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In der Justizvollzugsanstalt Butzbach/Hessen, einem Hochsicherheitsgefängnis, waren zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse ca. 800 wegen schwerster Straftaten verurteilte männliche Gefangene untergebracht. Etwa 10 % verbüßten eine lebenslange Freiheitsstrafe, teils mit folgender Sicherungsverwahrung. In mehreren Funktionen (Vollzugsdienst- und Ausbildungsleiter, Stationsbeamter und langjähriger Vorsitzender des Personalrates) wurde ich mit praktisch allen außergewöhnlichen Vorkommnissen persönlich betraut oder habe sie direkt erlebt. Des Weiteren war ich bis 2011 als Leiter des Sicherheitsdienstes für alle besonderen Geschehnisse und außerordentlichen Problemlagen verantwortlich. Eine Vielzahl von Hintergrundinformationen sind aufgrund der umfangreichen und komplizierten Verflechtungen oft selbst erfahrenen Vollzugsbeamten in ihren Dimensionen selten bekannt geworden. Für Außenstehende handelt es sich um kaum nachvollziehbare "knastinterne" Besonderheiten und Straftaten innerhalb einer der damals größten Haftanstalten des Landes Hessen mit der höchsten Sicherheitsstufe. Eine kleine Auswahl der spektakulärsten Fälle kommt hier zur Darstellung. Alfred Görlach
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Seitenzahl: 282
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Für die engagierte Durchsicht des Manuskripts bedanke ich mich ganz besonderes bei Sigrid
Was ist in einem Gefängnis normal?
Alfred Görlach
Titelseite der Gefangenenzeitschrift „Wendepunkt“ aus dem Jahr 2003
Vorwort
Biografie
Stationsdienst in der JVA Butzbach
Wory w sakone (Diebe im Gesetz)
Nachschlüssel
Kindermörder
Feuer
Gefährliche Vorführung
Revolver
Sicherungsverwahrung
Kokain
Nazi-Größen
Mord und Selbstmord
Adjutant
Dissertation
Fiffi
Gänsebratenessen, Ausführungen von Gefangenen
Geiselnahme
Käfig und Bunker
King-Kong
Lady Snow, Piece, Shore und Sprit
Raggebaskero mit Diridari im Kittchen
Massenpsychologische Risiken
Mehrfachmörder als Verwaltungskiller
Hybristophilie
Stasi-Knast
Suizid prohibitus
Organisierte Kriminalität und Überwürfe
BTM – Schmuggel und Bedrohungslagen
Wurfanker und andere Entweichungen
Zeugenschutzprogramm
Zigarren
Zucker
Ref. Werner P. N., Dr. div. amtl. Dekan
Razzien
Pferde
Killer-Bernd
OMCG (Outlaw Motorcycle Gangs) im Hochsicherheitsbereich
Zellenflutung
Flucht nach 5 Tagen
Sechs bemerkenswerte Todesfälle
Erweitertes Glossar eines Teiles der verwendeten Fachbegriffe
Häufig genannte interne Abkürzungen
„Schreib das doch mal auf …“
So oder ähnlich wurde mir immer wieder in Gesprächen vorgeschlagen, wenigstens einige der Begebenheiten, die sich während meiner Dienstzeit in der Justizvollzugsanstalt Butzbach und anderen Gefängnissen zugetragen haben, zu Papier zu bringen.
Um ein Erinnerungsstück zu schaffen, vor allem für meine Familie, komme ich diesem Wunsch hiermit gerne nach.
Einige Fälle sind aus den Medien bekannt. Dennoch habe ich aus Gründen des (oft posthumen) Persönlichkeitsschutzes die Namen geändert oder nicht genannt. Hier gibt es lediglich zwei Ausnahmen, bei denen es sich aufgrund der Personen oder Tatausführungen um historische Begebenheiten handelt.
Die Ereignisse fanden zwischen Ende der 1970er-Jahre und etwa 2009 statt. Zwischenzeitlich wurden die damals geltenden Bestimmungen durch fünf neue Hessische Strafvollzugsgesetze sinngemäß ersetzt. Somit könnte bereits die Frage einer „historischen Einordnung“ dieser von mir nachfolgend beschriebenen Vorkommnisse zur Überlegung gelangen.
Die JVA Butzbach, ein Hochsicherheitsgefängnis, beschäftigte im geschilderten Zeitraum etwa 230 Bedienstete, davon ca. 170 im uniformierten Dienst. Diese waren oftmals zuständig für bis zu 800 inhaftierte Gefangene, verurteilt wegen schwerster Straftaten. Etwa 10 % verbüßten eine lebenslange Freiheitsstrafe.
Zahlreiche der dargestellten Ereignisse sind in ihrem komplizierten Umfang selbst Vollzugsbediensteten kaum bekannt. Wichtig erschienen mir daher auch die Darstellung vieler Hintergründe und die Ergänzung zusätzlicher Informationen.
In meiner Stammanstalt, der JVA Butzbach, erlebte ich sämtliche außergewöhnlichen Vorgänge direkt vor Ort: zunächst als Stationsbeamter, dann als Vorgesetzter und in meinen folgenden Funktionen als Ausbildungsleiter, Vollzugsdienstleiter und Sicherheitsdienstleiter, oder auch als Vorsitzender des Personalrates.
Vervollständigt wurde dieses Wissen durch die Besonderheit, dass ich in meiner Zeit als Vollzugsbeamter niemals erkrankte – die einzige Ausnahme bildete ein (unverschuldeter) schwerer Dienstunfall. Diese „Ausnahmesituation“ im Jahre 1983 führte zum Tod meines Kollegen und versetzte mich zehn Wochen lang in den Krankenstand.
Aus dem Topf meiner jahrzehntelangen, interessanten beruflichen Erfahrungen habe ich wunschgemäß einige Fälle geschöpft, die nachfolgend zum Tragen kommen. Ich gehe davon aus, dass ich einen kleinen Einblick in den doch noch recht unbekannten „Knastalltag“ und auffälligen besonderen Vorkommnissen im Zeitraum um die Jahrtausendwende geben kann.
Der Buchtitel „Im Dunstkreis der Subkultur“ soll verdeutlichen, dass selbst im kriminellen Gefängnismilieu Grenzen überschritten werden.
Alfred Görlach
Pohlheim, im Juni 2023
Geboren 1951, verheiratet, 2 Kinder, 4 Enkelkinder
Seit 2011 Amtmann i.R.
Abgeschlossene Berufsausbildungen:
Technischer Zeichner, Landwirt, Physiklaborant
Wehrpflicht 15 Monate, Stabsunteroffizier d.R.
Justizvollzug JVA Butzbach ab 1978:
Einstellung als Angestellter („Arbeitsaufseher“)
Zweijährige Laufbahnausbildung für den allgemeinen Justizvollzugsdienst des Landes Hessen
Tätigkeiten als Stationsbeamter, Ausbildungsleiter, Vollzugsdienstleiter,
Überleitung in den gehobenen Dienst, Sicherheitsdienstleiter
Ehrenamtliche Tätigkeiten:
15 Jahre Vorsitzender des Personalrates der JVA Butzbach
Ehrenamtlicher Richter beim Verwaltungsgericht Gießen
12 Jahre Mitglied im Hauptpersonalrat beim Hessischen Ministerium der Justiz
Mitglied in Prüfungskommissionen (Laufbahnprüfungen, Einstellungsprüfungen) des Hess. Justizvollzuges
12 Jahre Mitglied im Vorstand des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands, Landesverband Hessen
12 Jahre Vorsitzender im Kreisverband Deutscher Bund für Vogelschutz (jetzt NABU) Gießen, Lahn-Dill
Gründung von 35 Naturschutzvereinen, Mitglied im Landesvorstand des DBV
12 Jahre Kreisbeauftragter für Vogelschutz der Staatlichen Vogelschutzwarte für Hessen
Mitglied in verschiedenen Gremien des Naturschutzes
Wie muss sich ein Außenstehender das Tagesgeschehen in einem Gefängnis der Sicherheitsstufe I vorstellen?
In jedem Bereich der JVA Butzbach gibt es besondere Abläufe, um spezielle Tätigkeiten auszuführen. Auf diese Weise wird die Funktionsfähigkeit, vor allem aber die Sicherheit und Ordnung, zu jeder Zeit gewährleistet. Dienstanfänger benötigen in aller Regel ein Jahr oder länger, um die wesentlichen Handlungen zu verinnerlichen.
Hinzu kommen für die „Neuen“ die Probleme mit den jeweiligen Inhaftierten.
Durch Personalausfälle (krankheitsbedingt etc.) werden sie zudem häufig kurzfristig in ihnen kaum bekannten Bereichen eingesetzt. Das erfordert eine herausragende geistige Wendigkeit und Flexibilität.
Nicht zu vergessen: die in diesem Buch geschilderten „besonderen Vorkommnisse“, bei denen die Haftanstalt zunächst einmal „stillsteht“.
Im nachfolgenden Artikel „Stationsdienst“ habe ich ausschließlich allgemeine Abläufe angeführt. Jede Station hat zusätzliche Besonderheiten abzuwickeln.
* * *
Ich beschreibe nachfolgend die Situation der Stationsbeamten, wie sie sich etwa im Jahr 2000 gestaltete. Die grundsätzlichen Abläufe auf den 12 Stationen sind aber im Allgemeinen ähnlich geblieben.
Obwohl die festgesetzte Belegungsfähigkeit bei etwas über 500 Inhaftierten lag, mussten oftmals über 800 Gefangene (1979) untergebracht werden. Das führte zu weiteren Spannungen zwischen allen Beteiligten!
Es war im Hafthaus keine Mittags- oder Pausenzeit in den Schichten vorgesehen (dies war basierend auf einer geheimen Abstimmung durch den Personalrat aller Kollegen – ab 1990 auch Kolleginnen – so festgelegt worden). Es fand sich immer auch eine Minute Zeit, um eine Tasse Kaffee zu trinken und ein Brot zu sich zu nehmen.
Man wollte beim Frühdienst (ab 6 Uhr) um 14.00 Uhr Feierabend haben und im Spätdienst gleichfalls nach 8 Stunden um 22.00 Uhr den Dienst beenden.
Lediglich in den Arbeitsbetrieben gab es deshalb eine Pause, da diese den Gefangenen zustand und das Personal sich auch daran halten musste.
Was geschah also zwischen dem Aufschluss (06.00 Uhr) und dem Einschluss (22.00 Uhr) auf den Stationen?
Rapport an der Zentrale, Feststellen aller Stationsbeamten, wichtige Informationen
Aufschluss der Hausarbeiter und Stationshelfer, Frühstück abholen
Frühstücksausgabe, Lebendkontrolle, Meldung Bestand: Urlauber, Schüler, Kranke, Methadonsubstitution an Zentrale
Bestandsmeldung an die Zentrale
Arbeitsumschlüsse, 1. Etappe: Schlosserei, Lehrschweißerei, Schreinerei, Elektriker, Maurer, Maler, Wäscherei, Kammer, 2. Etappe: Werkhofküche, Kammer, Schreinerei, Fremdbetriebe im Werkhof
Meldung an die Zentrale: Wo genau arbeitet jeder Gefangene aktuell in welchem Arbeitsbetrieb im Werkhof
Müll abtragen, Kostanforderung an die Küche für Mittag fertigen, Aufgliederung Moha-Kost
1
, Diät, pp.
Abwicklung der Freistunden und abwechselnd eine Stunde Aufsicht in den Höfen (Gruppen- und Einzelfreistunden)
Duschen der Gefangenen
Stündlich Post und Zustellungsunterlagen pp. an der Zentrale holen
Umschlüsse zum Arzt, Anhörungen, Polizei, Besuche (Regelbesuch, Einzel- Trennscheibenbesuch, Familienbesuche, Ehrenamtliche, Rechtspfleger pp.)
Sport (Hof und Sporthalle)
Haftraumkontrollen (täglich mindestens 3 Hafträume genau kontrollieren)
Abholen der Mittagskost im C-Flügel
Ausgabe der Mittagskost, Bestandskontrolle zu einem bestimmten Zeitpunkt
Übersicht ständig prüfen. In der Lage sein zu wissen, wo sich die umgeschlossenen Gefangenen aktuell befinden
Viele telefonische Anfragen, Anrufe über Funk
Meldungen über Auffälligkeiten, Wahrnehmungen schreiben, Beurteilungen von Gefangenen, Teilnahme an Sitzungen
Bestandsmeldung an die Zentrale
Ab ca. 14.00 Uhr übernahm dann der Spätdienst:
Übergabe aller laufenden Dienstgeschäften durchführen
Postausgabe, mündliche Eröffnung von amtlichen Mitteilungen der Behördenleitung, Sozialarbeiter pp. an Gefangene
Freistunden (abwechselnde Aufsicht in den Höfen) des Werkhofes nach Arbeitsende
Rückschluss der einrückenden Gefangenen
Aufsicht Sport nachmittags
Vorführungen je nach Situation
Tagsüber ständige Beantwortung von Fragen, Forderungen, Beleidigungen pp. von Gefangenen über die Zellenrufanlage, Anrufe beim Sozialdienst und/oder psychologischen Dienst
Teamsitzungen: Besprechungen Sozialdienst, psychologischer Dienst
Einschluss vor Abendkostausgabe
Essenholer, Hausarbeiter ausschließen für Abendkostempfang, Abholen im C-Flügel
Abendkostausgabe
Bestandskontrolle durchführen, Meldung an Zentrale
Umschluss zu unterschiedlichen Freizeitveranstaltungen
Führung der stationsinternen Kladden, Excellisten, Verfügungen von Bereichs- und Sicherheitsdienstleitung umsetzen
Aufschluss zur „offenen Station“, ab sofort ständige Gespräche, Diskussionen, Fragen von Gefangenen, die sich auf der Station bewegen
Kontrollgänge auf der Station zur Vermeidung von Auseinandersetzungen/Schlägereien der nicht eingeschlossenen Verurteilten
Regelmäßige Erörterung mit dem Bereichsleiter (direkter Vorgesetzter aller Stationsbeamten eines Flügels)
Rückschluss der Gefangenen und Nachtverschluss
Einschlusskontrollen aller Hafträume, letzte Meldung an die Zentrale
Ab 22.00 Uhr übernahm der Nachtdienst:
Im Nachtdienst waren die Stationen nicht mehr besetzt. Der Nachtdienst bestand bis zum Jahr 2000 aus neun Beamten (ab 1990 auch Beamtinnen).
Besetzt waren die Außenpforte, Zentrale im Hafthaus und seit etwa 2005 die Sicherheitszentrale.
Im Hafthaus befanden sich Bedienstete für die Ablösung der unterschiedlich besetzten vier Wachttürme sowie für alle weiteren anfallenden Tätigkeiten:
Zugänge durch die Polizei abfertigen
Probleme der Gefangenen über Sprechanlage
besondere Vorkommnisse abarbeiten
regelmäßige Kontrollgänge auf allen 12 Stationen und allen 3 Flügeln
bewaffnete Doppelstreifen außerhalb des Hafthauses pp.
Ablösen der Turmposten reihum ca. alle 2 Stunden
An Sonn- und Feiertagen wurden zu meiner Zeit zwei Schichten mit je 12 Stunden gefahren. Man hatte eine Stunde Pause, insgesamt also 13 Stunden.
Außerdem gab es im Dienstbetrieb das sogenannte „Englische Wochenende“. Hierbei handelte es sich um den Wechsel von der Spätdienst-Woche zur Frühdienst-Woche:
Samstags Spätdienst
14.00 – 22.00 Uhr
Sonntags
7.00 – 20.00 Uhr (davon eine Stunde Mittagspause)
Montags Frühdienst
6.00 – 14.00 Uhr.
Diese Wochenenden haben mir persönlich gut gefallen. Bei einer 40-Stunden-Woche waren an diesen drei Tagen schon 28 Stunden geleistet worden.
In der JVA Butzbach haben bis zum Jahr 2008 täglich ca. 220 Gefangene in den Werkbetrieben gearbeitet.
Die Gefangenen verließen den Haftbereich gegen 07.00 Uhr und rückten in den Werkhof ein. Dort gab es u.a. ein eigenes Dusch- und Kantinengebäude. Das Mittagessen wurde ebenfalls dort eingenommen. Für die komplizierte Abwicklung des Dienstbetriebes in den einzelnen Arbeitsbetrieben musste eine Reihe von Vorschriften genau eingehalten werden.
Gegen 15.30 Uhr wurde erneut in den Haftbereich eingerückt, verbunden mit einzelnen körperlichen Kontrollen an der Zwischenpforte.
Der Durchschnittsversdienst der Inhaftierten schwankte zwischen 300 € bis 400 € im Monat und wurde jährlich von der Landesjustizverwaltung neu festgesetzt. Einen bestimmten Betrag sparte die Anstalt auf dem Konto des beschäftigten Häftlings an (Überbrückungsgeld). Der Rest konnte bei Bedarf u.a. für den Kauf von Elektronikgeräten oder Lebensmittel beim Anstaltskaufmann verwendet werden. Dort gab es alle Lebensmittel, außer Alkoholika oder sicherheitsrelevante Gegenstände, zu kaufen.
Diese gesetzlichen Voraussetzungen wurden in einer Vielzahl besonderer Erlasse des Ministeriums sowie Verfügungen der Anstalt in der Praxis umgesetzt.
Es gab sogenannte Eigenbetriebe und Fremdbetriebe:
Die Eigenbetriebe wurden von einem oder mehreren Beamten (seit 1990 auch Beamtinnen) mit entsprechender Meisterprüfung geführt.
Zu nennen sind Schlosserei, Schreinerei, Schneiderei, früher Schuhmacherei, Wäscherei oder Hilfsbetriebe der Hauswirtschaft (wie Küche oder Metzgerei).
Inhaftierte hatten die Möglichkeit, in bestimmten Betrieben eine Ausbildung zum Facharbeiter zu absolvieren, bis hin zur Meisterprüfung. Alle Prüfungen erfolgten neutral vor der Industrie- und Handelskammer.
Bei den Fremdfirmen wurden Produkte hergestellt oder Geräteteile montiert, die außerhalb der Justizvollzugsanstalt Verwendung finden.
Die Führung dieser Betriebe oblag stets Beamtinnen oder Beamten des allgemeinen Vollzugsdienstes. Diese hatten jedoch täglich oder sporadisch eine fachlich zuständige Person dieser Firma von außerhalb an ihrer Seite.
Luftbildaufnahme
Die panoptische Bauweise ermöglicht es im Innern der Vollzugsanstalt von einer Stelle in der Mitte (Ebene 2) in jeden Flügel Einsicht zu nehmen. Im rechten kleineren Flügel sind Teile der Verwaltung untergebracht. Rechts hinten befinden sich die Wirtschaftsgebäude mit Küche, Waschküche und Bekleidungskammer.
Im vorderen Bereich erkennt man die neue Sporthalle, rechts daneben das „alte Lazarett“.
Ab Ende der 1990iger Jahre wurde an den A-Flügel das „neue“ Bezirkskrankenhaus angegliedert.
Die beiden Höfe teilen sich in den Sporthof und den Freistundenhof.
Im hinteren Areal ist ein Teil des Werkhofes zu erkennen. Dieser verfügt über eine gesonderte Werkhofpforte.
1 Besondere Kostform für die muslimischen Gefangenen, muss genau gemeldet und getrennt bei jeder Mahlzeit ausgegeben werden, im Hafthaus sowie auch bei den arbeitenden muslimischen Gefangenen im Werkhof.
Hierbei handelt es sich in fast allen Haftanstalten um eine kriminelle Parallelwelt, umgangssprachlich als „Russenmafia“ bezeichnet, der einflussreiche organisierte Schwerverbrecher angehören.
In diesem Milieu geht es um komplizierte Zusammenhänge und Verkettungen, die sich selbst ermittelnden Polizei- oder auch Justizvollzugsbeamten „vor Ort“ in ihrem kompletten Umfang nicht immer erschließen.
Im 1. Teil schildere ich eine in der JVA Butzbach verübte schwere Straftat dieser Gruppe.
Im 2. Teil dieses Kapitels werden Einordnung und Strukturen dieser besonderen Form der Organisierten Kriminalität (OK) aufgezeigt.
Im 3. Teil folgt die Recherche zu Hintergründen des Todesfalls.
Morgens beim Betreten der Außenpforte der JVA Butzbach rief mich der dort verantwortliche junge Kollege zu sich in den Überwachungsraum. „Sie sollen sofort die Zentrale anrufen!“
Das bedeutete wie immer Sicherheitsprobleme und unkalkulierbare Begebenheiten. Ich nahm mein Funkgerät sowie meine persönlichen Schlüssel mit dem Generalschlüssel für alle Schließfunktionen der Haftanstalt und meldete mich an der Zentrale. Der dort diensthabende langjährige Kollege sagte: „Geh gleich durch auf B III! Es gibt wieder einen Toten im Freizeitraum.“
Hierzu sei angemerkt, dass etwa ab 1998, aufgrund der massiven Überbelegung, auch die Freizeiträume zur Unterbringung von Gefangenen genutzt werden mussten. Oftmals waren in den üblichen Doppelzellen von 11 Quadratmetern drei Gefangene und in den Einzelzellen mit gut 8 Quadratmetern zwei Inhaftierte untergebracht.
In diesem großen Freizeitraum waren acht Verurteilte in je vier übereinanderstehenden Betten einquartiert.
Auf Station B III bot sich mir ein skurriles Bild. Auf dem Boden lag ein toter Häftling, mit leicht angewinkelten Beinen, die abgeschnittene Schlinge noch um den Hals. Der Rest des zu einem Seil gedrehten Hemdsärmels hing noch am oberen Metallpfosten des Stockbettes.
Zwischenzeitlich hatte der Bereichsleiter die anderen sieben Gefangenen in den leeren Kirchenraum zur Absonderung verbringen lassen.
Der Dienstbetrieb im Hafthaus ging zunächst weiter. Niemand nahm Notiz von dem Vorfall in dieser großen Gemeinschaftszelle.
Der Totenstarre nach zu urteilen, schätzte ich den Todeszeitpunkt auf mehr als zwei Stunden vor der Auffindesituation, da sich Arme und Beine des Verstorbenen kaum bewegen ließen – also noch vor der Frühstücksausgabe.
Bei Zimmertemperatur tritt die Totenstarre kurz nach dem Ableben ein und erreicht nach etwa 8 Stunden alle Teile des Körpers.
Wie immer bei Todesfällen wird der Sicherungs- und Alarmplan abgearbeitet. Auch hier hatte man bereits professionelle Vorarbeit geleistet: Anstaltsarzt, Sanitätsdienst des BZK2, Kripo Friedberg, Staatsanwaltschaft, Behördenleitung und Justizministerium waren informiert worden.
Der Anstaltsarzt hatte bereits amtlicherseits den Tod festgestellt.
Bald darauf trafen die Kripobeamten ein, stellten die Lage dar, versuchten sich an der Spurensicherung und ermittelten mit einem bestimmten Messverfahren die Kerntemperatur und den genauen Todeszeitpunkt der Leiche.
Auf die Frage, ob wir seitens der Anstalt bereits eine Vernehmung vorgenommen hätten, teilte ich mit, dass wir erst später dazugekommen seien. Der Staatsanwalt wollte jedoch sogleich eine Einzelvernehmung der sieben Zellengenossen vornehmen. Ein Polizeibeamter würde ihn zu diesen Verhören begleiten.
Ich klärte die Raumfrage mit der Innenpforte ab. Auf Nachfrage des Staatsanwaltes teilte ich diesem noch die Nationalitäten der Gefangenengruppe mit. Alle Straftäter kamen aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Georgien, Usbekistan, Kasachstan und Russland.
Das zu erwartende Ergebnis der Befragung beruhte meinerseits auf Erfahrungswerten mit dieser kriminellen Klientel, und so prophezeite ich den anwesenden Polizeibeamten:
„Eigentlich können Sie sieben Kopien mit jeweils folgenden Aussagen anfertigen: Ich habe nichts gesehen! Ich habe nichts gehört! Ich habe geschlafen! Ich weiß von nichts‘.“
So war es letztlich auch in diesem Fall.
Inzwischen wurde die Leiche vom Staatsanwalt freigegeben.
Bei Todesfällen hatte die Anstalt eine Kooperation mit einem Schreiner- und Bestattungsbetrieb aus der Nähe geschlossen, da zu jeder Zeit eine Abholung sichergestellt sein musste. Die Zentrale löste „stillen Alarm“3 aus. Anschließend konnte der Schreinermeister die Einsargung und den Transport zur Rechtsmedizin durchführen.
Die persönlichen Sachen des toten Häftlings nahm ein ZbV4-Beamter auf und verbrachte alles auf die Anstaltskammer zur restlichen Habe des Verstorbenen.
Der Dienstbetrieb ging indes weiter wie immer.
Die bereits vernommenen sieben Gefangenen konnten zurück in ihre große Gemeinschaftszelle begleitet werden. Der aus der Anstalt verbrachte tote Mitgefangene wurde aus dem Bestand genommen.
Es schließen sich später weitere administrative Tätigkeiten an, wie z.B. die Ermittlung der Angehörigen, Regelung des Nachlasses, Fragen der Bestattung, Zuständigkeit der Botschaft des Heimatlandes u.a.
Die Aufsichtsbehörde (Justizministerium) erwartete bereits umgehend (per Fax) einen ausführlichen Bericht über dieses besondere Vorkommnis.
Wurde bei der angelegten Strangulation durch Ziehen an den Beinen nachgeholfen? Diesbezüglich konnte die Rechtsmedizin keine Erkenntnisse gewinnen. Die Sache blieb im Dunkeln.
Zur Überleitung in Teil 2 möchte ich abschließend die Auffindesituation des erhängten Häftlings schildern:
Vom abendlichen Einschluss am Vortag bis zur morgendlichen Frühstücksausgabe (verbunden mit der sogenannten Lebendkontrolle) wurde in diesem Gemeinschaftshaftraum weder die Zellenrufanlage betätigt noch in irgendeiner Form Alarm geschlagen.
Der Stationsbeamte erzählte mir, dass er beim Aufschluss die sieben Inhaftierten wortlos am Tisch sitzend und Kaffee trinkend vorfand, während der achte Mitgefangene stranguliert und tot an einem oberen Bett hing.
Ohne Kenntnis dieser besonderen Form der organisierten Kriminalität ist der Versuch einer Aufklärung, insbesondere in einem Sicherheitsgefängnis, von vornherein aussichtslos.
Zunächst ist erwähnenswert, dass sich all diese Verurteilten in einer Art russischer Geheimsprache, „Fenja“ genannt, verständigen. Eine besondere schriftliche Verständigung wird „Maljawa“ genannt. Dafür habe ich vereidigte Übersetzer beauftragt, die sich hier auskannten (und hoffentlich nicht doch als „Maulwürfe“5 tätig waren).
Weiterhin gilt bei allen kriminellen Banden, insbesondere im Gefängnis, das „Grundgesetz“, die „Heilige Omerta“. Das Schweigegebot.
Hinzu kommt eine interne Hierarchie der Russenmafia, deren Personen ich oft durch Rückfragen beim HLKA6, bei Sicherheitsdienstleitern anderer Vollzugsanstalten sowie eigenen (oft anonymen) Hinweisen aus meiner Anstalt zuordnen konnte. Wichtig waren hier nachgeordnete Bereichsleiter, die sich mit diesen Besonderheiten vor Ort auseinandergesetzt hatten:
Der sogenannte „Aufseher einer JVA“ in dieser mafiösen Struktur ist der „Poloschenez“: ein kaum angreifbarer, sich im Hintergrund haltender und äußerst gefährlicher Berufsverbrecher mit absolutem Führungsanspruch.
Danach folgen die für die drei Gebäudeflügel (manchmal auch für jede Station) verantwortlichen „Aufseher“. Diese laufen unter der Bezeichnung „Smotrjaschijs“ und gelten als gefürchtete „Vollstrecker“.
Die große Masse der russischstämmigen Verurteilten zählt zu den „Muschiki“. Das sind die sogenannten Läufer.
Überall gibt es noch eine unterste Stufe, die Ausgegrenzten. Knastintern fallen sie unter die Bezeichnungen „Snir“ oder „Sapamoenie“ (Müll, Ratten).
Im eingedeutschten Knastjargon sind die Begriffe „Hähne, Schmutzbuckel, Böcke“ geläufig. In der JVA Butzbach fielen auch alle Homosexuellen darunter.
Alle russischen Inhaftierten zahlen in eine eigene Gemeinschaftskasse ein, den sogenannten „Obschtschjak“.
Dazu müssen Sachleistung oder Geld durch knastinterne Geschäfte erbracht werden. Oftmals erfolgen auch Geldzahlungen von außen. Dazu gibt es einen Obschtschjak-Verwalter, dessen Name selten bekannt ist. Sollte dieser sich am „Gemeingut“ vergreifen, zählt er innerhalb kürzester Zeit als schwer verletzter Insasse zu den weiteren „Besonderen Vorkommnissen“ in der Anstalt, die im Rahmen von „Tätlichen Auseinandersetzungen“ angezeigt werden und über die berichtet wird.
Da aber gemäß dem Gesetz der „Omerta“ nichts gesagt wird, sind anstaltsinterne verdeckte Recherchen mit den Ausgegrenzten, den „Snir“, oft erfolgreich.
In diesem Zusammenhang gibt es Parallelen und Hintergründe zu dem „Treasurer“ der Hells Angels pp.7
Die Hierarchie bei den „Wory w sakone“ ist recht einfach – wie bei deutschen kriminellen Gangs – anhand ihrer Tätowierungen zu erkennen.
Gefangene müssen sich beim Zugang entkleiden. Anhand der Fotoaufnahmen wird die Stellung des Gefangenen auch für die Bediensteten deutlich. Noch einfacher sieht man die Zuordnung bei dem unter Aufsicht stattfindenden gemeinschaftlichen Duschen.
Diese Thematik ist, für sich genommen, ein weiterer Teil der Komplexität bei den kriminellen Rangfolgen.
Dazu hatte ich eine besondere Unterrichtseinheit erstellt, um zumindest in Teilen darüber aufzuklären, wie in der Vollzugspraxis Einordnungen (anhand der Tätowierungen bei kriminellen Biografien, Zugehörigkeiten, Auszeichnungen oder persönlichen Einstellungen) erfolgen können. Denn daran orientieren sich im Gefängnis Fragen der Zusammenlegung, Auseinandersetzungen, Gefährlichkeit oder Informationsmöglichkeiten.
Der erhängte Straftäter wurde unter der Rubrik „Suizid“ registriert.
Da es sich aber in Kenntnis der wirklichen Motive dieser Gruppe und der Tatumstände entweder um einen Mord oder einen „angeordneten Selbstmord“ handelte, galt es, intern anknüpfend zu ermitteln. Die Polizei kam da nicht weiter. In meinem Fall ging es darum, zu verhindern, dass sich weitere derartige Fälle ereigneten. Damit musste ich rechnen.
Hierbei habe ich als SDL8 stets namentlich Rede und Antwort stehen müssen, sowohl beim Anstaltsleiter als auch bei der Aufsichtsbehörde, dem Justizministerium: „Was unternehmen Sie, um solche Vorkommnisse zu unterbinden? Was sind die Ursachen? Haben Sie die Sicherheit noch im Griff …?“
In diesem Fall konnte ich über Dritte in Erfahrung bringen, dass der erhängte Gefangene zur untersten Gruppe, den „Snir“, gezählt hatte. Unklar blieb, ob er homosexuell war, Schulden nicht bezahlen konnte oder einen Verrat in irgendeiner Form, möglicherweise noch vor seiner Inhaftierung, begangen hatte.
Seitens der Anstalt war bei der Zusammenlegung dieser acht Personen nicht ersichtlich, dass jemand dabei war, der offenbar schon in der U-Haft auf die Todesliste gesetzt worden war.
Der Auftraggeber in der JVA Butzbach konnte nur der jetzige „Poloschenez“ sein. Ein muskulöser, komplett tätowierter und dominant auftretender Berufsverbrecher namens D.
Es handelte sich um einen schlauen Gangster aus Georgien, der wegen Gewaltdelikten zu einer 14-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Dieser vermutete sicherlich, dass ich durch Verräter aus seinen eigenen Reihen regelmäßig eine Menge an Informationen erhielt.
Ein Bereichsleiter teilte mir mündlich mit, dass er einen „Snir“ oder „Sapamoenie“ (Ausgegrenzten) bei einer Auffälligkeit in einem Arbeitsbetrieb „abgegriffen“ hatte. Um dessen zukünftige Ablösung von der Arbeit abzuwenden, gab der russische Gefangene interessante Tipps, die man mir mündlich weiterleitete.
Und hier kam mir ein Zufall an anderer Stelle zu Hilfe, der ein besonderes „Geschmäckle“ hatte:
Eines Tages wurden mit dem Transportbus erneut zahlreiche, rechtskräftig verurteilte Russen in die JVA Butzbach eingeliefert. Einer der „Neuzugänge“ trug den Nachnamen „Gorbatschow“, also den gleichen Namen wie der Generalsekretär der KP in Russland.
Dies nahm ich zum Anlass, um eine körperliche Durchsuchung anzuordnen. Mehrere Kollegen führten die Sonderkontrolle durch.
Sie führten den Gefangenen in einen Einzelhaftraum und entkleideten ihn.
Nach einiger Zeit kam mein Kollege M. völlig perplex zu mir. Im Hintern von „Gorbatschow“ steckte ein Beutel mit ca. 50 Gramm Heroin, und am Penis hängend trug er einen offenbar mit Fremdurin9 gefüllten Gummi-Fingerling. Der BTM-Test hatte das weiße Pulver als „Hero“10 identifiziert.
Eindeutig handelte es sich hier um BTM-Schmuggel der „Diebe im Gesetz“ in größerem Ausmaß. Durch die Sicherstellung gingen dem Straftäter D. in seiner Funktion als russischer Gefängnis-Poloschenez ca. 5.000- 6.000 € verloren.
Tags darauf fragte mich der Bereichsleiter, auf welche Weise ich diesen Tipp erhalten hätte. In diesem Fall hatte es keinen Tipp gegeben! Lediglich der „prominente Name“ hatte zufällig zur Durchsuchung geführt.
Derartige unvermutete körperliche Durchsuchungen waren insbesondere bei Mitgliedern von inhaftierten Banden erforderlich und zur Verunsicherung dieser Berufskriminellen auch vorgeschrieben.
An der Vorbereitung zur Einbringung von Heroin durch den „Schlepper“ Gorbatschow in die Anstalt hatte sicherlich in diesem Falle eine große Zahl von Tätern mitgewirkt.
Zum Entsetzen des Betroffenen suchte ich den „Poloschenez“ D. in seiner Zelle auf. Eine solche Sache wird direkt überall bekannt: Der Sicherheitsdienstleiter der Anstalt ist beim „Boss“ in der Zelle und hat ihn sich nicht im Büro vorführen lassen!
Trotz seines Grinsens eröffnete ich D. lapidar, dass wir Bescheid wüssten. Allein die Kenntnis über die zu erwartende Heroinmenge bei „Gorbatschow“ habe das bewiesen. Auch zukünftig würde es so laufen.
Mit diesem Fake-Hinweis wollte ich ihm aufzeigen, dass das Fundament seiner Gefolgsleute in der JVA Butzbach bei ihm, dem gefürchteten Russen-Boss „Poloschenez“, Risse aufwies.
Bei dem Gespräch kam mir zugute, dass ich den Berufsverbrecher D. seit Jahren kannte, früher als Stationsbeamter, jetzt in meiner Funktion als Leiter des Sicherheitsdienstes. Wir konnten uns also gegenseitig gut einschätzen.
Der „Poloschenez“ sah, dass ich kein Protokoll führte und es keinen weiteren „Ohrenzeugen“ gab. Was immer er gesagt hätte: Es konnte nicht bewiesen werden. Eine derartige Gesprächslage ist erfahrungsgemäß vorteilhaft im Umgang mit Bandenbossen.
Ich sprach ihn direkt auf den erhängten Mitgefangenen an. Es ging hier nicht mehr um die Schilderung von dessen Todesumständen.
Wie verläuft ein solches Gespräch und mit welchem Ergebnis?
Das ergibt stets die aktuelle Situation der beiden Beteiligten, verbunden mit spontanen Fragestellungen:
Auf meine Frage: „Was war auf B III los?“ kam abschätzig von D: „Ein dreckiger Snir!“ Entscheidend war der nächste Satz: „Es gibt noch eine Ratte! Die ist als Nächstes dran!“
Eine wirkliche Aufklärung des „Suizids“ im Freizeitraum von B III war nicht zu erwarten. Es bestätigte sich jedoch der Verdacht, dass hier ein Bandenmitglied der untersten Stufe aus nicht bekannten Gründen zu Tode gekommen war.
Nun lag es an mir, einen möglichen weiteren Mord oder Selbstmord an der „anderen Ratte“ zu verhindern.
Intuitiv entgegnete ich:
„B III ist für mich abgehakt! Gorbatschow auch! Er ist verlegt worden. Die Polizei ist am Zug. Schreiben Sie mir anonym den Namen dieses anderen ,Snir‘ auf und werfen Sie das Kuvert in den Stationsbriefkasten, adressiert an mich. Gibt es noch einen Toten, haben Sie am gleichen Tag ein großes Problem! Wir haben bisher immer gewonnen …“
Damit verließ ich seinen Haftraum. Natürlich war der Hinweis auf ein „großes Problem“ bewusst nebulös gemeint!
Meine Vorgehensweise verfehlte ihre Wirkung nicht.
Schon am nächsten Vormittag fand ich unter dem eingehenden Stapel von Dienstsachen und zu kontrollierenden Briefen pp. ein anonymes Kuvert mit der Anschrift „Sicherheitsdienstleiter Görlach“.
Darin befand sich lediglich ein Zettel mit einem Namen: „Alexander Sch.“
Dieser Gefangene war auf Station C IV untergebracht und bis dato unauffällig gewesen. Er nahm jedoch abends an keiner Freizeitveranstaltung teil. Alexander Sch. war also besagter „Snir“ und möglicherweise der nächste Todeskandidat.
Ich ließ Alexander Sch. vorführen und teilte ihm mit, dass wir wüssten, welche Rolle er in seiner vermutlich ehemaligen Gruppe der „Diebe im Gesetz“ spielt und dass er hier um sein Leben bangen müsse.
Angsterfüllt druckste er herum und äußerte sich schließlich zu seiner kläglichen Situation auf der Ebene der sogenannten „Knast-Ratten“. Intellektuell war er nicht in der Lage, etwas niederzuschreiben. Jedenfalls nannte er keine Hintergründe. Er sagte lediglich, dass er Angst vor „Smotrjaschijs“ des C-Flügels habe.
Das genügte mir, um schriftlich die Bedrohungslage des Alexander Sch. darzulegen und in Absprache mit dem Behördenleiter eine umgehende Sicherheitsverlegung anzuordnen.
Am folgenden Tag wurde dieses Mitglied der untersten Stufe der „Wory w sakone“ im Einzeltransport in die JVA Kassel verlegt.
Im Gegenzug erhielt ich aus der JVA Kassel einen Häftling, den mein Kollege Sicherheitsdienstleiter ebenfalls „loswerden“ wollte, da dieser dort als renitentes Mitglied der „Bandidos“ aufgefallen war.
Die Probleme dieser unterschiedlichen kriminellen Vereinigungen gründen auf einer Ideologie, die einer Resozialisierung völlig entgegensteht.
Der deutsche Strafvollzug wird aufgrund seiner Liberalität als Schwäche offen verachtet. Es treten Akzeptanzprobleme auf, die sich in den wüstesten Ausdrücken, nicht selten auch gegenüber Kolleginnen, manifestieren.
Dennoch gelingt es durch Kenntnis der Hintergründe – und manchmal mit etwas Glück und Zufall –, die Dominanz der „rechtsstaatlichen Gewalt“ auch in besonderen Lagen zu wahren.
Folgendes möchte ich an dieser Stelle noch anmerken:
Wer über einen längeren Zeitraum, nicht nur aus einem Büro heraus, sondern „vor Ort“, regelmäßig die geschilderten Strukturen beobachten oder zahlreiche Informationen von anderen Ganoven sammeln und einordnen kann, für den lichtet sich im Gefängnis in vielen Fällen der „Nebel der Verstrickungen im subkulturellen Milieu“.
Im Gegensatz zu Gefängnissen mit sogenannten „Kurzstrafen“, der U-Haft oder Jugendvollzugsanstalten bilden sich in den Vollzugsanstalten für Straftäter mit langen Freiheitsstrafen (bis 15 Jahre und „lebenslang“) besondere Strukturen unter der Klientel heraus.
Es ist eine Parallelwelt mit eigenen Werten und Gesetzen. Durch deren Kenntnis kann dazu beigetragen werden, die Sicherheit und Ordnung im Inneren eines Gefängnisses zu gewährleisten.
2 An die Anstalt direkt angegliedertes Bezirkskrankenhaus
3 Per Funk „Alles unter Verschluss!“ Ohne akustische Alarmierung mit dem Signalhorn, dem sog. „Bär“. Die Stationsbeamten bleiben in ihrem Bereich
4 Zur besonderen Verfügung
5 „U-Boot“, arbeitet unerkannt als Agent für eine andere Organisation / Gruppe
6 Hessisches Landeskriminalamt
7 Näheres zu den inhaftierten Mitgliedern von Motorradgangs in der Haft im Artikel „OMCG“
8 Sicherheitsdienstleiter. Ab etwa 2008 „Sachgebietsleiter Sicherheit“. Bis dahin gab es als Vertreter noch den VDL (Vollzugsdienstleiter), vergleichbar dem Hauptfeldwebel („Spieß“) beim Militär, als zentraler Vorgesetzter des AVD einer Justizvollzugsanstalt in Hessen (allgemeiner Vollzugsdienst, uniformierter Dienst).
9 Fremd-Urin („sauberer“ Urin) wird bei angeordneten Urinkontrollen zu Nachweis von BTM-Konsum mitgeführt und unbemerkt ins Kontrollgefäß gegeben.
10 Heroin
Die spektakuläre Befreiung eines Dreifachmörders im Jahr 1993 aus der JVA Schwalmstadt mit einem Bundeswehrpanzer „Fuchs“ nahm seinen Anfang in der JVA Butzbach. Dort hatten sich Lothar L. und sein Mitgefangener Hans-Jürgen H. kennengelernt.
Lothar L. kannte ich als großen, hageren Mann mit immer rötlicher Gesichtsfarbe, einer Halbglatze, unauffällig und stets für ein Gespräch zu haben. Er hatte immer „ganze Sachen gemacht!“, wie er sagte: Um sein Privatleben wieder „in Ordnung“ zu bringen, ermordete er kurzerhand seine Ehefrau sowie seine Schwiegermutter und brachte zudem eine seiner Geliebten um.
Dafür wurde er 1986 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung (SV) verurteilt und in die JVA Butzbach verlegt. Er war einer der ca. 70 einsitzenden Mörder, bei etwa 700 Gefangenen insgesamt.
Bei langen Freiheitsstrafen werden Gefangene zunächst für Arbeiten innerhalb des Haftbereiches (Hafthaus) eingesetzt. Nach einer gewissen Zeit der Beobachtung und wenn es keine weiteren Auffälligkeiten gibt, besteht die Möglichkeit einer Arbeitszuweisung in einem Betrieb im Werkhof.
Lothar L. stand noch unter Beobachtung. Er verblieb sowohl bei der Arbeit, der Unterbringung als auch im Freizeitbereich stets im Hafthaus.
Die Arbeitszellen lagen auf der Ebene des Erdgeschosses im A-Flügel, der Station A I. Hier befand sich u.a. die seit den 1960er-Jahren in der JVA Butzbach tätige Fremdfirma „Kiesel“. Für dieses Unternehmen war Lothar L., gemeinsam mit etwa 15 weiteren Häftlingen, tagsüber zur Arbeit eingesetzt. Hergestellt wurden Lederarbeiten aller Art, vor allem Stanzarbeiten.
In dieser Zeit waren Wartungsarbeiten an den auf der Umgebungsmauer des Anstaltsbereiches liegenden drei NATO-Drahtrollen durch eine beauftragte Fachfirma von außerhalb im Gange. Zu diesem Zwecke benötigten die beiden Arbeiter ein kleines fahrbares Gerüst, das nur unter Aufsicht und nur zu bestimmten Zeiten im Hof für einen Zeitraum von ca. vier Tagen benutzt wurde, und auch nur dann, wenn es keine Gefangenenbewegungen gab.
Diese Arbeiten an der Mauer nutzte der Mörder Lothar L., um einen Fluchtversuch in einer bisher unbekannten Version durchzuführen.
Zum Tag des Ausbruchversuches:
Der für die Aufsicht der Wartungsfirma verantwortliche Beamte stand mit dem Rücken an die Mauer des A-Flügels gelehnt. In einer Entfernung von ca. 50 m hatte er die Arbeiter auf dem Gerüst direkt vor sich im Sichtbereich.
Plötzlich sah der Beamte von der Seite eine Person in vollem Sprint über den Hof in Richtung des Gerüsts laufen. Sofort nahm er die Verfolgung auf.
Der Vorsprung von Lothar L. betrug nur ca. 5 Sekunden. Sportlich, wie er war, sprang er an das Gerüst und zog sich an der Leiter nach oben.
Einer der beiden Arbeiter hatte dies gerade noch rechtzeitig bemerkt und schlug dem sich emporhangelnden Mörder mit der Hand auf den Kopf. Dadurch kam dessen Kletteraktion ins Stocken.
Im selben Moment packte der zwischenzeitlich angekommene Kollege einen Fuß des Flüchtenden und hielt ihn fest. Etwa zeitgleich bemerkte der Turmposten die Tat und gab über Funk Alarm: „Fluchtversuch im Sporthof!“
Binnen kürzester Zeit trafen Vollzugskollegen aus dem B- und A-Bereich ein.
Gemeinsam konnte man den sich immer noch an den Gerüststangen festhaltenden Gefangenen überwältigen.
Lothar L. kam in einen besonders gesicherten Haftraum und wurde anschließend im Einzeltransport in die JVA Schwalmstadt verlegt. Hierbei handelte es sich, neben Kassel und Butzbach, gleichfalls um eine der damals drei Haftanstalten mit der höchsten Sicherheitsstufe I in Hessen.
Der Arbeiter der Fremdfirma erhielt für sein couragiertes Auftreten später vom Anstaltsleiter ein Dankesschreiben und ein kleines Nahrungsmittelpräsent.
Wie konnte es zu dem Fluchtversuch kommen?
Um vom Arbeitsbereich des Gefangenen im Hafthaus in den Außenbezirk des Hofes zu gelangen, musste eine im mittleren Teil des A-Flügels befindliche Schleusentür zum Sporthof überwunden werden. Hierzu bedarf es eines Anstaltsschlüssels (solche, die auch für die Schließvorrichtungen der Haftraumtüren passen).
Eine Vorschrift für die Vollzugsbeamten besagt, dass die Anstaltsschlüssel stets verdeckt zu tragen sind. Möglichweise war die am Gürtel befindliche lederne Steckhülle eines Kollegen, in der sich der Anstaltsschlüssel befand, einmal verrutscht, sodass der Schlüssel längere Zeit sichtbar wurde.
Durch die seltene Fähigkeit eines fotografischen Erinnerungsvermögens gelang es, die Zahnung des doch recht großen Türschlüssels im Gedächtnis abzuspeichern.
Für die Anfertigung eines Nachschlüssels konnte im aktuellen Fall der Mitgefangene Hans-Jürgen H. in Betracht kommen, der als Maschinenbauingenieur später weitere Ausbruchsversuche auf „technischer Grundlage“ in anderen Anstalten unternahm. Er hatte im Übrigen Verurteilungen „quer durch das StGB“11 zu verzeichnen.
Lothar L. war dessen „väterlicher Freund“ in der JVA Butzbach.
Um den NATO-Draht zu überwinden, hatte sich der Inhaftierte Lothar L. unter seinem Hemd mit Lederkleidung ausstaffiert. Auch die Beine waren damit geschützt. Er trug doppelte Lederhandschuhe.
Dank seiner Arbeit in dem lederverarbeitenden Betrieb und aufgrund der Tatsache, dass er den Hofbereich sowohl von seiner Arbeitszelle als auch aus seiner Wohnzelle heraus ständig einsehen konnte, musste er nur noch eine günstige Gelegenheit abwarten.
Den nach dem geräuschlosen Öffnen weggeworfenen Nachschlüssel fanden wir neben der Tür des A-Flügels in einem Luftschacht. Es handelte sich um ein Stück Rundstahl mit angelötetem Schlüsselbart, der in Form und Einkerbungen genau dem Anstaltsschlüssel der Kollegen entsprach und folglich auch funktionierte.
Ich habe dieses sehr gut gearbeitete Relikt immer wieder beim Unterricht oder bei Referaten im Sicherheitsbereich auf Landesebene vorgezeigt, um zu dokumentieren, dass nicht nur das „Denkbare“, sondern ganz ungewöhnlich kreative Machenschaften bei kriminellen Überlegungen in einem Gefängnis zu erwarten sind.
Dem Mitgefangenen Hans-Jürgen H. konnte jedoch seinerzeit keine Verbindung zu dem geschilderten Fluchtversuch angelastet werden.
Nach seiner Entlassung aus Butzbach hat er, möglicherweise bei seinen Besuchen in der JVA Schwalmstadt, eine beispiellose Fluchtmöglichkeit für seinen Freund Lothar L. „ausbaldowert“ und diese letztlich erfolgreich mit einem gestohlenen Panzer durchgeführt. Eine wohl europaweit einmalige Befreiungsaktion.
Während einer Freistunde durchbrach Hans-Jürgen H. mit einem Panzer zwei hohe Schleusentore der JVA Schwalmstadt, nahm den zuvor informierten Mörder Lothar L. während der Freistunde im Hof auf und fuhr davon.
Lothar L. wurde später in Frankreich festgenommen und in die JVA Kassel I verlegt. Er verstarb vor einigen Jahren in einem Hospiz.
Hans-Jürgen H. saß später wieder wegen schweren Raubes und sexueller Nötigung u.a. in der JVA Schwalmstadt ein. Im Jahr 2012 unternahm er mittels eines kurzgeschlossenen Gabelstaplers einen erneuten Fluchtversuch.
Diesmal erfolglos!
Bei den im Laufe der 1980er-Jahre in der JVA Butzbach eingeführten abendlichen „Offenen Stationen12“ wurden beim Einschluss der Gefangenen an den Zellentüren mehrere Male Manipulationen festgestellt. Man hatte versucht, mit selbst hergestellten nachgemachten Schlüsseln die Türen zu öffnen.