Ikarus stürzt - Max Kronawitter - E-Book

Ikarus stürzt E-Book

Max Kronawitter

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Beschreibung

Der Filmemacher Max Kronawitter erhält eine schockierende Diagnose: In seinem Gehirn ist ein lebensbedrohlicher Tumor gewachsen. Viele Jahre hat der Journalist Menschen in außergewöhnlichen Lebenssituationen begleitet und auch das Sterben und den Tod dokumentiert. Nun steht er plötzlich auf der anderen Seite. Und er stellt fest: Durch viele seiner gegenwärtigen Fragen und Gefühle ist er mit den Menschen, die er filmisch begleitet hat, schon hindurchgegangen. In seinem Buch dokumentiert er die Erfahrungen seiner Erkrankung und verbindet das eigene Schicksal mit den Lebensgeschichten der Protagonisten aus seinen Reportagen. Entstanden ist ein eindrucksvolles Dokument über eine existenzielle Lebenssituation, über den Alltag nach einer Hirn-OP und über Fragen nach dem Sterben und dem Tod, über Vertrauen und Glück und über das, was im Leben Sinn und Halt gibt. Auch im Medium Buch beweist der Filmemacher dabei ein feines Gespür für Szenen, Perspektiven, Atmosphäre und Stimmungen und behält seine Zuversicht und seinen Humor.

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Meiner geliebten Heike und unseren Kindern David, Marie und Lucia sowie meiner wunderbaren Großfamilie

Max Kronawitter

Ikarus stürzt

Mein Tumor, meine Filme und mein neues Leben auf Zeit

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2024

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlaggestaltung: © Verlag Herder

Umschlagmotiv: © francescoch / iStock

E-Book-Konvertierung: ZeroSoft, SRL

Fotos: S. 2, S. 3 oben, S. 4: Erwin Schwingenschlögl; S. 3 unten, S. 12 unten, S. 27: Hans-Peter Hillmeier; S. 4 unten: Doro Große; S. 8 Mitte/unten: Hermann Anetzberger; S. 16 unten: Benedikt Gradl; S. 27 Mitte: Steyl Medien; alle weiteren: Ikarus-FilmSeitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe

ISBN 978-3-451-60144-6

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-83242-0

Inhalt

Im Innersten getroffen5. Dezember bis 20. Dezember

Überall Scherben21. Dezember bis 1. Januar

Verzieh dich, ich kämpfe2. Januar bis 15. Februar

Ich will meine Bilder zurück19. Februar bis 17. März

Wechselbad der Gefühle18. März bis 25. April

Ikarus und das Buch27. April bis 13. Mai

Wieder dabei14. Mai bis 7. August

Neues Leben auf Zeit12. August bis 12. September

Dank

Bildteil

Über den Autor

IM INNERSTEN GETROFFEN

Beginn

5. Dezember

Der Schlitten, auf dem ich in der korrekten Position fixiert bin, fährt in den großen Bauch des Magneten. Ich schließe die Augen, und es geht los. Das gepulste Klopfen des Kernspintomografen vibriert durch meinen Körper. Trotz des Gehörschutzes, den die freundliche Assistentin über meine Ohren gestülpt hat, dröhnt das Tackern durch meinen Schädel. Seltsam unwirklich – gerade durchleuchtet ein modernes Echolot meinen Körper und bringt womöglich Dinge ans Licht, die mein Leben völlig umkrempeln werden. Ein magischer Ort.

Angeschnallt in der überdimensionalen Apparatur zu liegen, ist trotz des eigenartigen Geräusches eigentlich ganz angenehm. Mitten am Tag dreißig Minuten lang die Beine ausstrecken – für mich ein Luxus. Nur das charakteristische Hämmern irritiert mich. Vor Jahren hat es sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Böse Erinnerungen werden wach, vergessene Bilder drängen in mein Bewusstsein. Über zehn Jahre ist es her: eine ähnliche Pritsche, darauf Wenke, ein dreizehnjähriges Mädchen. Der Wagen wird in die Röhre gefahren, das gleiche laute Tackern setzt ein. Wenkes Mutter Simone, die starke, vor Leben strotzende Frau, wartet ängstlich zitternd neben mir auf den Befund. „Hugo“, so hatte Wenke ihren Gehirntumor genannt, um seinen Schrecken zu bannen, war weitergewachsen, und alle Hoffnung für die Familie wurde in diesen Minuten zunichte. Wenke hatte den Kampf verloren.

Die Bilder von Wenke, das leichte Zittern der Apparatur. Eiskalt war es mir den Rücken hinuntergelaufen, als ich erstmals registrierte, wie sehr der Mechanismus, der das Mädchen ins Innere der Anlage schob, dem Einfahren eines Sarges in eine Krematoriumskammer glich. Hundertmal habe ich die Bilder am Schneidetisch vor- und zurückgespult, jetzt sind sie auf einmal wieder da. Ich habe Wenke für einen Film über das Kinderpalliativteam des Klinikums Großhadern auf ihrem letzten Lebensabschnitt mit der Kamera begleitet. Es waren Dreharbeiten, die an die Nieren gingen, die uns aber auch zu einer seltsamen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißten. Am Ende bat mich dieses besondere Mädchen, bei ihrer Totenfeier die Rede zu halten. Ich habe es getan. Und ich habe mit der Kamera eingefangen, wie die ungewöhnliche Familie von der Krankheit und dem Verlust dieses Mädchens erschüttert wurde.

Und nun liege ich, wie damals Wenke, selbst in so einer Röhre, und unerbittlich scannt das Gerät meinen Kopf ab. Mindestens einen halben Arbeitstag muss ich opfern. Dabei läuft mir ohnehin schon wieder die Zeit davon. Die Aufnahmen von der Premiere in Berlin sind zu schneiden, eine Drehreise in die Mongolei ist zu planen und für die ARD muss so schnell wie möglich ein neuer Themenvorschlag eingereicht werden, damit dieses Jahr noch ein Film für mich abfällt. Also kein Grund, auf einer medizinischen Liege zu entspannen.

Gegen Mittag war ein Anruf von Heike gekommen. Sie habe gerade mit einem Kollegen über meine Blitze gesprochen: „Schaffst du es, in einer Stunde hier zu sein?“ Ich lasse alles liegen, haste zum Auto und fahre los in die Münchner Universitätsklink. Seit einigen Wochen sehe ich Blitze rechts oben, wenn ich mich anstrenge, manchmal habe ich danach Kopfschmerzen. Anfänglich habe ich gar nicht darüber gesprochen. Ich bin sonst kerngesund. Gerade ein Jahr ist es her, dass ich beim alljährlichen „Löwenmarsch“ hundert Kilometer von Schloss Kaltenberg nach Hohenschwangau in der Nähe von Schloss Neuschwanstein innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu Fuß gelaufen bin. Wem das gelingt, der ist doch nicht krank! Ein befreundeter Arzt meinte „Augenmigräne“, harmlos. Ich war beruhigt. Meine Frau Heike nicht. Sie drängte zur Untersuchung, schnell.

Heike fängt mich vor der Klinik ab und schleust mich durch die unübersichtlichen Gänge zum Neurologen, der mich freundlicherweise dazwischenschiebt. Körperliche Untersuchung, Befragung, Blutabnahme. Ja, richtig, das Gesichtsfeld ist deutlich eingeschränkt, aber sonst alles tipptopp. Er wirkt nicht beunruhigt. Meine Frau schon. Sie hat noch einen Kernspin-Notfalltermin vereinbart und schiebt mich weiter in die Radiologie-Abteilung. Das hier ist ihre Welt, sie arbeitet seit vielen Jahren in der Klinik und bewegt sich souverän in diesem für mich fremden System, das mich unsicher macht. Wie gut, dass ich nicht alleine hier bin.

„Wir sind fertig“, tönt es an mein Ohr. Der Wagen, auf dem ich liege, wird zurückgefahren, die routinierte Assistentin nimmt mir die Kopfhörer ab. Geschafft, mit einem Lächeln überwacht sie, ob ich schwindelfrei aufstehe. Beim Ankleiden werfe ich einen Blick auf mein Handy: zwei Anrufe und eine SMS. Andrea, die Schamanin, fragt, ob ich schon Flüge in die Mongolei gebucht habe. Habe ich, simse ich zurück. Alles andere kann warten. Ich rufe Heike an, um mich zu verabschieden und schnellstmöglich wieder nach Hause zu fahren. Ich will die liegen gebliebene Arbeit des Nachmittags nachholen.

„Stopp, wir müssen die Bilder noch ansehen“, ist ihre Antwort, und sie bittet die Kollegin aus der Radiologie, uns noch schnell nach Dienstschluss den Befund zu demonstrieren. Hier sind sich zwei Kolleginnen sympathisch, und die Not der einen wird von der anderen sofort verstanden. Der Vorteil des kleinen Dienstweges. Wir scheinen heute besonderes Glück zu haben. Zu dritt sitzen wir vor dem großen Monitor und versiert öffnet die, wie ich bemerke, außergewöhnlich hübsche Radiologin die Dateien der Untersuchung. Auf dem Bildschirm erscheint der Querschnitt eines Schädels, meines Schädels. Mit wenigen Mausklicks navigiert die Ärztin durch das Bildmaterial und erstarrt. Darauf ist sie nicht vorbereitet. Fassungslos schaut auch meine Frau auf das Computerbild. Klar und deutlich ist im linken Hinterkopf eine große, unregelmäßige, wallnussartige Form zu erkennen, während auf der rechten Seite alles schön gleichmäßig schwarz aussieht. Und dann fällt ein Wort, das ich in den nächsten Tagen so oft hören werde: Glioblastom. Ich habe einen bösartigen Hirntumor! Von dem Versuch der hilfsbereiten Radiologin, diesen tödlichen Befund in ruhige, schonende Worte zu fassen, bekomme ich fast nichts mit. Sie entschuldigt sich, eine solche Nachricht überbringen zu müssen. Sie tut mir leid. Wahrscheinlich wird sie nie wieder der Bitte nachgeben, einen kurzen Blick auf ein Untersuchungsergebnis zu werfen, ohne sich vorher darauf vorzubereiten. Gebannt starre ich auf die Bilder und bin erstaunt über meine Gelassenheit. Kein Zittern, keine Regung.

Irgendwie ist es so, als hätte ich bei einem riesigen Würfelspiel die unwahrscheinlichste, aber eben doch mögliche Zahlenkombination bekommen. Dann steht meine Frau auf, bedankt sich, nimmt mich an der Hand und führt mich schweigend in den Vorraum. Ich bin wie in Trance. Mit einer mich selbst überraschenden Gelassenheit stehe ich vor ihr und versuche, mir den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Ich bin immer noch ganz ruhig. Jetzt hat es also auch dich erwischt, ist so ziemlich der einzige Gedanke, der mein Bewusstsein erreicht. Meine Frau zieht mich an sich und drückt mich. „Max, du wirst sterben“, stammelt sie, während ihr Tränen in Strömen über das Gesicht laufen. Der Boden hat sich aufgetan, die Erde hat aufgehört, sich zu drehen. Für den Augenblick habe ich das Gefühl, dass nur wir beide auf der Welt sind. Ein Vakuum – in einem menschenleeren, schwach beleuchteten Vorraum vor einer medizinischen Supermaschine, begegnen sich nach Dienstschluss ein Mann und eine Frau, um in den Grundfesten ihrer Existenz erschüttert zu werden.

Und dann kommen die Bilder: Szenen von zurückliegenden Urlaubsreisen, die ich immer dann wachgerufen habe, wenn ich mich über etwas furchtbar geärgert habe. Jetzt hüllen mich diese Erinnerungen in eine Art Schutzschild, das alle anderen Gedanken fernhalten will. All die Bilder von Tod und Sterben, die ich als Filmemacher während meiner Projekte eingefangen habe, fluten meine Sinne. Wie oft habe ich mich als Zuschauer diesen Themen genähert, habe versucht, sie in Worte und Bilder zu fassen und die vielen Facetten zu verstehen. Jetzt will ich davon nichts an mich ranlassen. Und doch drängt sich ein Bild beharrlich durch und beherrscht mein Denken: Wie beim Blick in eine Glaskugel sehe ich das Bild meiner verstorbenen Schwester Maria, wie sie im Sarg gebettet liegt. Es hat nichts Bedrohliches. Da werde ich also auch bald liegen. Und der Deckel wird sich auch für mich schließen. Die Uhr, von der keiner weiß, wie lange sie noch läuft, hat angefangen zu ticken.

Letzte Fahrt

„Und ab sofort natürlich Fahrverbot!“ Wir sind schon raus aus dem Untersuchungszimmer des Neurologen, der uns eine halbe Stunde nach dem ersten Schock freundlicherweise einen Blitztermin für morgen bei den Neurochirurgen in Großhadern vermittelt hat. „Was hat er damit gemeint?“ Erst jetzt holpert das Gehörte in mein Bewusstsein. „Wegen des eingeschränkten Sehens darfst du anscheinend nicht mehr Auto fahren“, vermutet Heike. Wir schauen uns zweifelnd an: „Gar nicht mehr? Ab sofort?“

Das kann und will ich nicht glauben. Vor zwei Stunden bin ich noch vollkommen sicher mit dem Auto aus dem Münchner Umland in die Stadt gefahren. Mein Wagen steht vor der Klinik und meine Frau ist ja auch mit ihrem Auto da. Wir lassen doch jetzt nicht eines der beiden hier stehen. In stillschweigender Übereinkunft steigen wir jeder in seinen Wagen und fahren im Konvoi die dreißig Kilometer heim. Selbstverständlich ohne einen Hauch von Unsicherheit.

Vor zwei Wochen habe ich noch meine ganze Familie sechshundert Kilometer von Berlin nach Hause chauffiert. Als Halbblinder? Ich sehe doch alles perfekt. Wir wohnen auf dem Land, völlig unerreichbar mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ohne Auto bin ich vom Leben abgeschnitten. Das soll für mich erst mal vorbei sein? Ich weigere mich, das in mein Denken zu lassen. Ja, und dann muss da noch die sechzehnjährige Tochter vom Bus abgeholt werden, wie jeden Montag. Lächelnd packe ich sie ins Auto, bringe sie sicher nach Hause, stelle wie gewohnt das Fahrzeug in die Garage. Zum letzten Mal. Ich werde nie wieder ein Auto steuern.

Kostbarer Aufschub

6. Dezember

Die Osterseen im Licht eines wunderschönen Spätherbsttages, ein Selfie von Heike und mir für die Kinder. „Das Leben ist schön“, schreibe ich drunter. Wir setzen uns mitten an einem Arbeitstag in eine Pizzeria und trinken ein Bier. So oft vorgenommen und nie gemacht. Das Leben genießen. Wir nehmen uns Zeit, obwohl alle Zeichen darauf stehen, dass wir keine Zeit haben.

„Sie müssen so schnell wie möglich operiert werden. Wenn Sie wollen, morgen!“ Vor zwei Stunden saßen wir vor dem sympathischen Neurochirurgen, dem anzumerken war, wie wenig Vorsprung er dem Tumor jetzt noch geben wollte. Ich schaute meine Frau entsetzt an. Völlig überrumpelt von der Geschwindigkeit, in der sich seit gestern mein Leben zu ändern schien, einigten wir uns dann auf einen kleinen Aufschub bis nach dem Wochenende. Wir müssen mit den Kindern sprechen, das Unglaubliche irgendwie begreifen und so viele geschäftliche Dinge regeln.

Die wenigen Tage vor der Operation sind jetzt Gold wert. Wir werden die Zeit auskosten, uns die vielen Dinge sagen, die im Alltag verschluckt worden sind, und allen Tatsachen zum Trotz Pläne für die Zukunft machen.

Wir schauen auf das Karwendelgebirge am Horizont, und ich bin heilfroh, dass ich nicht schon morgen in die Klinik muss.

Todesurteil auf Papua-Neuguinea

Zurück daheim. Während Heike bemüht ist, den Familienalltag am Laufen zu halten, starre ich lethargisch aus dem Fenster ins Leere. Ist das alles wahr? Den gleichen Schrecken, der jetzt in mich gefahren ist, als ich von meinem Tumor erfahren habe, habe ich schon einmal in den Augen einer jungen Frau gesehen.

Es war in Papua-Neuguinea, im Hochland der Insel abseits aller Zivilisation. Für einen Film über die Steyler Ordensschwestern besuchten wir eine Aids-Beratungsstelle. Dort wurden auch HIV-Tests gemacht, aber keiner hatte gerade während der Filmaufnahmen mit einem todbringenden Ergebnis gerechnet. Es trifft eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern. Medikamente gegen das Virus sind damals erst im Versuchsstadium, im Hochland von Papua-Neuguinea völlig unerschwinglich und unerreichbar. Was wird aus dieser Frau? Bei der Recherche hatte ich erfahren, dass HIV-Positive wie Aussätzige von ihren Familien verstoßen werden. Zu groß ist die Angst, weitere Angehörige anzustecken. In abgelegenen Hütten fristen die Infizierten ein beklagenswertes Leben, bis die Immunkrankheit sie irgendwann dahinrafft. Was geht in einer jungen Mutter vor, wenn ihr jemand dieses Todesurteil überbringt, das sie unwiederbringlich von ihren Kindern trennt? Der Blick der Frau ins Leere, in einen dunklen Abgrund, hat mich tagelang nicht mehr losgelassen. Unendliche Trauer und lähmende Angst spricht aus den Filmaufnahmen, die ich gemacht habe. Ein wenig tröstet mich das Hilfsprogramm der Schwestern, die diesen verstoßenen Frauen beistehen. Erst in den folgenden Tagen, als wir tief in den Busch fliegen, lässt mich das Bild der schicksalsgetroffenen Frau endlich los.

Aber zu Hause beim Sichten des Materials ist sie wieder da: diese Frau, die ihr Schicksal so ungerecht und brutal niedergeschlagen hat. Nun sehe ich erneut ihr Gesicht riesengroß auf dem Bildschirm meines Studios. All das Entsetzen und diese tiefe Traurigkeit sind in dem Moment zu erblicken, in dem ihr schlagartig bewusst wird, dass ihr Leben ab jetzt zu Ende geht. Am Schneidetisch sitzend, kann ich es nicht ertragen, diese Tragik zu vervielfältigen und der Welt zu zeigen. Und ich tue etwas, was ich noch nie vorher und auch nie wieder danach gemacht habe: Ich lösche diese Bilder. Vielleicht wollte ich diese intime Begegnung nicht entehren. Vielleicht wollte ich sie nicht nur aus meinem Material, sondern auch aus meinen Gedanken löschen, um mich selbst zu schützen. Das ist nicht gelungen. Ich erinnere mich heute noch sehr genau an diese Frau, die mir jetzt so nahe ist.

Notfallpläne

„Wir müssen vor der OP die Dinge regeln“, hat Heike gesagt. Die „Dinge“, das ist alles Nötige, damit meine Familie zurechtkommt, falls während der Operation etwas schiefgeht. Damit habe ich endgültig verstanden, dass der Eingriff am Gehirn lebensgefährlich ist und dass ich vielleicht nicht oder nur schwer beeinträchtigt überleben werde.

Schon am Morgen sitzen Heike und ich an meinem Schreibtisch und überlegen, was dazugehört, zu den „Dingen“. Wie bereitet man in ein paar Stunden seine eigene Handlungsunfähigkeit vor? Wo fangen wir an? Was ist das Wichtigste?

Die Sicherung der Existenz für Heike und die Kinder, falls ich nicht mehr arbeiten kann. Als „Finanzminister“ der Familie war das ausschließlich mein Ressort: meine Firmenkonten, ein Bürgschaftskonto der Projekte für den BR, die Sparkonten für die Kinder, meine Riesterrente, eine Rücklage für das Haus … In einem komplizierten System aus Konten bei verschiedenen Banken ist unser Hab und Gut verteilt. Was für mich eine über Jahre sinnvoll gewachsene Struktur ist, ist für einen Uneingeweihten sehr undurchsichtig. Noch komplizierter wird es, sich Zugang zu verschaffen. Meine Geheimzahlen und Einwahlcodes habe ich nach einem ausgeklügelten, nur mir bekannten System verschlüsselt. Was ich gestern noch stolz als ausgefuchste Methode präsentiert hätte, entpuppt sich nun als riesiges Problem. Heike schüttelt ungläubig den Kopf. Würde umgekehrt ich erstmals das Wirrwarr unserer Konten sehen, ich würde wohl auch verzweifeln. Geduldig lässt sie sich alles erklären, notiert eifrig wie eine Schülerin. Nach drei Stunden habe ich das Gefühl, meine Frau ist nun imstande, zumindest die Grundlagen meines Firmen- und Privatgeschäftes einigermaßen zu überblicken und die Bankgeschäfte weiterzuführen. Sie zieht die Augenbrauen hoch, als ich noch an den Aufbewahrungsort meines Testamentes erinnere.

Und was müssen wir noch regeln? Eine Vorsorgevollmacht ausstellen. Ich gebe Heike Vollmacht über mein Leben: Gesundheit, aber auch Finanzen, Behördengänge, Wohnungsangelegenheiten. Für den Bruchteil einer Sekunde kommt mir der Gedanke, dass ich mich damit völlig in ihre Hand lege. Ein komisches Gefühl, selbst nach 27 Ehejahren noch. Aber nicht der leiseste Zweifel hindert mich. Bei ihr bin ich sicher aufgehoben, sie wird versuchen, alles in meinem Sinn zu regeln.

Nun noch die Patientenverfügung, da ist sie die Expertin. Oft genug haben wir uns gegenseitig erklärt, wie wir in dem Fall behandelt werden möchten, in dem wir nicht mehr fähig sind, unseren eigenen Willen zu vertreten. Wir halten es jetzt nur noch im Formular fest. Eigentlich bin ich froh, dass wir bei der Gelegenheit machen, was wir ohnehin längst hätten tun sollen. Aber auch wenn wir beide versuchen, das alles geschäftsmäßig abzuarbeiten, liegt darunter ein Hauch Panik, weil die Wahrscheinlichkeit sich akut erhöht hat, dass diese Papiere zum Einsatz kommen.

Dann mache ich auch noch eine genaue Aufstellung aller Versicherungen. Ist das vielleicht doch alles übertrieben? Hatte der Chirurg nicht gesagt, dass ich wohl im Februar wieder arbeiten kann? Morgen warten noch weitere Aufgaben: Die Fotos für das alljährliche Weihnachtsgeschenk für unsere Eltern müssen noch zusammengestellt werden, ein Präsent für Heike verpackt, die Gaben für die Kinder organisiert. Wer muss vor der OP noch informiert werden? Was mache ich mit den anstehenden Filmprojekten? Viele Entscheidungen kann ich erst treffen, wenn ich weiß, wie es mir nach der Operation geht, wie ich die Bestrahlung und die Chemo vertrage. Wie lange ich wohl noch zu leben habe?

So viele Fragen und so viele Unsicherheiten. Manchmal kommt plötzlich riesengroß die Angst hoch. Wie wird dieses Leben nun weitergehen? Und ich denke wieder an meine Schwester Maria, deren Mantra diese Worte waren: „Wenn der Berg zu groß ist, dann geh einfach immer nur Schritt für Schritt“, höre ich sie mir in Gedanken gut zureden. Morgen nächster Schritt.

Bärbel und Erwin

10. Dezember

„Aber doch nichts Schlimmes?“ – unsere Nachbarin Kathi schenkt gerade den Glühwein ein, und ich nehme zwei frische Waffeln aus der Hand ihres Sohnes in Empfang. „Schau mer mal“, antworte ich mit einem Lächeln, froh, mich hinter dieser bayrischen Formulierung verstecken zu können. Nach meinem Befinden gefragt, hatte ich etwas von einer Operation geantwortet. Unsere Nachbarin organisiert diesen wahrscheinlich kleinsten Weihnachtsmarkt von Oberbayern seit zwei Jahren in der Zimmererwerkstatt ihres Mannes. Hier trifft sich das Dorf an einem Adventssamstag bei Gebäck und Glühwein. Für mich ist es ein angenehmer Pflichttermin, denn ein Teil des Erlöses geht als Spende an einen Pater, den ich zweimal auf den Philippinen besucht habe, wo er Kinder von der Müllhalde und aus der Prostitution holt. Es freut mich, dass unser kleiner Weihnachtsmarkt mein Herzensprojekt unterstützt.

Gerade bin ich mit den wohlriechenden Waffeln unterwegs zu meiner Frau, als mein Blick ein Bild einfängt, das nicht hierher passt. Bin ich im falschen Film? Am Eingang der dekorierten Werkstatt stehen zwei in Winterklamotten gepackte Besucher, die nicht hierhergehören: Bärbel und Erwin – unsere besten Freunde aus Niederbayern. Was machen die um Gottes Willen auf unserem Weihnachtsmarkt? Bärbel umarmt mich so stürmisch, dass ich Mühe habe, die Waffeln festzuhalten. Schlagartig wird mir alles klar: Heike hatte mittags mit ihr telefoniert, von meiner Diagnose und der dringenden Operation erzählt. Sofort haben sich Bärbel und Erwin ins Auto gesetzt, um die zweihundertfünfzig Kilometer vom Bayerischen Wald hierherzufahren. Auch wenn ich mich riesig freue, durchfährt mich der Schrecken. Wenn die beiden Mediziner sich in einer Nacht- und Nebelaktion aufmachen, um mich vor der Operation noch einmal zu sehen, dann muss es richtig ernst sein.

Bärbel ist etwas ganz Besonderes in meinem Leben. Wir sind im gleichen Dorf aufgewachsen, kennen uns seit Kindertagen. Von der ersten Klasse bis zum Abitur haben wir gemeinsam die Schule besucht. Ihr habe ich zu verdanken, meine Frau kennengelernt zu haben, die ich auf der Beerdigung ihres ersten Mannes zum ersten Mal gesehen habe.

Wer der lebenslustigen Bärbel begegnet, würde nie vermuten, wie viele tiefe, traurige Täler sie schon durchschreiten musste. Aufgewachsen als Älteste auf einem Bauernhof musste sie zwei ihrer acht Geschwister zu Grabe tragen. Nach dem Medizinstudium hatte sie sich in Georg verliebt, die beiden heirateten. Kurz nach der Hochzeit wird bei ihm Leukämie diagnostiziert. Er stirbt.

Die drei dramatischen Todesfälle in ihrer engsten Familie haben Bärbel nicht zerbrechen können. Sie hat das Leben gewählt, sich neu verliebt und mit Erwin eine Familie gegründet. Mit zwei Kindern lebt sie als Landärztin im hintersten Bayerischen Wald. Nach fast zwanzig Jahren Bitten hat sie 2020 endlich zugestimmt und ich porträtierte sie in einem Film für die ARD.

Und jetzt haben Bärbel und Erwin alles Geplante liegen gelassen und sind extra mitten in der Nacht zu mir gekommen. Ein warmes Gefühl tiefer Freundschaft durchströmt mich. Wir gehen heim, essen und trinken zusammen vor dem Kaminfeuer. Die medizinischen Details werden nur kurz besprochen, alle wissen, was dieser Tumor bedeutet. Der eher ruhige Erwin – von Beruf Psychiater – ist mir dabei eine große Hilfe. Er strahlt eine natürliche Gelassenheit aus, die mir Zuversicht gibt. Heike und Bärbel, die sich in der Zeit nach Georgs Tod als Seelenverwandte gefunden haben, verbindet nun ein weiteres trauriges Band: Wie kann man die lebensbedrohliche Erkrankung des Ehemannes aushalten, ohne zu verzweifeln? Wir sitzen einen wichtigen Abend beieinander.

Ich bin bereit

11. Dezember

Schwungvoll fährt David sein Auto die Einfahrt runter. Es geht immer lebhaft zu, wenn er heimkommt. Nachdem wir ihm gestern telefonisch von meiner Diagnose berichtet haben, kommt er ungeplant aus seinem Studienort Regensburg. Die völlig neue Situation erschüttert unsere gesamte Familie, schockiert unsere drei Kinder Lucia, Marie und David genauso wie uns beide. Wir sitzen gemeinsam in der Küche und versuchen der Verunsicherung Herr zu werden. Heike erklärt noch einmal ruhig: „Bei Papa ist ein bösartiger Gehirntumor am Sehzentrum gefunden worden, deshalb hat er in letzter Zeit immer wieder diese Blitze gesehen.“ Sie erläutert, was mich in den nächsten Tagen erwartet: die Operation übermorgen, dann ab Januar sechs Wochen tägliche Bestrahlung und Chemotherapie bis zum Herbst. Dazwischen leben, so normal wie es geht.

Die Frage – wie lange lebt der Papa noch? – steht zum Anfassen im Raum. Heike erklärt die Fakten: „Im Durchschnitt knapp zwei Jahre, manche schaffen aber mehr.“ Wir versuchen, eher Zuversicht zu verbreiten als Panik. Ehrlich bleiben, ohne die Hoffnung zu verlieren.

Die Kinder können selber im Internet alles zum Thema Glioblastom nachlesen und werden schnell erfahren, dass dieser Tumor die schlechteste Wahl ist.

Heike hat volle Rückendeckung in der Klinik, ihr Chef und ihre Kollegen wissen seit gestern Bescheid. Ich packe den Koffer fürs Krankenhaus. Extra für die Klinik habe ich mir noch ein neues Handy besorgt. Da, so meine Überlegung, kann ich mich dann in Ruhe damit beschäftigen. Vielleicht auch ein Buch? Auf dem Nachttisch liegt das neue Werk von Abt Johannes, mit dem wir eng befreundet sind. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Obwohl er es mir druckfrisch vorbeigebracht hat, bin ich noch nicht zum Lesen gekommen. Ob der Titel für das Krankenhaus geeignet ist? Die Apokalypse steht da in großen Lettern. Ein tiefsinniges Buch für lange Krankenhausnächte, denke ich und schiebe es in die Tasche. Wie hätte ich ahnen können, dass ich nach der Operation weder lesen noch ein Mobiltelefon bedienen kann?

Nach dem Packen überredet mich Heike, zum örtlichen Adventsingen zu fahren. Ja, es braucht noch einen Abschluss dieser hektischen Tage, um morgen mit frischem Mut in Großhadern einzurücken. Die spärlich beleuchtete Kirche und die stimmungsvolle Musik beruhigen mich im Strudel der Ereignisse. Heike neben mir, wir halten fest die Hände. Ein bisschen Zeit zum Sammeln angesichts des großen Brockens, den wir hingeworfen bekommen haben.

Warum ich?

Warum ich? Weiß ich nicht. Die Frage ist für mich von Anfang an bedeutungslos gewesen, auch wenn ich immer darauf angesprochen werde. Glücklicherweise habe ich diesen Tumor nicht durch mein Verhalten mitverschuldet. Wäre es Lungenkrebs und ich hätte geraucht, müsste ich mir das vorwerfen. Ich würde mich mitverantwortlich fühlen und vielleicht hätte ich ein schlechtes Gewissen. Das bleibt mir erspart.

Ich bin auch nicht der Meinung, diesen Tumor durch ungelöste psychische Konflikte, falsche Ernährung oder zu viel Telefonstrahlung verursacht zu haben. Der Tumor ist keine Strafe. Für mich ist es ein Zufall der Natur, der jetzt auch mich erwischt hat. Das ist leider Pech, aber ich muss nur damit zurechtkommen, dieses Los erhalten zu haben. Die Last der Ursachenfindung ist von meinen Schultern genommen. Ich kann nichts dafür, und das macht es leichter.

Es geht los

12. Dezember

Das fängt ja schon gut an. Der Coronatest, für den wir gestern extra noch nach München gefahren sind, hat nicht funktioniert. Folglich darf ich nicht in mein Zimmer, bis der neue Test negativ ist. Heike und ich warten, meinen Koffer an mich geklemmt, im Aufenthaltsraum der Station. Der Trubel eines Montagmorgens in einer Klinik: Neue Patienten werden aufgenommen, einer wird in den OP gefahren, ein anderer erkundigt sich nach seiner Untersuchung. Wir sind ständig im Weg.

„Herr Kronawitter, wollen Sie bitte mit mir kommen, ich bin die Stationsärztin und würde schon mal das Aufklärungsgespräch mit Ihnen machen“, fordert mich eine freundliche Ärztin schließlich auf. Ja gern, endlich rührt sich was. Ich hatte schon Angst, wieder nach Hause geschickt zu werden. Solange ich kein Zimmer habe, befürchtete ich, dass doch noch irgendwas schiefläuft. Die einfühlsame Ärztin nimmt sich viel Zeit, uns zu erklären, was und wie genau operiert wird und welche Probleme ich danach haben könnte. Noch Fragen? – Wann kann ich wieder arbeiten? Sie wiegt den Kopf, in ein paar Wochen, je nachdem, wie ich die Operation wegstecke, meint sie. Die Bestrahlung und die Chemo sind erfahrungsgemäß nicht besonders einschränkend, berichtet sie. Und Sport? Auch nach ein paar Wochen, am Anfang nichts, bei dem der Hirndruck hochgeht. Gegen ein paar Minuten auf dem Ergometer sei nichts einzuwenden. Auch wenn sie keinen Zweifel daran gelassen hat, dass dieser Tumor unter allerbesten Bedingungen nur eine gewisse Zeit unter Kontrolle gehalten werden kann und nicht heilbar ist, bin ich guter Dinge. Heike bespricht mit ihr noch kurz die Untersuchungen, die noch ausstehen. Dann sind wir wieder im Warteraum. Heike verabschiedet sich, sie muss zu ihren Patienten. Und ich hole, in eine Ecke gequetscht, meinen Laptop raus, um noch ein bisschen zu arbeiten.

Als ich endlich mein Zimmer beziehen kann, grüßt ein freundlicher Zimmernachbar. Auch er wird operiert und ist zudem eng verwandt mit dem Chef der Abteilung und unserem gemeinsamen Operateur morgen. Das kann ja nur von Vorteil für mich sein, freue ich mich. Wir verstehen uns auf Anhieb gut und posieren mit den vorbereiteten OP-Strümpfen, als wären wir in einem Varieté. Humor verbindet und macht das Schwere etwas leichter.

Als abends Ruhe einkehrt, kommt Heike noch mal vorbei, und wir trinken im Aufenthaltsraum eine Tasse Tee. Nur eine Lichterkette erleuchtet jetzt den kleinen Raum adventlich, friedlich wirkt die Station und ungefährlich. Alle wichtigen Dinge sind gesagt, wir sitzen und flüstern Pläne für die Zukunft. „Du darfst ab jetzt im Haus alles so umbauen, wie du möchtest. Ich mache alles mit und rede nie wieder dagegen!“, verspricht meine Frau und gibt mir auf der Rückseite eines Zettels eine schriftliche Generalvollmacht. „Wenn du hier nur wieder heil rauskommst!“ Will sie das Schicksal bestechen, oder mir nur Mut machen, damit ich durchhalte?

Es ist schon weit nach sieben, als der Professor noch vorbeikommt. Extra, um mich persönlich vorher kennenzulernen, besucht er uns in unserem heimeligen Zimmer. Sehr freundlich und bescheiden ermutigt er mich, positiv zu bleiben: „Der Tumor liegt zum Operieren nicht ungünstig. Ich denke, dass wir es gut schaffen werden, alles zu entfernen. Das ist zunächst das Wichtigste. Seien Sie zuversichtlich, ich habe Patienten gehabt, die einen solchen Tumor zehn Jahre überlebt haben. Aber das Sehen wird erwartungsgemäß hinterher schlechter werden.“ Heike sagt zuversichtlich: „Das kriegen wir hin“, und ich merke, dass sie meint: „Wenn das alles ist!“

Jetzt ist wirklich alles getan, ich bin bestens vorbereitet. Morgen geht der Kampf gegen den Tumor endlich los.

Operation

13. Dezember

Wo bin ich? Wie im Nebel erkenne ich schemenhaft eine Gestalt. Was ist passiert? Da endlich, ein vertrautes Gesicht! Heike, ich höre ihre Stimme, sie hält meine Hand. „Die Operation ist gut verlaufen“, flüstert sie mir zu. Operation? Langsam erinnere ich mich, ja, ich bin im Krankenhaus, mein Hirntumor, schießt es mir wieder in den Sinn. „Ist es schon vorbei?“, frage ich vorsichtig. „Ja, du hast es geschafft, du bist schon auf der Intensivstation. Alles ist gut, ruh dich aus. Du bist in Sicherheit.“ Als ich wieder aufwache, sagt Heike: „Ich soll dich von den Kindern grüßen, sie denken an dich!“ Unsere Kinder, ich erinnere mich an drei Gesichter, mir fallen dazu aber keine Namen ein. „Ich weiß nicht mehr, wie unsere Kinder heißen“, erschrecke ich. Meine Geschwister, meine Schwager, meine Filmtitel, die Orte meiner Heimat, alles weggeblasen. Keine Worte dafür, ein Raum der Erinnerung mit Bildern ohne Namen.

Nur der Blick auf Heike gibt mir das Gefühl, wirklich da zu sein. Aber was ist nur mit meinem Sehen los? Alles ist so verschwommen und so eng, als würde ich nur noch durch einen Mauerschlitz blicken. Das ist wohl am Anfang so, denke ich – alles so ungewohnt. „Hast du Hunger?“, fragt Heike. „Ja, hab ich“, antworte ich. „Einen Joghurt vielleicht?“ „Was ist das, Joghurt?“, frage ich zurück. Ich kann dem Wort keine Bedeutung zuordnen. Erst als mir Heike einen Becher und einen Löffel in die Hand drückt, weiß ich, was ich damit machen muss und wie es schmeckt. Lecker, ich esse noch einen und zwei Mandarinen hinterher. Köstlich, so fruchtig und frisch. David, Marie, Lucia – jetzt fallen sie mir ein, die Namen unserer Kinder. Ich bin erleichtert. Vielleicht doch nur eine Nachwirkung der großen Operation. Über viele Stunden haben sich Anästhesisten und Operateure um mich gekümmert. Schwach erinnere ich mich an den frühen Morgen. Es war draußen noch dunkel, als mich Heike mit dem Transportdienst zum OP-Trakt begleitete. Ein Kollege von ihr begrüßte mich. Wie freundlich hier alle mit mir umgehen, als wäre ich ein alter Bekannter, dachte ich, und kann nur erahnen, welch einen dicken Stein meine Frau bei ihren Kollegen im Brett hat. Und dann beginnt das große Vergessen. Das scheint alles ewig her zu sein. „Wie viel Uhr ist es denn?“, versuche ich mich zu orientieren. „Kurz nach sechs“, heißt es. Den Tag habe ich ja sauber verschlafen, denke ich noch, und tauche schon wieder ab.

Tag danach

14. Dezember

Heute Morgen darf ich von der Intensivstation zurück ins normale Zimmer, davor muss ich aber erst noch zur Kontrolle ins Kernspin. Warten im Bett auf dem Gang. Der Blasenkatheter wurde mir kurz vorher gezogen. Ich muss so dringend aufs Klo! Keiner kommt. Also steige ich einfach aus dem Bett und irre im Flügelhemd den Gang hinunter. Da erwischt mich eine Schwester und donnert mich an: „Sie dürfen noch nicht alleine aufstehen!“ Hätte ich ins Bett pinkeln sollen?

Ich bin jetzt wieder zurück auf der Station in meinem Zimmer. Völlig überrumpelt von allem. Erst langsam sickert es zurück in mein Bewusstsein. Ich habe ein Glioblastom, es ist gestern operiert worden. Die Operation ist anscheinend gut verlaufen. Aber – ich kann nicht richtig sehen! Alles ist dunkler und enger, immer wieder sehe ich Doppelbilder, bei allen Gegenständen fehlen Details, die Bilder sind zerfranst und zerstückelt. Lesen kann ich gar nicht. Auch wenn ich die Buchstaben sehe, erkenne ich sie nicht mehr und kann sie nicht zu Wörtern zusammenfügen.

Die Visite kommt. Der Professor nimmt sich viel Zeit für mich. Es sei ihm gelungen, alles bösartige Gewebe zu entfernen. Eine erfreuliche Auskunft. Mich beunruhigt etwas ganz anderes: Was ist mit meinem Sehen? So ein Eingriff bringe alles ziemlich durcheinander, erklärt er mir. Geduld sei jetzt angesagt, vieles werde sich in den nächsten Tagen und Wochen, wenn die Gehirnschwellung zurückgeht, wieder bessern.

Bin ich beruhigt? Nein, nicht wirklich. Ich will die Welt wieder erblicken können, wieder lesen! So kann ich nicht arbeiten. Sehen ist für mich so fundamental wichtig. Halb blind zu sein, damit hatte ich niemals gerechnet, darauf hatte mich keiner vorbereitet.

Irrfahrten

15. Dezember

Fünf Uhr morgens. Offenbar kann mich mein Schlafmittel nicht mehr länger am Wachwerden hindern. Ich liege da und warte auf die Morgenschwester. Tausend Gedanken flirren durch meinen Kopf. Wird das wieder aufhören mit meinen Gedächtnislücken? Werde ich meine Orientierung wieder zurückbekommen? Die Zeiger der Uhr rücken langsam vor, sehr langsam. Ich traue mich nicht, Licht zu machen und aufzustehen. Mein Zimmernachbar liegt ruhig atmend da und scheint zu schlafen. Draußen auf dem Klinikflur klappert schon der Geschirrwagen, es wird wohl nicht mehr lange dauern. Bald kommt das Frühstück, und dann geht der Tag endlich los. Es stehen Untersuchungen an, irgendwelche Sehtests, wurde mir gestern knapp erklärt. Welche, weiß ich nicht, die komplizierten Namen sagen mir nichts. Hoffentlich mache ich alles richtig. Auf jeden Fall werde ich das Zimmer verlassen und ein Stückchen von der großen Klinik sehen.

Das Croissant schmeckt mir gut. Was wird der Tag bringen?, frage ich mich verzagt. Während mein freundlicher Zimmernachbar noch an seinem Tee nippt, gehe ich ins Badezimmer. Gestern half mir noch die Krankenschwester bei der Morgentoilette, heute will ich es alleine schaffen. Duschen geht wegen des Verbandes am Kopf noch nicht, also ein bisschen Katzenwäsche, Zähne putzen, rasieren. Das schaffe ich schon! Mein Ehrgeiz, so schnell wie möglich wieder ein Minimum an Selbstständigkeit zurückzuerlangen, ist ungebrochen. Vorsichtig setze ich mich an die Bettkante und stehe auf. Das geht, es tut nichts weh. Das Sehen ist allerdings katastrophal. Alles nur sehr verworren, die rechte Bildhälfte kippt einfach weg. Ich habe dauernd Angst anzustoßen, das Gefühl, das Gleichgewicht zu verlieren, aber ich schaffe es in die übersichtliche Nasszelle. Vor dem Spiegel stehend habe ich vergessen, was ich tun wollte. Reflexartig drehe ich den Wasserhahn auf und spüre das kühle Wasser. Ich wasche mein Gesicht, das erinnert mich daran, wie meine Morgenroutine weitergeht. Glücklich erkenne ich meinen Toilettenbeutel wieder. Ich kann die unterschiedlichen Gegenstände und Behältnisse darin aber nicht mehr zuordnen. Ich sehe Dinge, habe aber keine Ahnung, wie sie heißen, und muss überlegen, wozu sie dienen sollen. Langsam breite ich alles aus und versuche zu sortieren. Zähne putzen? Mit der Hand mache ich die typische Bewegung und suche nach einem geeigneten Gerät – wie hieß das Teil, mit dem man die Zähne sauber macht? Wie sieht das Zeug aus, das man da drauf gibt? Ich verteile den weißen Inhalt eines Behältnisses auf meiner Zahnbürste und lege los. Nein, stopp, falsch! Ich merke sofort, dass ich Rasierschaum erwischt habe. Es schmeckt schrecklich. Das ging ja schon mal gründlich daneben. Nach langem Ausspülen nehme ich eine andere Tube und es passt. Ich habe die Zahncreme gefunden. Zum Rasieren nehme ich natürlich dann penibel genau die Dose von vorher, alles fühlt sich richtig an. Ich setze zur Rasur an, die Bewegung habe ich abgespeichert und nicht vergessen. Schon mal prima! Aber warum fühlt es sich falsch an und warum höre ich das typische schabende Geräusch nicht? Ich blicke auf das Gerät in meiner Hand – und erkenne meinen Kamm. Ich habe versucht, mich mit dem Kamm zu rasieren. Erschöpft und frustriert sinke ich auf den Hocker vor dem Badezimmerspiegel. Wie soll ich je im Leben zurechtkommen, wenn ich nicht einmal mehr Rasierschaum und Zahnpasta unterscheiden kann? Ich kämpfe die Verzweiflung tapfer nieder. Das glaubt mir ja niemand. Was ist denn mit mir passiert? Routineabläufe, die ich vor ein paar Tagen noch völlig automatisiert in wenigen Minuten erledigt habe, brauchen nun meine ganze Konzentration. Mir wird klar, dass ich jedes Teil an einen festgelegten Ort platzieren muss, um es wiederzufinden. Ich muss die Namen vieler Gegenstände wieder lernen, sonst kann ich noch nicht einmal danach fragen. All das türmt sich vor mir auf, aber bevor ich das Ausmaß erfassen kann, klopft eine Schwester an die Badezimmertür: „Herr Kronawitter? Sie haben um neun Uhr den Termin zur Perimetrie! Sie müssen los, ich erkläre Ihnen kurz den Weg dorthin.“ Im Schlafanzug stolpere ich aus dem kleinen Bad. „Nein, das geht nicht, ich sehe so schlecht, ich kann nicht sicher gehen und mich überhaupt nicht orientieren!“

Kurzerhand wird ein Mann vom Hol- und Bringdienst organisiert, der mich auf einen Rollstuhl aufspringen lässt und durch die labyrinthischen Gänge und Stockwerke des riesigen Klinikums navigiert. Das gefällt mir ganz gut, und ich genieße es für einige Minuten, so bequem chauffiert zu werden. Nach zwanzig Minuten Warten auf dem zugigen Gang, lediglich mit einem T-Shirt und einer dünnen Trainingshose bekleidet, vermisse ich meinen Pullover, die Wollsocken und eine dickere Hose. Wird schon nicht so lange dauern, tröste ich mich. Habe auch schon woanders gefroren und bald kann ich mich ja wieder ins warme Bett kuscheln. Die anstehende Augenuntersuchung kenne ich schon von vor der OP. Das ist unkompliziert. Als ich fertig bin und mich auf meinen Abholer freue, um wieder ins Zimmer zurückzukommen, erklärt der mir, nein, nein, es geht noch weiter. Anschlusstermin EEG. Ich muss wieder warten, dann wird mein Verband abgenommen, der Kopf mit vielen Elektroden versehen und die Gehirnströme werden abgeleitet. Dazu soll ich möglichst ruhig sitzen. Das Kältezittern versuche ich also verschämt zu unterdrücken. Dann geht es endlich zurück auf das Zimmer. Ich bin müde und durstig und lege mich sofort ins Bett.

Nach wenigen Minuten erscheint schon wieder die Schwester mit einem neuen Fahrdienst und schickt mich erneut auf den Weg zu einer Untersuchung. Jetzt wird es mir schon fast zu viel. Vorgestern war erst die Operation, gestern bin ich von der Intensivstation zurückgekommen und heute reise ich durch das Klinikum wie ein Weltmeister. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken und mache brav alles mit. Längst habe ich aufgegeben nachzufragen, wofür und was genau. Den Überblick zu behalten, habe ich an Heike abgetreten. Wie gut, dass sie sich auskennt und ich mich darum nicht kümmern muss. Leider kommt sie erst am Nachmittag, und ich tuckere wieder mit dem Fahrdienst los. Aufzug, lange Gänge, vor einer Tür wieder warten. Hier kommt es mir irgendwie bekannt vor, wundere ich mich. Aber in Großhadern sieht alles gleich anonym und unwirtlich aus.

Es geht mittlerweile auf mittags zu. Ich bin jetzt wirklich ruhebedürftig, der Kopf brummt schon lange. Meine Schmerzmittel liegen noch auf dem Nachtkästchen, ich hatte in der Eile des morgendlichen Aufbruchs verpasst, sie zu nehmen.

Endlich geht die Tür auf und eine Frau schaut heraus. Im Nu verfinstert sich ihr anfängliches Lächeln. „Was machen Sie denn schon wieder hier, Herr Kronawitter?“, schmettert sie mir vorwurfsvoll entgegen. „Sie waren doch heute Morgen schon da. Erinnern Sie sich denn nicht?“ Jetzt erkenne ich die Frau von der Perimetrie wieder. Sie ist richtig mies drauf. Ich bin völlig perplex, fühle mich sofort schuldig, obwohl ich gar nichts falsch gemacht habe. „Entschuldigen Sie, das muss wohl eine Verwechslung sein“, stammele ich und bringe gerade noch die Bitte raus, den Mann vom Transport zu informieren, damit ich wieder in mein Zimmer zurückkomme.

Grummelnd zieht sie sich hinter die Türe zurück, wahrscheinlich habe ich ihre Mittagspause verzögert. Kalt und erschöpft warte ich auf meinen Rücktransport in meine sichere Krankenhauszelle. Mir fehlt sogar die Kraft, mich aufzuregen. Hilflos und armselig fühlt man sich hier, so vieler normaler Rechte beraubt. In Freizeitkleidung, in der man sich normalerweise höchstens im ganz privaten Bereich zeigt, soll man sich durch die Öffentlichkeit bewegen und ist Mechanismen und Strukturen ausgesetzt, die man überhaupt nicht durchschaut. Ich will nur noch nach Hause!

Überraschender Besuch

15. Dezember

Wem kann ich mich so zeigen, wem mich zumuten? Wer erträgt es, mich so zu sehen? Das äußerliche Erscheinungsbild mit dem dicken Kopfverband und dem aufgeschwollenen Gesicht ist wirklich abschreckend. Innerlich bin ich tief verunsichert und erschüttert. Gerade die besten Freunde und engsten Angehörigen erkennen doch sofort, was mit mir los ist. Deshalb ist es ausnahmsweise eine wunderbare Hilfe, dass die strengen Coronaregeln nur einen Besucher zulassen. Noch nicht einmal meinen Kindern möchte ich meinen Zustand zumuten, den ich längst selbst noch nicht verstanden habe. Nur meine Frau will ich sehen. Sie versteht meine Lage, hilft mir in diesem Krankenhaus-Dschungel und bei all meinen Alltagsschwierigkeiten. Mit ihr ist alles einfacher.

Aber einer lässt sich nicht abschütteln: mein Freund Johannes, Abt der Benediktinerabtei München und Andechs. Er soll an diesem Nachmittag die offizielle Klinikweihnachtsfeier mit einem geistlichen Impuls bereichern und darf also sowieso in die Klinik. In seinem Habit bekommt er mühelos Zugang zu meinem Krankenzimmer.

Er und der Chef der Neurochirurgie, der meinen Tumor so bravourös entfernt hat, kennen sich privat und halten große Stücke aufeinander. Wie gut für mich! Es ist erstaunlich, wie viel zusätzliches Vertrauen entsteht, wenn es eine persönliche Verbindung gibt, sei es auch nur über ein paar Ecken.

Wir sitzen also beisammen: ich im Bett in Weiß, mit Turban und Krankenhaushemd, er daneben in Schwarz, mit seinem Benediktinerhabit. So sind wir uns noch nie begegnet, aber komische Gefühle kommen gar nicht erst auf. Schon als Johannes das Zimmer betritt, wird mir bewusst, dass die Operation zwar einen tiefen Einschnitt in mein bisheriges Leben bedeutet, aber unserer Beziehung nichts anhaben kann. Seit vielen Jahren gehört Johannes zu meinen engsten Freunden. Unsere beidseitige Begeisterung für Bergtouren, immer hart an unserer Leistungsgrenze, hat uns im Laufe der Jahre zusammengeschweißt. Auf stundenlangen Märschen konnten wir unsere Fragen über den Sinn des Daseins ausgiebig diskutieren. Gemeinsam haben wir uns körperlich verausgabt, um glücklich auf einer Berghütte anzukommen und unseren Durst bei einem wohlverdienten Bier – oder auch gerne mehreren – zu löschen und unbeschwert das Leben zu feiern. Diese Polarität zwischen fröhlicher Leichtigkeit und ernsthaftem Tiefsinn zu erleben, ist für mich immer ein großer Genuss.

Neben den religiösen Disputen interessiert sich Johannes auch immer für meine Filme. Damals, als Wenke gestorben war, hatte er ihre Mutter und mich nach Andechs auf den Heiligen Berg eingeladen. Für sie war dieser Nachmittag im Kloster der Anfang, sich wieder der Welt zu öffnen. Für mich war er ein Zeichen, dass die Freundschaft von Johannes auch meine Arbeit mit einschließt.

Nein, diesem Johannes muss ich jetzt nicht erklären, was in mir los ist. Oft genug haben wir die Themen Tod und Sterben von allen Seiten beleuchtet. Von einem tiefen Verstehen getragen witzeln wir über meine Situation, wir verscheuchen die schwarzen Gedanken und albern herum. Die Erfahrung, dass es außerhalb der Familie noch jemanden gibt, der an meiner Seite steht, tröstet mich. Das sichere Gefühl, dass meine Krankheit unserer Freundschaft nichts anhaben kann, berührt mich. Nach dem kurzen Besuch bin ich erschöpft und glücklich, fast, wie wenn wir früher auf einer Hütte angekommen sind.

Blind oder taub?

16. Dezember

Wieder Visite. Der Professor ist zufrieden, der zehn Zentimeter lange Schnitt auf meinem Schädel scheint gut zu verheilen. Wie ich mich fühle? „Ganz gut eigentlich, aber ich kann so schlecht sehen. Das Bild ist ganz zerfranst und lesen kann ich überhaupt nicht“, bemerke ich wieder etwas verzagt. Der Tumor saß ja in der Sehrinde, bekomme ich erläutert, es wird sich sicher mit der Zeit bessern. „Werde ich wieder so sehen können wie vorher?“, schiebe ich noch leise hinterher, und möchte so gerne ein optimistisches Ja hören. Das bekomme ich natürlich nicht. Mehrmals habe ich schon versucht, eine definitive Antwort zu bekommen. Aber niemand legt sich fest, alle bleiben vage. Ich höre immer wieder: Abwarten und Üben in der Reha. All die ausweichenden Antworten machen mir Angst. Sie klingen nicht sehr zuversichtlich.