Ich war keine Heldin - Antonia Bruha - E-Book

Ich war keine Heldin E-Book

Antonia Bruha

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Beschreibung

Antonia Bruha gilt bis heute als eine stille Nationalheldin Österreichs. Als Sozialdemokratin und ab Ende der Dreißigerjahre im österreichischen Widerstand aktiv, wurde sie 1941 von der Gestapo verhaftet, von ihrer kleinen Tochter getrennt und später ins KZ Ravensbrück gebracht. Als sie, nach Kriegsende wieder in Wien, krank, elend und schlaflos ihre Erinnerungen niederschrieb, war dies ein Versuch, die Gedanken an das Erlebte, an Todesangst, Grauen und Verzweiflung loszuwerden. An eine Veröffentlichung dachte sie damals nicht. Erst vierzig Jahre später erschien ihr erschütternder Bericht vom Überleben in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der nationalsozialistischen Diktatur. Ein Beitrag zur Geschichte unseres Jahrhunderts aus ganz persönlicher Sicht: Erinnerungen einer Wienerin, die sich 1938 dem Widerstand gegen den Nationalismus anschloss und dann vier Jahre, von 1941 bis 1945, in verschiedenen Wiener Gefängnissen und im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert war.

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Antonia Bruha

Ich war keine Heldin

1. eBook-Ausgabe 2022

Ungekürzte, in neue deutsche Rechtschreibung übertragene und mit

einem Vorwort von Dr. Brigitte Bailer versehene Neuauflage

© 1995, 2022 Europa in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Billie Rehwald, Wien, unter Verwendung des

Covers von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich,

Motiv: das vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes

(DÖW) digitalisierte Original-Verhaftungsfoto von Antonia Bruha,

© Wiener Stadt- und Landesarchiv, 2.5.2.K1: Gestapo-Kartei;

nachbearbeitet und koloriert mit MyHeritage In Color™

Layout & Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Minion Pro

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95890-469-9

Das eBook einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Nutzer verpflichtet sich, die Urheberrechte anzuerkennen und einzuhalten.

Alle Rechte vorbehalten.

www.europa-verlag.com

Haltet inne!

Gedenkt Ihr der Namen derer, die für Eure Zukunft ihr Leben hingaben?

Die Zeit heilt Wunden.

Jahrzehnte sind vergangen seit jenen Schreckenstagen, jenen Nächten des Leidens und des Todes.

Aber auch ein junger Mensch, der die Zeit der großen Schuld und des schuldhaften Versagens nur vom Hörensagen kennt, mag sich eine Stunde Zeit zu wirklicher Besinnung nehmen, auch oder gerade weil nicht mehr darüber geredet wird …

Gottfried Hänisch,

Nachts leuchten die Sterne hell

Inhalt

Doch eine Heldin

Meine liebe Toni!

Nachwort

Über die Autorin

Doch eine Heldin

Antonia Bruha sah sich selbst, wie der von ihr selbst gewählte Titel der nun vorliegenden Neuausgabe ihrer Autobiografie aus 1984 verrät, nicht als »Heldin«. Diese bescheidene Behauptung entspricht in gewisser Hinsicht den Tatsachen – wer ist schon »Held« oder »Heldin« im Sinne von Heldensagen oder Tapferkeitsidealen, die nicht zuletzt auch der Faschismus und Nationalsozialismus vertraten? Toni Bruha war auf den ersten Blick eine kleine, zarte, ganz durchschnittliche Frau. Aber trotzdem war ihr Handeln gegen die nationalsozialistische Diktatur, die – wie sie ganz genau wusste – jeden Widerstand gnadenlos und grausam zu unterdrücken versuchte, unglaublich mutig, in diesem Sinne also eigentlich heldenhaft. Während die überwältigende Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher sich dem Regime beugte, viele davon sogar freudig, und daraus auch Vorteile zog, waren es Frauen und Männer wie Antonia Bruha, die entsprechend ihrer politischen und menschlichen Überzeugung sich dem Regime widersetzten. Doch während der Widerstand von Männern über weite Strecken lange und zum Teil bis heute die Geschichtserzählungen beherrscht, wurde und wird – trotz einiger großer Projekte seit den 1980er-Jahren – dem nicht weniger mutigen Widerstand von Frauen oft weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Im organisierten, politischen Widerstand waren Frauen deutlich weniger vertreten als Männer. Das mag am doch weitverbreiteten Frauenbild liegen, das Frauen weniger der politischen Sphäre zuordnete, aber auch daran, dass die nationalsozialistischen Verfolger selbst bei weiblichen Verdächtigen entsprechend ihren eigenen Vorstellungen von einer »richtigen« Frau weniger genau hinsahen. Taten sie es jedoch, wurden widerständige Frauen ebenso grausam gefoltert und bestraft wie Männer. Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) verzeichnet 533 Frauen, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten. Ihnen stehen 7427 männliche Todesopfer gegenüber. Unter den von der Gestapo verhafteten und in vielen Fällen, so wie auch Antonia Bruha, misshandelten Menschen waren 19 Prozent Frauen, also deutlich mehr. Während viele von ihnen wohl in der Folge vor eines der nationalsozialistischen Gerichte gestellt wurden, wurden andere, wiederum so wie Antonia Bruha, in Konzentrationslager gebracht – auf unbestimmte Zeit, ohne absehbares Ende der Haft. Und selbst in dieser ausweglos scheinenden Situation gab es Frauen wie Antonia Bruha oder und ihre KZ-Kameradin Rosa Jochmann und viele andere, die ihre Menschlichkeit und ihre Solidarität bewahrten. Die SS-Lagerverwaltung teilte einzelnen Häftlingen im Zuge der beschönigend so genannten »Häftlingsselbstverwaltung« eigene Aufgaben zu, die sie als »Funktionshäftlinge« in Gegensatz zu anderen Häftlingen bringen sollten. Auf diese Weise wollte die Lagerverwaltung Zusammenarbeit und mögliche Auflehnung unter den Häftlingen verhindern. Nach und nach gelang es den politischen Häftlingen in verschiedenen Lagern, so auch im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in solche Funktionen zu kommen, die es ihnen ermöglichten, ihren Mithäftlingen auf verschiedene Weise Hilfe zu leisten. Auch Antonia Bruha wurde mithilfe von Rosa Jochmann ein Funktionshäftling und nützte dies dazu, andere Frauen zu unterstützen, soweit die Bedingungen der Konzentrationslagerhaft dies zuließen. Dass dazu Gesinnungsstärke und Mut gehörten, ist wohl selbstverständlich. Und Antonia Bruha meinte trotzdem, sie sei keine Heldin gewesen, das sei doch alles selbstverständlich gewesen. Bleibt uns die Frage: Wer ist dann eine Heldin, wenn nicht sie und andere, die ähnlich gehandelt haben?

1963 setzten ehemalige Widerstandskämpfer*innen und Verfolgte ein Zeichen gegen das Verschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus, gegen das Geringreden des Widerstandes und das Übergewicht der ehemaligen Sympathisanten des NS-Regimes. Sie gründeten gemeinsam – über Parteigrenzen hinweg und in Kooperation mit der katholischen Kirche, der Israelitischen Kultusgemeinde und Historiker*innen – das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW). In seiner Grundsatzerklärung hieß es:

»Das Archiv soll vor allem durch dokumentarische Beweise der zeitgeschichtlichen Erziehung der Jugend dienen. Sie soll mit den schrecklichen Folgen des Verlustes der Unabhängigkeit und Freiheit Österreichs sowie mit dem heldenhaften Kampf der Widerstandskämpfer bekannt gemacht werden. Das Archiv soll als bleibende Dokumentation verwahrt werden.«

Von allem Anfang an befasste sich das DÖW auch mit verschiedenen Formen der nationalsozialistischen Verfolgung – in seiner ersten Buchreihe erschienen bereits in den 1960er-Jahren die ersten österreichischen Arbeiten zur Verfolgung der Jüdinnen und Juden sowie der Roma und Sinti. Die Information der nachfolgenden Generationen über die Gräuel des Nationalsozialismus blieb zentrale Aufgabe des DÖW bis heute. Dieser fühlten sich auch jene Männer und Frauen verpflichtet, die selbst Widerstand geleistet hatten bzw. verfolgt worden waren und nun darangingen, ehrenamtlich dieses neue Archiv aufzubauen. Frauen wie Antonia Bruha oder ihre ehemalige Häftlingskameradin Bertl Lauscher standen neben ehemaligen Dachau-Häftlingen und Spanienkämpfern, die 1936–1939 die spanische Republik gegen die Franco-Faschisten verteidigt hatten, am Anfang dieses DÖW, dessen Leiter und Gründer Herbert Steiner selbst nur durch Flucht sein Leben hatte retten können. Neben der Arbeit im DÖW gingen viele von ihnen auch in Schulen, berichteten Schülerinnen und Schülern über ihre Erlebnisse und trugen dadurch wesentlich dazu bei, jungen Menschen den Wert von Demokratie und Menschlichkeit zu vermitteln. Toni Bruha wirkte bis kurz vor ihrem Tod 2006 als Zeitzeugin und im DÖW.

Für junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die dann nach und nach als Praktikant*innen, über verschiedene Aktionen des Arbeitsmarktservice für arbeitslose Jungakademiker*innen ins DÖW kamen, wie die Verfasserin dieser Zeilen auch, war dieses DÖW eine andere Welt, die uns sofort in ihren Bann zog. Helmut Konrad, später Professor für Zeitgeschichte und Rektor an der Universität Graz, erinnerte sich:

»Besonders wichtig war aber, dass wir hier im Haus auf das ›andere Österreich‹ treffen konnten, auf jene Menschen, die alle ihre Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht hatten und dabei auf der Seite der Opfer gestanden waren. Mit ihnen wurde für uns eine Perspektive auf die österreichische Geschichte unseres Jahrhunderts möglich, die weder Elternhaus noch Schule uns geboten hatten.« (Helmut Konrad, Rektor der Karl-Franzens-Universität Graz, anlässlich der DÖW-Jahresversammlung 1997)

Im DÖW wurde jede gemeinsame Kaffeepause in der kleinen Büroküche zu einer Geschichtsstunde für uns damals junge Historikerinnen und Historiker, wenn Antonia Bruha, von uns Toni genannt, von Ravensbrück und ihrer abenteuerlichen Heimreise erzählte. Während andere Länder ihre gefangenen Landsleute aus den befreiten Lagern heimholten, sah das offizielle Österreich dazu keine Veranlassung. Es blieb der Initiative der eben selbst erst heimgekehrten Rosa Jochmann überlassen, hier gerade noch rechtzeitig vor der Räumung des Lagers die Heimreise der Österreicherinnen zu organisieren. Toni hatte sich mit anderen schon zuvor auf den Weg gemacht.

Zeitzeugengespräche, wie sie später im Schulunterricht eingeführt wurden und an denen sich auch Antonia Bruha beteiligte, waren für uns im DÖW sozusagen Alltag. Auf diese Weise begriffen wir mehr über den österreichischen Widerstand und nationalsozialistische Verfolgung, als uns Bücher oder Dokumente alleine hätten vermitteln können. Gleichzeitig war vor allem und gerade Toni eine stets warmherzige, verständnisvolle Zuhörerin, stets offen für die Anliegen und auch Alltagsprobleme der jüngeren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Wir bewunderten ihren Mut und ihre Geradlinigkeit, und gleichzeitig wurde uns durch Tonis Beispiel bewusst, dass Widerstand nicht von Helden, sondern von ganz normalen Menschen geleistet worden war, das heißt, dies viel mehr Menschen zumutbar gewesen wäre.

Wenn heute Rechtspopulismus, Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungserzählungen wieder überhandnehmen, brauchen wir Menschen, die sich dem widersetzen, laut widersprechen, auch wenn dies oft unbequem ist. Toni Bruha und die Frauen und Männer des Widerstandes können uns hier Vorbild sein. Sie haben in viel schwierigeren Zeiten, die keineswegs mit heute verglichen werden können, Menschlichkeit und Demokratie verteidigt.

Dr. Brigitte Bailer, ehemalige wissenschaftliche

Leiterin des Dokumentationsarchivs des österreichischen

Widerstandes (DÖW)

Meine liebe Toni!

Wir, die wir selbst durch diese Zeit ohne Gnade gegangen sind, lesen dieses mit Herzblut geschriebene Buch mit tiefster Erschütterung. Es ist uns bewusst, dass es schwer, sehr schwer für alle ist, diese grausame Zeit zu verstehen. Das Buch aber wird manchem und mancher eine Lösung bringen.

Wir bedürfen der Mahnung »Niemals vergessen!«, nicht, denn Vergessen-Können ist uns nicht beschieden. Die durchlittenen Stunden-Tage-Wochen-Monate-Jahre und auch die Nächte haben sich uns zutiefst eingeprägt, sie lassen sich nicht verdrängen, sie quälen uns bei Tag, und sie erschüttern unsere Nacht.

Liebe Toni, Du tapferer Mensch! Du, die Du immer ein Lächeln auf den Lippen hattest, niemals mutlos warst, sondern immer helfend-gebend-lindernd – von Dir wussten nur die engsten Freunde, dass daheim bei Deinem geliebten Mann Pepi ein Baby auf Dich wartete. Du hast Dir nicht erlaubt, Deinem namenlosen Leid nachzugeben. Du warst immer da, brachtest Medikamente unter Lebensgefahr auf den Block, rettetest mit den Freundinnen Anny, Bertl, Mitzi, Hermi so manches Leben. Hunderte Male standest Du mit einem Fuß im Grab; aber die Freundschaft war wunderbar, es gab keinen Verrat.

Das alles tatest Du und noch viel mehr, immer gläubig, wissend, dass es ein Ende geben musste, dass ein solches Grauen nicht Bestand haben konnte. Du hast niemals die Hoffnung verloren, und dadurch schenktest Du mancher die Kraft zum Weiterleben-Wollen.

Dir, liebe Freundin, haben unzählige zu danken: Es danken Dir jene, deren Weg zwar durch das Tor des Leidens führte, die aber den Weg zurück nicht mehr gehen konnten; aber es danken Dir auch alle Freundinnen, die überlebten, denen Du auch heute noch ein helfender Freund bist.

Dieses Buch müsste jeder Mensch lesen, vor allem jeder junge Mensch. Es ist mein innigster Wunsch, dass es die Verbreitung findet, die es verdient; dass es mithilft, die Menschen zum Nachdenken zu bringen.

Denn nie wieder darf eine Zeit kommen, in der an die Stelle der Demokratie die brutalste Gewalt tritt!

Dir zutiefst verbunden, auch im Namen unserer Leidensgefährtinnen,

Rosa Jochmann, österreichische Widerstandskämpferin und sozialdemokratische Politikerin(19.7.1901–28.1.1994)

NIRGENDS BLÜHEN DIE Kastanienbäume so schön wie in Wien: Der Prater ist voller Duft, und die Kerzen stehen groß, weiß und rosa. Alles blüht und grünt, alles ist frisch, der Tau glänzt noch auf den Blättern: Es blüht der Flieder weiß und lila, und ein Windhauch trägt den betäubenden Duft fort. Man möchte, dass es ewig Frühling wäre.

Plötzlich ein Wind, ein Toben und Sausen in der Luft. Der Sturm reißt an den Blättern, zerrt an den Blüten. Ein Blatt nach dem anderen fällt, und auch die Kastanienkerzen werden müde und neigen ihre Köpfe.

Bitte, nur eine Blüte lass stehen, die Blüte der Hoffnung und des Glaubens! Er jedoch lässt nicht mit sich handeln, der Sturm, er tobt, saust und wirbelt. Plötzlich, mitten in diesem Getöse, ein Kinderweinen, leise zuerst, dann lauter, eindringlicher und auf einmal ganz laut, um Hilfe schreiend.

Ach ja, das Kind weint. Man braucht nur die linke Hand auszustrecken und langsam den Wagen zu bewegen, der neben dem Bett steht, das beruhigt. Ich strecke die Hand aus – und es ist kein Wagen da, die Hand greift ins Leere. Schwer fällt sie herab, und nun sitze ich hellwach auf dem Strohlager.

Vier graue Wände, eine eisenbeschlagene Türe, Klapptisch, eine Klappbank und die Pritsche. Diese mit Stroh belegt, mit Stroh, das durchtränkt ist mit dem Schweiß ungezählter Menschen, vielleicht auch mit ihren Tränen. Nun sitze ich da und sehe klar: Der Traum ist vorbei, die Wirklichkeit ist grau, nackt und furchtbar. Ich lebe wieder einen jener klaren Augenblicke, in denen das Fieber nachgelassen hat, in denen ich denken und fühlen kann, ohne in wahnsinnige Fieberfantasien zu verfallen. Diese Augenblicke sind kurz, aber umso schrecklicher. Ganz still ist es in meiner Zelle. Die Fensterscheibe blau gestrichen und an der Decke ein starkes elektrisches Licht, das irgendwie vertraut und beruhigend wirkt.

Draußen auf dem Gang schwere Schritte, auf und ab dröhnen die Stiefel, und auf und zu gehen die Schiebefenster an den Zellentüren. Jetzt kann ich schon ausrechnen, wann mein Fensterchen an der Reihe ist. Dann ist der Gestapomann auch an meiner Zelle vorbei. Ich lehne mich zurück, meine Pulse sind ruhiger geworden, das Fieber hat ja nachgelassen, nur die Brust, die noch immer nicht verstehen will, dass nichts mehr da ist, wofür sie Milch hervorbringt, ist entzündet und schmerzt.

Aber dieser Schmerz ist nicht das Ärgste. Es beginnt das Blut wieder durch die Adern zu jagen. Fieber! Ich fühle, wie es steigt. Und mit dem Fieber kommt wieder das Weinen: Irgendwo hinter den grauen, unerbittlichen Mauern weint mein Kind! Oder ist es gar nicht hinter der Mauer, vielleicht nur hinter der Tür? Ich weiß, es hat Hunger, es will trinken, und es weint. Ich halte dieses Weinen nicht mehr aus, ich will hinaus vor die Tür, ich will das Kind wieder warm und fest in meinen Armen halten. Aufmachen! Aufmachen! Ich stürze von meinem Lager zur Tür, und jetzt hämmern meine Fäuste wie irrsinnig gegen das Holz. Es dröhnt durch das ganze Gefängnis, vom vierten Stock, wo meine Zelle liegt, bis hinunter in den Keller. Aber noch lauter als das Hämmern ist der Schrei: Aufmachen!

Die schweren Schritte kommen näher, ein Spalt öffnet sich: »Was gibt’s?« Ich versuche es im Guten: »Ich höre mein Kind weinen, es weint irgendwo an der Tür im Gang, es will trinken, bitte, reichen Sie es mir, ich will ihm nur zu trinken geben, dann gebe ich es gleich wieder zurück.« – »Sie sind wohl übergeschnappt«, sagt die raue Stimme, »hier gibt es keine Kinder, hier gibt es nur Verbrecher, solche wie Sie.«

Ich will nicht verstehen, ich beharre auf meinem Wunsch, und immer lauter wird meine Stimme: »Geben Sie mir das Kind, es hat Hunger!« Aber die Tür schlägt ins Schloss. »Wieder eine, die übergeschnappt ist«, sagt eine Stimme draußen. Doch meine Fäuste hämmern weiter, bis sie bluten. Mein Weinen hallt durch das Gefängnis, bis eine mitleidige Ohnmacht mich und auch die Insassen der anderen Zellen erlöst …

Der Steinboden ist kalt. Wie lange bin ich gelegen? Minuten, Stunden? Ich weiß es nicht. Ich stehe auf und gehe die zwei Schritte zurück zur Pritsche, dann liege ich und starre vor mich hin. Es ist besser, nicht die Gegenwart zu sehen und nicht an die Zukunft zu denken; es ist einfacher, die Vergangenheit wachzurufen.

Genau wie hier brannte das Licht an jenem Abend in der kleinen Küche unserer Wohnung, ruhig und klar. Ich hatte gerade den Text eines Flugblattes verfasst, einen Aufruf zum Kampf gegen Krieg, Faschismus und Brutalität, als mein Mann sagte: »Wir sind nicht mehr so jung; ich bin 31, und du bist 25 Jahre alt. Ich möchte endlich wissen, wofür ich lebe, ich möchte wissen, dass es einmal eine Fortsetzung meines Lebens gibt: Ich möchte ein Kind.«

Überrascht blickte ich auf, es kam so unerwartet. Wir hatten beinahe nur der politischen Arbeit gelebt und nie von uns selbst gesprochen. Nun stand auf seinem ernsten Gesicht ein Wunsch, den er sicher lange mit sich herumgetragen hatte. Ich fragte: »Wie kommst du darauf? So unvermittelt, ohne jede Vorbereitung, sagst du: Ich will.« Er antwortete mit einer Gegenfrage: »Und du willst nicht?« Doch, auch in mir war schon öfter der Wunsch aufgetaucht, ein kleines Kind, das nur mir allein gehörte, in meinen Armen zu halten, aber es waren immer andere Interessen da, die diesen Wunsch zum Schweigen brachten. Darum sagte ich jetzt: »Auch ich möchte ein Kind, aber hast du bedacht, dass Krieg ist, und für uns im doppelten Sinne des Wortes? Hast du bedacht, was wir in letzter Zeit immer wieder tun? Du hast vergessen, dass wir auf heißem Boden stehen, mit einem Fuß im Gefängnis und mit dem anderen unter dem Galgen. Was würde ohne uns aus unserem Kind?«

Seine Stirn furchte sich, er dachte ernst nach, dann sagte er: »Schau, wir machen die illegale politische Arbeit schon so lange, und nie kam es zu Verrat; ich glaube fest, dass es auch weiter keinen geben wird. Außerdem werden ja alle Genossen einsehen, dass du im Falle einer Schwangerschaft zu arbeiten aufhörst.« – »Einsehen werden sie es schon, aber ob ich die Kraft haben werde aufzuhören, wo ich mit meiner innersten Überzeugung bei der Sache bin, das ist eine andere Frage.«

Doch sein Entschluss stand fest, und auch meine Sehnsucht nach dem Kind wurde immer größer.

Als die Stunde der Niederkunft kam, lag ich in einem weißen Bett, und ein ernstes Gesicht beugte sich über mich. Alles war etwas verschwommen, der Schmerz war groß. Trotzdem hörte ich auf einmal ganz deutlich: »Ein Mädchen ist es.« Dann hielt ich das Kind in den Armen und fühlte erst jetzt, wie sehr ich mich all die Jahre nach einem Kind gesehnt hatte. Als ich am nächsten Tag das Gesicht meines Mannes sah, wusste ich, dass er die ganze Nacht mit mir gewacht, an meinen Schmerz und an das Kommen des Kindes gedacht hatte; trotz der Müdigkeit lag so viel Freude in diesem Gesicht, so viel Wärme in seiner Stimme, als er sagte: »Ich danke dir für das große Geschenk.« Ich war so froh, über das Kind und über alles.

Es näherte sich der Tag, an dem ich mit meinem Kind nach Hause gehen sollte; als mein Mann zu Besuch kam, fragte ich: »Hast du alle die Unseren verständigt, dass ich hier liege und wir ein Kind haben?« Er bejahte kurz.

»Ich verstehe nur nicht, dass keiner von unseren Freunden mich besuchen kommt. Es kamen die Eltern, die Verwandten, aber von den Unseren niemand. Ich habe doch auch in den letzten neun Monaten mitgearbeitet, ich bin in meiner Schwangerschaft keine Egoistin geworden, ich habe nicht aufgehört, an die anderen zu denken, ich bin meinen Weg weitergegangen. Ich habe an unserer Fahne festgehalten, denn schließlich soll sie siegen, nicht nur den anderen Menschen zuliebe, sondern auch für mein Kind. Jetzt ist doch ein Mensch da, der die Freiheit und den Frieden, für die wir kämpfen, erleben wird.«

Ich sah ihm in die Augen: Sein Anzug war zerknittert, er dürfte nicht geschlafen haben, müde sah er aus. »Was ist geschehen, sprich!«

Er sagte: »Die Unseren können dich nicht besuchen kommen: Sie haben Angst um dich, sie haben Angst, dass man merkt, dass du zu ihnen gehörst. Ich habe heute Nacht nichts anderes getan als Papier verbrannt. Ich habe unsere Schränke ausgeräumt, deine Bücher, deine Manuskripte durchsucht. Alles Belastende habe ich verbrannt. Marianne, Irma, Franz, Louis, sie sind alle verhaftet worden. Noch viele andere auch. Verstehst du jetzt, warum niemand kommt?«

Es traf mich wie ein Schlag. Ich dachte jetzt nicht an das Kind, nicht an mich, nur an die anderen. Was geschah jetzt mit ihnen? Wer hatte uns verraten? An diesem Tag bekam ich zum ersten Mal das Fieber, das nicht sinken wollte. Ich lag im Bett, starrte auf die Tür und wartete, bis mein Mann kam. Und immer gleich die Frage: »Wen hat man wieder geholt?«

Der Arzt kam an mein Bett: Er konnte sich nicht erklären, warum ich trotz des guten Verlaufs der Entbindung immer fieberte. Man wollte mich nicht aus dem Spital entlassen, aber ich strebte nur nach Hause. Ich hatte zwar keine Angst, dass man mich auch holen würde, denn ich war fest davon überzeugt, dass mich meine Freunde nicht verraten würden, aber ich hatte große Sehnsucht, allein zu sein mit dem Kind, noch eine Zeit lang mit ihm glücklich zu sein, ehe es – vielleicht doch – zu Ende war.

Drei Wochen nach der Entbindung kam ich endlich heim. Ich erinnere mich deutlich an das Auf und Ab der folgenden zwei Monate: an die Seligkeit meines Mutterglücks auf der einen Seite und an die Angst um die Unseren auf der anderen, das Mitgehen mit ihren Erlebnissen, das Wissen um ihr Leid und ihre qualvollen Verhöre. Und dazwischen die bange Frage: Komme auch ich dran oder nicht?

Das Kind gedieh, lachte schon und hob das Köpfchen. Fast jeden Tag hörte man von einer neuen Verhaftung, bis eines Morgens, drei Monate nach der Geburt des Kindes, meine Wohnungsglocke läutete. Ich war noch etwas verschlafen, mein Mann war gerade zur Arbeit gegangen. Als ich die Tür aufschloss und zwei Männer draußen stehen sah, hielt ich sie für Vertreter. »Ich kaufe keinen Staubsauger und lasse mich auch nicht versichern«, sagte ich und schloss die Tür.

Als die Glocke gleich wieder anschlug, wurde mir alles klar. Ich öffnete, und es war für mich keine Überraschung mehr, als sie sagten: »Staatspolizei.«

Ich hieß sie eintreten. Ich wusste ja, es war nichts da, es war alles verbrannt. Sie suchten gründlich, nichts blieb verschont, weder Bücherkasten noch Küchenkredenz; sie machten die Bettüberzüge auf, rollten die Teppiche zusammen, räumten Kinderbett und Kinderwagen aus und öffneten die Windeln des Kindes. Sie gingen in den Keller und auf den Dachboden, packten vieles ein, worin sie Beweismaterial vermuteten, packten auch manches ein, was ihnen gefiel. Sie waren sehr freundlich, ausgesucht höflich und sagten: »Sie müssen nur zu einer Zeugenaussage mitkommen, mittags sind Sie wieder zu Hause.«

Doch ich wusste, wie lange die Zeugenaussagen bei der Gestapo dauerten, und bat, mein Kind bei der Nachbarin abgeben zu dürfen.

Das wurde nicht bewilligt. »Sie müssen es doch stillen«, sagten sie, »packen Sie es warm ein und nehmen Sie es mit.« Dann ging es die Stiegen hinunter, mit dem Kind im Arm. Es war ein banges Auf-Nimmerwiedersehen, das fühlte ich deutlich.

Es kam das erste Verhör. Ich hielt mein Kind fest im Arm, es war so ruhig, als wüsste es, dass es sich nicht rühren durfte. Eine Frau saß neben mir: Sie sollte es halten. Der Referent, dem ich vorgeführt wurde, ein kleiner, hässlicher Mann mit einem richtigen Vogelkopf, wiederholte immer wieder: »Lassen Sie sich das Kind halten, es ist Ihnen doch zu schwer!«

Aber ich wollte es nicht aus den Händen geben. Wozu? Es war so ruhig und bewegte sich nicht.

Die Fragen waren höchst einfach, sie bezogen sich auf meinen Lebenslauf und auf meinen Bekanntenkreis. Höflich waren sie bei diesem ersten Verhör, nur das Kind schien sie ununterbrochen zu stören. Aber ich hatte meinen Willen und gab es nicht her. Ich saß von acht Uhr früh bis zwölf Uhr mittags, dann sollte ich unterschreiben, was ich angegeben hatte. »Aber nun müssen Sie sich das Kind wohl halten lassen«, sagte der Referent, und die beiden Beamten und die Sekretärin nickten beifällig. »Man kann ja nicht unterschreiben mit einem Kind im Arm.«

Kaum beugte ich mich über das Papier, war alle Höflichkeit verflogen. Die Frau entriss mir das Kind, die beiden Beamten standen mit Revolvern an der Tür, die hinter der Frau mit meinem Kind zuschlug.

Als das Kind aber fremde Hände fühlte, fing es laut zu schreien an, und je weiter sich die Frau entfernte, desto leiser wurde das Schreien – es hörte sich an, als ob jemand das Kind würgte. Ich stand aufrecht: »Wohin bringt sie mein Kind?«

Lächelnd erklärte der Referent: »Sehen Sie, ich will essen gehen, und Sie haben noch keine einzige wichtige Frage beantwortet. Da müssen wir eben noch einmal anfangen, und dort, wo man Sie warten lässt, ist es viel zu kalt für das Kind. Am Abend, wenn Sie nach Hause gehen, bekommen Sie es wieder.« – »Das Kind muss um drei Uhr trinken!« – »Vielleicht bringen wir es Ihnen. Abführen«, sagte er dann.

Man führte mich vom vierten Stock, wo das Verhör stattgefunden hatte, hinunter in den Keller.

Im Keller des ehemaligen Hotel Metropol reihte sich Zelle an Zelle; in die erste schloss man mich ein. Ich habe von dieser Zelle nicht viel gesehen, es war dunkel, und ich stand die ganze Zeit bei der Tür und wartete. Nach zwei Stunden war es so weit, und man führte mich wieder in den vierten Stock. Es war mir immer klar, welch schwere Folgen meine illegale politische Arbeit in einem Staat mit totalitärem Regime nach sich ziehen konnte, aber ich hoffte doch, dass man in Anbetracht des Kindes etwas Rücksicht nehmen würde. Damals glaubte ich noch an etwas Menschlichkeit.

Als ich das Zimmer betrat, suchten meine Augen die Frau mit dem Kind. Der Referent saß grinsend hinter dem Tisch, er war allein.

»Was suchen Sie?«, fragte er.

»Mein Kind!«

»Ihr Kind? Sie haben doch kein Kind.«

Ich schaute ihn an. Verwechselte er mich, oder war er kein Mensch, weil er so sprechen konnte?

»Ich habe kein Kind? Es wurde mir doch hier abgenommen, etwa vor zwei Stunden.«

»Sie haben geträumt«, lachte er, und ich verlor meine Nerven. Tränen rollten über meine Wangen, und ich erniedrigte mich so, dass ich bat: »Bitte, wo haben Sie das Kind hingegeben?«

Er stand auf und kam zu mir: »Sind Sie eigentlich echt blond?«, fragte er. »Ihre Haare sind so schön, Sie sind noch jung und leben sicher gerne, oder sollte ich mich täuschen? Ich habe alle weggeschickt und wollte mit Ihnen allein sein. Ich will nicht, dass Sie sich mit einem unbedachten Wort schaden. Auch Ihr Kind ist reizend, Sie müssen es sehr lieb haben, Sie würden alles opfern für Ihr Kind, stimmt es?«

Ich sah ihn unter Tränen an: »Welche Mutter liebt ihr Kind nicht?«

»Sehen Sie, deswegen will ich Ihnen helfen. Wenn Sie vernünftig sind und alles sagen, was Sie wissen, gehen Sie heute noch mit Ihrem Kind nach Hause.«

Er ging zu seinem Tisch zurück und winkte mich heran. Wie Karten hielt er in der Hand einige Fotografien: »Bitte, schauen Sie sich diese Bilder an und sagen Sie mir, wen Sie kennen und was Sie von diesen Menschen wissen.« Ich nahm die Bilder, und meine Hände zitterten. Und ob ich diese Menschen kannte, alle, wie sie da waren! Louis, der immer zum Scherzen bereit war und hinter seiner sprühenden Laune so viel Wissen und Intelligenz verborgen hielt; Marianne, seine Frau; und dann Loisl, ernst und mit offenen Augen durch die Welt gehend, die er so liebte; Irma, dieses junge Mädel, in dem man nie so viel Energie und Wissen vermutet hätte; und so ging es weiter. Alle diese Menschen kannte ich. Es war schwer zu leugnen, es wäre auch unsinnig gewesen.

Ich legte die Bilder zurück: »Ja, ich kenne sie alle.«

Erwartungsvoll blickte mich der Referent an: »Was wissen Sie von ihnen?« – »Was man so von Menschen weiß: dass sie Sport betreiben, turnen, Ausflüge machen, an denen ich auch teilnahm, dass der eine verheiratet ist, die anderen ledig. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.« Er schwieg eine Weile, um dann plötzlich ein Bild aus der Reihe zu ziehen, das er mir vorhielt: »Wenn Sie auch von niemandem etwas wissen wollen, von diesem da wissen Sie mehr!«

Ich nahm ihm das Bild aus der Hand. Es war Franz, von dem ich so viel gelernt hatte, der größte Idealist von allen. Ich wusste von ihm sogar sehr viel, beherrschte aber mein Gesicht, legte das Bild zurück und sagte: »Diesen da kenne ich überhaupt nicht.«

»So, Sie kennen ihn nicht? Ich warne Sie zum letzten Mal, ich will, dass Sie sprechen! Wenn Sie meinen Willen nicht anerkennen und mir nicht weiterhelfen wollen, dann helfe ich Ihnen auch nicht. Ich weiß genau, Sie kennen diesen Mann, ich weiß auch, wieso Sie ihn kennen und wo Sie überall mit ihm waren. Ich weiß über alles Bescheid, Sie sollen es mir nur bestätigen. Also wollen Sie oder wollen Sie nicht?«