisten – vermutlich Volksdeutsche. Sie lagen in den Betten, auf den Toiletten, in Kellern, in Ställen und auf den Höfen; überall lagen tote Menschen. Einer Frau war der Bauch aufgeschlitzt und ihre kleinen Kinder bestialisch erschlagen worden. Von unserer Erschütterung überwältigt, kamen wir gar nicht zum Nachdenken. Da rief uns Oberleutnant Linke zu: „Sofort Stellungswechsel auf den Friedhof an der Kirche!“