Im Auge des Betrachters - Damion Searls - E-Book

Im Auge des Betrachters E-Book

Damion Searls

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Beschreibung

»Ein anregendes und vielseitiges Buch, in dem Wissenschafts- und Zeitgeschichte zusammenfließen.« (Manuela Lenzen, FAZ ) Damion Searls faszinierende Mischung aus Biografie und Kulturgeschichte, basierend auf unveröffentlichten Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und einen Fundus von bisher nicht bekannten Interviews mit Familie, Freunden und Kollegen, erzählt zum ersten Mal die Geschichte Hermann Rorschachs und seines emblematischen Tests.

Rorschach, ein Schüler C.G. Jungs, arbeitet in einer abgelegenen Klinik in den Schweizer Bergen als Psychiater, ist aber auch interessiert an den aktuellen künstlerischen Bewegungen seiner Zeit. Er ist davon überzeugt, was uns ausmacht, ist weniger, was wir sagen, sondern was wir sehen. 1917 entwickelt er, basierend auf dieser Annahme einen Test: einen Satz von zehn sorgfältig gestalteten Tintenklecksbildern, um die Persönlichkeit des Betrachters auszuloten.

Rorschach starb im Alter von nur 37 Jahren – den weltweiten Siegeszug seines Tests hat er nicht mehr erlebt. Nach Pearl Harbour wurde der Rorschach-Test als Eignungstest für die US-Army eingeführt, in den Nürnberger Prozessen ebenso angewandt wie im Dschungel von Vietnam. Nicht unumstritten wird er bis heute in vielen Ländern eingesetzt. Auch kulturell hat der Test seine Spuren hinterlassen: Ob Werbung, Hollywoodfilm oder Andy Warhol – an dem ikonenhaften Test kam niemand vorbei.

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Seitenzahl: 782

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Zum Buch

1917 arbeitete Hermann Rorschach, ein Schüler C.G. Jungs, in einer abgelegenen Klinik in den Schweizer Bergen als Psychiater, war aber auch interessiert an den aktuellen künstlerischen Strömungen seiner Zeit. Er war davon überzeugt, was uns ausmacht, ist weniger, was wir sagen, sondern vielmehr, was wir sehen. Ausgehend von dieser Annahme entwickelte einen wegweisenden Test: einen Satz von zehn sorgfältig gestalteten Tintenklecksbildern, um die Persönlichkeit des Betrachters auszuloten.

Rorschach starb im Alter von nur 37 Jahren – den weltweiten Siegeszug seines Tests hat er nicht mehr erlebt. Nach Pearl Harbour wurde der Rorschach-Test als Eignungstest für die US-Army eingeführt, in den Nürnberger Prozessen ebenso angewandt wie im Dschungel von Vietnam. Nicht unumstritten wird er bis heute in vielen Ländern eingesetzt. Auch kulturell hat der Test seine Spuren hinterlassen: Ob Werbung, Hollywoodfilm oder Andy Warhol – an dem ikonenhaften Rorschachtest kam niemand vorbei.

Damion Searls faszinierende Mischung aus Biografie und Kulturgeschichte, basierend auf unveröffentlichten Briefen, Tagebuchaufzeichnungen und einem Fundus von bisher nicht bekannten Interviews mit Familie, Freunden und Kollegen, erzählt zum ersten Mal die Geschichte Hermann Rorschachs und seines emblematischen Tests.

Zum Autor

DAMION SEARLS ist Schriftsteller, Essayist und literarischer Übersetzer. Zu den von ihm ins Englische übertragenen Autoren zählen Rainer Maria Rilke, Marcel Proust, Uwe Johnson und fünf Nobelpreisträger. Ausgezeichnet mit: Guggenheim Fellowship, National Endowment of the Arts Fellowship und Cullman Center Fellowship.

Damion Searls

Im Auge des Betrachters

Hermann Rorschach undsein berühmter Test

Aus dem Amerikanischen von Harald Stadler

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »The Inkblots« bei Crown Publishers, an imprint of the Crown Publishing Group a divison of Penguin Random House LLC, New York. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2017 by Damion Searls

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019

by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: © getty images/beemore

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-22081-5 V003 www.btb-verlag.de

Wundervoll, wie wenig es braucht, damit die »höhere Seele« alles leiste, was sie von sich erwartet; dass sie alle in ihr aufgestauten Kräfte aufbiete, um sie selber zu sein; … Ein paar Tropfen Tinte und ein Blatt Papier – Materials genug, die Reihung und Beiordnung von Momenten und Vorgängen ermöglichen – reichen dazu hin …

– Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas

In der Ewigkeit ist alles Sehen.

– William Blake, Laocoon

Inhalt

ANMERKUNG DES AUTORS

EINLEITUNG – Kaffeesatzleserei

KAPITEL 1 – Alles wird Leben und Bewegung

KAPITEL 2 – Klex

KAPITEL 3 – Ich will Menschen lesen

KAPITEL 4 – Ungewöhnliche Entdeckungen und rivalisierende Schulen

KAPITEL 5 – Ein ganz eigener Weg

KAPITEL 6 – Kleine Tintenkleckse voller Formen

KAPITEL 7 – Hermann Rorschach fühlt, wie ihm das Hirn in Schnitte zerlegt wird

KAPITEL 8 – Das verzwickteste und dunkelste Wahnleben

KAPITEL 9 – So rundgeschliffen wie Kiesel im Flussbett

KAPITEL 10 – Ein sehr einfaches Experiment

KAPITEL 11 – Überall Interesse und Kopfschütteln

KAPITEL 12 – Die Psychologie, die er sieht, ist seine Psychologie

KAPITEL 13 – Das Versprechen einer glänzenden Zukunft

KAPITEL 14 – Der Rorschachtest erreicht Amerika

KAPITEL 15 – Faszinierend, umwerfend, kreativ, dominant

KAPITEL 16 – Die Königin aller Tests

KAPITEL 17 – Von Symbolwert wie das Stethoskop

KAPITEL 18 – Der Rorschachtest an Nazigrößen

KAPITEL 19 – Die Bilderkrise des Kalten Krieges

KAPITEL 20 – Das vereinheitlichte System

KAPITEL 21 – Jeder sieht etwas anderes

KAPITEL 22 – Jenseits von Richtig oder Falsch

KAPITEL 23 – Ausblick

KAPITEL 24 – Der Rorschachtest ist kein Rorschachtest

ANHANG

Die Familie Rorschach, 1922–2010

Die Wesensart von Hermann Rorschach

Dank

Bildteil

Abbildungsnachweis

Anmerkungen

Namensregister

Ortsregister

ANMERKUNG DES AUTORS

Beim Rorschachtest kommen lediglich zehn Tintenkleckse zum Einsatz, die ursprünglich von Hermann Rorschach gefertigt und später auf Papptafeln nachgedruckt wurden. Unabhängig davon, was diese Bilder sonst noch sein mögen, sind es wohl die zehn am häufigsten interpretierten und analysierten Abbildungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Millionen Menschen wurden die echten Tafeln vorgelegt; die meisten von uns haben Varianten der Tintenkleckse in der Werbung, in der Mode oder in der Kunst gesehen. Die Kleckse sind allgegenwärtig – und gleichzeitig ein wohlgehütetes Geheimnis.

Der Ethik-Kodex des Amerikanischen Psychologenverbands schreibt vor, dass Psychologen ihre Testmaterialien »unter Verschluss« halten. Viele Psychologen, die den Rorschachtest einsetzen, sind der Meinung, der Test werde unwirksam, wenn man die Bilder zugänglich mache, und man schade der Allgemeinheit sogar, indem man sie eines wertvollen diagnostischen Verfahrens beraube. Die meisten Rorschachkleckse, die wir im Alltag sehen, sind Nachahmungen oder Neugestaltungen, die aus Rücksicht auf die Psychologen angefertigt wurden. Selbst in wissenschaftlichen Aufsätzen oder in Ausstellungen werden die Kleckse normalerweise nur umrisshaft, verschwommen oder verändert dargestellt, um einzelne Aspekte der Bilder sichtbar zu machen, aber nicht alles.

Der Verleger dieses Buchs und ich mussten entscheiden, ob wir die Originalkleckse abbilden wollen oder nicht. Die Frage war, welche Auswahl den klinischen Psychologen, potenziellen Patienten und den Lesern am ehesten gerecht werden würde. In Bezug auf fast alles, was mit dem Test zu tun hat, herrscht unter Rorschachforschern keine klare Übereinstimmung, aber in der Anleitung zum modernsten Rorschachtestverfahren, das heutzutage verwendet wird, heißt es, »eine Auswertung wird nicht beeinträchtigt, nur weil ein Proband die Tintenkleckse schon einmal gesehen hat«.1 Die Frage ist ohnehin weitgehend irrelevant, seitdem die Bilder nicht mehr urheberrechtlich geschützt sind und im Internet kursieren. Sie sind inzwischen leicht zugänglich – eine Tatsache, die viele der Psychologen, die gegen eine Veröffentlichung der Bilder sind, anscheinend ignorieren. Wir entschieden schließlich, einige der Tintenkleckse in diesem Buch abzubilden, aber nicht alle.

Es gilt indes zu betonen, dass es nicht dasselbe ist, ob man die im Internet – oder hier – reproduzierten Bilder ansieht oder den eigentlichen Test durchläuft. Die Größe der Tafeln spielt eine Rolle (ungefähr 25 mal 16,5 Zentimeter), die weißen Stellen, das Querformat und die Möglichkeit, sie in der Hand zu halten und zu drehen. Und auch die situativen Umstände zählen. Es ist eine ganz andere Erfahrung, einen echten Test zu machen und die Antworten laut auszusprechen gegenüber jemandem, dem man vertraut oder auch nicht. Schließlich ist der Test viel zu subtil und zu fachspezifisch, um ihn ohne umfassende Schulung auszuwerten. Es gibt keinen Rorschachtest zum Selbermachen, und man kann den Test auch nicht an Freunden ausprobieren, ganz abgesehen von dem ethischen Problem, dass man in deren Persönlichkeit möglicherweise Seiten entdeckt, die sie vielleicht gar nicht preisgeben möchten.

Es war schon immer verlockend, die Tintenkleckse als Gesellschaftsspiel herzunehmen. Aber jeder Kenner des Tests seit Rorschach selbst hat deutlich zu verstehen gegeben, dass es sich um kein Spiel handelt. Und auch umgekehrt gilt, dass die Spielversionen im Internet oder in anderer Form nicht mit dem Test gleichzusetzen sind. Man kann sich selbst ein Bild davon machen, wie die Tintenkleckse aussehen, aber auf sich allein gestellt bekommt man kein Gespür dafür, wie sie funktionieren.

EINLEITUNG Kaffeesatzleserei

Victor Norris hatte bei der Bewerbung um eine Stelle in der Kinderbetreuung die letzte Runde erreicht, aber weil er in Amerika an der Wende zum einundzwanzigsten Jahrhundert lebte, musste er sich noch einer psychologischen Beurteilung unterziehen. An zwei langen Novembernachmittagen verbrachte er acht Stunden in der Praxis von Caroline Hill, einer psychologischen Gutachterin in Chicago.1

Norris hatte in den Bewerbungsgesprächen einen sehr guten Eindruck gemacht; er wirkte charmant und freundlich und hatte einen soliden Lebenslauf und makellose Empfehlungen vorzuweisen. Hill fand ihn sympathisch. Seine Ergebnisse bei den kognitiven Tests, die sie mit ihm durchführte, lagen im mittleren bis oberen Bereich, sein Intelligenzquotient lag sogar weit über dem Durchschnitt. Bei dem in Amerika am häufigsten eingesetzten Persönlichkeitstest, dem sogenannten Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI), der aus 567 Ja-Nein-Fragen besteht, zeigte er sich kooperativ und gut gelaunt. Auch hier waren die Ergebnisse unauffällig.

Dann zeigte Hill ihm eine Reihe von Bildern ohne Titel und erklärende Texte und forderte ihn auf, ihr zu schildern, was auf jedem einzelnen der Bilder vor sich ging – eine weitere Standardbegutachtung namens Thematic Apperception Test (TAT). Hier lieferte Norris Antworten, die wenig naheliegend erschienen, aber immer noch unverfänglich waren. Seine Geschichten klangen gefällig und enthielten keine unangemessenen Gedanken, und es bereitete Norris keinerlei Unbehagen, sich zu den Bildern zu äußern.

Als am Ende des zweiten Nachmittags die für Chicago typische frühe Dämmerung einsetzte, bat die Psychologin Norris, sich auf einen niedrigen Sessel neben der Couch in ihrer Praxis zu setzen. Sie nahm ihm gegenüber Platz, legte einen großen Notizblock bereit und holte einen dicken Ordner hervor, aus dem sie ihm nacheinander zehn Papptafeln reichte, auf denen jeweils ein symmetrischer Farbklecks abgebildet war. Jedes Mal, wenn sie ihm eine Tafel gab, fragte sie: »Was könnte das sein?« oder »Was sehen Sie?«

Fünf der Abbildungen waren schwarzweiß, zwei wiesen auch rote Formen auf und drei waren mehrfarbig. Bei diesem Test sollte Norris keine Geschichte zu den Bildern erzählen und auch nicht schildern, was er empfand, sondern einfach sagen, was er sah. Es gab kein Zeitlimit und keine Anweisungen dazu, wie viele Antworten er geben sollte. Hill hielt sich so weit wie möglich heraus und ließ Norris nicht nur offenlegen, was er in den Tintenklecksen sah, sondern auch, wie er an die Aufgabe heranging. Er durfte jede Tafel in die Hand nehmen, sie drehen, sie auf Armeslänge entfernt oder dicht vor die Augen halten. Alle Fragen, die er stellte, wurden abgewiegelt.2

Kann ich sie drehen?

Das bleibt Ihnen überlassen.

Soll ich alles einbeziehen?

Wie Sie wollen. Jeder sieht etwas anderes.

Ist das die richtige Antwort?

Es gibt alle möglichen Antworten.

Nachdem sich Norris zu allen zehn Tafeln geäußert hatte, machte Hill einen zweiten Durchgang. »Ich werde Ihnen nun vorlesen, was Sie gesagt haben, und Sie zeigen mir bitte, wo Sie das Entsprechende gesehen haben.«

Norris’ Antworten waren erschütternd. Er schilderte detaillierte, brutale Sexszenen mit Kindern; einzelne Teile der Tintenkleckse sah er als weibliche Formen an, die malträtiert oder zerstört wurden. Hill entließ ihn höflich. Norris verabschiedete sich mit einem festen Händedruck und einem Lächeln; er blickte der Psychologin direkt in die Augen. Dann wandte sich Hill dem Notizblock zu, auf dem sie seine Antworten aufgezeichnet hatte. Sie ordnete Norris’ Reaktionen systematisch verschiedenen Codes der Standardmethode zu und teilte seine Antworten anhand der langen Listen in der Testanleitung als typisch oder ungewöhnlich ein. Dann berechnete sie die Formeln, die all diese Ergebnisse in psychologische Beurteilungen übersetzten: dominanter Persönlichkeitsstil, Index für Egozentrik, Index für Flexibilität des Denkens, Suizid-Konstellation usw. Wie Hill erwartet hatte, ergaben ihre Berechnungen, dass Norris’ Testwerte genauso extrem ausfielen wie seine Antworten.

Der Rorschachtest hatte Norris auf jeden Fall dazu gebracht, eine Seite von sich zu offenbaren, die er sonst nicht sichtbar werden ließ. Er war sich vollkommen bewusst, dass er sich einer Beurteilung unterzog, um eine Stelle zu bekommen. Er wusste, wie er in den Bewerbungsgesprächen wirken wollte und welche nichtssagenden Antworten er bei den übrigen Tests geben musste. Beim Rorschachtest war seine Fassade jedoch gebröckelt. Noch enthüllender als die spezifischen Dinge, die er in den Tintenklecksen gesehen hatte, war die Tatsache, dass er diese freimütig geäußert hatte.

Genau aus diesem Grund hatte Hill den Rorschachtest verwendet. Er stellt eine spezielle und ergebnisoffene Aufgabe dar, denn es ist keineswegs klar, was die Tintenkleckse darstellen, beziehungsweise wie man auf sie reagieren soll. Ganz entscheidend ist, dass es sich um eine visuelle Aufgabe handelt, die mögliche Abwehrmechanismen und bewusste Strategien der Selbstdarstellung aushebelt. Man kann sehr gut steuern, was man sagen will, aber man kann nicht steuern, was man sehen will. Victor Norris konnte nicht einmal steuern, was er über das äußern wollte, was er gesehen hatte. In dieser Hinsicht war sein Verhalten typisch. Hill hatte bereits im Studium eine Faustregel gelernt, die sie in der Praxis wiederholt bestätigt sah: Eine gestörte Persönlichkeit kann sich bei einem IQ-Test und beim MMPI häufig zusammenreißen oder auch beim TAT gut abschneiden, ist aber aufgeschmissen, wenn sie mit den Tintenklecksen konfrontiert wird. Wenn jemand vortäuscht, gesund oder krank zu sein, oder andere Aspekte seiner Persönlichkeit bewusst oder unbewusst unterdrückt, ist der Rorschachtest vielleicht das einzige Beurteilungsinstrument, bei dem die Warnlampe aufleuchtet.

Hill erwähnte in ihrem Bericht nicht, dass Norris ein Kinderschänder sei oder sein könnte – das lässt sich mit keinem psychologischen Test nachweisen. Sie zog allerdings die Schlussfolgerung, dass Norris’ »Bezug zur Realität extrem anfällig« sei. Sie konnte ihn nicht für eine Stelle empfehlen, in der er mit Kindern arbeitete, und riet dem Arbeitgeber, ihn nicht einzustellen. Und er wurde auch nicht übernommen.

Norris’ beunruhigende Ergebnisse und der Widerspruch zwischen seiner charmanten Oberfläche und der verborgenen dunklen Seite prägten sich Caroline Hill tief ein. Elf Jahre nach dieser Begutachtung erhielt sie einen Anruf von einem Therapeuten, der mit einem Patienten namens Victor Norris arbeitete und ihr ein paar Fragen stellen wollte. Der Therapeut musste den Namen des Patienten nicht zweimal sagen. Hill durfte zwar keine Einzelheiten über Norris’ Testergebnisse mitteilen, aber sie legte die wichtigsten Erkenntnisse dar. Der Therapeut staunte. »Das haben Sie mit dem Rorschachtest herausgefunden? Ich brauchte zwei Jahre, um an diese Sachen ranzukommen! Ich dachte, der Rorschachtest sei Kaffeesatzleserei!«

TROTZ JAHRZEHNTELANGER KONTROVERSEN ist der Rorschachtest heutzutage bei Gericht zulässig, er wird von Krankenkassen erstattet und weltweit bei Evaluationen im Arbeitsleben, Sorgerechtsverfahren und in psychiatrischen Kliniken eingesetzt. Die Befürworter des Tests sehen in diesen zehn Tintenklecksen ein wunderbar sensibles und akkurates Instrument, das anzeigt, wie die Psyche funktioniert, und verschiedenste Geisteszustände offenbart, darunter auch latente Probleme, die durch andere Tests oder direkte Beobachtung nicht nachweisbar sind. Die Kritiker des Tests, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psychologenschaft, halten die fortgesetzte Anwendung für einen Skandal – ein peinliches Überbleibsel einer Pseudowissenschaft, das schon vor Jahren zusammen mit Wahrheitsserum und Urschreitherapie hätte abgeschafft werden sollen. Nach Meinung der Gegner beruht die erstaunliche Kraft des Tests darauf, dass ansonsten vernünftige Menschen durch Gehirnwäsche dazu gebracht werden, an ihn zu glauben.

Teils aufgrund dieses Mangels an Übereinstimmung unter den Fachleuten, aber vor allem aufgrund eines Misstrauens gegenüber psychologischen Tests im Allgemeinen begegnet die breite Öffentlichkeit dem Rorschachtest in der Regel mit Skepsis. Vor kurzem wurde ein Vater beschuldigt, sein Baby zu Tode geschüttelt zu haben; das Gericht entschied schließlich, er sei unschuldig am Tod seines kleinen Sohnes, doch der Mann erklärte, die Beurteilungen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, seien »pervers«, und ganz besonders ärgerte ihn, dass er den Rorschachtest hatte machen müssen. »Ich habe mir Bilder angesehen, abstrakte Kunst, und erzählt, was ich gesehen habe. Ob ich hier einen Schmetterling sehe. Heißt das, ich bin aggressiv und ausfallend? Das ist doch verrückt.« Er beteuerte, dass er »auf die Wissenschaft vertraue«, die er als »grundsätzlich männliche« Weltsicht bezeichnete, doch die Sozialeinrichtung, die ihn beurteilte, neige zu einer »im Grunde weiblichen« Weltsicht, die »Beziehungen und Gefühle bevorzuge«.3 Der Rorschachtest ist in Wirklichkeit weder grundsätzlich weiblich noch eine Übung in Kunstdeutung, doch solche Einstellungen sind typisch. Der Rorschachtest liefert keine konkrete Zahl wie etwa der Intelligenztest oder eine Blutuntersuchung. Dies gilt aber für alle Ansätze zum Begreifen des menschlichen Geistes.

Der ganzheitliche Ansatz des Rorschachtests ist ein Grund, warum er auch außerhalb von Arztpraxen und Gerichtssälen so bekannt ist. Die Sozialversicherung ist laut Bloomberg »ein Rorschachtest«, ebenso der Spielplan der Georgia Bulldogs (Sports Blog Nation) und spanische Aktienrenditen: »eine Art Rorschachtest des Finanzmarkts, bei dem die Analysten genau das sehen, woran sie selbst gerade denken« (Wall Street Journal). Die jüngste Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, die letzte Schießerei, der jüngste Modeskandal eines Promis. »Die umstrittene Amtsenthebung des paraguayischen Präsidenten Fernando Lugo entwickelt sich rasch zu einer Art Rorschachtest der lateinamerikanischen Politik«, bei dem »die Reaktionen auf den Vorfall mehr sagen als der Vorgang selbst«, hieß es in einem Blog der New York Times. Ein Filmkritiker, der nichts für Arthouse-Ambitionen übrighat, bezeichnete Frankreich privat – Die sexuellen Geheimnisse einer Familie als Rorschachtest, bei dem er durchgefallen sei.4

Diese letzte Bemerkung spielt scherzhaft auf das an, was den Rorschachtest in der allgemeinen Vorstellung kennzeichnet: Er gilt als der Test, bei dem man nicht durchfallen kann. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Man kann sehen, was man will. Aus diesem Grund wurde der Test seit den 1960er Jahren zur perfekten Chiffre für eine Kultur, die jeder Autorität misstraut und jede Meinung respektiert. Warum sollte ein Nachrichtenkanal sagen, ob eine Amtsenthebung oder ein Haushaltsentwurf gut oder schlecht ist und damit riskieren, die Hälfte seiner Leser oder Zuschauer zu verprellen? Die einfachste Lösung ist die, von einem Rorschachtest zu sprechen.

Die zugrundeliegende Botschaft ist stets dieselbe: Du hast ein Recht auf eine eigene Meinung, ganz unabhängig von den Fakten; was zählt, ist deine Reaktion, egal ob sich diese in einem Like, in einer Stimmabgabe oder einer Kaufentscheidung äußert. Diese Metapher für Deutungsfreiheit existiert in einer Art Alternativuniversum zum tatsächlichen Test, der konkreten Patienten, Angeklagten oder Bewerbern von echten Psychologen vorgelegt wird. In diesen Situationen gibt es durchaus richtige und falsche Antworten.

Der Rorschachtest eignet sich nicht nur als Metapher, die Tintenkleckse sehen auch einfach gut aus. Sie sind in Mode, und zwar aus Gründen, die nichts mit Psychologie oder Journalismus zu tun haben – vielleicht liegt es an dem Modezyklus von sechzig Jahren und dem jetzt fälligen Revival nach dem letzten Ausbruch von Rorschachfieber in den 1950er Jahren, vielleicht liegt es an einer Vorliebe für kräftige Schwarzweiß-Muster, die gut zu modernen Möbeln passen. Vor ein paar Jahren schmückte das New Yorker Modehaus Bergdorf Goodman seine Schaufenster an der Fifth Avenue mit Rorschachmustern. T-Shirts im Rorschachstil waren unlängst bei Saks im Angebot, für stolze 98 Dollar. »Meine Strategie«, proklamierte eine ganzseitige Splash Page auf InStyle: »In dieser Saison fahre ich total auf Kleider und Accessoires ab, die eine gewisse Symmetrie aufweisen. Meine Inspiration: Die Muster der Rorschach-Tintenkleckse sind faszinierend.« Die amerikanische Horror-Serie Hemlock Grove, die Science-Fiction-Serie Orphan Black und die in einem Tattoo-Studio in Harlem angesiedelte Reality-Show Black Ink Crew flimmerten mit Rorschach-artigen Vorspannsequenzen über den Bildschirm. Das Video der allerersten Single, die es je aus dem Internethandel in die Topcharts schaffte und vom Musikmagazin Rolling Stone zum Nummer 1 Best Song der 2000er Jahre gekürt wurde, Gnarls Barkleys »Crazy«, zeigt hypnotisierende Trickbilder mit sich verwandelnden Flecken in Schwarzweiß. Tassen und Teller, Schürzen und Partyspiele mit Rorschachmustern sind inzwischen überall erhältlich.

Schaufenster von Bergdorf Goodman, Fifth Avenue, New York, Frühjahr 2011

Die meisten dieser Muster sind Nachahmungen der ursprünglichen Tintenkleckse, doch auch die zehn Originale, die auf ihren einhundertsten Geburtstag zusteuern, haben weiterhin Bestand. Sie erfüllen die Bedingungen der »Raumrhythmik«, wie Hermann Rorschach es nannte, die den Klecksen das »Bildhafte« verleiht.5 Geschaffen wurden sie an einer der Geburtsstätten der modernen abstrakten Kunst, doch ihre Vorläufer reichen zurück in die Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts, die sowohl die neuzeitliche Psychologie als auch die Abstraktion hervorbrachten, und ihr Einfluss zeigt sich in der Kunst und im Design des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts bis hinein ins einundzwanzigste.

Mit anderen Worten: Drei verschiedene historische Stränge vereinen sich in der Geschichte des Rorschachtests.

Den ersten Strang markieren das Aufkommen, der Niedergang und die Neuerfindung psychologischer Testverfahren mit all ihren nützlichen und missbräuchlichen Anwendungen. Spezialisten unterschiedlichster Fachgebiete – Anthropologie, Erziehungswissenschaft, Wirtschaft, Recht und Militär – haben seit langem versucht, die Rätsel des menschlichen Geistes zu entschlüsseln. Der Rorschachtest ist nicht der einzige Persönlichkeitstest, aber jahrzehntelang galt er als der ultimative Test; er stand für den Psychologen wie das Stethoskop für den Allgemeinmediziner. Seit seiner Erfindung steht die Art und Weise, wie Psychologen den Rorschachtest einsetzen, sinnbildlich für das, was die Gesellschaft insgesamt von der Psychologie erwartet.

Den zweiten Strang bilden Kunst und Design, von der surrealistischen Malerei bis zum Video »Crazy« und dem Rapper Jay-Z, der den Einband seiner Memoiren mit einem goldenen Rorschach-Klecksbild von Andy Warhol schmückte. Diese visuelle Geschichte scheint keinerlei Bezug zur medizinischen Diagnostik zu haben – die T-Shirts von Saks haben nicht viel Psychologisches –, doch die zur Ikone gewordene Optik ist vom realen Test nicht zu trennen. Die Agentur, die für »Crazy« ein Video im Rorschach-Look vorschlug, bekam den Auftrag, weil der Sänger CeeLo Green sich daran erinnerte, dass er als Problemkind den Test durchlaufen musste.6 Der Rorschachtest ist so kontrovers, weil er so prominent ist. Es ist unmöglich, eine feste und klare Linie zwischen der psychologischen Beurteilung und dem Stellenwert der Tintenkleckse in der Kultur zu ziehen.

Und schließlich haben wir es mit der Kulturgeschichte zu tun, die all jene metaphorischen »Rorschachtests« in den Nachrichten hervorgebracht hat: das Aufkommen einer individualistischen Persönlichkeitskultur zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts; ein verbreitetes Misstrauen gegenüber Autoritäten seit den 1960er Jahren; eine eigensinnige Polarisierung in unserer heutigen Zeit, in der selbst Fakten vom Auge des Betrachters abhängig zu sein scheinen. Rorschachs zehn Kleckse haben einen Großteil unserer Geschichte begleitet beziehungsweise vorweggenommen – von den Nürnberger Prozessen bis zu den Urwäldern Vietnams, von Hollywood bis Google, von dem auf Gemeinschaft begründeten Sozialgefüge des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Kontaktgier im gesellschaftlich fragmentierten einundzwanzigsten Jahrhundert. Wenn wieder irgendein Journalist etwas als »Rorschachtest« bezeichnet, mag dies einfach ein griffiges Klischee sein, genauso wie es für Künstler und Designer ganz selbstverständlich ist, zu auffälligen symmetrischen Schwarzweißmustern zu greifen. Kein einziges Beispiel der Rorschachmuster im Alltagsleben verlangt nach einer Erklärung, ihre andauernde Präsenz in unserer kollektiven Phantasie indes schon.

Jahrelang wurde der Test als Röntgen-Durchleuchtung der Seele hochgejubelt. Dies ist nicht sein Zweck, und er war auch ursprünglich nicht dafür gedacht, doch er gewährt einen einzigartig aufschlussreichen Einblick in die Art und Weise, wie wir unsere Welt verstehen.

ALL DIESE STRÄNGE – Psychologie, Kunst und Kulturgeschichte – führen zurück zum Erfinder der Tintenkleckse. Die Methode und die Persönlichkeit des Urhebers waren eng verwoben, schrieb der Herausgeber im Vorwort der Psychodiagnostik,7 mit der die Tintenkleckse 1921 bekannt wurden. Es war ein junger schweizerischer Psychiater und Amateurkünstler, der an einem Kinderspiel herumbastelte und es im Alleingang schaffte, nicht nur einen ungeheuer einflussreichen psychologischen Test zu entwickeln, sondern auch einen visuellen und kulturellen Meilenstein.

Hermann Rorschach wurde 1884 geboren. Er war »ein großer, schlanker, blonder Mann mit lebhaften Bewegungen und Gesten und ausdrucksvollen, lebendigen Gesichtszügen«.8 (Siehe Fotos im Bildteil.) Wenn Sie denken, er sieht wie Brad Pitt aus, vielleicht mit ein paar Anklängen an Robert Redford, sind Sie nicht der Erste. Auch seine Patienten verguckten sich in ihn. Er war offenherzig und sympathisch, begabt, aber bescheiden und wirkte höchst stattlich in seinem weißen Arztkittel. Sein kurzes Leben war erfüllt von Entdeckergeist, Passion und Tragik.

Um ihn herum brach die Moderne hervor – aus dem Europa des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution und auch aus der Geisteswelt selbst. Während Rorschachs Tätigkeit in der Schweiz entwickelte Albert Einstein die moderne Physik, schuf Wladimir Lenin zusammen mit der Arbeiterbewegung in schweizerischen Uhrenfabriken den modernen Kommunismus. Lenins Nachbarn in Zürich, die Dadaisten, entwickelten die moderne Kunst, Le Corbusier die moderne Architektur und Rudolf von Laban den modernen Tanz. Rainer Maria Rilke vollendete seine Duineser Elegien, Rudolf Steiner gründete die Waldorfschulen, der Maler Johannes Itten teilte Farben nach Jahreszeiten ein (»Sind Sie ein Frühlings- oder ein Wintertyp?«). In der Psychiatrie schufen Carl Gustav Jung und seine Kollegen den modernen psychologischen Test. C. G. Jungs und Sigmund Freuds Erkundungen des Unbewussten rangen um die Vorherrschaft sowohl unter einer wohlhabenden neurotischen Klientel als auch in der harten Realität schweizerischer Kliniken, die weit über ihre Kapazitäten belegt waren.

All diese Revolutionen kreuzten Hermann Rorschachs Leben und Laufbahn, doch obwohl es Zehntausende Studien über seinen Test gibt, wurde bislang keine einzige umfassende Biographie über Rorschach geschrieben. Ein Psychiater und Medizinhistoriker namens Henri Ellenberger veröffentlichte 1954 eine vierzig Seiten lange biographische Skizze, die nur dürftig mit Quellen belegt ist, und diese diente seither als Grundlage für fast alle Begriffe, mit denen Rorschach beschrieben wurde: als bahnbrechendes Genie, stümperhafter Dilettant, größenwahnsinniger Visionär, verantwortungsvoller Wissenschaftler und so gut wie alles dazwischen. Seit Jahrzehnten wurde über Rorschachs Leben allenfalls spekuliert; man konnte darin sehen, was man wollte.

Die wahre Geschichte verdient es, erzählt zu werden, nicht nur weil sie dazu beiträgt, die fortwährende Bedeutung des Tests allen Kontroversen zum Trotz zu erklären. Rorschach hat die meisten Debatten selbst vorhergesehen. Diese Doppelbiographie des Arztes und seiner Tintenkleckse beginnt in der Schweiz, umspannt aber den gesamten Globus und reicht bis zum Kern dessen, was wir unaufhörlich tun, wenn wir sehen und wahrnehmen.

KAPITEL 1 Alles wird Leben und Bewegung

An einem Dezembermorgen des Jahres 1910 wachte Hermann Rorschach früh auf. Der Sechsundzwanzigjährige ging durch das kalte Schlafzimmer, zog den Vorhang auf und ließ das fahle Licht herein, das vor dem späten winterlichen Sonnenaufgang schien – nicht so grell, um seine Frau zu wecken, aber hell genug, um ihr Gesicht und das dichte schwarze Haar über dem Saum der Daunendecke erkennen zu lassen. In der Nacht hatte es geschneit, wie Rorschach erwartet hatte. Der Bodensee lag seit Wochen in tiefem Grau. Das Blau des Wassers war Monate entfernt, aber auch so war die Welt schön. Am Seeufer und auf dem kleinen Weg vor der aufgeräumten Zweizimmerwohnung war kein Mensch zu sehen. Die Szenerie war nicht nur jeder menschlichen Bewegung beraubt, sondern auch jeglicher Farbe; die Landschaft wirkte wie auf einer Groschenpostkarte in Schwarzweiß.1

Rorschach zündete seine erste Zigarette an, setzte Kaffee auf, zog sich an und schlich leise hinaus, während Olga noch schlief. In der Klinik ging es in dieser Woche geschäftiger zu als sonst, denn Weihnachten stand vor der Tür. Nur drei Ärzte standen den vierhundert Patienten zur Verfügung, und so mussten sich Rorschach und seine Kollegen um alles gleichzeitig kümmern: Mitarbeiterbesprechungen, zweimal täglich Patientenvisite und das Organisieren von Sonderveranstaltungen. Trotzdem genoss Rorschach den einsamen morgendlichen Spaziergang über das Klinikgelände. Das Notizbuch, das er stets bei sich hatte, blieb in seiner Tasche. Es war kalt, aber nichts im Vergleich mit der Weihnachtszeit, die er vier Jahre zuvor in Moskau erlebt hatte.

In diesem Jahr freute sich Rorschach besonders auf die bevorstehenden Feiertage: Er und Olga waren wieder vereint; zum ersten Mal würden sie als Ehepaar einen gemeinsamen Weihnachtsbaum haben. Die Feier in der Klinik war für den dreiundzwanzigsten Dezember geplant; am vierundzwanzigsten wollten die Ärzte einen kleinen Baum mit Kerzen von einem Gebäude zum anderen tragen, für jene Patienten, die nicht an der gemeinsamen Feier teilnehmen konnten. Am fünfundzwanzigsten hatte Rorschach dann Gelegenheit, die Stiefmutter im Haus seiner Kindheit zu besuchen. Dies versuchte er vorerst auszublenden.

Weihnachten in der Anstalt bedeutete dreimal in der Woche gemeinschaftliches Singen sowie Tanzstunden mit einem Pfleger, der Gitarre, Mundharmonika und mit dem Fuß Triangel spielte, alles gleichzeitig. Rorschach tanzte nicht gern, aber für Olga opferte er sich und nahm Unterricht. Eine weihnachtliche Pflicht bereitete ihm wirklich Vergnügen: die Bühnenspiele zu leiten. In diesem Jahr wurden drei Stücke aufgeführt, darunter eines mit projizierten Bildern – Fotografien von Landschaften und Menschen aus der Klinik. Es war sicher eine Überraschung, wenn die Patienten auf der Leinwand plötzlich Gesichter sahen, die sie kannten, überlebensgroß.

Viele der Patienten waren nicht imstande, ihren Angehörigen für die Weihnachtsgeschenke zu danken, und so schrieb Rorschach kleine Mitteilungen in ihrem Namen, bisweilen fünfzehn am Tag. Insgesamt aber genossen seine Patienten die Feiertage, soweit ihre gestörte Psyche dies zuließ. Rorschachs Doktorvater erzählte gern die Geschichte einer Patientin, die als so widerspenstig und gefährlich galt, dass sie jahrelang in einer Zelle eingesperrt blieb. Ihre Aggression war angesichts der restriktiven Atmosphäre der Klinik verständlich. Als man sie zu einer Weihnachtsfeier holte, benahm sie sich jedoch vorbildlich und sagte die Gedichte auf, die sie speziell für den Berchtoldstag, den 2. Januar, auswendig gelernt hatte. Zwei Wochen später wurde sie entlassen.

Rorschach versuchte, in der Klinik die Konzepte seines Lehrers anzuwenden. Er machte Fotos seiner Patienten, nicht nur für sich selbst und für die Patientenakten, sondern weil die Menschen gern vor der Kamera posierten. Er gab ihnen Zubehör zum Zeichnen und Basteln: Papier und Bleistifte, Pappmaché und Modelliermasse.

Während unter seinen Füßen der Schnee auf dem Klinikgelände knirschte, dachte er über neue Möglichkeiten nach, seinen Patienten Freude zu bereiten. Dabei kamen ihm natürlich die Feiertage seiner eigenen Kindheit und die Spiele, mit denen er sich damals vergnügt hatte, in den Sinn: Schlittenrennen, Schnitzeljagd, Verstecken und das Spiel, bei dem man etwas Tinte auf ein Blatt Papier schüttete, dieses in der Mitte faltete und sah, was dabei herauskam.

GEBOREN WURDE HERMANN Rorschach im November 1884, einem lichtbringenden Jahr. Die Freiheitsstatue mit dem offiziellen Namen »Freiheit erleuchtet die Welt« wurde am amerikanischen Unabhängigkeitstag dem US-Botschafter in Paris präsentiert. Temeswar in Österreich-Ungarn wurde als erste Stadt auf dem europäischen Kontinent mit elektrischer Straßenbeleuchtung ausgestattet, kurz nachdem diese im englischen Newcastle eingeführt worden war. George Eastman patentierte die erste brauchbare Filmrolle, mit der bald jedermann Bilder machen konnte, indem das Licht selbst eingefangen wurde.

Es gibt wohl kaum eine historische Epoche, von der wir uns heute schwerer ein wirklichkeitsgetreues Bild machen können, als jene Jahre der noch jungen Fotografie und des gerade aufkommenden Films. Vor unserem geistigen Auge erscheint alles steif und wackelig, schwarz und weiß. Die Stadt Zürich, in der Rorschach zur Welt kam, war jedoch eine moderne, dynamische Metropole, die größte in der Schweiz. Der Bahnhof wurde 1871 eingeweiht, die berühmte große Einkaufsstraße entstand 1867, und die Kais entlang der Limmat stammten aus der Mitte des Jahrhunderts. Im November leuchteten in Zürich im herbstlichen Grau große orangefarbene und gelbe Flecken, wenn die Blätter von Eichen, Ulmen und Ahorn im Wind raschelten. Und auch damals lebten die Schweizer unter einem hellblauen Himmel und wanderten über leuchtende Bergalmen, die von dunkelblauem Enzian und silbernem Edelweiß gesprenkelt waren.

Hermann Rorschach kam nicht an dem Ort zur Welt, an dem seine Familie seit Jahrhunderten ansässig gewesen war – in Arbon, einer Stadt am Bodensee, ungefähr achtzig Kilometer weiter östlich. Etwa sieben Kilometer südöstlich von Arbon liegt ebenfalls am Ufer des Bodensees die kleine Stadt Rorschach, aus der die Familie wohl ursprünglich stammte. In Arbon ließ sich der Stammbaum der Familie bis ins Jahr 1437 zurückverfolgen; das dortige Geschlecht der »Roschach« ging sogar bis ins Jahr 496 zurück.2 Dies war durchaus nicht ungewöhnlich an einem Ort, an dem die Menschen über Generationen sesshaft blieben und zugleich Bürger ihrer Stadt, ihres Kantons und ihres Landes waren. Einige Vorfahren waren ein wenig herumgekommen; ein Urgroßonkel, Hans Jakob Roschach (1764–1837), bekannt als »der Lissaboner«, hatte es immerhin bis Portugal geschafft, wo er als Kunsthandwerker arbeitete und vielleicht einige der faszinierenden Muster für die Fliesen entwarf, die in der portugiesischen Hauptstadt überall zu sehen sind. Aber erst Hermanns Eltern waren es, die sich gänzlich von ihrem Heimatort lösten.

Hermanns Vater Ulrich, Sohn eines Webers und später Maler, wurde am 11. April 1853 geboren, zwölf Tage nach einem anderen künftigen Maler, Vincent van Gogh. Ulrich verließ mit fünfzehn Jahren sein Elternhaus, um in Deutschland Kunst zu studieren. Reisen führten ihn bis in die Niederlande. Nach seiner Rückkehr eröffnete er in Arbon ein Atelier und heiratete 1882 eine Frau namens Philippine Wiedenkeller (geboren am 9. Februar 1854), die einer Familie von Schreinern und Schiffern entstammte. Die Wiedenkellers und die Rorschachs waren seit Generationen immer wieder durch Ehen verbunden.

Das erste Kind des Ehepaars, Klara, kam 1883 zur Welt, lebte aber nur sechs Wochen. Vier Monate später starb Philippines Zwillingsschwester. Nach diesen Schicksalsschlägen verkauften die Eheleute das Atelier und zogen nach Zürich, wo sich Ulrich im Herbst 1884 an der Kunstgewerbeschule einschrieb. In der biederen Schweiz war es ungewöhnlich für jemanden wie Ulrich, mit 31 Jahren ohne festes Einkommen in die Metropole zu ziehen, doch er und Philippine setzten wohl alles daran, dass ihr nächstes Kind in einem glücklicheren Umfeld geboren wurde. Hermann erblickte am 8. November um 22 Uhr in der Haldenstraße 278 in Wiedikon das Licht der Welt.3 Ulrich schloss das Studium erfolgreich ab und erhielt eine Anstellung als Kunsterzieher an einer Realschule in Schaffhausen, etwa sechzig Kilometer nördlich von Zürich.4 Als Hermann zwei Jahre alt wurde, hatte sich die Familie an dem Ort, an dem er aufwachsen sollte, dauerhaft eingerichtet.

Schaffhausen ist eine kleine, malerische Stadt mit zahlreichen Bauten und Brunnen aus der Renaissance; sie liegt am Rhein, der bis Basel die nördliche Grenze der Schweiz bildet.5 »An seinen Ufern wechseln Wiesengelände mit Wäldern, deren Bäume sich träumerisch in den dunkelgrünen Fluthen spiegeln«, hieß es in einem Reiseführer aus jener Zeit.6 Hausnummern waren noch nicht durchgängig üblich, und so trugen viele Häuser Namen – Palmzweig, Ritterhaus, Brunnen – und zeigten charakteristische Verzierungen: steinerne Löwen, buntbemalte Fassaden, weit hervorspringende Erker, die wie riesige Kuckucksuhren wirkten, sowie Wasserspeier in Gestalt von Drachen oder Putten.

Die Stadt war keineswegs der Vergangenheit verhaftet. Der Munot, ein eindrucksvoller Festungsbau samt Burggraben aus dem sechzehnten Jahrhundert, der auf einem Rebhügel thronte und einen großartigen Ausblick bot, war im neunzehnten Jahrhundert für den Tourismus erneuert worden. Schaffhausen war an die Eisenbahn angebunden, und ein neues Elektrizitätswerk nutzte die Wasserkraft des Rheins. Der Fluss ergoss sich am Rand der Stadt über eine Felsenschwelle; der Rheinfall ist zwar nicht sonderlich hoch, aber recht breit und zählt zu den drei größten Wasserfällen Europas. Der englische Maler William Turner zeichnete und malte die Kaskade über einen Zeitraum von vierzig Jahren immer wieder, wobei er das Wasser massiv wie ein Gebirge darstellte und die Felsen wiederum in Strudeln von Farbe und Licht auflöste. Mary Shelley schilderte, wie sie auf der untersten Plattform stand, »während die Gischt dicht über uns niederging … nach oben blickend sahen wir Woge und Fels und Wolke und den klaren Himmel durch den funkelnden, unsteten Schleier. Dies war ein ungekannter Anblick, der alles übertraf, was ich je zuvor gesehen hatte«. In einem Reiseführer hieß es: »Wie dunkles Schicksal wälzt sich von oben ein schwerer Wasserberg heran. Er stürzt, und Alles, was Masse war, wird Leben und Bewegung.«7

Nachdem Hermanns Schwester Anna am 10. August 1888 in Schaffhausen geboren wurde, mietete die größer werdende Familie ein Haus am Geissberg, einem steilen Hügel westlich der Stadt, wo am 10. Dezember 1891 der Bruder Paul zur Welt kam. Das Haus war geräumiger, hatte größere Fenster und ein Mansardendach; es glich eher einem französischen Chateau als einem schweizerischen Chalet. Ganz in der Nähe gab es Wälder und Wiesen zu erkunden. Die Kinder des Hausbesitzers wurden Hermanns Spielkameraden. Angeregt durch James Fenimore Coopers Abenteurer Lederstrumpf vertrieben sich Hermann und seine Freunde die Zeit mit Indianerspielen; sie streiften durch die Wälder um eine nahe gelegene Kiesgrube und büxten mit Anna aus, der einzigen »weißen Frau«, die sie hatten.8

Dies war die Kulisse der glücklichsten Erinnerungen der Kinder. In einer großen Muschel, die ein mit dem Vermieter verwandter Missionar von Übersee mitgebracht hatte, hörte Hermann gern das Rauschen des Meeres, das er noch nie gesehen hatte. Für die weißen Mäuse, die er sich als Haustiere hielt, baute er hölzerne Labyrinthe. Als er im Alter von acht oder neun Jahren an Masern erkrankte, schnitt ihm sein Vater aus Seidenpapier entzückende Puppen aus, die Hermann in einer Kiste mit einem Glasdeckel tanzen ließ. Auf Spaziergängen erzählte Ulrich seinen Kindern die Geschichte der herrlichen alten Gebäude und Brunnen der Stadt und erklärte ihnen, was ihre Dekors und Embleme bedeuteten. Er ging mit ihnen auf Schmetterlingsjagd, las ihnen vor und lehrte sie die Namen von Blumen und Bäumen. Paul wuchs zu einem lebhaften, pausbackigen kleinen Jungen heran. Hermann hingegen konnte sich laut einer Cousine in Betrachtungen und Gedanken verlieren – ein Träumer. Er war ein artiger Junge, ruhig wie sein Vater. Die Cousine erzählte dem neunjährigen Hermann Märchen – Hänsel und Gretel, Rapunzel, Rumpelstilzchen.9

Philippine Rorschach, eine warmherzige und zugleich energische Frau, ergötzte ihre Kinder gern mit alten Volksliedern. Sie war eine ausgezeichnete Köchin; Pudding mit Kompott und Sahne gehörte zu den Leibspeisen der Kinder, und jedes Jahr bescherte sie den Kollegen ihres Mannes einen Schweinebraten. Ulrichs Eltern hatten sich immer heftig gestritten; er glaubte, sie hätten einander nie richtig geliebt. Umso wichtiger war ihm, dass seine Kinder in einem liebevollen Elternhaus aufwuchsen, wie er es nie gekannt hatte. Mit Philippine gelang ihm dies. Man konnte Scherze mit ihr machen – etwa einen Knallkörper unter ihren weiten Röcken anzünden, was einmal tatsächlich geschah, wie sich Hermanns Cousine erinnerte –, und sie lachte einfach mit.

Ulrich wurde von seinen Kollegen und Schülern aufrichtig geschätzt. Er hatte einen kleinen Sprachfehler, wahrscheinlich ein Lispeln, das er aber überwinden konnte, wenn er sich bemühte. Dies machte ihn ungewöhnlich zurückhaltend. Doch bei Prüfungen zeigte er sich den Schülern gegenüber großzügig; er gab Hand- und Kopfzeichen und flüsterte ihnen Ermunterungen zu. »Diese Hilfebereitschaft hat sich so tief in meinem Gedächtnis eingeprägt, dass ich diesen bescheidenen Lehrer noch heute wie vor mehr als einem halben Jahrhundert vor mir sehe«, erinnerte sich ein Schüler später. Es kam auch vor, dass Ulrich eine halbe Stunde lang eine Zeichnung eines Schülers korrigierte, die falschen Ansätze des Schülers ausradierte und geduldig Linie für Linie ausführte, »und schließlich lag ein Bild vor mir, das in keinem Punkt von der Vorlage abwich. Dieses Lehrers Gedächtnis für Formen war verblüffend; seine Strichführung durchaus sicher«.10

Obwohl Künstler in der Schweiz nicht an Universitäten studierten und keine geisteswissenschaftliche Ausbildung genossen, war Ulrich ein vielseitig gebildeter und kultivierter Mensch. In seinen Zwanzigern hatte er eine kleine Sammlung von Gedichten veröffentlicht, Feldblumen: Gedichte für Herz und Gemüth, von denen er viele selbst geschrieben hatte.11 Seine Tochter Anna behauptete, er habe sogar Sanskrit beherrscht – ob er diese exotische Sprache nun irgendwie gelernt hatte oder aber nur flunkerte, um seine Kinder zum Narren zu halten, sagt viel über ihn aus.

In seiner Freizeit verfasste er einen hundertseitigen Entwurf einer Formenlehre von Ulr. Rorschach, Zeichenlehrer.12 Dies war keine Sammlung von Unterrichtsnotizen oder Übungsanleitungen für die Mittelschule, sondern ein ausgefeiltes Traktat. Es begann mit Raum und räumlicher Aufteilung sowie Zeit und zeitlichen Unterteilungen. Auf Licht und Farbe folgten die primären Formen, gebildet durch Konzentration, Rotation und Kristallisation. Dann unternahm Ulrich einen orientierenden Streifzug durch das Reich der Form – eine Art dreißigseitige Enzyklopädie der visuellen Welt. Teil II behandelte die Gesetze der Form – Rhythmus, Richtung und Proportion –, die Ulrich überall vorfand, in der Musik und in Blättern, im menschlichen Körper und der griechischen Skulptur, in modernen Turbinen und Armeen. Jeder habe wohl schon oft und mit Freude sein Auge und seine Phantasie auf die sich stets verändernden Formen und Bewegungen der Wolken und des Nebels gerichtet, sinnierte Ulrich. Das Manuskript endete mit einer Erörterung der menschlichen Psyche: Auch unser Bewusstsein, schrieb Ulrich, wird von den Grundgesetzen der Form beherrscht. Das Werk war tiefsinnig und wohldurchdacht, wenn auch nicht von großem praktischem Nutzen.

Nach drei oder vier Jahren in dem Haus am Geissberg zogen die Rorschachs wieder in die Innenstadt, in ein neues Wohngebiet unweit des Munot und näher an der Schule der Kinder. Hermann war geschickt im Schlittschuhlaufen, und es begeisterte ihn, wenn die Kinder ihre Schlitten in einer langen Kette aneinanderbanden und auf den breiten Straßen den Hügel der Festung hinunterfuhren. Ulrich schrieb ein Schauspiel, das auf dem Munot unter Mitwirkung von Anna und Hermann aufgeführt wurde. Ein anderes Mal sollte er für einen Schaffhauser Verein eine neue Flagge entwerfen; die Kinder suchten nach Wildblumen, die ihm als Vorlage dienen konnten. Später bestaunten sie die Flagge mit dem Ornament in den Farben ihrer Mohn- und Kornblumen. Hermann zeigte bereits von klein auf ein Geschick, Landschaften sowie Pflanzen und Menschen zu zeichnen. In seiner Kindheit war er sehr kreativ; er beschäftigte sich mit Holzschnitzerei, Laubsägen und Handarbeit ebenso wie mit Literatur, Theater und Architektur.

Kohlezeichnungen von Ulrich Rorschach (links) und Großvater Hermann (rechts), ca. 1903

Im Sommer 1897, als Hermann zwölf Jahre alt war, erkrankte seine Mutter Philippine an Diabetes. Damals gab es noch keine Insulinbehandlung, und so starb sie nach vier Wochen, in denen sie unter ständigem schrecklichem Durst ans Bett gefesselt war. Die Familie war am Boden zerstört. Diverse Haushälterinnen zogen ein, um auszuhelfen, aber keine passte. Besonders unangenehm fanden die Kinder eine betont fromme Frau, die immer nur missionieren wollte.

An einem Abend kurz vor Weihnachten im Jahr 1898 trat Ulrich ins Spielzimmer der Kinder und teilte ihnen mit, sie würden bald eine neue Mutter haben. Und es würde keine Unbekannte sein, sondern Tante Regina, Hermanns Taufpatin. Ulrich hatte sich entschieden, eine von Philippines jüngeren Halbschwestern zu heiraten. Hermann und Anna hatten gelegentlich die Ferien bei ihr in Arbon verbracht, wo sie einen kleinen Stoffladen betrieb. Sie werde über Weihnachten nach Schaffhausen zu Besuch kommen, sagte Ulrich. Anna fing an zu weinen; der kleine Paul brach in Tränen aus. Der vierzehnjährige Hermann blieb gefasst und versuchte, vernünftig mit seinen Geschwistern zu reden: Sie sollten an den Vater denken, es sei kein Leben für ihn, ohne glückliches Heim, in das er abends zurückkehren könne; natürlich wolle er nicht, dass die Haushälterinnen aus seinen Kindern frömmelnde kleine Heuchler machten. Alles werde gut, erklärte Hermann.

Die Hochzeit fand im April 1899 statt, und binnen Jahresfrist kam ein weiteres Kind zur Welt. Das Mädchen wurde, nach der Mutter, auf den Namen Regina getauft und von allen Regineli genannt. Die Geschwister nahmen ihre Halbschwester herzlich auf und »verbrachten etliche friedliche, schöne, harmonische Monate miteinander«, wie Anna es ausdrückte – »aber leider nur Monate«.

Vielleicht zeigte Ulrich bereits ernstere Symptome als nur sein Lispeln. Den Schülern fiel auf, dass seine Hand zitterte, wenn er den Hut abnahm, und zwar so sehr, dass sie sich darüber lustig machten. Nach Reginelis Geburt fing er an, unter Erschöpfungs- und Schwindelanfällen zu leiden, die als neurologische Erkrankung infolge einer Bleivergiftung aus seiner Zeit als Malergeselle eingestuft wurden.13 Binnen Monaten musste er seine Lehrtätigkeit aufgeben, und die Familie zog ein letztes Mal um, in die Säntisstraße 5, wo Regina einen Laden eröffnete, um für den Unterhalt zu sorgen und sich gleichzeitig um Ulrich kümmern zu können. Hermann begann, Lateinunterricht zu geben, um etwas dazuzuverdienen, und eilte jeden Tag von der Schule nach Hause, um seiner Stiefmutter bei der Betreuung seines Vaters zu helfen.

In seinen letzten Jahren litt Ulrich nur noch unter »unsagbaren Qualen«, wie es in seinem Nachruf hieß: Depressionen, Wahnvorstellungen und bittere, sinnlose Selbstvorwürfe. Als es mit dem Vater zu Ende ging, war Hermann fast ständig an seiner Seite und erkrankte an einer schweren Lungeninfektion, die durch die starke Belastung noch verschlimmert wurde. Als Ulrich am 8. Juni 1903 um vier Uhr früh verstarb, war Hermann zu krank, um an der Beerdigung teilzunehmen. Bestattet wurde der Vater auf dem Friedhof zwischen dem Munot und Hermanns Schule, nur wenige Schritte von ihrem Haus am Ende einer hübschen kleinen Allee entfernt. Ulrich war fünfzig Jahre alt geworden.14 Hermann war achtzehn, seine Geschwister vierzehn, elf und drei. Hilflos die Krankheit und das Sterben seines Vaters mit ansehen zu müssen, weckte in Hermann den Wunsch, Arzt zu werden, und zwar Neurologe. Vorerst war er jedoch Waise, seine Stiefmutter war Witwe ohne Pension und alleinerziehende Mutter von vier Kindern.

Annas Furcht vor einer bösen Stiefmutter erwies sich bald als begründet. Regina war unbeugsam streng. Wie Hermanns Cousine später schilderte, hatte sie nur Arbeit im Kopf und keinerlei Ideale und dachte nur daran, wie sie ihr Leben bestreiten konnte. Sie hatte spät geheiratet, im Alter von 37 Jahren, war dreißig Jahre lang ein Ladenmädchen gewesen und kannte nichts anderes. Philippine Rorschach war ein erstgeborenes Kind und die erste Frau ihres Ehemanns gewesen, Regine dagegen war die Tochter einer Stiefmutter, eine zweite Ehefrau und Stiefmutter dreier eigenwilliger Kinder, deren Persönlichkeit sich deutlich von ihrer eigenen unterschied.

Sie stritt sich häufig mit Paul und machte auch der neugierigen, aufgeschlossenen Anna, der das Elternhaus inzwischen als beengend erschien, das Leben schwer. Regina war, so schrieb Anna später, »wie ein Huhn mit kurzen Flügeln, das nicht fliegen kann. Sie hatte keine Flügel der Phantasie«. Unter ihrer kleinlichen Herrschaft bot das Heim keine Wärme, und die Hände der Kinder liefen bisweilen buchstäblich blau an. Sie hatten keine Zeit zum Spielen; nach der Schule mussten sie arbeiten oder häusliche Pflichten erfüllen.

Hermann, der noch in der Oberschule war, musste schnell erwachsen werden. Im Rückblick auf ihre Kindheit erinnerte sich Anna, dass Hermann für sie Vater und Mutter zugleich war. Zudem war er Reginas wichtigste Stütze, der Mann im Haus, der stundenlang mit ihr in der Küche saß und sich mit ihr unterhielt. Er hatte Verständnis für Regina und ihre Unfähigkeit, mehr Liebe zu zeigen; er glaubte, dass sie in ihrem kleinmütigen Stolz nie imstande gewesen sei, sich an irgendjemanden zu binden.15 Er bat Anna und Paul, die Stiefmutter nicht zu kritisch zu sehen. Sie sollten nachsichtig sein, soweit sie konnten, und an das kleine Regineli denken.

All dies ließ Hermann wenig Zeit für seine eigene Trauer. Später gestand er Anna, nun »denke ich viel mehr als früher an Vater und Mutter, die leibliche Mutter zurück, und habe vielleicht Vaters frühen Tod vor sechs Jahren nicht so tief empfunden wie jetzt«.16 Schon früh verspürte Hermann den Wunsch, sich von dem »Schaffhausergeist«, wie er es nannte, zu lösen. Er wollte weg von »dem Kratzen und Stubenfegen und all dem, was soviel Leben wegnimmt und so unendlich viel Lebensfähigkeit tötet«. Für Hermann stand fest, dass »keines von uns auch nur daran denken kann, je längere Zeit mit Mutter zusammenzuleben. Sie hat ja große, gute Züge und ist eine Natur, die alle Hochachtung verdient, aber – das Leben um sie herum verlangt zuviel Stillesein und ist nichts für Leute wie uns, die wir Ellenbogenfreiheit haben müssen«.

Alle drei Kinder, die Ulrich und Philippine hinterließen, sollten schließlich viel weiter herumkommen als ihre Eltern, und Hermann war der Erste, der aufbrach. »Wir haben Talent zum Leben, Du und ich«, so Hermann weiter gegenüber Anna, »wir haben’s vom Vater geerbt. … wir sollen es nur erhalten, das müssen wir. In Schaffhausen erstickt so ein Talent komplett, zappelt ein bisschen und stirbt dann ab. Und weiß Gott, darum hat man doch die Welt, dass man darin seine Talente entfaltet.«17

Als Hermann dies schrieb, war er bereits ausgebrochen. Seine Jahre in Schaffhausen mochten zwar von innerer Unruhe geprägt gewesen sein, doch sie waren wichtig für seine Entwicklung als Denker – und als Künstler.

KAPITEL 2 Klex

Durch eine Fügung des Schicksals, die fast zu schön ist, um wahr zu sein, erhielt Hermann Rorschach in der Schule den Spitznamen »Klex«. Tüftelte bereits der junge Rorschach mit Tinte herum, so als sei ihm das Schicksal vorausgesagt worden?

Spitznamen spielten eine wichtige Rolle in den Verbindungen, denen sich die meisten Gymnasiasten anschlossen. Ein Bundesbruder leistete einen Treueeid und blieb sein Leben lang Mitglied der Verbindung; die Kontakte, die er dort knüpfte, ebneten ihm häufig seinen beruflichen Weg. In Schaffhausen wurde das gesellschaftliche Leben von der Mittelschulverbindung der Kantonsschule, Scaphusia, geprägt (benannt nach dem römischen Namen der Stadt). Die Mitglieder, darunter auch Hermann Rorschach, trugen auf dem Schulgelände, in den Wirtshäusern und auf Wanderwegen mit Stolz Blau-Weiß. Und jeder nahm als Kennzeichen seiner neuen Identität einen neuen Namen an, den sogenannten Kneipnamen.1

Die Aufnahmerituale fanden in einem Schanklokal in beinahe völliger Dunkelheit statt; nur eine einzige Kerze brannte – auf einem menschlichen Schädel. Der Initiant, der als »Fuchs« bezeichnet wurde, meist im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren, stand auf einer Kiste mit der Fechtausrüstung der Verbindung, in jeder Hand einen Bierkrug, und musste eine Reihe schwieriger Fragen beantworten. Viel weiter ging die Schikane in der Schweiz nicht. An deutschen Universitäten wurde mit scharfen Klingen gefochten, damit schlagende Studenten den berühmten Schmiss abbekamen, der die Gesichter der deutschen Elite lebenslang kennzeichnete. Wenn der Fuchs das Aufnahmeritual der Scaphusia bestand, erhielt er seine »Biertaufe« – die beiden Bierkrüge wurden ihm über den Kopf geschüttet oder einfach leergetrunken – und einen »Biernamen«, mit dem seine körperliche Erscheinung oder irgendeine Vorliebe verulkt wurde. Rorschachs Mentor war Theodor »Schlot« Müller, der so hieß, weil er entsprechend qualmte. Dessen Mentor wiederum war »Baal«, ein ausgemachter Frauenheld.

Hermanns Spitzname »Klex« deutet darauf hin, dass er mit Tusche und Feder umzugehen wusste, rasch und gut zeichnen konnte. Einer von Rorschachs Lieblingskünstlern, Wilhelm Busch, schuf die Bildergeschichte mit dem Titel Maler Klecksel. »Klecksen« bedeutet auch »schmieren« und »sudeln«, doch Rorschach wurde nicht als »Schmierfink« gehänselt, sondern als guter Zeichner gelobt. Ein anderer Fuchs mit dem Spitznamen Klex in einer anderen Verbindung etwa zur selben Zeit war ebenso gut im Zeichnen und wurde später Architekt.

Bei der Scaphusia bedeutete »Klex« also nicht »Tintenklecks«, doch vielleicht kam Rorschach aufgrund dieser Vorgeschichte eher auf einen Tintenklecks, als er ein Jahrzehnt später über das Gelände der Anstalt spazierte und sich überlegte, wie sich eine Verbindung zu seinen schizophrenen Patienten herstellen ließ. Wie auch immer, entscheidend war, dass der junge Rorschach überhaupt ein »Klex« war, ein Künstler mit einem Gespür für das Visuelle.

RORSCHACH BESUCHTE DAS Gymnasium in Schaffhausen von 1898 bis 1904 – von dem Jahr nach dem Tod seiner Mutter bis zu dem Jahr nach dem Tod seines Vaters. Die Schule galt als die beste in der Region und zog Schüler auch aus anderen Teilen der Schweiz und sogar aus Italien an, ebenso wie liberale, demokratisch gesinnte Lehrer aus dem autoritären Deutschland. Das Gymnasium zählte 170 Schüler, in Rorschachs Klasse saßen vierzehn. Der Lehrplan war anspruchsvoll. Man lernte analytische Geometrie, sphärische Trigonometrie sowie Chemie und Physik. Man las Goethe und Lessing sowie Sophokles, Thukydides, Tacitus, Horaz, Catull, Molière, Hugo und Dickens im Original und die russischen Klassiker in Übersetzung: Turgenjew, Tolstoi, Dostojewski und Tschechow.2

Rorschach war ein guter Schüler, offenbar ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Er war in allen Fächern einer der Besten seiner Klasse; er lernte Englisch, Französisch und Latein und sprach neben seinem schweizerdeutschen Dialekt auch Hochdeutsch. Später brachte er sich auch Italienisch bei und sprach fließend Russisch. In der Öffentlichkeit war er zurückhaltend, bei Tanzveranstaltungen in der Schule sah er lieber zu, wenn die anderen die komplizierten Figuren und Bewegungen des damals populären Tanzes vollführten. Er arbeitete gern im Stillen und wurde nicht gern unterbrochen. Hermanns bester Freund in der Schule – ein extravertierter künftiger Anwalt namens Walter Im Hof – meinte, es war seine Rolle, ihn ein wenig zu öffnen. Auch andere stimmten darin überein, dass es Hermann guttat, mit seinen Klassenkameraden Bierkneipen zu besuchen. Aber Hermann und sein kontaktfreudigerer Bruder Paul heckten auch gern Streiche aus, woran sich Hermann Jahre später gern erinnerte. So oft er konnte, ging er hinaus in die Natur – Bergwandern, Rudern auf den Seen, Nacktschwimmen.

Finanzielle Sorgen waren an der Tagesordnung. Die meisten seiner Klassenkameraden stammten aus begüterten und in einigen Fällen sogar recht prominenten Familien. Die International Watch Company, eine auch heute noch unter dem Namen IWC Schaffhausen bekannte Uhrenmanufaktur, war von einem bereits wohlhabenden Fabrikanten in der Stadt aufgebaut worden; die Tochter des Firmengründers, Emma Rauschenbach – Carl Gustav Jungs zukünftige Frau – war eine der reichsten Erbinnen der Schweiz. In diesem vermögenden Milieu war Hermann Rorschach auffallend arm. Ein Klassenkamerad dachte fälschlicherweise, Hermanns Stiefmutter sei eine »Waschfrau«, die hart geschuftet haben musste, um den Jungen durch die Schule zu bringen, die großbürgerliche Mutter des Klassenkameraden sah auf Hermann und seine Familie herab. Ein anderer Schulkollege erklärte, Rorschach sehe wie ein Bauerntölpel aus, sei »aber trotzdem« intelligent. Dennoch ließ Rorschach nicht zu, dass seine Lebensumstände seine Eigenständigkeit einschränkten. Er ließ sich als Bibliothekar der Verbindung einsetzen und dafür von anderen Aufgaben freistellen, so konnte er bei Bedarf neue Bücher kaufen.

Und er verfügte über mindestens einen Probanden für wissenschaftliche Experimente – sich selbst. Rorschach hatte gelesen, dass sich die Pupillen je nach Gemütslage erweitern oder verengen, und stellte fest, dass er seine Pupillen willkürlich verändern konnte. In einem dunklen Raum stellte er sich vor, er suche nach dem Lichtschalter, woraufhin seine Pupillen merklich kleiner wurden; und draußen, im hellen Sonnenlicht, konnte er sie willentlich vergrößern. In einem anderen Experiment zur Frage, wie der Geist die Materie zu bezwingen vermag, versuchte er das Unbehagen eines Zahnschmerzes in Musik zu verwandeln: »brummende« Schmerzen fanden Ausdruck in tiefen Tönen und »stechende« in hohen. Einmal wollte er erforschen, wie lang man ohne Nahrung auskommen und trotzdem arbeiten konnte; er fastete vierundzwanzig Stunden lang, während er den ganzen Tag über Holz hackte und sägte. Er stellte fest, dass er ohne körperliche Arbeit länger fasten konnte. Dies war etwa zu der Zeit, als sein Vater wieder heiratete.

Es erbringt keinen praktischen Nutzen, die Pupillen willentlich weiten zu können, außer der Erkenntnis an sich. Diese Versuche dienten der Erkundung; Rorschach wandte seinen eigenen Willen auf sich selbst an, wie sein Vater, der sein Lispeln oder Zittern unterbinden konnte, wenn er sich bemühte. Er erprobte seine Grenzen und erkundete, wie sich seine unterschiedlichen »Systeme« – Nahrung und Arbeit, Schmerz und Musik, Psyche und Auge – ineinanderfügten und bewusst steuern ließen. Ein Experiment fand er besonders aufschlussreich:

Ich selber habe ein ziemlich schlechtes musikalisches Gedächtnis. Um die Melodie eines Liedes zu lernen, kann ich mich sehr wenig auf die akustischen Erinnerungsbilder verlassen. Als Hilfen zur Erinnerung benutze ich oft das optische Bild der Noten, und in früheren Zeiten, als ich noch Violinstunden hatte, kam es mir nicht selten vor, dass ich mir eine Passage akustisch gar nicht vorstellen, sie aber trotzdem auswendig spielen konnte; das heißt, das kinästhetische Gedächtnis war sicherer als das akustische. Auch habe ich nicht selten die Nachahmung der Fingersätze als Mittel zur Erweckung akustischer Erinnerungen benutzt.3

Rorschach interessierte sich ungemein für solcherlei Umwandlungen von einer Art Erfahrung in eine andere.

Es faszinierte ihn auch, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und die Erfahrungen anderer selbst nachzuvollziehen. Am 4. Juli 1903, im Alter von achtzehn Jahren, hielt Rorschach in seiner Verbindung einen Vortrag, wie es von den Scaphusia-Mitgliedern erwartet wurde; er wählte das Thema »Frauenemanzipation« und sprach sich rückhaltlos für eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter aus. Die Frau, so argumentierte er, sei »von Natur aus weder körperlich, noch geistig, noch moralisch dem Manne gegenüber im Nachteil«, auch nicht weniger logisch und mindestens ebenso mutig. Sie sei genauso wenig bloß zur »Kinderfabrikation« berufen wie der Mann lediglich als »Versorgungsanstalt für die Frau« diene. Er verwies auf die jahrhundertelange Geschichte der Frauenbewegung sowie die Gesetze und Gesellschaftsstrukturen in anderen Ländern, wie etwa den Vereinigten Staaten, und plädierte für ein volles Stimmrecht und freien Zugang zu Universitäten und Berufsständen, insbesondere im medizinischen Bereich, da »Frauen ihre intimen Krankheiten lieber einer Frau offenbaren«. Er untermauerte seine Argumente mit Scharfsinn und Empathie und verwies darauf, dass Blaustrümpfe die älteren Generationen durchaus schockierten, doch »ein männlicher Bildungsprotz ist doch auch eine aufstößige Erscheinung«. Was die angebliche Geschwätzigkeit der Frauen angehe, stelle sich die Frage, »ob am Stammtisch oder im Kaffeekränzchen mehr geklatscht wird«. Er fragte sich, ob »wir« nicht genauso albern sind wie »sie«, und versuchte, wie so oft, sich selbst von außen zu betrachten.4

Der Sohn des Zeichenlehrers steuerte natürlich zahllose Graphiken für das Sammelalbum der Scaphusia bei. Ein Notenblatt für Violine, auf dem statt Noten hingekleckste Katzen auf den Linien herumtollen, spielt kalauernd auf den Begriff »Katzenmusik« an. Ein Doppelporträt zweier Menschen in Silhouette mit dem Titel Bild ohne Worte war ebenfalls mit »Klex« signiert. Neben seinen Arbeiten für das Scaphusia-Album fertigte Rorschach auch eine fein ausgearbeitete Kohlezeichnung seines Großvaters mütterlicherseits, kopiert von einer kleinen Fotografie und datiert 1903 (siehe Abbildung S. 35). Ausdrucksstarke Gesichter und Gesten interessierten ihn mehr als statische Gegenstände oder Oberflächenstrukturen. In einer Zeichnung sind die Kleidung eines Studenten und die Möbel viel weniger überzeugend dargestellt als die Körperhaltung des Porträtierten; sein Zigarrenrauch kräuselt sich regelrecht.5

Eine abgewandelte Kopie der »Katzensymphonie« des österreichischen Künstlers Moritz von Schwind, signiert mit »Klex«, aus dem Scaphusia-Sammelalbum. Rorschach vereinfachte die Zeichnung und ließ viele der Katzen/Noten weg. Einige Katzen sehen zwar eher wie Mäuse aus, doch das Bild insgesamt weist eine lebhaftere Bewegung auf.

In einem weiteren Scaphusia-Vortrag zum Thema Poesie und Malerei forderte Rorschach eine bessere Schulung des Sehens. In der zeitlosen Manier von Jugendlichen überall auf der Welt kritisierte er seine Schule: Es bestehe ein Mangel an Verständnis für die visuelle Kunst unter den Menschen, selbst in der gebildeten Schicht, ein Mangel, der auf die Schulbildung zurückzuführen sei. Man suche vergeblich nach Unterricht in Kunstgeschichte im Lehrplan der Gymnasien, doch das Kind könne genauso künstlerisch denken wie mancher Erwachsene. Er hielt auch drei Vorträge über Darwin und unsere Beziehung zur Natur. Darwin wurde in der Schule nicht behandelt, und so leisteten die Vorträge echte Bildungsarbeit; auch hier richtete Rorschach sein Augenmerk auf das Sehen. Die Frage, ob Darwin bereits jüngeren Schülern nähergebracht werden solle, beantwortete er dem Sitzungsprotokoll zufolge eindeutig positiv. Denn nur durch eine genaue Behandlung dieser Themen, angepasst an das Verständnis des Kindes, lerne der junge Mensch, »die Natur zu sehen«. Nur auf diese Weise werde seine Motivation zur Beobachtung angeregt. Nur so werde in den Augen der Jugend eine wahre Freude an der Natur geweckt. Es ging letztlich um eine Anleitung zum Sehen, zum Sehen mit Freude. Am Ende seines Vortrags würdigte Rorschach ein weiteres Genie: Darwins großen Schüler auf deutschem Boden, Ernst Haeckel. Er illustrierte sein Referat mit Bildern aus Haeckels Kunstformen der Natur und hob besonders hervor, welch scharfes Auge für die Kunstformen in der Natur Haeckel mit seiner Methode der Naturbeobachtung bewies.

Ernst Haeckel (1834–1919) war einer der berühmtesten Wissenschaftler der Welt. Ein Biograph neuerer Zeit schrieb, »durch seine umfangreichen Publikationen erhielten mehr Menschen Kenntnis von der Evolutionstheorie als durch irgendeine andere Quelle«, darunter auch Charles Darwins eigenes Werk. Die Entstehung der Arten verkaufte sich in dreißig Jahren knapp 40.000 Mal. Von Haeckels populärer Fassung Die Welträtsel wurden allein in Deutschland mehr als 600.000 Exemplare verkauft; und das Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter sogar Sanskrit und Esperanto. Mahatma Gandhi persönlich wollte es in Gujarati übertragen, denn er hielt es für das wissenschaftliche Gegengift gegen die tödlichen Religionskriege, die Indien heimsuchten. Haeckel machte nicht nur Darwin bekannt, sondern vollbrachte auch eigene naturwissenschaftliche Leistungen; so benannte er Tausende von Arten – allein 3500 nach nur einer seiner Polarexpeditionen – und sagte richtig voraus, wo Fossilien des »fehlenden Verbindungsglieds« zwischen Affe und Mensch zu finden seien; er formulierte den Begriff der Ökologie und leistete Pionierarbeit in der Embryologie. Seine Theorie, wonach sich in der Entwicklung des Individuums die Entwicklung der biologischen Art wiederholt – Die Ontogenese rekapituliert die Phylogenese –, wurde in der Biologie und auch in der Populärkultur ungeheuer einflussreich.6

Haeckel war auch Künstler. In seiner Jugend war er ein ehrgeiziger Landschaftsmaler; später kombinierte er Kunst und Wissenschaft in aufwändig illustrierten Werken.7 Darwin lobte Haeckel in beiderlei Hinsicht; er bezeichnete Haeckels bahnbrechendes zweibändiges Werk als »die prächtigsten Bände, die ich je gesehen habe«, und seine Natürliche Schöpfungsgeschichte als »eines der beachtenswertesten Bücher unserer Zeit«.8

Kunstformen der Natur war ein visuelles Kompendium der Struktur und der Symmetrie im gesamten Kosmos der Natur und verwies auf harmonische Entsprechungen zwischen Amöben, Quallen, Kristallen und allen möglichen höheren Lebensformen. Das Werk erschien 1904 in Buchform – ursprünglich waren die einhundert Abbildungen zwischen 1899 und 1904 in zehn Folgen von jeweils zehn Blättern veröffentlicht worden – und war sowohl in der Naturwissenschaft als auch in der Kunst sehr verbreitet und einflussreich. Es schuf eine Art visuelles Vokabular für den Jugendstil und überblendete gleichzeitig diese Sichtweise auf die Natur.9 Der Umstand, dass uns horizontal symmetrische Formen »organisch« erscheinen, ist zum Teil ein Vermächtnis seiner Art des Sehens. Kunstformen der Natur war im deutschsprachigen Raum und darüber hinaus ein allgemein geschätztes Paradestück.10 Die Familie Rorschach besaß sicherlich zumindest einige der Illustrationen. Ulrich Rorschachs »Entwurf einer Formenlehre« verwies zwar nicht namentlich auf Haeckel, war aber praktisch gesehen eine prosaische Entsprechung zu Haeckels Buch, gefüllt mit seinem eigenen Vokabular von »Formen«.

Zwei der schwarzweißen Abbildungen aus Ernst Haeckels Kunstformen der Natur: »Schlangensterne« und »Motten«, Lithographien von Adolf Giltsch nach Zeichnungen Haeckels

Musterzeichnung von Ulrich Rorschach

Haeckel war auch bekannt für seinen Kreuzzug gegen die Religion. Es ist wohl weitgehend auf Haeckels persönliche Religionsfeindlichkeit zurückzuführen, dass der Darwinismus zur atheistischen Wissenschaft par excellence wurde und ins Zentrum der Fehde zwischen Forschung und Glaube rückte, obwohl die Geologie, die Astronomie und andere Wissensgebiete genauso viele nicht bibelkonforme Fakten beinhalteten.11 Auch dies bewunderte Hermann. Wie sein Vater war er in Glaubensfragen ein toleranter Freidenker, er lehnte es ab, die natürliche Welt durch religiöse Augen zu sehen. In einem seiner Referate über Darwin, so erinnerte sich der Scaphusia-Sekretär, versuchte Klex, das Argument gegen den Darwinismus, dass dieser die christliche Moral und die Bedeutung der Bibel unterhöhle, vollkommen zu entkräften.