Ich wünsch dir ein glückliches Leben - Jacky Dreksler - E-Book
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Ich wünsch dir ein glückliches Leben E-Book

Jacky Dreksler

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Beschreibung

Zwei Ghettos und zwei Konzentrationslager liegen 1945 hinter der polnischen Jüdin Fela Dreksler. Eine Leidensgeschichte, die auch nach Kriegsende noch nicht vorbei ist. Denn nur zwei Monate nach ihrer Befreiung wird Fela von einer anderen ehemaligen KZ-Insassin zu Unrecht denunziert. Sie soll in Auschwitz Mitgefangene misshandelt haben. Im Gefängnis bekommt Fela einen Sohn, Jacky, – und endlich Hilfe. Die Gefängniswärterin Claire Stahl nimmt sich ihrer an und erreicht schließlich, dass Fela aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustandes begnadigt wird. Jacky und Fela ziehen zu ihrer Retterin. Doch schon früh ahnt der kleine Jacky, dass das Motivfür Frau Stahls Hilfsbereitschaft alles andere als reine Nächstenliebe ist. Hinter der Maske der aufopferungsvollen Helferin verbirgt sich eine glühende Nationalsozialistin. Als Jacky neun Jahre alt ist, stirbt seine Mutter und hinterlässt einen Sohn, der nicht viel anderes kennt als Leid, Ausgrenzung, Lügen und Unterdrückung. In seinem Buch erzählt er, wie es ihm trotzdem gelang, ein erfolgreicher Mann und glücklicher Familienvater zu werden. Und wie sehr ihm das bemerkenswerte Credo seiner Mutter dabei half: »Du musst versuchen, glücklich zu sein. Egal, was kommt. Du musst es wollen. Mehr als alles andere.«

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Seitenzahl: 494

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Jacky Dreksler

Ich wünsch dir ein glückliches Leben

Das Leid meiner Mutter und ihr Geschenk an mich

Bildnachweis:

Abbildung 5: © Peter Wald,

Abbildung 6: © Claudia und Rolf Warda.

Alle anderen Abbildungen stammen aus dem Archiv von Jacky Dreksler.

eBook 2016

© 2016 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: Jacky Dreksler

eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN eBook: 978-3-8321-8913-6

Für meine Töchter Noemi und Noelani

Morgen, morgen schreibe ich

meine Träume auf und sehe,

wie in der Vergangenheit

der Schmutz in meinen Eingeweiden,

im Rückenmark, im Hirn

begonnen hat zu faulen

und zu Gift geronnen ist.

Morgen werde ich dann wissen,

wie es heißt, woher es kommt,

und wenn ich erst den Namen kenne,

bringt dies Gift mich nicht mehr um.

Hannes Wader,

»Unterwegs nach Süden«

Jüdisches Bauchgrummeln

Geboren bin ich im Gefängnis. In einem gelb-grauen Steinkasten in den südlichen banlieues von Paris, 1946, ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg. Meine Mutter war eine polnische Jüdin, mein Vater ein französischer Jude. Ihn habe ich nie kennengelernt. Ein Jahr lang war ich hinter Gittern, die nächsten drei in deutschen und französischen Kinderheimen.

Aufgewachsen bin ich in einem deutschen Gefängnis. Keins aus wirklichen Mauern und Gittern. Das Gefängnis bestand aus unsichtbaren Wänden der Unterdrückung, die meine christliche Pflegemutter um mich herum erbaute, nachdem meine Mutter gestorben war, als ich neun war; und es bestand aus den jüdischen Gittern in meinem Kopf, durch die ich die Welt betrachtete, bis ich ein junger Mann war.

Dies ist eine jüdische Geschichte. Die wahre Geschichte dreier Menschen, jeder beschädigt vom Gift der Nazis, jeder auf eigene Weise. Drei Menschen – drei Teile:

Im ersten Teil dieses Buches geht es um die Geschichte meiner jüdischen Mutter Fela. Die Anstifter des Zweiten Weltkriegs haben sie durch zwei Ghettos und zwei Konzentrationslager getrieben; die Sieger haben sie Anfang Mai 1945 befreit und in Paris schon einen Monat später wieder eingesperrt, weil sie in Auschwitz Mitgefangene misshandelt haben soll.

Der zweite Teil handelt von der Geschichte meiner christlichen Pflegemutter. Sie war Mamis Gefängniswärterin in einem deutschen Gefängnis, suchte Zeugen für die Unschuld meiner Mutter, holte die todkranke Frau nach der Begnadigung in ihre Wohnung, pflegte sie bis zum Ende und zog mich weiter auf. Bis ich entdeckte, dass sie ein Gebäude aus halben Wahrheiten und ganzen Lügen gemauert hatte und dass sie ein glühender Nazi gewesen war.

Und der dritte Teil ist die Geschichte eines Jungen, der schon mit fünf bei Kakao und Marmeladenbrötchen von seiner Mutter lernte, wie lange Juden in der Gaskammer nach Luft schnappen, eines Jungen, an dem zwei Religionen zerrten und der von seiner Pflegemutter eingesperrt und ausgebeutet wurde, der von seiner Mutter auf dem Sterbebett den Auftrag erhielt, glücklich zu werden – meine Geschichte.

Ich bin Jude

Meinen Freund Hugo Egon Balder lernte ich 1983 beim Radio kennen, sieben Jahre vor Beginn seiner Fernsehkarriere. Wir waren Gag-Autoren und sollten Witziges zu aktuellen News basteln. Meine Begrüßung überraschte Hugo: »Hi, ich bin Jacky … Sag mal, bist du etwa Jude?«

In den Augen des Berliners glitzert Adrenalin. Aber der Schillertheater-Schauspieler hat sich im Griff: gepflegtes Zusammenzucken, entspanntes Lächeln, ein Zug an der Reyno: »Ja, ick bin Jude. Haste wat jejen Juden?«

Ich halte ihm mein Feuerzeug ans Ohr – zisschhh: »Ja, Gas.«

»Na, dann Schalömchen«, lacht Hugo und highfived mich, »noch ’n Judenbengel!«

Woran haben wir uns erkannt? Der alte SS-Kalauer war für Hugo ein untrügliches Kennzeichen: Nur Nazis machen solche geschmacklosen Witze – und Juden. Öffentlich nur Juden. Und nur Nazis und Juden würden – wie ich – die beiden winzigen Silberwinkel, die am Ende eines Kettchens aus Hugos T-Shirt lugten, sofort zu einem vollständigen Davidstern ergänzen. Nazis und Juden können Juden »riechen«.

Hugo lächelt: »Der Führer hätte seine Freude an dir gehabt. Meine Mutter war in Theresienstadt. Und deine?«

»Auschwitz.«

»Auch nicht schlecht«, sagt Hugo anerkennend nickend, »und wie hat’s ihr gefallen?«

»Na ja, sie haben halt viel gelacht.«

Comedy ist Schmerz und Wahrheit!1 – Warum nur neigen Juden wie Hugo und ich zu dieser bemüht lockeren Form ironischer Vergangenheitsbewältigung? Unsere Mütter verloren im KZ ihre Würde und ihre Familien. Und wir Söhne spielen die Eiche, die es nicht kümmert, wenn ein Schwein sich an ihr kratzt.

Vielleicht sind wir, was Jean-Paul Sartre in seinem 1944 veröffentlichten Essay Überlegungen zur Judenfrage als »unauthentischen Juden« typisiert hat: Er stehe abseits, sei zwischen Demütigung, Furcht und Stolz hin- und hergerissen, aber »was er auch tun mag, in den Augen der anderen ist er und bleibt er Jude«. So entwickele er einen Minderwertigkeitskomplex und die Angst, jüdisch zu fühlen, zu handeln und zu denken. Er lebe nicht authentisch, sondern reflexiv: »Er sieht sich handeln, er sieht sich denken.« Und er entwickele – wie Hugo und ich – eine zuweilen masochistische jüdische Ironie, »die meistens auf Kosten des Juden selbst geht und der ständige Versuch ist, sich von außen zu sehen«. Der unauthentische Jude wolle »alle Bande mit der jüdischen Gemeinschaft … zerreißen und findet sie dennoch in der Tiefe seines Herzens wieder«. Laut Sartre spielen Juden das zynische Spiel, gar keine Juden zu sein – wie Hugo und ich.2

In seinen Memoiren Ich habe mich gewarnt erzählt Hugo, wie es weiterging:

Schnell stellten wir fest, daß […] wir über die gleichen Dinge lachen konnten – und daß wir beide nichtpraktizierende Juden waren, was zumindest die Sache mit dem Humor erklären konnte. Wir hatten das Gefühl, uns schon eine Ewigkeit zu kennen.3

Wir wurden Freunde, arbeiteten viel zusammen und produzierten gemeinsam über zweihundert TV-Unterhaltungssendungen. Darunter von 1993 bis 1998 RTLSamstag Nacht, die Kult-Comedy der Neunziger.

Eine jüdische Freundschaft unter erklärten Nichtjuden. Hugos Gefühl, dass wir uns schon »eine Ewigkeit« kennen, entspringt wohl dem Wissen, dass der andere im gleichen Teufelskreis reflektierender Reflexionen umherirrt wie man selbst – wie ein Chamäleon in einem Spiegelkabinett.

So ein rekursiv sozialisiertes Hirn ist allerdings im Comedybereich durchaus nützlich. Wie heißt der alte Spruch aus der Zeit der amerikanischen Vaudeville- und Radiocomedy? You don’t have to be Jewish, but it helps.

Eine typisch jüdische Sentenz der Selbstvergewisserung – Hybris im Gewand der Bescheidenheit. Warum sind Juden stolz auf sich? Im Internet heißt es: »Ein Jude ist stolz, ein Jude zu sein, denn wäre er nicht stolz, wäre er auch Jude; also ist er gleich stolz.« Aha. Und mit stolzer Rabulistik gewinnen wir jeden Schwanzvergleich: Du kannst deine adeligen Vorfahren bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen? Ich stamme von König David ab! Gott ist auf deiner Seite? Ich gehöre zum Volk seiner Lieblingsmenschen! Du sprichst mit dem Allerhöchsten? Ich rede mit ihm Hebräisch, seine Muttersprache! Deine Großeltern haben zwei Weltkriege erlebt? Wir haben 2500 Jahre Antisemitismus hinter uns! Du hältst dich für intelligent? 15 Millionen Juden stellen 0,2 Prozent der Weltbevölkerung, aber 20 Prozent der Nobelpreisträger! Du hast einen schönen Schwanz? Meiner hat schon im Babyalter eine Schönheitsoperation bekommen! Du glaubst an Jesus? Selbst Jesus war ein verdammter Jude! Wir sind arrogant? Ja, aber die, die bescheiden sind, sollten es auch sein! Wir sind Narzissten? Ja, aber die besten der Welt! – Nimm das, Goj!

Ein toller Hecht, sagte der Aphoristiker Manfred Hinrich, ist vielleicht nur ein unglücklicher Karpfen.

Als Jude bist du ein Antisemitismus-Detektor: Ich rieche ihn selbst da, wo es nichts zu riechen gibt. Der Spiegel schrieb zum Beispiel: »Genies wie der jüdisch-ungarische Emigrant John von Neumann und der Brite Turing …« Da! Unterschwelliger Antisemitismus – warum musste von Neumanns Judentum betont werden? Warum schrieb das Blatt nicht: »der jüdisch-ungarische John von Neumann und der christlich-britische Turing«?4 Und ich rieche ihn, wenn er sich hinter der (oft berechtigten) Kritik an Israel versteckt.

Als Jude bist du zudem ein Juden-Detektor: Welche Hollywood-Produzenten oder -Stars sind Katholiken, Buddhisten oder Baptisten? Ich habe keine Ahnung (und wozu sollte man sich so etwas auch merken?). Aber ich weiß, dass die Spiel-, Katzen- oder Eisenbergs und die Zuckers, Apatows und Bruckheimers Juden sind. Ebenso Stars wie Seth Rogen, Adam Sandler oder Sylvester Stallone; wie Natalie Portman, Gwyneth Paltrow und Scarlett Johansson. Ich kann mich nicht dagegen wehren, überall Juden zu »riechen« – wie ein guter Nazi.

Wenn du nur einen Hammer hast, sieht halt die ganze Welt wie ein Nagel aus.

Ich bin kein Jude

Nein, ich bin kein Jude.

Ich bin Atheist,5 seitdem ich mit dreizehn Bertrand Russells Warum ich kein Christ bin gelesen habe (sieht man von einem halbjährigen Ausflug zum Katholizismus ein Jahr später ab). Ich bin Atheist, das heißt, ich glaube nicht an die totale Überwachung durch Gott.

Aber du kannst die Kippa absetzen, den Priesterhut aufsetzen und den wiederum durch eine atheistische Narrenkappe ersetzen – egal, ob dein Vater Mullah ist, polytheistischer Pygmäe oder Adolf Hitler persönlich: Hast du eine jüdische Mutter, hast du jüdisches Blut, bist du Jude. So sehen das die Juden. Die Nazis auch.

Juden und Nazis verorten Juden aber nicht nur religiös und genetisch, sondern auch ethnisch. Für beide gehörst du zum sogenannten »jüdischen Volk«. Schon morgen könnte ich in Tel Aviv landen und mir aufgrund »meines Blutes« auf »meinem Boden« in »meinem Land«, in »Eretz Israel«, einen Pass ausstellen lassen – weil ich auch nach fast zweitausend Jahren seit der angeblichen Vertreibung der Juden aus dem römischen Judäa ein historisch legitimiertes Anrecht auf dieses Land habe. So lautet das israelische Rückwanderungsgesetz.6 Dabei ist es unerheblich, ob es überhaupt eine direkte Blutlinie von mir ins historische Israel gibt (ich könnte ein adoptiertes Christenkind sein) oder ob ich an Gott glaube (Beschneidung genügt).

Die Idee eines »jüdischen Volkes« ist ungewöhnlich: Stellen Sie sich vor, ein Katholik sagte, er gehöre zum »katholischen Volk«, und beantragte die Staatsbürgerschaft im Vatikan! Es gibt natürlich kein »katholisches Volk«. Aber ebenso wenig gibt es ein »jüdisches Volk« oder ein einzelnes »jüdisches Gen«, das sich bis ins historische Israel zurückverfolgen ließe (im ersten Jahrtausend nach Christus gab es im gesamten Mittelmeerraum massenhafte Übertritte von Nichtjuden zum Judentum). Und googeln Sie es: Europäische Juden sehen aus wie Europäer, äthiopische Juden wie Äthiopier und arabische Juden wie Araber. Das »jüdische Volk«, das auserwählte, ist eine sepiagetönte Legende von zwei Handvoll Wüstenstämmen mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein.7 Ein Mythos, auf dessen tönernen Füßen ein brüchiger Tempel von Ideologie und Gegenideologie errichtet wurde, von Hass und Gegenhass, von Gewalt und Gegengewalt.

Auch die Nazis hatten eine ähnliche Blut-und-Boden-Ideologie – nur mit sogenannten Ariern als »Auserwählten«. Homosexuelle, »Zigeuner« und Juden gehörten nicht dazu – ab ins KZ. Ach, du bist getaufter Jude? Egal, du gehörst immer noch zum »jüdischen Volk«. Also ab ins KZ.8

Nein, ich bin kein Jude.

Aber der israelisch-arabische Konfliktherd ist für mich heißer als die vielen anderen, in denen Menschen vertrieben wurden (wie in Palästina) oder in denen ihnen droht, vertrieben zu werden (wie in Palästina). Das Leid der zwei Millionen Menschen hinter der 52 Kilometer langen Sperranlage von Gaza, das zu einer »Mischung aus Suppenküche, Obdachlosenunterkunft und Gefängnis geworden« ist, wie der Publizist Rami G. Khouri schreibt9, das Leid der Israelis, die mit Raketen aus Gaza beschossen werden, erregt meine Aufmerksamkeit bei der Zeitungslektüre eine Spur mehr als das Leid der vielen anderen Menschen auf der Welt. Und ich habe immer wieder das nagende Gefühl, ich müsse in diesem unlösbaren Konflikt zu Israel halten, und immer wieder ein schlechtes Gewissen, wenn ich es nicht tue. Ich schaue genauer hin, wenn sich Israelis und Palästinenser wie zwei Wölfe aufführen, die sich gegenseitig an den Ohren halten: Sie würden gern loslassen, trauen sich aber nicht, aus Angst, der andere würde einen zerfleischen.10

Nein, ich bin kein Jude.

Aber das jüdische Angstzentrum im Hirn wird bleiben, berührungsempfindlich wie eine halb verheilte Wunde. In nur sechs Jahren lernte eine Nation den Stechschritt und verlor dabei den aufrechten Gang; nur sechs Jahre dauerte es, um ein Volk zu Nazis und Wegguckern zu machen. Wer hilft meiner Familie, wenn die braunen Geister wieder ihre hässlichen Häupter erheben? Wenn keiner gesehen haben will, dass sich Menschen mit Judenstern an Bahnhöfen oder Straßenbahnhaltestellen zur Deportation gesammelt haben. Wenn in der Nachbarschaft jüdische Wohnungen, Geschäfte und Arztpraxen »frei« werden. Wenn Versteigerungen von »jüdischem« Hausrat zu Schnäppchenjagden unter Nachbarn führen.11

Im Titelsong des Films Ghostbusters singt Ray Parker Junior: »If there’s something strange in your neighborhood – who you gonna call?« Die beruhigende Antwort im Lied: »Ghostbusters!« Nach 1933 gab es in Deutschland wenige mutige Geisterjäger. Und heute? Ich hoffe, viele. Aber ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen.

Zumindest nicht meine eigene.

Ich bin Deutscher

Mit Migrationshintergrund.12 Meine Mutter kam aus dem Westen Polens. Mein Vater aus dem Süden Frankreichs. Das alles bemerken Sie nicht, wenn Sie mich auf der Straße treffen. Ich sehe nicht aus wie Kafka und spreche nicht wie Reich-Ranicki.

Erst war ich Franzose – in Frankreich. Dort durfte ich mich im wehrfähigen Alter später nicht blicken lassen – sie hätten mich sofort zum Militär eingezogen. Dann war ich staatenlos – in Deutschland. Hier musste ich nicht zum Militär – weil ich Jude bin. Als Kind emigrierte ich in die USA und sollte amerikanischer Staatsbürger werden. Schließlich wurde ich Deutscher. Wohl wegen dieses bunten Hintergrunds denke und fühle ich nicht in Kategorien wie »Staaten« oder »Völker«. Kulturen sind mir wichtig.

Ich liebe Deutschland, dieses wundervolle Land, errichtet auf den Trümmern zweier Weltkriege, ich liebe es – trotz der Gräuel des Dritten Reiches. In wenigen anderen Staaten werden die Menschenrechte so ernst genommen, gibt es so viel Freiheit, Toleranz und Rechtssicherheit, wird Flagge nur gezeigt bei Jubelkorsos nach Fußballspielen.13

Ich lebe gern in diesem Land, in dem meine Kinder ohne Hunger und Verfolgung aufgewachsen sind, in dem meine Bücher veröffentlicht werden und nicht verbrannt, in dem nicht mehr nur Eisbein, Kotelett oder Kohlsuppe auf dem Tisch stehen, sondern auch Pizza und Sushi, Kebab, Hamburger und Ente süß-sauer.

Und niemand zwingt mich, die Welt in »Wir« und »Die« zu scheiden: Bist du einer von uns? Dann bist du lebenswertes Leben. Gehörst du zu den anderen? Dann bist du lebensunwertes Leben – wir müssen dich ausgrenzen, isolieren oder einpferchen; entrechten, enteignen oder versklaven; verfluchen, verdammen oder gleich töten.

Für einen Juden ist es gut, heute in Deutschland zu leben.

Ich wollte kein Buch schreiben

Es ist mir schwergefallen, dieses Buch zu schreiben, denn ich habe über drei Jahrzehnte als Spaßmacher gearbeitet: als Autor oder Produzent von über tausend unterhaltsamen Fernsehsendungen. Die Comedy liegt mir näher als die Tragödie.

Es war eine aufwühlende Erfahrung: Ich schrieb und beobachtete dabei, was ich fühlte und was ich nicht fühlte, fragte mich, warum ich etwas fühlte und – schlimmer noch! – warum nicht. Und dann schaute ich mir dabei zu, wie ich das alles niederschrieb und dabei durch die Metaebenen irrlichterte. Sartre hatte mich 1944 gut beschrieben, zwei Jahre bevor ich auf die Welt kam: Ich bin ein unauthentischer Jude.

Vor vier Jahrzehnten hatte ich die Wahrheit über meine Mutter, meine Pflegemutter und mich herausgefunden, war mad as hell und plante, ein Buch darüber zu verfassen. Ich war beleidigt wie ein Muslim, der immer noch unter den Kreuzzügen leidet. Nach den ersten Skizzen habe ich es ungeschrieben beiseitegelegt – aus Faulheit, Angst und Zeitmangel: zu faul, weiter monatelang in stockfleckigen Akten zu blättern; zu ängstlich, noch einmal in der braunen Scheiße zu rühren (der entweichende Gestank könnte ja erneut mein Leben verpesten); zu besorgt, die in vielen Jahren geronnenen Gefühle könnten meine Lebensadern verstopfen; zu beschäftigt mit meinem studentischen Bohèmeleben.

Im Jahr 2014 überzeugte mich der verstorbene Alfred Neven DuMont, diese Biografie /Autobiografie doch zu schreiben.

Es war eine gute Erfahrung: Das Schreiben und Nachdenken half mir, die Gegenwärtigkeit des Vergangenen zu erkennen und, vor allem, die Reste von Hass und Wut aus meinem Gehirn zu spülen. Hass und Wut sind aggressive Säuren. Sie zerstören den Behälter, in dem sie aufbewahrt werden.

Ein Buch also. Aber mit Bauchgrummeln.

Letzte Worte

Am Horizont floss die Sonne wie Honig auf die Prärie und über dem Lagerfeuer schmurgelte eine Bärentatze. In den verblassenden Hügeln heulte ein Kojote. Old Shatterhand legte den Arm auf meine Schulter und … da weckte mich Schwester Stephania kurz vor dem Morgengrauen. Um mich herum kalkweiße Wände. Kahl bis auf ein Kruzifix. Zwei schwarze Fenster. Der Geruch alter Menschen.

»Wach auf, mein Junge, deine Mami möchte dich sehen.«

»Wie geht es ihr?«

»Nicht so gut.«

Lieber Gott, mach, dass sie wieder gesund wird, dachte ich. Seit zwei Tagen lebte ich in diesem unbelegten Zimmer des Krankenhauses. Es war der 3. November 1955. Ich war neun und fühlte mich elend und allein.

Während unsere Schritte durch die Flure hallten, unterdrückte ich die aufsteigenden Tränen. Westmänner weinen nicht.

Auf dem Gang zu Mamis Zimmer roch es nach altem Rauch. Omi lehnte an der blassgrün lackierten Wand, drückte eine Supra Filter in einen vollen Aschenbecher und nahm einen Schluck aus einer flachen Silberflasche. Ich lief zu ihr und umarmte sie: »Omi, ich hab Angst.«

Omi schwieg und weinte. Ihr Gesicht war hart wie Eschenholz. Ihre Arme hingen schlaff herunter, und ihre fast wimpernlosen Augen blickten mich streng an. Mein Magen krampfte sich zusammen. Offensichtlich war sie mir noch böse, weil ich in der Schule wieder Geld gestohlen hatte. Ich hätte es trotzdem schön gefunden, wenn sie mich jetzt in den Arm genommen hätte. Aber das war nicht ihre Art.

Abb.1: Jacky (9), Ende Oktober 1955

Omi war nicht meine richtige Großmutter. Die war im KZ umgekommen, wie meine gesamte polnische Familie außer Mami und Onkel Berel. Omi war keine Jüdin. Sie hatte Mami vor fünf Jahren aus dem Gefängnis geholt und mich aus einem Heim. Hatte uns bei sich aufgenommen und Mami jahrelang gepflegt.

In Mamis Raum roch es nach Desinfektionsalkohol. Ich kannte den Geruch seit Jahren: Mami hatte gerade wieder eine Morphiumspritze bekommen. Langsam ging ich zu ihrem Bett. Sie nahm meine Hand, streichelte sie und versuchte zu lächeln; doch ihre Kraft reichte wohl nicht mehr.

»Jankele, mein liebes Jankele«, sagte sie in ihrem melodiösen jiddischen Deutsch, »du wirst bald sein allein.«

Ich kämpfte gegen die Tränen an. Sie schaute mich aus dunklen Augenhöhlen an und atmete langsam. Ich bemühte mich, im gleichen Rhythmus zu atmen. Mamis Züge waren mild und entspannt. Aber die sonst leuchtend grünen Augen glommen nur noch matt. Halb aufgerichtet lag sie da, und das reiche schwarze Haar fiel auf ihre Schultern.

Sie war wunderschön. Ich liebte sie.

»Jankele, ich will, dass du wirst a guter Jid. Gej zu Onkel Berel nach Amerika. Er freit sich auf dich.«

»Ja, Mami.«

Amerika! Das Land von Winnetou und Old Shatterhand: mein sehnlichster Wunsch! Dann würde ich Onkel Berel endlich kennenlernen, meinen einzigen Verwandten. Er hatte uns in den letzten Jahren immer Pakete mit peanut butter, Kleidung und Dollarscheinen geschickt.

»Jankele, du musst lernen. Viel lernen. Werd was, womit du anderen Menschen helfen kannst, Arzt oder Rechtsanwalt. Und sag nie: Das kann ich nicht.«

»Ja, Mami.«

»Kann ich nicht« hatte ich schon seit Langem aufgegeben: seit sie mir mit vier Lesen und Schreiben beigebracht hatte, mit fünf Waschen, Strümpfestopfen und Knöpfeannähen. Jedem »Kann ich nicht« folgte ein »Dann lern es, im KZ musste ich auch alles können«.

»Und, Jankele, du musst versuchen, zu sein glicklich. Egal, was kommt. Du musst es wollen. Mehr als alles andere.«

Glücklich? Ob Kindergarten, Schule oder Spielplatz: Ich war immer der kleine Judenjunge – der einzige. Mit brennenden Augen sah ich die »Christenkinder« miteinander herumtollen. Ich stand immer am Rand und hätte so gern dazugehört. Sie waren auch nicht so arm wie wir. Hatten Familien, Großeltern, die zu Weihnachten Fahrräder schenkten, hatten Mütter und Väter, die zu Hause waren, nicht krank oder verschollen.

Mami schloss die Lider. Sie atmete tief ein – doch nicht wieder aus. Auch ich hielt den Atem an. Sekundenlang kristallisierte die Zeit – endlich stieß sie die Luft von sich und öffnete die Augen. Mir schien, als glühten sie noch einmal auf.

»Komm her, mein Jingele.« Mami streckte die Arme aus, und ich legte mich vorsichtig hinein. Sie atmete ganz ruhig. Dann drückte sie mich und küsste meine Stirn. »Gej jetzt schlofn, Jankele. Schlof scheen und lang.«

»Du auch, Mami.«

»Jankele, mein goldenes Kind, ich wünsch dir a glickliches Leben.«

Schon am Tag danach, wie es bei Juden üblich ist, stand ich mit Omi und dem Rabbiner an Mamis Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Köln. Sie weinten. Ich nicht. Doch nicht vor allen Leuten!

Meine Mutter hatte sich an das Leben gehängt, das bisschen Leben nach fünf Höllen: nach zwei Ghettos, zwei KZs und dem Gefängnis. Aber das Leben schleifte sie bald nur noch hinter sich her wie eine lästige Bittstellerin.

Jetzt hatte es sie abgeschüttelt.

Im feuchtschwarzen Erdhügel neben dem Grab steckte ein Schild aus grauem Sperrholz:

Fela Dreksler 2. Februar 1915 – 3. November 1955.

Nur vierzig Jahre! Ich ballte die Fäuste. Ich war wütend und hatte kein Ziel für meine Wut. Aber ich beschloss, alles zu tun, was Mami mir aufgetragen hatte: guter Jude sein, viel lernen, glücklich werden. Fela kommt von Felicitas. Felicitas bedeutet »Glück«. Aber meine Mutter hatte keins. Jacob, mein eigentlicher Name, ist hebräisch und bedeutet »Gott beschütze dich« – der Wunsch für ein glückliches Leben. Aber, wie sich zeigen sollte, keine Garantie. Der Allgegenwärtige kann nicht ständig überall und bei jedem sein.

Abb.2: Omi (49), meine Mutter (39) und ich (8) im Jahr 1954, ein Jahr vor Mamis Tod

Felas Unglück begann am 1. September 1939 mit Hitlers Überfall auf Polen. Drei Tage später marschierten seine Truppen in die – halb jüdische, halb christliche – Mittelstadt Będzin im damals polnischen Oberschlesien (meine Mutter sprach es »Ben-dschien« aus). Dort lebte Fela mit ihrer sieben- oder achtköpfigen Familie in einer winzigen Hütte am Ufer der Schwarzen Przemsza. Meine Mutter sprach den Namen des Flusses etwa wie »Schemscha« aus …

FELA

Abb.

Verbrenne ihre Synagogen […],

zwinge sie zur Arbeit

und gehe mit ihnen

nach aller Unbarmherzigkeit um,

wie Moses in der Wüste tat,

der dreitausend totschlug […].

Martin Luther,

Von den Juden und ihren Lügen

1

Sabbat in Będzin

»So, Schabbes für heute!«

Fela nimmt den Fuß vom Pedal der klapprigen Singer-Nähmaschine und legt die reparierten Seidenkleider beiseite. Ein Glück, dass die fette Birnbaum dauernd aus allen Nähten platzt. Sonst könnten sie sich heute kein Fleisch leisten. »Peluscha!«

Die Kleine spielt unten am Fluss, sagt Alek, küsst Felas Haar, nimmt die Kleider und hängt sie auf einen Bügel. Fela schmiegt sich kurz an ihren Mann, geht aus dem einzigen Raum ihrer Hütte in das Gemüsegärtchen hinterm Haus– »Peluuuscha!«–, dreht ein Bündel Schnittlauch ab und wirft einen ängstlichen Blick aufs Dach.

Die morschen Holzschindeln unter dem gebeugten First werden nur von wildem Wein und Leuchtmoos zusammengehalten, so scheint es ihr. Und vielleicht von den Ranken des Blauregens, dessen angewelkte Blütentrauben schwer von der Traufe ins Gemüsebeet hängen: ein Wasserfall aus Amethyst, erinnerte sie sich gern. Und wie sie dieses Gärtchen liebte, in dem Kohl, Kopfsalat und Levkojen wuchsen.

»Peluscha, Schabbes! Komm, umziehen!«

Am anderen Ufer der Schwarzen Przemsza, eines Flüsschens, das träge durch die ärmeren Viertel Będzins fließt, steht die Sonne schon tief in den Haselsträuchern.

Wie jeden Freitag beginnt der jüdische Sabbat in der Abenddämmerung. Bis zum Samstagabend darf nicht mehr gearbeitet werden. Wie bei der Schöpfung: Gott befand, dass die Welt gut sei, und legte einen Ruhetag ein.

»Peluscha! Komm, ich hab ein neues Rätsel für dich.«

Endlich kommt mein sechsjähriges Schwesterchen angehopst. Ihre schwarzen Locken tanzen um zwei intelligente grüne Augen. Wie so oft schmettert sie: Jeszcze Polska nie zginęła, kiedy my żyjemy– die polnische Nationalhymne. Noch ist Polen nicht verloren.

Auch ich sang sie mit Inbrunst im Marschschritt, als ich vier war, und sah die Augen meiner Mutter dabei aufleuchten. Sie war stolz, Polin zu sein.– Stolz? Ich bin naturalisierter Deutscher und liebe dieses Land. Aber ich habe nichts dazu beigetragen, dass es ein gutes Land ist. Nur durch Zufall lebe ich hier und nicht in der Heimat meines französischen Vaters, meiner polnischen Mutter oder meines amerikanischen Onkels. Soll ich stolz sein auf Dinge, für die ich nichts geleistet habe, auf die ich keinen Einfluss habe? Stolz, blassrosa zu sein statt tiefbraun? Stolz, Jude statt Christ zu sein? Stolz, dass die Sonne scheint?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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