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Die Teltowerin Dagmar Maddaus litt viele Jahre an paranoider Schizophrenie. In ihrem Buch schildert sie auf authentische und dramatische Weise die Abgründe dieser Krankheit und ihren Weg zurück ins Leben. Dagmar Maddaus will mit ihrem Buch Betroffenen und Angehörigen Mut machen: Es gibt Wege aus der Hölle.
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Seitenzahl: 163
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Vielleicht wäre die Krankheit nie ausgebrochen oder erst
ein paar Jahre später – aus einem ganz anderen Grund.
Müßig, darüber zu spekulieren.
Es hat mich erwischt, viele Jahre meines Lebens über-
schattet, und es beschäftigt mich bis heute.
Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
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Ausblick
Dabei deutete nichts darauf hin, als Olaf Metzler in mein Leben trat. Er sollte nicht Ursache, sondern Auslöser meiner Krankheit werden. Ich weiß nicht mehr genau, an welchem Tag er das erste Mal im Klassenraum erschien. Es war auf jeden Fall Ende September 1991. Ich saß mit Marion, meiner Banknachbarin, so wie immer, im hinteren Teil des Raumes – von da hatte man die beste Übersicht. Ich weiß noch, wie ich an diesem Tag bekleidet war: Ich trug schwarze Jeans und ein weißes T-Shirt. Das passte alles irgendwie gar nicht zusammen, aber ich hatte an dem Morgen verschlafen und hastig das angezogen, was ich in der Eile schnell greifen konnte.
Ich war damals 29 Jahre alt, seit acht Jahren mit Thomas verheiratet, hatte mit Ingo einen neunjährigen Sohn, der aufs Gymnasium sollte. Wir hatten eine schöne Neubauwohnung in Teltow, einen großen Bekanntenkreis, sehr guten Kontakt zu meinen fünf Geschwistern, ein Gartengrundstück – kurzum: Es ging mir gut, wir führten ein schönes, ein Jonny-Leben, wie es bei uns hieß. Zumal ich mich auch in meinem Körper wohlfühlte. Ich war groß, blond, schlank, musste mich nicht verstecken. Ich strotzte vor Selbstbewusstsein und Energie, war oft unterwegs, auch in der Disko, aber Thomas brauchte sich nie Sorgen zu machen – niemals wäre ich auf den Gedanken gekommen, etwas mit einem anderen Mann anzufangen.
Auch nicht mit Metzler, der, zugegebenermaßen, durchaus beeindruckend wirken konnte. Jedenfalls ging es den meisten Frauen in der Klasse so. Er war Anfang 40, groß, sportlich, schwarzes Haar, gutaussehend, immer adrett gekleidet – und wusste offenbar ganz genau, dass er bei Frauen gut ankam. Dementsprechend benahm er sich auch, war stets darauf bedacht, den Charmeur zu spielen, flirtete gerne, mimte den Hahn im Korbe.
Ehrlich gesagt, ich habe zunächst gar nicht groß auf ihn geachtet. Ich hatte genug mit mir zu tun – nämlich Familienleben und die Berufsausbildung unter einen Hut zu bekommen. Zehn Jahre hatte ich zuvor als Bedampferin in einem Industrieunternehmen gearbeitet, zehn Jahre rotierender Schichtbetrieb, in einem Beruf, der mir zu Ost-Zeiten mehr oder weniger zugewiesen worden war. Dann kam die Wende und irgendwann reichte es mir. Ich ließ mich kündigen und bekam vom Arbeitsamt die Möglichkeit, diese zweijährige Umschulung zu machen – zur Speditionskauffrau mit einem Zertifikat der Industrie- und Handelskammer.
Metzler war von Düsseldorf für drei Wochen als Dozent nach Teltow gekommen. Er unterrichtete zum Thema Speditions-Betriebslehre. Dabei ging es um solche Themen wie: allgemeine deutsche Spediteursbedingungen, Güterversand mit LKW und Bahn, Sammelladungsverkehr, Frachtverträge oder Lenkzeitvorschriften und Versicherungsfragen. Das hört sich trocken an, aber ich hatte damals großen Spaß an der Umschulung. Mein Traumberuf. Für mich jedenfalls war Metzler ein Dozent wie jeder andere.
Wir waren 25 Schüler in der Klasse, darunter 18 Frauen – und wir haben uns eigentlich ganz gut verstanden. In der Klasse war auch meine beste Freundin Anke. Die Mitschüler kamen aus unterschiedlichen Berufen, manche waren auch schon älter. Natürlich hingen gerade die Jüngeren oft zusammen – allerdings hatte ich von Anfang an eine gewisse Beobachterrolle eingenommen. Was dann auch zu ersten Verstimmungen führte, die ich jedoch nie ernst nahm. Sollten die anderen Frauen doch denken, dass ich arrogant sei. Ich bin nun mal nicht der Typ, der sich gleich und jedem öffnet – wenngleich ich durchaus kontaktfreudig sein kann.
Am ersten Unterrichtstag mit Metzler stellten wir uns gegenseitig vor. Ich weiß nicht mehr, was ich über mich erzählte, halt das Übliche. Metzler wollte offenbar besonders originell sein und erzählte unter anderem, dass man sein Cabrio bei ihm zu Hause einmal mit Eiern beworfen habe. Ich fand das so blöd, dass ich laut lachen musste. Wie kann man bloß so einen Schwachsinn erzählen, dachte ich bei mir. Metzler registrierte dies mit einem komischen Blick.
Ja, wir wurden keine Freunde. Während andere Frauen um seine Gunst buhlten, blieb ich distanziert, gab auch mal schnippische oder freche Antworten, wenn er mich ansprach. In den Pausen, auch bei unseren Treffen nach dem Unterricht, war unter den Frauen Metzler immer wieder Thema. Mich nervte das zunehmend, zumal ich mit meinem distanzierten Verhalten genau das Gegenteil bei einigen meiner Mitschülerinnen erreichte. Es hieß, Metzler und ich seien wie Hund und Katze. „Gegensätze
ziehen sich an.“ Und am Ende: „Wer sich neckt, der liebt sich?“
Ich habe das alles überhaupt nicht verstanden und hatte da schon manchmal das Gefühl, dass mich das alles mehr belasten würde, als mir lieb war. Schließlich verbreitete sich dann tatsächlich in Teltow das Gerücht, Metzler und ich hätten ein Verhältnis. Was natürlich absurd war. Dass andere Mitschülerinnen durchaus gerne was mit ihm gehabt hätten, das war bekannt. Und sollte ich auch eine von diesen sein? Ich fand das abstoßend.
Zum Eklat kam es, als mir zugetragen wurde, Metzler habe mich auf einer Party in Kleinmachnow als Feministin bezeichnet. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass ich erst einmal im Lexikon nachschaute, was das eigentlich bedeutet: Feministin. Bei mir blieb nur hängen: so eine Art männerhassendes Monster. Da wurde ich wütend. Wie konnte ich damals ahnen, dass diese – vielleicht sogar unbedachte – Äußerung von Metzler so tiefe Wunden bei mir reißen würde? Ich erzählte Thomas davon, konnte mich gar nicht mehr beruhigen.
Meine Reaktion: Ich ließ Metzler noch mehr spüren, dass er mir gleichgültig, ja unsympathisch war. Ich ließ ihn, wie man so schön sagt, links liegen. Nur ein Beispiel: In einer der Stunden mussten wir vor einer Videokamera agieren, offenbar sollten öffentliche Auftritte geübt werden. Als es zur Auswertung meines kleinen Videos kam, stand Metzler am Fenster, schaute irgendwo anders hin, interessierte sich offenkundig nicht im Geringsten dafür, was ich vor der Kamera zu sagen hatte. Klar riss ich mich zusammen, um den Unterricht, meine Ausbildung nicht zu gefährden, aber ich fühlte mich gedemütigt, beleidigt, war innerlich aufgeregt, aufgeladen. Was bildete sich dieser Typ eigentlich ein? Das Gefühl, von ihm als Feministin angesehen zu werden, diese Art der Behandlung in der Klasse, das war für mich wie ein Alptraum. Das ging mir nicht aus dem Kopf. Heute, mehr als 20 Jahre später, würde ich anders damit umgehen. Aber damals, ich war noch sehr jung, hat es mich aus der Bahn geworfen – ich kann es nicht anders beschreiben. Ich empfand es so, als würde man eine treue Ehefrau als Nutte bezeichnen.
Ziemlich zum Schluss seiner Dozententätigkeit tauchte Metzler auf einer Party in Kleinmachnow auf. Eine der Mitschülerinnen hatte zu sich nach Hause eingeladen. Metzler war an dem Abend locker drauf, hatte Scherze auf Lager, Fotos wurden gemacht. Wir hatten alle schon was getrunken, als ich auf ihn stieß. Ich sagte zu ihm: „Wer mich als Feministin bezeichnet, der hat schlechte Karten bei mir.“ Er lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, meinte dann, er wolle Zigaretten holen und ob ich ihm helfen könne, einen Automaten zu finden. Meine Antwort: „Ich kenne mich in Kleinmachnow nicht aus, da müssen Sie jemand anderes mitnehmen.“ Später dann sagte er zu mir: „Wenn Sie mit Ihrem Mann verheiratet sind, dann sind Sie mit mir verlobt.“ Das hat er einfach so rausgehauen, fand er wohl toll.
An jenem Abend sorgte Metzler noch einmal für Verärgerung bei mir. Er verkündete mitten im Trubel, dass er jetzt nach Berlin-Zehlendorf fahren wolle, um irgendwo noch was zu essen. „Wer will mitkommen?“, fragte er in die Runde. Ich regte mich innerlich furchtbar auf. Was für ein eingebildeter Kerl, dachte ich. Wollte er etwa, dass sich die Mädels vor seinen Augen in die Haare kriegten, um mit ihm nach Zehlendorf fahren zu können? Nach außen hin ließ ich mir jedoch nichts anmerken – griente nur. Eine fuhr dann doch mit Metzler nach Zehlendorf.
Dann kam die letzte Unterrichtsstunde mit Dozent Metzler. Im Gegensatz zu den anderen Tagen trug er diesmal Jeans statt Anzug, und er wollte auch keinen richtigen Unterricht mehr führen. Wir saßen im Pausenraum beisammen. Metzler legte Visitenkarten auf den Tisch. Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, keine der Karten zu nehmen, weil er mich ja so beleidigt hatte. Aber dann habe ich doch eine Visitenkarte an mich genommen, dachte noch scherzhaft bei mir: Warum nicht, ist ja nicht schlimm, wiegt ja keine zehn Kilo.
Was mich heute noch verwundert ist die Tatsache, dass ich, nachdem ich die Karte im Besitz hatte, auch gleich mit dem Gedanken spielte, mich bei Metzler zu melden. Telefon hatten wir damals zu Hause noch nicht, aber ich hätte ja von einer Telefonzelle aus anrufen können. Immerhin widerstand ich der Versuchung zunächst, redete mir ein, ja gar nicht daran interessiert zu sein, ob und wie der Kontakt weitergeht. Ich wollte ihn zappeln lassen. Mein Plan: Metzler erst nach Neujahr anzurufen – um ihm ein gesundes neues Jahr zu wünschen. Damit hatte ich einen Grund für ein Telefonat.
Genauso ist es dann auch gekommen. In der ersten Januarwoche rief ich ihn an. Ich wolle einfach nur mal wissen, wie es ihm geht, sagte ich zu mir – obwohl ich ja doch eigentlich gar nichts mit ihm zu tun haben wollte. Dass dies eigentlich ein Widerspruch war, kam mir nicht in den Sinn. Ich hatte mir auch vorgenommen, nur ein paar Sätze mit ihm zu wechseln und gleich wieder aufzulegen. Es wurde doch ein längeres Gespräch. Metzler bat mich dann, den anderen in der Klasse Grüße auszurichten. Ich sagte zu ihm: „Ich weiß nicht, ob ich das machen werde.“ Er sagte, dass er das nicht verstehe. Ich aber hatte meinen Grund: Die Frauen in der Klasse sollten nicht wissen, dass wir miteinander telefoniert haben. Ich wollte der Gerüchteküche keine weitere Nahrung geben. Das sagte ich ihm aber nicht. Er meinte dann aber, dass er ohnehin eine Postkarte von seinem Urlaub an uns gesandt habe. Das könnte ich doch den anderen schon mal mitteilen.
So kam es, dass ich in der Klasse doch von unserem Telefongespräch erzählt habe. Ich richtete Metzlers Grüße aus und teilte mit, dass eine Postkarte zu uns auf dem Weg sei. Einige der Mädels guckten ziemlich komisch – waren sie vielleicht eifersüchtig darauf, dass ich noch Kontakt zu Metzler hatte?
Diese blöde Postkarte – sie kam nie bei uns an. Aber sie ging mir nicht mehr aus dem Sinn. Jeden Tag warteten wir. Umsonst. Die Frauen in der Klasse, so jedenfalls bildete ich es mir damals ein, warteten letztendlich auf eine Post, die ich ihnen versprochen hatte. Ich ärgerte mich immer mehr darüber, dass ich davon erzählt hatte, war mir dann sicher, dass Metzler diese Karte nie geschrieben, nie abgeschickt hatte. Nach der Bemerkung über mich als Feministin war dies eine erneute Bosheit, die gegen mich gerichtet war. Wie stand ich bloß da in der Klasse? Ich bekam Stress, weil ich etwas versprochen hatte, was nicht eingehalten wurde – aber ich konnte doch nichts dafür. Ich war mir sicher: Das war Metzlers Absicht gewesen. So wollte er sich dafür rächen, dass er damals bei mir nicht landen konnte. Diese Gewissheit brannte sich immer mehr in mir ein.
Hinzu kam, dass die anderen Frauen vermuteten, dass es natürlich mehr zwischen Metzler und mir gab als Telefongespräche. Die Gerüchteküche kochte – das machte mir zunehmend zu schaffen. Es wurde so schlimm, dass ich letztendlich davon ausging, dass jeder neue Dozent, der bei uns unterrichtete, sehr schnell Bescheid wusste über mich – und Metzler. Ich wurde zunehmend unsicherer, mein Selbstbewusstsein schwand. Hinter allem und jedem, was an der Schule passierte, vermutete ich etwas, das gegen mich gerichtet war.
Es gab aber tatsächlich ein weiteres Telefonat, bei dem Metzler und ich verabredeten, uns zu treffen. Ich fand die Idee gut, weil ich davon ausging, dass es mir danach besser gehen würde, weil die Fragen, die mich beschäftigten, geklärt sein würden und auch meine Verärgerung vorbei wäre. Doch aus dem geplanten Treffen wurde nichts.
So kam es, dass die Gedanken an Metzler, die Erinnerungen an seine Kränkung, an ganz belanglose Begebenheiten während seines Aufenthalts in Teltow, die Geschichte mit der Postkarte, die Situation in der Klasse, die Gerüchte über unser angeblichen Verhältnis meine Gedankenwelt mehr und mehr beherrschten. Es war wie ein Strudel, in den ich hineingezogen wurde. Unaufhaltsam. Aber nicht nur ich litt unter der Situation. Auch Thomas wurde mit hineingezogen. Wir haben es in unserer Ehe immer schon so gehalten, dass wir uns alles erzählten. Wenn Thomas Pech hatte, dann erzählte ich manche Begebenheit so oft, bis er mich darauf aufmerksam machte, dass dies schon das dritte oder vierte Mal an einem Tag gewesen sei. Aber das störte mich nicht, immer wieder die gleichen Geschichten zu erzählen, Thomas mit Fragen zu quälen, wie er bestimmte Ereignisse beurteilte, immer wieder, immer wieder.
Noch heute bin ich dankbar, dass Thomas das überhaupt aushielt, zumal die Gerüchte über ein Liebesverhältnis zwischen Metzler und mir längst auch bei ihm angekommen war. Meine ständige Fragerei, das nicht enden wollende Erzählen, das Jammern über die ausgebliebene Postkarte – all das hätte ihm doch verdächtig vorkommen müssen. Aber Thomas vertraute mir, so wie immer, bis heute. Thomas ist mein Mann, mein Geliebter, mein Kumpel, mein Freund – alles in einer Person. Er weiß alles über mich, steht zu mir, das sollte mir, sollte uns in den kommenden schweren Jahren eine große Hilfe sein. Wenngleich er damals doch manchmal wütend wurde, weil ihm das alles zu viel war. So raubte mir Metzler schließlich auch den Schlaf, ich wurde nervös, fahrig, unkonzentriert.
Ende Januar 1992 kam es dann zu den ersten Vorfällen, die mich tatsächlich aus der Bahn werfen sollten. Thomas war eines Abends mit anderen zu einer Party gegangen, ich war zu Hause geblieben, weil es mir wieder einmal nicht gut ging. Ich saß mit Ingo vor dem Fernseher, es war irgendein Musiksender mit Einblendungen von Neuigkeiten aus der Musikbranche. Doch dann erschien ein Laufband mit dem Text: „Eine arme Ossi-Frau wird verrückt wegen einem Wessi.“
Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen, starrte auf die Textzeile, die dann auch gleich wieder verschwand. Ich fragte Ingo, ob er die Texteinblendung gesehen habe, er verneinte. Ich war zunächst beruhigt, weil es diese Zeile offenbar nicht gegeben hatte. Also sagte ich meinem Sohn auch nichts. Außerdem: Ich wollte ihn auf gar keinen Fall beunruhigen. Doch dann wurde mir selbst angst und bange – denn ich war mir sicher, dass ich die Zeile gesehen habe. Wenn aber Ingo nichts gesehen hatte, dann musste ich einer Einbildung aufgesessen sein. Ich beschloss, das Ganze nicht so ernst zu nehmen. Es war halt passiert.
Als Ingo im Bett war, beschloss ich, doch noch in die Disko zu gehen. Ich fühlte mich nicht gut, aber ich wollte nach diesem Vorfall einfach nicht alleine sein. Ich betrat die Diskothek, um mich herum laute Musik und viele Leute. Doch ich hatte keinen Blick dafür. Vielmehr starrte ich auf eine Kamera, die über dem Tresen installiert war. Die Kamera hatte mich voll im Blick. Eigentlich war mir klar, dass es diese Kamera nicht gab – aber ich sah sie trotzdem. In Gedanken sah ich plötzlich wieder Metzler vor mir und die Videokamera, vor der ich damals sprechen musste. Und ich war mir sicher, dass Metzler meinen Auftritt anderen Dozenten gezeigt haben musste, um ihnen zu veranschaulichen, was für ein Loser ich bin. Ich trank viel Wein an dem Abend, tanzte auch, aber ich war innerlich voller Panik. Es musste die Kamera geben, dieses Gefühl ließ mich nicht mehr los. Ich wurde überwacht – von Metzler? Das war mir nicht klar. Aber das alles war nicht normal.
Da mir Metzler nicht mehr aus dem Kopf ging, da diese Person begonnen hatte, mein Leben so negativ zu beeinflussen, beschloss ich, mich an ihm zu rächen. Im Nachhinein ärgere ich mich über die Aktion mit der Kontaktanzeige, aber damals erschien mir die Idee plausibel. Ich wollte ihn einfach mal so richtig ärgern. In der Zeitung fand ich dann die – angeblich – richtige Anzeige: Mann sucht Frau – zuverlässig, treu, ehrlich. Und da dachte ich, dem werde ich es zeigen, von wegen ehrlich. Ich wollte ihm unterstellen, dass er die Anzeige aufgegeben habe und ihn zugleich mit seiner Unehrlichkeit mir gegenüber konfrontieren. Doch die ganze Sache ging voll nach hinten los. Statt sich zu ärgern, meinte Metzler am Telefon: „Lies doch mal vor.“ Ich las den Text der Anzeige vor und seine Reaktion lautete: „Oh, da fühle ich mich glatt geschmeichelt“. Ich dachte in dem Moment, dass Metzler offenbar gar nichts kapieren würde. Aber wie sollte er auch wissen, was mich bewegt hatte, ihn anzurufen. Für ihn war das Ganze sicherlich nur ein lockerer Spaß am Telefon, zumal in der Anzeige ja auch davon die Rede gewesen war, dass der Mann, der die Anzeige aufgegeben hatte, Besitzer eines Wartburgs war. Als ich auflegte, fühlte ich mich bis auf die Knochen blamiert. Aber ich hatte noch einen Satz von ihm im Ohr, nämlich das Versprechen, nach Berlin zu kommen und sich mit mir zu treffen. Vorher würde er mich anrufen.
Das war Anfang Februar 1992. Aber es kam nichts. Natürlich wartete ich auf Metzlers Anruf. Ich wollte mich mit ihm treffen, um endlich Klarheit zu schaffen. Um den Anruf bloß nicht zu verpassen, ließ ich mich krankschreiben, blieb in den kommenden Tagen zu Hause, lauerte auf das Klingeln des Telefons – von früh bis spät. Ich wurde immer nervöser, in meinem Kopf drehte sich zunehmend alles nur noch um Metzler, Telefon, Video, Feministin, Kontaktanzeige, Rache, Wut, Gerüchte. Irgendetwas beherrschte mich, was ich offenbar nicht mehr kontrollieren konnte.
Es war am 10. Februar: Ich saß mit Thomas im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als ich im Sessel gegenüber der Couch plötzlich einen weiteren Mann erblickte. Er sah aus wie einer unserer Nachbarn. Da wusste ich: Jetzt ist es wohl soweit. Zunächst aber wollte ich sicher gehen. Ich fragte meinen Mann, ob es geklingelt habe. Es hätte ja sein können, dass unser Nachbar zu Besuch gekommen war und ich es nicht mitbekommen habe. „Nein“, meinte er, „Was ist denn los?“ Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich tat das, was ich immer machte – nämlich Thomas stets das zu erzählen, was mich bewegt. „Du“, sagte ich zu meinem Mann, „ich sehe hier jemanden sitzen“. Thomas schaute erschrocken: „Aber hier ist doch niemand.“ Ich antwortete ihm: „Ich sehe Leute, die gar nicht da sind.“ Das war der Beginn meiner Katastrophe.
Keine Ahnung, wie ich die Nacht verbrachte. Aber wir fassten einen Entschluss: Am nächsten Morgen brachte mich Thomas zum Teltower Neurologen Doktor Martin Fink. Wir mussten mit dem Fahrstuhl in den 6. Stock der Ambulanz fahren. Ich sah das Blinken der Etagen-Anzeige: 1, 2, 3 ... – und wurde immer nervöser. Gut, dass Thomas mit dabei war, denn im Nachhinein stellte sich heraus, dass ich seit diesem Tag eigentlich nur dann einen Fahrstuhl benutzen kann, wenn jemand bei mir ist – alleine geht es überhaupt nicht. Ich habe solche Angst, dass der Lift steckenbleibt und mir niemand hilft, auch heute noch. Das bringt mich manchmal in schwierige Situationen. Entweder warte ich, bis jemand kommt, um ebenfalls den Fahrstuhl zu benutzen, dann fahre ich mit – oder ich laufe die Treppe nach oben. Ich nutze auch keine Flieger, weil das Gefühl, nicht zu wissen, was mit einem passiert, einfach unerträglich ist.