Ich will doch nur frei sein - Filimon Mebrhatom - E-Book

Ich will doch nur frei sein E-Book

Filimon Mebrhatom

0,0

Beschreibung

Eritrea ist das Nordkorea von Afrika.Keine Meinungsfreiheit, kaum Bildungschancen, dafür aber ständige Überwachung durch den Staat und ein nie endender Wehrdienst: In Eritrea sah Filimon Mebrhatom keine Perspektive für sich – und machte sich im Alter von 14 Jahren auf die Flucht. Filimons Buch schildert die bewegende und ergreifende Geschichte einer Flucht, auf der er dem Tod mehr als nur einmal knapp entronnen ist. Er berichtet von unwürdigen Transportbedingungen, Zwangsarbeit, Menschenhandel, korrupter und grausamer Polizeigewalt, Folter, Hunger – und vielen Toten."Die Geschichte, die Filimon über sich erzählt, ist so authentisch, wie sie authentischer nicht sein könnte. Und er hat wirklich sehr viel Glück im Unglück gehabt. Er hat überlebt."Claus-Peter Reisch, Kapitän der Lifeline

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 367

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Originalausgabe

1. Auflage 2020

Verlag Komplett-Media GmbH

2020, München

www.komplett-media.de

ISBN E-Book: 978-3-8312-7035-4

ISBN print: 978-3-8312-0554-7

Text-Mitarbeit & Konzept: Alexander Behr

Lektorat: Redaktionsbüro Diana Napolitano, Augsburg

Korrektorat: Redaktionsbüro Julia Feldbaum, Augsburg

Cover und Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

Dieses Werk sowie alle darin enthaltenen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrecht zugelassen ist, bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das Recht der öffentlichen Zugänglichmachung.

Ich möchte dieses Buch all jenen widmen, die in ihrem Drang nach Frieden, Freiheit und Wohlergehen ihr Leben verloren haben, sei es in der Wüste oder auf dem Meer, in den Foltergefängnissen in Libyen oder in der Gewalt von Dschihadisten. Im Gedenken an sie wollen wir die Schicksale aller Leidenden im Bewusstsein behalten.

Inhalt

Vorwort von Claus-Peter Reisch

Vorwort von Filimon Mebrhatom

Der Überfall durch die eritreische Armee im Sommer 2010

Meine Kindheit

Meine Schulzeit

Meine Ausbildung zum Kameramann

EXKURS: Warum fliehen Menschen aus Eritrea?

Erste Etappe in mein neues Leben

Aufbruch Richtung Sudan

Zweiter Versuch

Mein Weg durch die Wüste

In der libyschen Hölle

Das Massaker im libyschen Gefängnis

EXKURS: Libyen – vom Bürgerkrieg zerrissen

In der Gewalt der Dschihadisten

Endlich frei

EXKURS: Libyen, Europa und die Flucht über das Mittelmeer

Über das Mittelmeer

Ankunft in München

Mein Leben in Deutschland

Meine Zukunft in Deutschland

Danksagung

Vorwort von Claus-Peter Reisch

Es ist schon bemerkenswert zu erfahren, aus welchen Gründen sich Menschen auf die Flucht aus ihren Heimatländern machen. Viele fliehen vor den Kriegen, wie etwa aus Syrien oder dem Jemen, um nur zwei Beispiele zu nennen. In vielen Ländern toben Stellvertreterkriege, es geht um Geld, geopolitischen Einfluss und natürlich um Ressourcen. Allen voran Öl und Mineralien. Die einheimische Bevölkerung betrachtet man dabei wohl als Kollateralschaden.

Die im Überfluss lebende Gesellschaft der sogenannten »Ersten Welt« bedient sich gern an den Gütern des ärmeren Teils der Erde und vergisst dabei oft, eine entsprechende Entlohnung zu bezahlen. Gleichzeitig werden diese Länder dann mit unseren billigst erzeugten Waren oder gar Abfall überflutet, und man nimmt den Menschen ihre Erwerbsquellen. Aber das ist ja weit weg, und so gut wie niemand kümmert sich darum. Anders wird es, wenn diese Menschen plötzlich bei uns an der Tür klingeln. Dann ist mit einem Mal die Empörung groß und die Ablehnung in manchen Bevölkerungsteilen teilweise wirklich rassistisch motiviert.

Filimon ist unter anderem vor den Repressionen des sogenannten »Nationaldienstes« geflohen. Er hatte Angst, einfach in diesem unmenschlichen System für unbestimmte Zeit zu verschwinden. So wie viele vor und nach ihm ebenso. Er sah, ebenso wie viele seiner Landsleute, keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Sicher ein guter Grund zu gehen.

Die Geschichte, die Filimon über sich erzählt, ist so authentisch, wie sie authentischer nicht sein könnte. Er beschreibt seine Erlebnisse mit der Emotion eines Betroffenen, und er hat wirklich sehr viel Glück im Unglück gehabt. Er hat überlebt. Viele seiner Landsleute sind auf der Flucht umgekommen, und nicht einmal ihre Angehörigen wissen etwas über ihr Schicksal. Seine Schilderungen über Libyen und die Fahrt über das Mittelmeer kann ich nur allzu gut nachvollziehen.

Dass Europa weder die Fluchtursachen wirksam bekämpft noch die Menschen aus lebensbedrohlichen Situationen rettet, ist beschämend. Aber auch der Umgang mit den Geflüchteten hierzulande ist oft unmenschlich. Die Willkommenskultur ist trotz vieler großartiger Initiativen und des großen ehrenamtlichen Engagements der Zivilbevölkerung nicht mehr das, was es noch 2015 war.

Wir sollten Menschen wie Filimon eine reelle Chance geben, sich in unsere Gesellschaft zu integrieren. Mag sein, dass das nicht immer einfach ist. Aber es lohnt sich. Für beide Seiten.

Ich wünsche Filimon alles, alles Gute für seinen Lebensweg und bin froh, dass er dieses Buch geschrieben hat. Ich hoffe, dass es vielen Leuten einen Eindruck und vor allem ein Verständnis für die Geflüchteten vermittelt.

Herzlichst und in freundschaftlicher Verbundenheit,

Claus-Peter ReischKapitän der Lifeline

Vorwort von Filimon Mebrhatom

Ich war vierzehn Jahre alt, als ich mein Heimatland Eritrea verlassen und unter schrecklichen Bedingungen die Flucht angetreten habe. Eritrea ist ein kleines Land am Horn von Afrika, das von einem rücksichtslosen Diktator in Schach gehalten wird. Es gibt weder Meinungs- noch Pressefreiheit, und junge Menschen werden in einen brutalen Militärdienst gezwungen, dem Monat für Monat Tausende durch Emigration entkommen wollen – so auch ich.

In einer Nacht im Januar 2014 floh ich über die südliche Grenze nach Äthiopien. Von dort führte mich mein Weg durch den Sudan nach Libyen. Bei der Durchquerung der Sahara erlitt ich furchtbare Gewalt. Ich geriet in die Fänge von Dschihadisten, wurde eingesperrt, gefoltert und versklavt. Zu meinem großen Glück gelang es mir, der Verbrecherbande zu entkommen. Auf einem Flüchtlingsboot verließ ich gemeinsam mit Hunderten anderen Flüchtenden die libysche Hölle und wurde auf hoher See von einem Schiff der italienischen Marine gerettet. Knapp ein Jahr, nachdem ich von zu Hause aufgebrochen war, im Dezember 2014, kam ich schließlich in München an, wo ich heute lebe.

Zum Glück habe ich meine Flucht nicht mit dem Leben bezahlt. Mir geht es hier in Deutschland gut, und ich lebe nun in Freiheit und Sicherheit. Doch ich habe auch großes Heimweh. Ich möchte meine geliebte Mutter, meine Familie, meine Freunde und Bekannten wiedersehen. Tag für Tag denke ich daran, wie ich mit den anderen Kindern meines Dorfes im Freien gespielt und gesungen habe. In Deutschland leben die Menschen isoliert – die meisten sitzen abends zu Hause vor dem Fernseher oder vor dem Computer. Ich hingegen wuchs ohne Facebook, WhatsApp, Viber, YouTube oder Netflix auf. Da es auf dem Dorf weder Internet noch Strom gab, kannte ich all das nicht. Alles, was uns mit der Außenwelt verband, waren krachende, batteriebetriebene Radios, die wir in die Höhe halten mussten, um nach Empfang zu suchen.

Wie sehr vermisse ich die Sonne und das Licht in Eritrea! Die Luft ist sauber und riecht gut, das Essen ist frisch und frei von Pestiziden. Ich sah stets den Lauf der Sonne und des Mondes, was in einer deutschen Großstadt nur schwer möglich ist. In meiner Heimat hingegen ist der Himmel frei – wie oft blickte ich gemeinsam mit den anderen Kindern zu den Sternen und suchte nach Sternschnuppen!

Wer verlässt sein Heimatland schon freiwillig und vor allem allein, im Alter von vierzehn Jahren? Doch solange die Diktatur in Eritrea besteht, ist an eine Rückkehr für mich nicht zu denken.

Es heißt, ein Fünftel der knapp sechs Millionen Einwohner Eritreas lebe im Ausland. Obwohl unser Land klein ist, kamen seit dem Jahr 2013 mehr als 60.000 eritreische Asylbewerber nach Deutschland, mehr als aus jedem anderen afrikanischen Land. Es findet ein regelrechter Exodus statt, und noch immer verlassen jeden Monat etwa 3000 bis 5000 Menschen Eritrea.1

Die Regierung des Landes übernimmt keine Verantwortung für die Menschen, die weggehen. Aufgrund der nicht existierenden Pressefreiheit wissen nur wenige Menschen in Eritrea, wie schrecklich die Lager in Libyen tatsächlich sind. Nichts davon wird im staatlichen Fernsehen oder in der einzigen Zeitung des Landes berichtet.

Ein Zeichen dafür, wie sehr junge eritreische Migrantinnen und Migranten das Regime in Asmara fürchten, sind die zahlreichen Selbstmorde von eritreischen Jugendlichen, denen die Abschiebung aus Europa droht. Besonders tragisch ist der Fall von drei jungen Eritreern in London, die sich im Jahr 2017 und 2018 aus Verzweiflung und aus Angst, abgeschoben zu werden, das Leben nahmen. Keiner von ihnen war älter als neunzehn Jahre.2

Diese Dinge müssen ein Ende haben. Wann sehen wir Freiheit und Frieden? Wann wird es in unserem Land Wahlen geben, wann wird sich die Meinungsfreiheit durchsetzen? Die Menschen in Eritrea fühlen sich von der Welt im Stich gelassen: Europa interessiert sich mehr für die Abwehr der Flüchtenden als für eine wirkliche Bekämpfung der Fluchtursachen. Was wir brauchen, sind Hilfe und Solidarität, um die Diktatur zu stürzen. Ich habe mir geschworen, mich mit all meinen Kräften dafür einzusetzen, dass sich die politische Situation in meinem Heimatland so bald wie möglich zum Positiven verändert.

Mehr als fünf Jahre sind nun vergangen, seit ich Eritrea verlassen habe. Nach meiner Ankunft in Deutschland im Winter 2014 schrieb ich immer wieder Passagen meiner Flucht auf. Zunächst in meiner Muttersprache Tigrinya, dann immer öfter auf Deutsch. Es fiel mir unglaublich schwer, an die schrecklichen Erlebnisse zurückzudenken – doch das Schreiben war für mich gleichzeitig eine Art Therapie. Auf diese Weise konnte ich das Erlebte verarbeiten, und es erschien mir, als ob ich durch den schriftlichen Ausdruck ein Stück weit meinen Schmerz abschütteln konnte.

Etliche Jahre lang lagen die zahlreichen Manuskriptseiten in meiner Schublade, ohne dass sich irgendjemand dafür interessierte. Aber als ich im Frühling 2019 in München einen Vortrag über meine Fluchtgeschichte hielt, änderte sich dies schlagartig: Julia Loschelder vom Verlag Komplett-Media trat an mich heran und schlug eine Publikation meiner Geschichte vor. Im Lauf des restlichen Jahres arbeitete ich zusammen mit dem Wiener Politikwissenschaftler, Journalisten und Aktivisten Alexander Behr intensiv an dem nun vorliegenden Buch. Alexander half mir, meine Textfragmente auszuformulieren und zu einer kohärenten Geschichte zusammenzufügen. Er ergänzte in langen Gesprächen fehlende Passagen mit mir und fügte Exkurse zur Situation in Eritrea und Libyen ein. Claus-Peter Reisch, der unermüdliche Vorkämpfer für die Seenotrettung im Mittelmeer, erklärte sich bereit, ein Vorwort beizusteuern.

Fünf Jahre nach meiner Ankunft in Deutschland liegt mein Buch nun der deutschsprachigen Öffentlichkeit vor. Ich bin unglaublich froh und stolz darüber. Denn mein Ansinnen war es immer, die Europäerinnen und Europäer darüber aufzuklären, warum Menschen ihre Länder verlassen und welchen Leidensweg sie gehen.

Ich verließ Eritrea nicht ohne Grund: Ich wollte frei reden, ohne Angst. Ich wollte meine eigenen Entscheidungen treffen, wohin ich reise, wo ich lebe und wohin ich gehe – so, wie es die Europäer tun. Ich wollte die Demokratie selbst erleben, anstatt immer nur von ihr zu hören. Und ich wollte ohne Angst mein Leben genießen.

Egal welche Hautfarbe, welche Herkunft und welchen Glauben man hat, Mensch ist Mensch. Oftmals frage ich mich: Wieso bin ich zu jener Zeit, an jenem Ort auf dieser Welt geboren? Allein der Zufall der Geburt entscheidet, ob man alle Möglichkeiten hat oder in Angst und Schrecken leben muss. Er entscheidet, ob man von Privilegien profitiert oder ein Dasein im Elend fristen muss. Diese Ungerechtigkeit muss sich ändern.

Ich hoffe sehr, dass dieses Buch einen Beitrag dazu leisten wird, dass die Menschenrechte in Zukunft allerorts geachtet werden und dass alle Menschen ein Leben in Würde führen können.

1https://www.youtube.com/watch?v=RQEzlI-bBeI&feature=youtu.be

2https://www.theguardian.com/uk-news/2019/aug/12/inquest-uncovers-suffering-of-eritrean-refugee-found-hanged

Der Überfall durch die eritreische Armee im Sommer 2010

An diesem Tag wachte ich wie jeden Morgen auf, doch als ich auf dem Weg zur Toilette war, spürte ich, dass etwas nicht in Ordnung war. Durch Spalte in unserer Haustür konnte ich das Licht von Taschenlampen in der Dämmerung erkennen.

Plötzlich klopfte jemand mit schweren Gegenständen heftig an unsere Haustür. Sofort schlugen die Hunde an. Ich wusste sogleich, dass es sich um Soldaten der eritreischen Armee handeln musste. Im Normalfall wären wir alle weggelaufen, aber dafür war es jetzt zu spät.

Ich hatte große Angst vor dem, was nun passieren würde, und wusste nicht, wo ich mich verstecken sollte. In Panik lief ich zurück zu meinem Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt krank und konnte nicht aufstehen. Das Klopfen, das Bellen der Hunde und das Trampeln der Tiere hatten sie aber alarmiert, und sie rief mir zu, ich solle die Tür öffnen. Dazu hatte ich aber zu viel Angst. Obwohl meine Mutter in einem schlechten Zustand war, stand sie auf, stützte sich an der Wand ab und erreichte bald die Tür.

Kaum hatte sie diese ein kleines Stück weit geöffnet, wurde die Tür brutal aufgestoßen. Meine Mutter fiel zu Boden, und die Soldaten stürmten in unser Haus. Die Tiere – wir hatten zwei Ochsen, zwei Esel, ein Kalb und in etwa sechzig Schafe – gerieten in Panik und liefen über meine Mutter hinweg nach draußen. Mit ihren Waffen im Anschlag stürmten die Soldaten sämtliche Zimmer unseres Hauses.

Sie kamen auch in das Zimmer, in dem ich und meine Geschwister schliefen. Ich hörte meine kleine Schwester, sie war gerade sechs oder sieben Jahre alt, neben mir weinen. Meine Geschwister waren noch zu klein, als dass sich die Soldaten für sie interessiert hätten. Stattdessen kamen sie direkt zu meinem Bett und entrissen mir die Decke. Ich drückte mein Gesicht tief in die Matratze – unter allen Umständen wollte ich vermeiden, ihnen ins Gesicht sehen zu müssen. Ihre Waffen machten mir furchtbare Angst. Der Soldat, der als Erstes in unser Zimmer eingedrungen war, stieß mich mit dem Fuß an und forderte mich auf aufzustehen.

Zunächst konnte ich mich vor lauter Angst nicht bewegen. Erst als er mich mit einem Stock brutal auf den Rücken schlug, stand ich auf. Ich hatte nur eine Unterhose an. So, wie ich war, fesselten sie meine Hände auf dem Rücken. Barfuß musste ich mein Zimmer verlassen. Ich wurde an meiner Mutter vorbeigeführt, die immer noch am Boden lag. Gern hätte ich ihr geholfen und sie wieder ins Bett gebracht – doch daran war nicht zu denken. All das war grauenvoll für mich. Tränen rollten über meine Wangen. So brachten sie mich nach draußen. Ich war es nicht gewohnt, ohne Schuhe zu laufen, und die Nadeln der Bäume, die am Boden lagen, bohrten sich in meine Fußsohlen.

Ich war elf Jahre alt.

Und ich war bei Weitem nicht der Einzige, der diese Gewalt über sich ergehen lassen musste. Im Morgenlicht sah ich, wie die Soldaten, es waren etwa dreißig oder gar vierzig, viele andere Menschen aus ihren Häusern holten. Die Frauen schrien und weinten, weil sie verhindern wollten, dass ihre Kinder und Männer in den Krieg geholt wurden. Viele von denen, die man an diesem Morgen mitnahm, sind nie wieder zurückgekehrt.

Ich hätte gern selbst bestimmt, wie meine Zukunft aussah, durfte das aber nicht. Auch meine Familie wurde nicht gefragt. Die Soldaten entscheiden bei solchen Überfällen selbst, wen sie mitnehmen und wen sie unbehelligt lassen.

Ich war wütend und fassungslos: Der eritreische Staat hatte sich nie um mich gekümmert. Er machte keine Anstalten, den Kindern seines Landes kostenlose Schulen zur Verfügung zu stellen. Meine geliebte Mutter war es, die sich immer um mich gekümmert und die trotz der mageren Mittel, die sie besaß, alles dafür getan hatte, dass ich zur Schule gehen konnte. Und nun sollte ich einen Militärdienst von unabsehbarer Länge absolvieren, bei dem ich nicht wusste, ob ich dabei mein Leben lassen würde? Ich wollte mit der Armee nichts zu tun haben und sah nicht ein, warum ich gezwungen werden sollte, Menschen zu töten.

Die Gewalthandlungen nahmen ihren Lauf. Alle Menschen wurden gefesselt auf einem Feld in Bihat zusammengetrieben. Wir waren etwa fünfzig bis sechzig Leute. All das geschah ganz in der Nähe unserer Getreidefelder und unserer Scheune. Hier mussten wir erst einmal warten.

Inzwischen war die Sonne aufgegangen und brannte auf uns herunter. Ich war sehr durstig, durfte aber niemanden um Wasser bitten. Alles um uns herum war trocken, meine Haut brannte, meine Zunge klebte an meinem Gaumen. So lange gefesselt zu sein war schmerzhaft, und so bat ich einen Soldaten, meine Fesseln zu lockern. Doch er hörte mir nicht einmal zu. Sie bildeten mit ihren Waffen einen Kreis um uns, sodass niemand weglaufen konnte.

Dann kamen fünf von ihnen auf uns zu und fragten uns nach unseren Pässen. Letztlich war es ihnen aber egal, ob man einen Pass hatte oder nicht – der Befehl war reine Schikane. Ich selbst hatte noch nie einen Pass besessen. Die Soldaten hätten wissen müssen, dass ich als kleiner Junge von elf Jahren in Eritrea keinen Pass hatte. Um mich zu testen, holte einer der Soldaten mich dennoch aus der Menge und löste meine Fesseln. Er wollte, dass ich sein Gewehr hochhob, aber dafür war ich zu schwach.

In diesem Moment hasste ich mein Leben.

Als er merkte, dass ich das Gewehr nicht halten konnte, lachte er mich einfach aus. Daraufhin ließ er mich laufen.

Auch andere, die man für den Militärdienst als nicht geeignet ansah, wurden wieder weggeschickt. Die Soldaten schlugen viele der Ausgemusterten. Ihre Familien, die aus Sorge mit auf das Feld gekommen waren, mussten all das beobachten und konnten nichts dagegen tun.

Ich lief sofort zu meiner Mutter nach Hause und war in großer Sorge, dass sie sich durch den Überfall und den Sturz schwer verletzt haben könnte. Zum Glück war sie in der Zwischenzeit schon von anderen Dorfbewohnern entdeckt und zurück in ihr Bett gebracht worden.

Als ich zu ihr gelangte, musste ich mit Schrecken feststellen, dass ihre Hand gebrochen war. Sie hatte große Schmerzen. Ich wollte ihr helfen, wusste aber nicht, was ich tun sollte. Der nächste Arzt war weit entfernt, und es gab niemanden, der sie dorthin hätte bringen können.

Es gab im ganzen Dorf kein Auto. Ich hatte auch keine Möglichkeit, telefonisch Hilfe zu rufen, weil es im Dorf ja weder Telefonleitungen noch Internet gab. Auch so etwas wie einen Rettungsdienst gab es in meinem Dorf nicht. Ich fühlte mich schrecklich, weil ich meiner Mutter nicht helfen konnte, und machte mir große Sorgen, dass sie sterben könnte. Ein Leben ohne sie konnte ich mir nicht vorstellen.

Normalerweise brachte man Kranke aus unserem Dorf mit einer selbst gebauten Trage zum nächsten Arzt oder ins Krankenhaus. Das hätte ich gern gemacht. Doch Männer zu finden, die mir hätten tragen helfen können, war unmöglich: Alle Männer waren von den Soldaten zusammengetrieben und gefesselt worden.

Ich war verzweifelt.

Schließlich setzte ich mich einfach zu meiner Mutter ans Bett und litt mit ihr. All das war sehr schwer für mich. Ich wollte meine Mutter aber auf keinen Fall allein lassen. Mehr, als bei ihr zu sein, konnte ich nicht tun.

An diesem Tag musste ich von einem Moment auf den anderen schmerzlich feststellen, dass sich meine Mutter nicht mehr um mich kümmern konnte. Ich merkte, dass ich noch nicht gelernt hatte, die einfachsten Handgriffe selbstständig auszuführen. Ich wollte für meine Mutter Kaffee kochen, schaffte es aber nicht mal, ein Feuer anzuzünden. Strom gab es im ganzen Dorf nicht. Alles wurde mit Feuer gemacht. Als meine Augen vom vielen Qualm tränten, verstand ich, wie schwer und mühselig die Arbeit der eritreischen Frauen war. Bisher hatte ich mich nie darum gekümmert.

Schließlich fasste ich einen Entschluss: Mit meinem Fahrrad fuhr ich zu einer Freundin meiner Mutter und bat sie, mir zu helfen. Auch sie war verzweifelt und am Boden zerstört, da die Soldaten ihre Kinder in derselben Nacht mitgenommen hatten. Als ich ihr aber berichtete, dass meine Mutter beim Überfall der Soldaten verletzt worden war, entschloss sie sich kurzerhand mitzukommen.

Als wir daheim ankamen, ließ ich sie mit meiner Mutter allein und machte mich auf die Suche nach unseren Tieren, nach den Kühen, Schafen und Eseln. Diese Aufgabe kam mir entgegen, denn ich brauchte nach den schrecklichen Ereignissen der letzten Nacht Abstand, um einen klaren Kopf zu bekommen.

Die Tiere waren weit über das Dorf verstreut, und es dauerte lange, um sie alle zu finden. Das alles war sehr belastend für mich. Ich brauchte den ganzen Vormittag und den halben Nachmittag, um die Tiere wieder einzufangen.

Als ich sie endlich allesamt gefunden hatte, brachte ich sie zurück nach Hause. Mittlerweile ging es meiner Mutter zum Glück wieder etwas besser. Doch ihr Handgelenk war stark geschwollen und bereitete ihr bei jeder Bewegung Schmerzen. Nach ein paar Tagen war sie zwar wieder stark genug, um laufen zu können, aber auch jetzt konnten wir ihr Handgelenk nicht behandeln lassen. Alle Ärzte, die für uns erreichbar gewesen wären, hätten ihr nicht helfen können. Sie hätten uns mit Sicherheit an ein Krankenhaus in Asmara weiterverwiesen, um dort eine Operation vorzunehmen.

Aber das war nicht möglich – denn allein hätte sie den weiten Weg nicht geschafft, und ich durfte sie nicht begleiten, da man in Eritrea nicht frei reisen darf. Als Schüler ohne Pass hätte ich nicht nach Asmara fahren können. In Eritrea führt die Armee häufig Straßenkontrollen durch, die an beliebigen, oft wechselnden Streckenabschnitten stattfinden. In der nahe gelegenen Stadt Senafe gibt es hingegen fixe Kontrollen.

Selbst wenn man einen Reisepass hat, darf man nicht überall hin. So ist es auch nicht einfach, in die Stadt Teseney, die im Osten des Landes an der Grenze zum Sudan liegt, zu reisen. Viele Menschen versuchen, über Teseney das Land zu verlassen. Ob man frei reisen darf oder nicht, hängt vom Gutdünken des Militärs ab.

Kurzum: Es gab nichts, was wir tun konnten. Ich habe das Essen meiner Mutter immer sehr gemocht; nun, mit der verletzten Hand, konnte sie leider nicht mehr kochen.

Ihre Hand ist nie wieder richtig geheilt. Meine Mutter hat in ihrem Leben nie Geld verdient, sondern sich nur um die Familie gekümmert. Wir haben uns mit dem Ertrag unserer Felder und den Tieren selbst versorgt. Deswegen war auch kein Geld für eine Operation da.

Nach dem Überfall brach eine dunkle Zeit für mich an. Die viele Arbeit mit den Tieren war sehr schwer für mich. Obwohl ich meine Mutter nicht allein lassen wollte, musste ich nun täglich mit unseren Tieren zusammen mit einem Hirtenhund nach draußen.

Von unseren Nachbarn war keine Hilfe zu erwarten. Jeder versuchte zurechtzukommen und kümmerte sich um sich selbst. Die eritreische Diktatur hat das soziale Miteinander zerrüttet. Es kam immer wieder zu Denunziationen. Denn wenn jemand im Dorf oder in der Nachbarschaft davon erfuhr, dass jemand Fluchtpläne hegte, war es ein Leichtes, das Militär darüber in Kenntnis zu setzen.

Ich hatte noch nie als Schäfer gearbeitet, und ich wollte das eigentlich auch nicht. Ich tat es aus Verantwortungsbewusstsein meiner Familie gegenüber. Mein Traum war es eigentlich immer, Kameramann zu werden. Doch dazu später ...

Mehr und mehr hatte ich den Eindruck, dass sich die Lage in Eritrea zunehmend verschlechterte. Seit meiner Geburt hatten sich die Lebensbedingungen in dieser Diktatur verschärft. Gern hätte ich etwas in meinem Heimatland verändert, aber ich sah keine Möglichkeit, Entscheidungen über die Zukunft Eritreas oder auch nur über mein eigenes Leben treffen zu können.

Wenn ich ein besseres Leben haben will, so sagte ich mir, werde ich nicht umhinkommen, das Land zu verlassen. Bis ich mich tatsächlich zu diesem Schritt entschloss, sollte aber noch einige Zeit vergehen.

Meine Kindheit

Meine Kindheit verbrachte ich zum größten Teil zusammen mit meinen Eltern zu Hause. Wir hatten ein Haus in Bihat, einem Dorf, das in etwa 2000 Einwohner zählt und unweit der Grenze zwischen Eritrea und Äthiopien liegt. Da die beiden Länder bis vor Kurzem im Kriegszustand waren, kenne ich die Grenze nur geschlossen und unpassierbar.

Die Mehrheit der Einwohner von Bihat ist christlich, es gibt nur wenige Muslime. Verständigungsprobleme zwischen Christen und Muslimen gab es niemals. Rund um unser Dorf gibt es große Weiden und ausreichend Wasser, weswegen die meisten Familien von der Landwirtschaft und der Viehzucht leben. Mein Vater baute auf unseren Feldern Tomaten, Rote Bete, Salat, Kartoffeln und andere Gemüsesorten an. Außerdem hielten wir Kühe, Schafe und Esel.

Bihat besitzt keine Schule und keinen Arzt. Meine Kindheit hindurch machte ich die Erfahrung, dass sich die Menschen im Dorf selbst helfen mussten. Es gab auch keinen Kindergarten, und so war ich bis zum Alter von fünf Jahren meistens mit meiner geliebten Familie zu Hause, auf den Weiden oder auf dem Feld.

Meine Mutter kümmerte sich um mich und beschützte mich. Mit fünf Jahren begann ich schließlich, mit meinem Vater auf den Feldern zu arbeiten und ihm bei der Versorgung unserer Familie zu helfen. Es waren oft schwere Arbeiten, doch ich hatte keine andere Wahl, denn bei uns fand keinerlei Hilfe vonseiten der Regierung statt.

Weil wir in der Nähe der Grenze wohnten, gab es auf den Weiden und Feldern nicht selten umherliegende alte Bomben und Minen. Meine Mutter war deshalb immer in großer Sorge, wenn ich allein unterwegs war. Sie befürchtete, dass ich mit einer Waffe hätte spielen können, die auf den ersten Blick einem Kugelschreiber oder einer Dose glich.

Und tatsächlich: Eines Tages fanden ich und ein anderes Kind beim Spielen im Wald eine große Mine. Wir wussten nicht, was das war, und waren neugierig. Deshalb schlugen wir mit Stöcken auf die Mine, bis sie bedrohlich heiß wurde. Wir bekamen Angst und liefen mit klopfenden Herzen weg, so schnell wir konnten. Das war unser Glück, denn wir hätten die Mine leicht zur Explosion bringen können. Zwei Erwachsene, denen wir unser Erlebnis schilderten, machten die Mine unschädlich – nicht jedoch, ohne uns vorher eindringlich zu ermahnen, so etwas nie wieder zu tun. Meine Mutter, der ich von unserem Erlebnis erzählte, schwor mich ebenfalls darauf ein, solche Gegenstände unter keinen Umständen zu berühren oder gar aufzuheben.

Rasch verstand ich, dass Bomben gefährlich waren, und rannte, so schnell ich konnte, davon, wenn ich etwas entdeckte, was danach aussah. Ich instruierte sehr früh all meine Freunde und versuchte, auch ihnen einzubläuen, was mir meine Mutter gesagt hatte.

Mein Vater stieß beim Umpflügen mit dem Ochsen auch immer wieder auf Bombensplitter. Ich wollte ihm gern bei seiner Arbeit helfen, durfte aber nur dabeisitzen und zuschauen. Die Sorge meines Vaters war zu groß.

Tatsächlich geschah es, dass ein Junge aus einem Nachbardorf eine Bombe fand, die wie ein Stift aussah. Als er damit schreiben wollte, explodierte sie, und er kam ums Leben. Meine Angst wurde danach noch größer, und ich sah auch in harmlosen Dingen Waffen.

Der Krieg war aber nicht nur in Form der herumliegenden Waffen und Minen in unserem Leben präsent, auch Soldaten waren häufig zu sehen.

So kam einmal ein Soldat zu uns, als mein Vater und ich auf dem Feld arbeiteten. Er trieb seine Scherze mit mir und wollte, dass ich mit seinem Gewehr schießen solle. Ich war noch klein und begann zu weinen – doch er setzte sich in den Kopf, dass ich ein Tier aus unserer Herde, das bereits alt und schwach war, erschießen solle. Mein Vater begann, mit dem Soldaten zu streiten. Voller Zorn bespuckte mich der Mann mit Kath – also mit Blättern der Kathpflanze, die viele Menschen in Eritrea kauen, um sich zu berauschen – und verließ unser Feld.

Mein Vater ist Priester – vor ihm sollten alle Respekt haben, auch Soldaten. Die Militärs in Eritrea hingegen erhoben sich über alle Sitten und Gesetze. Ich war damals ungeheuer wütend und fühlte mich ohnmächtig.

Wäre ich groß gewesen, hätte ich dem Soldaten meine Meinung gesagt. Ich wollte für meinen Vater einstehen und das Prinzip der Freiheit verteidigen. Doch ich war klein und schwach.

Mein Vater hatte kein glückliches Leben. Auch ihn wollte der Chef unserer Stadt wie alle anderen zum Dienst an der Waffe zwingen. Aber aufgrund seines Status als Priester war es für die Militärs nicht so einfach wie sonst.

Ich erinnere mich, dass mein Vater in dieser Zeit viel betete. Er musste sich bei den Behörden zum Dienst melden. Aber ihre Rechnung sollte nicht aufgehen: Die Menschen in unserem Dorf protestierten gegen den Militärdienst. Und tatsächlich musste mein Vater nach nur einem Tag wieder freigelassen werden.

Mit seinem Alter von 49 Jahren wäre er für die Armee ohnehin zu alt gewesen, doch in Eritrea interessieren solche Dinge niemanden. In Bezug auf den Militärdienst herrscht mehr oder weniger Gesetzlosigkeit. Wenn er Soldat geworden wäre, hätten wir zu Hause keine Hilfe mehr gehabt. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt bereits krank und konnte nicht nach draußen gehen. Sie machte sich sehr viele Sorgen um ihn und um uns, ihre Kinder.

Auch ich machte mir in dieser Zeit viele Gedanken und verstand nicht, warum die Armee solch eine große Macht in unserem Land hatte. Ich fragte mich immer wieder, ob mir wohl das Gleiche passieren würde, wenn ich groß war.

Als heranwachsender junger Mensch festigte sich immer mehr meine Überzeugung, wonach alle Menschen in Freiheit leben können sollten – niemand sollte jemals zu etwas gezwungen werden, was er oder sie nicht mochte. Zunehmend verstand ich auch, welche ökonomischen Probleme es in unserem Land gab. Ein großer Teil der Menschen in Eritrea arbeitet in der Landwirtschaft, wovon die meisten Selbstversorger sind oder ihre Produkte auf lokalen Märkten verkaufen.

Doch wenn sie alt werden, wird es häufig immer schwieriger für sie, für sich selbst zu sorgen. Vom Staat bekommen sie keine Unterstützung, deshalb sind alte Menschen auf die Hilfe ihrer Kinder angewiesen. Wer nun aber keine Kinder hat, um den kümmert sich im Alter auch niemand. Das ist der Grund, weswegen nicht wenige Menschen früh sterben – niemand bringt sie ins Krankenhaus oder zahlt für sie, wenn sie krank sind.

In Eritrea gibt es keine Altenheime, in denen alte Menschen betreut werden könnten. Der Staat zahlt auch keine Renten, also fehlt ihnen das Geld, wenn sie nicht mehr arbeiten können. Und selbst diejenigen, die ein halbwegs akzeptables Auskommen haben, finden keine Pfleger, da es diesen Beruf in Eritrea kaum gibt.

Auch behinderte Menschen, die blind sind oder nicht laufen können, können auf keinerlei staatliche Unterstützung zählen. Ein Rollstuhl bleibt für viele ein Wunschtraum. Kranke und Behinderte schlafen deshalb nicht selten irgendwo im Wald oder in Ruinen. Dort verschlimmert sich ihr Zustand – und sie sterben unbemerkt.

Wenn Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen das Glück haben, in einer Familie zu leben, fehlt ihnen allerdings häufig die Möglichkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen – sie fristen ihr Dasein also einfach zu Hause.

Menschen mit Behinderung sehen so oftmals keinen Sonnenaufgang oder -untergang, und weil Fernsehen und Internet sehr wenig verbreitet sind, bekommen sie kaum Nachrichten und wissen nicht, was in der Welt vor sich geht.

Diese Mängel betreffen die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit, denn die Regierung lässt oft den Strom abstellen. Für viele ist die Kommunikation über Distanzen dann nicht mehr möglich – die Akkus der Handys können schlicht nicht mehr aufgeladen werden. In meinem Heimatdorf Bihat gibt es tatsächlich keinerlei Stromquellen. Um Handys oder Akkus aufzuladen, mussten wir immer in das nahe gelegene Städtchen Senafe laufen.

Fernsehen und elektrisches Licht funktionieren auch nicht mehr, und die Menschen sind darauf angewiesen, sich mit Streichhölzern und Kerzen zu behelfen. Für Menschen, die in Städten leben, sind die geplanten oder pannenhaften Stromausfälle besonders schwierig zu meistern. Sie kochen auf elektrischen Kochplatten und besitzen keinen Holzofen. Kurzum: Es herrscht Mangel am Notwendigsten.

Es kann außerdem vorkommen, dass die Regierung das Leitungswasser sperrt. So geschieht es mitunter, dass in einer bestimmten Woche nur für drei Stunden Trinkwasser zur Verfügung steht. Auch hier ist die Stadtbevölkerung wieder besonders betroffen: Dort gibt es seltener Brunnen, aus denen man sich zusätzlich Wasser holen könnte.

Die Menschen sind dann dazu gezwungen, sich gemeinsam mit ihren Nachbarn für viel Geld Wasser aus einem Tankwagen zu kaufen. Der Mangel an fließendem Wasser in den Städten hat zur Folge, dass viel Wasser aus Plastikflaschen gekauft wird; diese werden anschließend einfach auf die Straße geworfen. Es entstehen große wilde Müllhalden – herumstreunende Hunde und andere Tiere fressen den Müll und verenden oft auf diesen Halden. Aufgrund der Armut wird das Fleisch dieser Tiere trotzdem gebraten und gegessen – ich war oft in Sorge, dass jemand in meinem Umfeld vom Verzehr des verdorbenen Fleisches krank werden könnte. Ich selbst aß kaum Fleisch. Obwohl wir zu Hause selbst Nutztiere hielten und sie schlachteten, verweigerte ich dies meistens. Mir taten die Tiere leid, und ich wollte nicht, dass man sie schlachtete. Weil mein Vater Priester war und es ihm die religiösen Gesetze untersagten zu schlachten, wollte er ursprünglich, dass ich dies tat. Doch ich weigerte mich. Schon als Kind war ich der Überzeugung, dass man Tiere nicht töten sollte.

Meine Schulzeit

Meine Eltern konnten mich und meine Geschwister nicht zur Schule schicken, weil die Schule sehr weit weg von unserem Haus war und sie uns nicht bringen konnten. Deshalb hatte ich erst mit acht Jahren die Gelegenheit, zur Schule gehen. Es war die Arbeit mit meinem Vater auf dem Feld, die es mir ermöglichte, etwas Taschengeld für die Schule zu verdienen. Aufgrund der fehlenden Unterstützung durch den Staat ist es in Eritrea bei Weitem nicht für alle Kinder möglich, die Schule zu besuchen. Unsere Regierung lässt die Menschen unseres Landes und speziell die Kinder einfach im Stich.

Ich entschloss mich also, die Arbeit auf dem Feld hinter mir zu lassen und die Schule zu besuchen. Mir wurde bewusst, dass es mir nur auf diese Weise gelingen konnte, eine bessere Zukunft für mich und meine Familie aufzubauen.

Die Schule lag nicht in unserem Dorf, und ich musste jeden Tag weite Strecken zu Fuß zurücklegen, weil ich kein eigenes Fahrrad besaß. Auch gab es bei uns weder einen Schulbus noch Autos, die mich zur Schule gefahren hätten.

Meine Mutter war in meiner Kindheit immer für mich da. Sie war immer nett und liebevoll zu mir. Sie weckte mich jeden Morgen und ermahnte mich, mein Gesicht zu waschen. Da ich meine Mutter respektierte, tat ich das auch. Danach machte sie mir Frühstück, meistens Honigbrote. Dann packte ich meinen Rucksack und trat den Weg zur Schule an.

Auf dem Schulweg sah ich tagaus, tagein, wie die Bauern und Bäuerinnen mit ihren Kindern auf den Feldern schwer arbeiteten. Das beschäftigte mich sehr und machte mich betroffen: Warum, so fragte ich mich, können die Eltern ihren Kindern keinen Schulbesuch ermöglichen? Die Antwort war einfach: Den Familien fehlte das Geld.

Ein Leben lang auf den Feldern zu arbeiten ist sehr hart, und man altert schnell. Viele erkranken früh – doch fehlen Ärzte, die sie versorgen können. Als Kind führte ich viele Gespräche mit Bäuerinnen und Bauern. Sie alle klagten, dass sie von der Regierung keinerlei Unterstützung bekommen würden. So hatten sie keine andere Wahl, als sich auf den Feldern abzurackern. »Wenn wir das nicht tun«, so ihre bittere Erkenntnis, »werden wir einfach verhungern. Denn aus der Stadt können wir nichts erwarten, gar nichts.«

All das machte mich sehr wütend: Wann wird das Leiden der Menschen in Eritrea endlich vorbei sein, fragte ich mich viele Male. Warum gibt es für die armen Bauern keine Hilfe? Ach, so dachte ich oft, wie grausam ist doch das Leben in unserem Land.

Wie wohltuend war es da, die Schule besuchen zu können! Nun konnte ich endlich lernen und musste nicht mehr auf den Feldern arbeiten. Ich war glücklich – und auch meine Mutter spürte, dass ich endlich meinen Interessen folgen konnte. Sie freute sich für mich. Ich gab diese Freude an meine Mutter zurück. »Endlich«, so sagte ich ihr, »kann ich mir eine Zukunft aufbauen, damit ich euch später unterstützen kann.«

Die Lernbedingungen in der Schule waren allerdings alles andere als einfach: Wir waren fünfundsiebzig Kinder in einer Klasse, aus vielen verschiedenen Dörfern der Umgebung. Unterrichtet wurden wir von vier verschiedenen Lehrern. Wir lernten Mathe, Geschichte, Englisch und meine Muttersprache Tigrinya – kein leichtes Unterfangen bei so vielen Kindern.

Obwohl ich die Zeit in der Schule sehr genoss, machte ich auch schmerzhafte Erfahrungen: Da ich von Beginn an sehr gut in der Schule war und alle Aufgaben problemlos meisterte, begannen einige der anderen Schüler, mich zu hänseln. Sie wollten mich ausnutzen und drängten mich, sie bei mir abschreiben zu lassen, was die Lehrer immer verhindern wollten.

Außerdem ernannten sie mich gegen meinen Willen zum Klassensprecher. Ich widersetzte mich, doch meine Lehrer zwangen mich in diese Position. Sie waren richtiggehend gewalttätig, schlugen mich mit einem Stock auf meine Hände und zogen mich an den Ohren.

Meine Aufgabe bestand darin, Namenslisten anzulegen und Anwesenheitskontrollen durchzuführen. Ich sollte melden, falls jemand den Unterricht schwänzte. Ich hatte Angst vor den größeren Kindern und ließ sie immer wieder gehen, ohne die Eintragungen zu machen, die mir aufgetragen worden waren. Oft meldete ich alle Schüler als »anwesend«, um sie vor den Lehrern zu schützen.

Eines Tages passierte es, dass der Direktor die Anwesenheitsliste persönlich kontrollierte. Meine Schummelei flog auf, und man drohte mir Schläge an. Ich lief weinend nach Hause zu meiner Mutter.

Nach diesem Vorfall flehte ich meine Mutter an, mich in eine andere Schule zu schicken; doch in Eritrea kann man nicht einfach so die Schule zu wechseln. Ich lernte damals, dass man kämpfen musste, wenn man etwas im Leben erreichen wollte.

Ein weiteres Problem war, dass die Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule ihren Job oft nach kurzer Zeit aufgaben. Der Grund war, dass ihre Bezahlung miserabel war. Sie bekamen monatlich nur 400 Nakfa bezahlt, was heute rund 24 Euro entspricht. Mit diesem mageren Gehalt konnten sie sich nicht mal ihr Essen leisten oder die Fahrtkosten zur Schule bezahlen.

Einige Lehrer kamen aus anderen Städten, zum Beispiel aus der Hauptstadt Asmara. Sie hatten es sich nicht ausgesucht, in unserer Kleinstadt zu unterrichten; vielmehr waren sie von der Regierung hierher zugeteilt worden. Wenn einer unserer Lehrer nicht kam, sperrte man uns nicht selten einfach in unserem Klassenraum ein, bis endlich ein anderer Lehrer auftauchte und uns Unterricht gab. Die Lehrer waren nicht nur mit ihrem Gehalt unzufrieden, sondern auch mit der eritreischen Regierung im Allgemeinen.

Eines Tages, es war im Jahr 2013, waren die Konsequenzen aus dieser misslichen Lage besonders dramatisch: Ich erschien wie immer um acht Uhr morgens in der Schule. Doch diesmal kam kein Lehrer zu uns – man sperrte uns einfach bis zur Mittagszeit im Klassenzimmer ein. Danach erfuhren wir, dass acht Lehrerinnen und Lehrer unserer Schule einfach ohne Vorankündigung weggegangen und nach Äthiopien geflüchtet waren.

Dieses Ereignis löste bei mir gemischte Gefühle aus: Einerseits war ich sehr traurig, dass diese Lehrer nicht mehr bei uns waren. Andererseits freute ich mich für sie, denn es war ihnen geglückt, aus Eritrea zu fliehen.

Der plötzliche Aderlass an Lehrern hatte zur Folge, dass der Schulbetrieb nicht mehr ordentlich funktionierte. Für westliche Verhältnisse ist dies schwer vorstellbar – doch ich blieb danach einfach ein halbes Jahr zu Hause und ging nicht zur Schule. Dadurch litten natürlich meine Lernfortschritte enorm.

Warum, so fragte ich mich viele Male, war das Leben der Menschen in Eritrea so schlecht? Was war die Ursache für das Unglück und den Schmerz, den ich so oft in ihren Gesichtern gesehen hatte? In dieser Zeit wurde mir immer klarer, dass auch ich innerlich verkümmern würde, wenn ich mein Leben lang in Eritrea blieb.

Nach dem Schulunterricht ging ich immer sofort nach Hause, denn es war meine Aufgabe, den restlichen Tag über die Tiere unseres Bauernhofes zu hüten. Meistens musste ich mit ihnen in den Wald gehen. Das war keine leichte Aufgabe, denn als Kind hatte ich Angst vor wilden Tieren. Diese Angst war nicht unbegründet – bei uns gibt es äußerst gefährliche Giftschlangen. Da uns im Dorf Medikamente fehlten, konnte ein Biss tödlich sein.

Je mehr Zeit verging, desto hoffnungsloser und trauriger wurde ich. Ich fragte mich, wie mein Leben wohl weiterverlaufen würde. Es war mir inzwischen klar, dass es in meinem Dorf keine Hoffnung und keine Perspektive für mich gab.

Meine Ausbildung zum Kameramann

Wieder und wieder fragte ich mich, wie es sein konnte, dass so viele Kinder am Feld und im Wald arbeiten mussten, anstatt zur Schule zu gehen. Ich habe damals oft geweint. Meiner geliebten Familie stellte ich immer wieder die Frage, wie ich mir denn eine bessere Zukunft aufbauen könnte. So kam es, dass ich eines Tages die Entscheidung traf, von zu Hause wegzugehen und Kameramann zu werden.

Meine geliebte Mutter machte sich große Sorgen um mich und weinte viel, als ich ihr meine Entscheidung mitteilte. Ich könne mir doch nicht einmal selbst Essen zubereiten, klagte sie. Aber hinter dieser banalen Sorge verbargen sich noch ganz andere, viel größere Bedenken. Die Ausbildung zum Kameramann fand in der Stadt Senafe statt, die für ihre spektakulären Felsen und ihre Lage am Rand der Berge bekannt ist. Senafe liegt auf beinahe 2500 Meter Seehöhe. Gleich in der Nähe liegt Matara, ein Ort, der für seine archäologischen Funde bekannt ist. Dort finden aber auch oft militärische Kontrollen statt.

Um Senafe gibt es wunderbare Wanderwege. Vielerorts findet man Wasserfälle mit gutem, sauberem Wasser, mit dem man sich abkühlen kann, und kleine Bergwiesel laufen umher. Von den Bergen hat man einen wunderbaren Blick auf die Stadt und die umliegenden Dörfer. In Senafe gibt es christliche Kirchen und Moscheen. Muslime und Christen leben hier friedlich zusammen.

Die Ankunft in der Stadt war für mich nicht einfach: Ich musste zwei Tage im Freien schlafen, da ich kaum Geld hatte und niemanden kannte. Danach fand ich für wenig Geld ein undichtes Zimmer in einem Wohnhaus, mit einem nassen und unangenehmen Bett. Gegessen habe ich in dieser Zeit nur wenig. Für das Zimmer musste ich monatlich 150 Nakfa auftreiben, zusätzlich dazu kostete die Kameraschule im Monat 350 Nakfa Gebühren. Ich bat meinen Vater, mir zu helfen – er schickte mir zwar regelmäßig Geld, die Schulgebühren musste ich aber selbst bestreiten. Ich schlug mich in Senafe mit Gelegenheitsjobs durch, um das Geld zusammenzubekommen.

Die Unterrichtsbedingungen in der Foto- und Kameraschule in Senafe waren alles andere als ideal: Es gab nur eine sehr spartanische Einrichtung und nicht einmal Tische, sodass wir auf dem Schoß ­schreiben mussten.

Hinzu kam, dass die Regierung oft den Strom abschaltete. Fehlte das elektrische Licht in meinem Dorf zur Gänze, so gab es in einer Stadt wie Senafe bestenfalls stundenweise Strom – dann wieder keinen. Viele Menschen versuchen, sich deshalb mit lauten und stinkenden Dieselgeneratoren durchzuschlagen.

Für unsere Klasse mit 85 Schülerinnen und Schülern standen nur drei Kameras zu Verfügung. Pro Woche konnte jeder Schüler nur rund zehn Minuten mit einer Kamera arbeiten. Wie soll man so lernen können, dachte ich mir oft.

Ich bekam das Gefühl, dass ich mein Geld verschwendete. Nur theoretisch zu lernen, danach stand mir nicht der Sinn. Doch weil ich mein Ziel unbedingt erreichen wollte, blieb ich während der vollen Ausbildungszeit von drei Monaten in der Stadt.

Der Unterricht begann jeden Tag um vier Uhr nachmittags und ging bis halb sieben Uhr abends. Zu Beginn war ich sehr einsam – die meisten Jugendlichen hatten ein soziales Umfeld in Senafe, ich aber kannte niemanden.

Ich vermisste meine Familie, besonders meine Mutter, schrecklich. Ja, ich fühlte mich so einsam, dass ich bereits für das erste Wochenende zu Fuß nach Hause zurückkehrte. Wie groß war die Wiedersehensfreude! Meine Füße schmerzten vom vielen Laufen, meine Kleider waren schmutzig, doch wie schön war es, wieder bei den Eltern zu sein! Zu diesem Anlass wurden eine Henne geschlachtet und ein Fest gefeiert. Ich aß zwar kein Fleisch, war aber trotzdem überglücklich.

Meine Mutter fragte mich Löcher in den Bauch über mein Leben in Senafe: Was isst du? Wie wohnst du? Hast du Freunde? Ich wollte ihr nicht von meiner Einsamkeit erzählen, da ich Angst hatte, dass sie sich zu viele Sorgen machen würde. Aber in Wahrheit fehlte sie mir schrecklich. Zu Hause hatte meine Mutter selbst Brot gebacken; morgens hatte ich es immer frisch, noch warm gegessen. In Senafe hingegen aß ich nur schlechtes gekauftes Essen.

Um meine Mutter zu besänftigen, versuchte ich, ihr zu erklären, dass ich durchhalten müsse, um meinen Traum, Kameramann zu werden, zu erreichen. Dafür sei es eben notwendig, allerlei Entbehrungen auf mich zu nehmen. Doch sie ließ nicht locker und bestand darauf, dass sie mir regelmäßig frische Semmeln und Injera, das eritreische Fladenbrot, nach Senafe bringen würde.

Meine Mutter war damals bereits gesundheitlich angeschlagen, und ich wusste, dass ihr der weite Weg schwerfallen würde. Ich versuchte deshalb, ihr mit allen Mitteln klarzumachen, dass ich meine neue Aufgabe allein würde meistern können. Und so kamen wir an diesem Tag überein, dass sie für mich eine große Ration Brot backen würde, die ich dann nach Senafe mitnehmen würde.

Am darauffolgenden Tag brach ich um vier Uhr morgens auf. Wieder lief und lief ich, viele Stunden lang. Meine Füße schmerzten wegen der schlechten Straßenbedingungen und meines schweren Gepäcks. Ich ging den ganzen Tag, bis es dunkel wurde und ich Angst bekam, von wilden Tieren angefallen zu werden. Irgendwann kam ich endlich in Senafe an und fiel todmüde in mein Bett.

Die Zeit verging wie im Flug. An den Wochenenden besuchte ich weiterhin meine Familie. Meine Mutter hatte niemals die Möglichkeit gehabt, einer Lohnarbeit nachzugehen. Sie war immer zu Hause, umsorgte uns Kinder, kochte und wusch die Wäsche. Meine Sorge um sie erhöhte meine Motivation noch weiter, gut und strebsam zu lernen. Da ich wusste, dass es in Eritrea keinerlei Unterstützung für alte Menschen gab, fasste ich den Vorsatz, später Geld zu verdienen und meine Familie zu unterstützen.

In Senafe konnte ich mich alles andere als frei bewegen, denn das Militär patrouillierte ständig in der Stadt. Ich hatte keinen Pass, und es hätte leicht passieren können, dass ich zu dem berüchtigten »National Service«, also dem Militärdienst, eingezogen wurde. So machte ich niemals lange Spaziergänge und konnte auch die wunderschöne Umgebung der Stadt nicht genießen. Man wusste nie, wann die Militärs auftauchen würden. Unwillkürlich drehte man sich jeden zweiten Moment um – es herrschte eine regelrechte Paranoia.