Ich will weg! - Violetta Braun - E-Book

Ich will weg! E-Book

Violetta Braun

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Beschreibung

Violetta Braun schildert ihre behütete Kindheit in Oberschlesien, ihre durch das Kriegsrecht im Polen der Achtzigerjahre belastete Jugend, ihre Flucht und den Neubeginn in Westdeutschland mit Schule, Medizinstudium, Familien- und Praxisgründung in Lübbecke. Die engagierte Ärztin arbeitet bei längeren Aufenthalten in Nepal beim Aufbau einer Poliklinik mit, wo sie in der nepalesischen Kultur und Alltagswelt lebt. Diese persönliche Lebensreise ist immer von Liebe und Freundschaft begleitet.

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Für meine Kinder Beatrice und Philipp

Bei Christa-Maria Amelung bedanke ich mich für die unermüdliche Unterstützung beim Verfassen des Buches und die wunderbare Zeit, in der unsere Freundschaft gefestigt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapiel KDREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

NACHTRAG

FOTOS

EINS

Das ist meine letzte Chance. Diesmal haben wir uns mit dem Auto auf den Weg gemacht zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Meine Cousine Teresa fährt mich die dreihundert Kilometer von unserem Orzesze nach Warschau. Die Ausreisevisa muss man persönlich abholen, Termine gibt es nicht. Heute ist schon Mittwoch und für morgen Mittag habe ich die Flugtickets nach Düsseldorf für meine Schwester und mich. Übermorgen, am Freitag, dem 8. Oktober 1982, beginnt der angekündigte Generalstreik, dann kommt hier niemand mehr rein und raus. Bereits gestern und vorgestern bin ich mit dem Zug nach Warschau gefahren. Leider vergeblich. Aber heute muss ich unbedingt unsere Ausreisevisa bekommen! Klappt das nicht, sitzen wir ohne Eltern in Polen fest. Katharina ist erst zwei Jahre alt.

Seit zwei Jahren gehe ich zum Gymnasium im fünfzehn Kilometer entfernten Nicolai, aber das spielt jetzt keine Rolle. Tante Hedwig, die Schwester meines Vaters, hat mich krankgemeldet. Unsere Eltern sind schon in Westdeutschland. Sie mussten vor uns Kindern aus Polen rauskommen. Deshalb leben Katharina und ich nun schon zwei Monate in der Familie von Tante Hedwig. Sie hilft uns, obwohl sie selbst mit ihrer Familie in Polen bleiben wird. Onkel Kasimir ist schwerkrank, weil er als junger Mann ausgehungert und lungenkrank seine Gesundheit im Arbeitsdienst ruiniert hat.

Bis ich mit vierzehn Jahren meine kleine Schwester bekam, war ich ein Einzelkind wie Teresa. Sie besuchte uns oft zusammen mit Tante Hedwig und wir hörten schon als Kinder interessiert zu, wenn sich die Erwachsenen unterhielten. Bei Tisch wurde immer viel gesprochen und wir wurden in die Gespräche einbezogen. Oft ging es um Politik. Manchmal sprachen die Erwachsenen plötzlich deutsch. Aber wir waren ja nicht blöd! Da wurden garantiert Dinge besprochen, die wir besser nicht hören sollten. In unserem Dorf leben einige deutschstämmige Familien und wie wir haben auch sie Kontakte nach Westdeutschland. Die Erwachsenen können alle noch gut deutsch sprechen, aber das ist tabu. Die Menschen sind verängstigt, deshalb haben wir Jüngeren die Sprache unserer Eltern nicht mehr gelernt.

Jeden Abend verfolgten Mama und Papa über ihr Langwellenradio die Nachrichten von Westsendern. Sie übersetzten mir, was in dieser Zeit in Europa los ist. Wie will man sonst die politischen Entwicklungen verfolgen? Seit im letzten Winter, am 13. Dezember 1981, in Polen das Kriegsrecht ausgerufen wurde, werden die Fernsehnachrichten von einem Offizier in Uniform verlesen. Ich würde darauf wetten, dass die meisten Familien um uns herum auch heimlich Westsender hören! Das behalten alle für sich und ich habe hoch und heilig versprochen, niemandem davon zu erzählen, auch nicht meinem Freund. Alle haben ähnliche Probleme und alle haben Angst. Wenn nur die Russen nicht kommen! Moskau sieht durch die Solidarnosc-Bewegung den Herrschaftsanspruch des kommunistischen Systems bedroht. Der Druck auf Warschau ist groß. Kann die polnische Regierung die Ordnung im Land nicht wiederherstellen, werden die sozialistischen Verbündeten ihre eigenen Truppen schicken.

Unter dem Gewerkschaftsführer der inzwischen verbotenen Solidarnosc, Lech Walesa, hat sich von Norden nach Süden eine Welle von Unruhen über das ganze Land ausgebreitet. Papa hatte sich in der Solidarnosc engagiert und an Streiks beteiligt. Er arbeitete als Computer- und Elektrotechniker in einem großen Datenverarbeitungsbüro in Kattowitz. Weil er jahrelang mit derselben Buslinie zur Arbeit fuhr, kannte er fast alle Fahrgäste zumindest vom Sehen. Stets musste er damit rechnen, heimlich beobachtet und belauscht zu werden. Einige Kollegen aus seinem Betrieb sind bereits verpfiffen worden. Alle wissen das. Die mussten sofort ihren Arbeitsplatz verlassen, wurden auf das Polizeipräsidium bestellt und – was auch immer mit ihnen passiert ist – manche von ihnen gibt es hier nicht mehr. Viele Kinder von politischen Gefangenen landen in Heimen. Sei es im Bus oder im Betrieb, frei sprechen kann man nirgends. Wir vertrauen nur wenigen engen Familienfreunden.

Auch ich nehme täglich den Bus zur Schule nach Nicolai und dabei habe ich ein ganz mulmiges Gefühl. Seit einiger Zeit werden auch wir Schüler morgens, mittags und abends kontrolliert, weil die Regierung weitere Aufstände befürchtet, gegen die sie immer hart vorgeht. Bei Streiks und Demonstrationen werden Menschen getötet. Bei einem Streik in einem Bergwerk in Kattowitz sind neun Bergleute erschossen worden. Auch darüber können wir nicht offen sprechen. Aber was sollen die Kontrollen bei uns Kindern und Jugendlichen? Was denken sie, was ihnen von uns Schülern droht? Die Einschüchterung funktioniert jedenfalls. Jeden Tag hoffe ich inständig, dass ich nicht auffalle. Das vorgeschriebene Schulabzeichen sitzt gut sichtbar an meiner Schuluniform und meinen Schülerausweis habe ich immer parat, damit ich mich ausweisen kann. Das Militär ist überall präsent. Die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit ist eingeschränkt, deshalb können wir uns nicht mehr unbefangen auf der Straße bewegen.

An allen wichtigen Kreuzungen stehen jetzt Panzer. Als ich im letzten Winter beim Umsteigen auf meinen Bus wartete, hatte der Panzer wenige Meter entfernt das lange Geschützrohr direkt darauf meine Bushaltestelle gerichtet. Ich habe Todesängste ausgestanden! Auch wenn sich die Soldaten, die in der klirrenden Kälte im Schutz ihres Panzers an einem Feuer hockten, wahrscheinlich nichts Böses dabei dachten – ich will keine Angst mehr haben müssen!

Unsere Eltern mussten es vor uns nach Westdeutschland schaffen, zuerst mein Vater, dann meine Mutter. Und jetzt hängt alles davon ab, ob ich heute die Ausreisevisa für Katharina und mich bekomme. Unser Auto ist verkauft, unser Haus der katholischen Kirche vermacht und unsere Eltern warten auf uns in Duisburg. Der ältere Bruder meines Vaters, Onkel Peter, lebt dort schon seit 1965. Damals, als viele Oberschlesier im Zuge einer großen Ausreisewelle in den Westen immigrierten, hat er noch die Hochzeit meiner Eltern mitgefeiert, um gleich anschließend Polen zu verlassen. Nach einer Umschulung vom Friseur zum Techniker hat er sich erst bei Siemens hochgearbeitet und dann im Atomkraftwerk Kalkar angefangen. Inzwischen ist er mit einer Marokkanerin verheiratet und zum Aufbau von Atomkraftwerken in der ganzen Welt unterwegs.

Nicht weit von Duisburg, in Herten, nahe bei Recklinghausen, wohnt auch meine Patentante mit ihrem Mann. Tante Erika und Onkel Josef sind mit meinen Eltern befreundet, seit die Männer zusammen am Technikum studiert haben. Tante Erika ist Hebamme. Sie hat mich in Gleiwitz auf die Welt geholt. Das war am 7. Oktober 1966, dem Jahr, in dem von der Volksrepublik Polen Tausend Jahre Polen (Tysiąclecie Państwa Polskiego) und von der Katholischen Kirche Polens das Heilige Jahrtausend für Polen (Sacrum Poloniae Millenium) gefeiert wurde.

Jetzt, Anfang der 80er Jahre, wird in Polen wieder Geschichte geschrieben. Die politische Lage spitzt sich zu und keiner kann sagen, was wird. Die Menschen sind unzufrieden. Sie ackern und rackern und trotzdem bleibt der wirtschaftliche Erfolg aus, weil alles in Richtung Osten geht. Und wieder einmal wurde unser Gespräch am Esstisch durch die politische Situation bestimmt. Papa seufzte:

„Wir hätten es damals auch so machen sollen wie Onkel Peter. Jetzt kommen wir hier nicht mehr raus.“

Mama hatte sich mit Katharina schon schlafen gelegt, deshalb war die Gelegenheit günstig. Ich war mit Papa allein in der Küche, das war der Moment für offene Worte:

„Doch, Papa! Lass uns hier abhauen!“

Es war mein voller Ernst. Ich drängte ihn im Vieraugengespräch:

„Fahr du wieder alleine nach Westdeutschland, wie du es schon oft gemacht hast. Wir kommen nach. Irgendwie schaffen wir das schon!“

Mama ist immer sehr ängstlich, da hätte ich in ihrer Gegenwart nicht so vorpreschen können, aber hier in Polen sehe ich wirklich keine Zukunft für uns. In der Schule werde ich schon seit längerem drangsaliert.

Seit Anfang der Siebzigerjahre lässt die polnische Regierung im Rahmen eines deutsch-polnischen Abkommens zur Familienzusammenführung Auslandsreisen für Privatpersonen zu. Seither konnte mein Vater immer wieder seinen Bruder und meine Pateneltern mit einem Touristenvisum besuchen. Er arbeitete dann in der Bundesrepublik, damit wir in Polen unser Haus bauen konnten. Das hätten wir ohne diesen Hinzuverdienst nicht geschafft. Noch muss niemand verhungern, aber teilweise werden Nahrungsmittel schon knapp. Sowieso kann man sich alles, was über das Nötigste hinausgeht, vom normalen Gehalt nicht leisten, egal wie sehr man sich im Beruf auch anstrengt. Sehr viele Polen brauchen einen Nebenjob, um den oft bescheidenen Wohnsituationen zu entkommen. Es gibt noch alte Mietshäuser ohne WC und warmes Wasser.

Ja, ich will weg! Der Wunsch war nach und nach in mir gereift und ich hatte viel nachgedacht. Dabei war mir von Anfang an klar, dass man uns nie und nimmer gemeinsam als Familie aus dem Land herauslassen würde! Fachleute und Akademiker sollen in Polen bleiben. Aber wenn Papa zum Arbeiten in den Westen führe wie sonst auch, würde niemand daran zweifeln, dass er wieder zu uns zurückkäme. Wofür hätte er denn wohl jahrelang geschuftet und ein großes Haus gebaut, wenn nicht für die gemeinsame Zukunft mit Frau und Kindern? Es ging also nicht anders, Papa würde als erster von uns in Westdeutschland sein müssen.

Es war wie erwartet. Als er erneut ein Ausreisevisum beantragte, gab es keine Probleme, weil tatsächlich niemand auf die Idee kam, dass er alles, was er sich in Polen geschaffen hatte, aufgeben würde. Er konnte wieder zu seinem Bruder fahren, obwohl sich die politische Lage so zugespitzt hatte. Wir stellten dann einen Ausreiseantrag für Mama, aber der wurde und wurde nicht bearbeitet und erst nach Monaten abgelehnt. Nun ließen wir Zeit vergehen und versuchten nicht den geringsten Verdacht aufkommen zu lassen, dass wir Papa in den Westen folgen wollten!

Nach außen erschien alles wie immer, denn wir hatten schon öfter mit Mama alleine gelebt, während Papa im Westen arbeitete. Aber plötzlich drängte die Zeit, denn infolge des Ausnahmezustands wurden in unserem kleinen Orzesze Soldaten stationiert und bei Familien einquartiert. Das schürte die Angst noch mehr. Unsere Nachbarn hatten schon Zimmer an Soldaten abgeben müssen und im Dorf wurde gemunkelt: Die Mutter bewohne das große Haus wieder allein mit ihren zwei Kindern, ihr Mann arbeite im Westen, sie habe doch wohl mehr als genug Platz …

Früher oder später hätten Soldaten mit uns im Haus gewohnt. Also musste es Mama so schnell wie möglich gelingen, Papa zu folgen. Die einzige Möglichkeit war, eine Ausnahmegenehmigung zur dringlichen Ausreise zu beantragen und zu hoffen, dass diese bewilligt würde. Auch in solch einem Ausnahmefall würde sie uns Kinder natürlich nicht mitnehmen dürfen, das wussten wir.

Aber wie sollten wir einen dringlichen Ausreiseantrag für Mama begründen? Weil seit Mitte der Siebzigerjahre das Gesetz zur Familienzusammenführung den Nachzug minderjähriger Kinder ermöglicht, könnte die Behörde zurecht vermuten, dass uns unsere Eltern so schnell wie möglich nachholen würden, sobald sie beide im Westen wären. Seither reicht es nämlich nicht mehr, die Kinder in Polen festzuhalten, um die Eltern zur Rückkehr zu bewegen. Und schließlich beruhte unser Plan von Anfang an auf diesem Gesetz. Das durfte nur nicht auffliegen!

Hätte Mama wieder einen Ausreiseantrag gestellt, um ihrem Mann zu folgen, hätte es uns so gehen können wie vielen Familien, die schon jahrelang auf ihre Ausreise warten. Wenn man Pech hat, trifft man auf einen Funktionär, der sich profilieren will, und dann landet der Antrag immer wieder ganz unten im Stapel. Begründet wird nie etwas und eine Ablehnung der Ausreise, gegen die man eine Beschwerde einreichen könnte, gibt es nicht. Wenn die Bearbeitung lange genug verzögert würde, wären zwei Jahre schnell rum und ich wäre achtzehn. Dann würde das Recht des Nachzugs minderjähriger Kinder im Rahmen des Gesetzes zur Familienzusammenführung für mich nicht mehr gelten.

Mama musste es irgendwie anders zu Papa nach Westdeutschland schaffen. Und es war unvermeidlich, Mama würde uns zunächst in Polen zurücklassen müssen. Keine leichte Entscheidung. Ich hatte meine Eltern beruhigt:

„Ich bleibe mit Katharina hier. Wir kommen nach. Ich schaffe das!“

Immerhin bin ich ab morgen sechzehn Jahre alt und wenn ich mit meiner kleinen Schwester unterwegs bin, werde ich manchmal schon für ihre Mutter gehalten.

Damit Mama einen triftigen Grund hatte, eine Ausnahmegenehmigung für eine dringliche Ausreise zu beantragen, stellte sich Papa schwerkrank und ein Arzt in Duisburg spielte mit. Onkel Josef telegraphierte die ärztliche Bescheinigung und damit sprach Mama bei der zuständigen Polizeidienststelle in Nicolai vor.

„Das wird nicht einfach“, sagte der Polizist.

Klar: Er wollte Schmiergeld! Nun gut, wir hatten ein Auto. Bei seiner letzten Fahrt nach Westdeutschland hatte Papa noch einen Deutschen Schäferhund aus Polen als Geschenk für meine Pateneltern in Herten in unserem kleinen Fiat mitgenommen. Dann ließ er den Wagen nach Polen rücküberführen. Mama verkaufte das Auto – sollte der Polizist doch sein Schmiergeld bekommen! Die Geldübergabe vollzog sich hinter meinem Rücken, denn so käme ich nicht in Verlegenheit, wenn ich ausgefragt würde. Zu einem bestimmten Termin wollte der Polizist Mama den Pass mit dem Ausreisevisum in der Dienststelle persönlich aushändigen.

Jetzt, wo er sein Schmiergeld bekommen hatte, würde der Ausnahmegenehmigung nichts mehr im Wege stehen. So fuhren wir zum verabredeten Termin nach Nicolai, aber in der Polizeistation gab es den Polizisten nicht mehr! In so einer Situation durften wir nicht nach ihm fragen, denn das hätte ihn irgendwie anschwärzen können. Man muss vermeiden, Aufmerksamkeit zu erregen, die kleinste Irritation ist gefährlich, da geht es wirklich um Leben und Tod. Schließlich sind auch schon mitten aus unserem Dorf Menschen verschwunden. Da wurde jemand am helllichten Tage von seinem Hof abgeholt und nicht mehr wiedergesehen!

Wir hatten Glück. Nach einigem Hin und Her und längerem Warten fand jemand den Pass mit dem Ausreisevisum, der für Mama hinterlegt war. Sie sollte kurzfristig ausreisen, deshalb musste alles ganz schnell gehen. Ein Auto wartete abfahrbereit vorm Haus, aber jetzt wurde es hochdramatisch. Mama war in Tränen ausgebrochen und konnte sich nicht von uns lösen. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Ausgerechnet jetzt, wo unser Plan aufzugehen schien, wollte Mama nicht in das Auto einsteigen!

„Bitte Mama, vermassle uns das nicht! Es geht nur so. Wenn du jetzt nicht fährst, war das vielleicht unsere letzte Chance. In zwei Jahren bin ich nicht mehr minderjährig, dann komme ich hier nie mehr raus!“

Als alles gute Zureden nicht half, bestimmte ich energisch:

„Mama, du fährst jetzt!“

Da endlich stieg sie tränenüberströmt in das Auto.

Dass meine Eltern inzwischen beide im Westen sind, darf in der Schule niemand wissen. Aber vor dem letzten Elternabend wurde meine Klassenlehrerin misstrauisch:

„Warum wird deine Tante kommen?“

Ich hatte eine Ausrede und Tante Hedwig ist ohnehin unangreifbar. Sie ist eine geschätzte Polnischlehrerin in meiner früheren Schule in Orzesze und hat in eine angesehene polnische Familie eingeheiratet.

Nach schlimmen Erfahrungen unter den Deutschen im Zweiten Weltkrieg hasst meine Klassenlehrerin alles, was deutsch ist. Sie unterrichtet uns in Polnisch und als Unterrichtslektüre bietet der Roman des polnischen Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz über die Kämpfe der Ritter des Deutschen Ordens gegen Polen und Litauen eine willkommene Gelegenheit, die Schuld der Deutschen schon im fünfzehnten Jahrhundert zu verorten. Während einige Lehrer angesichts der gegenwärtigen Ausnahmesituation manchmal vorsichtig – weil sie natürlich nicht offen sprechen dürfen – ihr Verständnis für die Solidarnosc-Bewegung durchblicken lassen, findet sie immer eine Gelegenheit, Westeuropa und besonders Westdeutschland die Schuld an allen unseren aktuellen Problemen zu geben. Wir sollen nicht vergessen, dass Deutschland Polen überfallen hat.

Für diese Lehrerin sind alle Deutschen Nazis. Sobald die Familienhintergründe bekannt sind, werden die Kinder aus alteingesessenen polnischen Familien bevorzugt. Mich mit meiner deutschstämmigen Familie und meinen Mitschüler Christopher, dessen Eltern schon länger in Westdeutschland wohnen, hat sie besonders auf dem Kieker. Zwar werden wir nicht offen beleidigt, aber es gibt genug subtile Mittel der Diskriminierung, mit denen es die Lehrer schaffen, dass man sich wertlos fühlt: Bei jedem Anlass wird vor der Klasse gegen die Deutschen polemisiert, man wird nicht gelobt, Meldungen und Antworten bleiben unbeachtet und bei Referaten bekommt man die schlechteren Noten. Ich glaube, meine Klassenlehrerin würde versuchen, mich im Abitur durchfallen zu lassen.

Christopher, der bei seinen Großeltern lebt, hat es sogar noch schwerer in der Schule, weil er den Lehrern zu anstrengend ist. Er passt nie auf und tut nicht, was er tun soll, obwohl wir doch gelernt haben, völlig widerspruchslos alles zu machen, was die Lehrer wollen. Man sagt nicht, was man denkt, sondern wovon man denkt, dass sie es hören wollen.