Im Griff der Schatten - Neil Baker - E-Book

Im Griff der Schatten E-Book

Neil Baker

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Beschreibung

Ryan wächst in einer Umgebung auf, die von Härte, emotionaler Kälte und der ständigen Angst geprägt ist, nicht zu genügen. Seine Mutter, stets darauf bedacht, jede Kleinigkeit zu kontrollie-ren, vermittelt ihm das Gefühl, dass Fehler unverzeihlich sind. Sein Stiefvater, ein Mann von unbarmherziger Strenge, macht das Zuhause zu einem Ort, an dem Strafen und Demütigungen den Alltag bestimmen. In diesem repressiven Umfeld wird Ryans Kindheit zu einem ständigen Überlebenskampf – nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Doch tief in Ryan glimmt eine Flamme, ein unerschütterlicher Funke, der ihn antreibt, sich nicht von der Dunkelheit seiner Welt verschlingen zu lassen. Er träumt von Freiheit, von einem Leben, in dem er selbst entscheiden kann, wer er ist und was er sein möchte. Als Teenager fin-det er schließlich einen Weg aus der Enge seines Alltags: die rebellische Punkszene. Hier ent-deckt er eine Welt, die so anders ist als das, was er kennt – laut, wild und voller Menschen, die ihn akzeptieren, wie er ist. Zum ersten Mal erfährt er, was Freundschaft, Zusammenhalt und die Freiheit, man selbst zu sein, wirklich bedeuten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 354

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Neil Baker
Neil Baker

Im Griff der Schatten

© 2025 Neil BakerLektorat: Stefanie DouglasCovergrafik: Canva Pty Ltd

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH Heinz-Beusen-Stieg 522926 AhrensburgDeutschland

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]: 978-3-384-59766-3

Für Sean, meinen Anker, meinen Kompass und den Grund, jeden Tag ein besserer Mensch sein zu wollen. Du bist und warst mein größtes Geschenk und mein größter Lehrer.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Hinter verschlossenen Türen

Ein Schritt ins Ungewisse

Erste Schritte in die Liebe

Neubeginn in Dortmund

Berlin, Berlin. Ich ziehe nach Berlin

Im Schatten der Unterschiede

Scheiße, ich habe jetzt Verantwortung

Balance zwischen Licht und Schatten

Auf in die Sonne

Steffi

Zusammenkunft

Zurück in die Heimat

Seelenklempnerin

Epilog

Prolog

Es gibt Momente im Leben, die uns für immer prägen. Manche von ihnen sind laut, dröhnend, voller Schmerz oder Freude, während andere leise sind, fast unbemerkt, wie ein Flüstern im Wind. Doch sie alle hinterlassen Spuren, unauslöschlich, und formen den Menschen, der wir sind.

Ich habe nie geglaubt, dass mein Leben außergewöhnlich ist. Im Gegenteil. Es war bisher oft von Herausforderungen und Kämpfen geprägt, die mir mehr genommen als gegeben haben. Doch manchmal liegt gerade in diesen Auseinandersetzungen die größte Stärke, die uns vorantreibt, die uns zwingt, uns selbst infrage zu stellen und neue Wege zu gehen.

Dies ist meine Geschichte. Ich bin Ryan, und oft hatte ich mehr Fragen als Antworten. Es ist eine Erzählung über Liebe und Verlust, über Fehler und Vergebung, über die Suche nach einem Zuhause und den Wunsch, eine bessere Version seiner selbst zu werden.

Es ist auch die Geschichte eines kleinen Jungen, der in einer kalten, unnachgiebigen Welt aufwuchs, eines jungen Mannes, der sich in der Punkszene verlor, eines Vaters, der lernen musste, wie Liebe funktioniert, und eines Menschen, der sich immer wieder neu erfand. Auf der Suche nach einem Platz, den er sein Eigen nennen konnte.

Vielleicht findest du in diesen Zeilen etwas von dir selbst wieder, erkennst du ein Gefühl, einen Gedanken, eine Situation, die dich daran erinnert, dass wir alle auf derselben Suche sind: Liebe, Vergebung und nach einem Sinn.

Und wenn nicht, dann hoffe ich, dass diese Geschichte zumindest eines macht.

Dich daran erinnern, dass es niemals zu spät ist, wieder neu anzufangen.

Hinter verschlossenen Türen

Ich bin in einem kleinen Dorf in der Nähe von Dortmund aufgewachsen, in einer jener Straßen, wo jedes Haus nahezu identisch aussah. Reihenhäuser mit gepflegten Gärten, in denen die Nachbarn ihre Hecken in akkuraten Linien schnitten und ihre Blumenbeete wie kleine Kunstwerke arrangierten, zwei Bauernhöfe, eine Dorfbäckerei und Tante-Emma-Laden. Wie in Dörfern fast üblich, hatten auch die Freiwillige Feuerwehr und der Schützenverein ihren festen Platz. Sorgten diese für den sozialen Zusammenhalt im Dorf.

Von außen strahlte unser Haus Ruhe aus, doch innen herrschte eine drückende, kalte Stille, die niemals endete. Wenn ich nach Hause kam, verstummte mein Lachen, meine Schritte wurden leiser, mein Atem flacher. Es war nicht die Ruhe, die man mit Frieden assoziiert, sondern eine, die schwer auf den Schultern lag - wie eine unsichtbare Last, die ich von Kindesbeinen an mit mir herumtrug.

Meine Mutter war der Dreh- und Angelpunkt dieses Hauses. Sie war eine Frau, die alles unter Kontrolle haben musste, und diese Kontrolle manifestierte sich in unserem Haushalt. Jedes Möbelstück hatte seinen festen Platz, jeder Teppich war akkurat ausgerichtet, und alle Kleinigkeiten sollten ihren hohen Standards entsprechen. Doch diese Perfektion war nicht nur äußerlich, sie war eine Erwartung, die sie auch an mich stellte. Ich erinnere mich, wie sie einmal minutenlang ein Bild an der Wand ausrichtete, bis es perfekt hing und wie ihre Augen mich prüfend musterten, als erwartete sie die gleiche Perfektion von mir.

Ein Ereignis, das sich in diesem Zusammenhang in mein Gedächtnis eingebrannt hat, war in den ersten Wochen nach den Sommerferien. Ich hatte meine Hausaufgaben nicht vollständig erledigt, weil ich die Aufgaben schlicht nicht verstand. Statt mir zu helfen, schüttelte meine Mutter nur enttäuscht den Kopf und sagte: „Wenn du das nicht kannst, wie willst du jemals die Schule schaffen?“ Diese Worte brannten sich tief in mein Bewusstsein ein und hallten in meinem Kopf nach, während ich an jenem Tag nervös an meinem Pult saß, unfähig, eine einzige Aufgabe zu lösen.

Sie war der konstante Bestandteil in meinem jungen Leben, aber sie war ein Schatten, der über allem lag. Ihre Liebe war funktional, sie sorgte dafür, dass ich Essen hatte. Saubere Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Nie habe ich erlebt, dass sie mich in den Arm nahm, wenn ich weinte. Stattdessen reichte sie mir ein Taschentuch und sagte: „Reiß dich zusammen, Ryan.“

Schon früh lernte ich, dass Fehler keine Option war. Ein umgekipptes Glas Wasser bedeutete eine Standpauke über meine Unachtsamkeit; eine vergessene Hausaufgabe wurde als persönlicher Affront betrachtet. Es war nicht die Lautstärke ihrer Worte, die mich traf, sondern ihre Schärfe, die mich jedes Mal zusammenzucken ließ. „Warum kannst du nicht einfach aufpassen?“, war eine Frage, die ich so oft hörte, dass sie sich wie ein Echo in meinem Kopf festsetzte.

Mein erster Schultag war einer der Momente, den ich nie vergessen werde. Ich war aufgeregt, hatte meine neue Schultasche, die meine Mutter sorgfältig gepackt hatte, und einen frisch gebügelten Pullover, der ein wenig kratzte. Doch meine Aufregung wich schnell der Unsicherheit, als ich die Schule betrat.

Die anderen Kinder schienen sich zu kennen, sie lachten und unterhielten sich in einer Leichtigkeit, die mir fremd war. Ich hingegen wusste nicht, wohin ich gehen sollte, und stand verloren in der Ecke, während meine Mutter mit einer Lehrerin sprach. Als sie sich verabschiedete, sagte sie nur: „Mach keine Dummheiten.“ Es war kein Trost, sondern eine Warnung.

In den ersten Wochen fiel ich kaum auf. Ich sprach wenig, meldete mich nicht und versuchte, nicht negativ aufzufallen. Doch die Unsicherheit ließ mich oft Fehler machen. Einmal vergaß ich, meine Hausaufgaben mitzubringen, und der Lehrer fragte vor der ganzen Klasse: „Warum hast du deine Aufgaben nicht dabei?“ Ich öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Mein Gesicht brannte, die Kehle schnürte sich zu. Die anderen Kinder drehten sich zu mir um und ich hörte leises Kichern. Dieser Moment brannte sich in mein Gedächtnis ein, die Scham, die ich empfand, verfolgte mich noch jahrelang.

Dann, mit sieben Jahren, trat mein Stiefvater in mein Leben, ein Mann, der Kälte und Strenge ausstrahlte. Er war nicht der Typ, der Wärme oder Zuneigung zeigte; stattdessen war er überzeugt davon, dass ein Zuhause nur durch Ordnung und Disziplin funktionieren könnte. „Ein Zuhause ist wie ein Unternehmen: Wenn die Regeln nicht befolgt werden, bricht alles zusammen“, war einer seiner häufig wiederholten Leitsätze. Seine Haltung war militärisch, seine Erwartungen unmissverständlich.

Natürlich brachte er seine eigene Geschichte mit. Einmal hörte ich, wie er meiner Mutter von seinem Vater erzählte, einem Alkoholiker, dessen unberechenbaren Wutausbrüchen er als Kind ausgesetzt war. „Ein Mann muss hart sein“, sagte er zu ihr, „sonst wird er zu schwach, um zu überleben.“ Diese seltenen Einblicke machten sein Verhalten nicht besser, aber sie halfen mir später zu verstehen, woher seine Härte kam.

Einer der ersten Konflikte, zwischen uns war banal, aber prägend. Ich hatte vergessen, meine Schuhe ordentlich vor der Tür abzustellen. Als er nach Hause kam und sie mitten im Flur fand, explodierte er. „Wenn du nicht einmal deine Schuhe aufräumen kannst, wie willst du jemals etwas aus deinem Leben machen?“ Seine Worte trafen mich wie ein Faustschlag. Ich stand wie erstarrt, der Kopf gesenkt, die Finger zitterten an meinen Seiten. In meinem Kopf hatte ich nur einen Gedanken: „Es sind bloß Schuhe.“ „Nur Schuhe.“

Jeder Tag wurde für mich zu einer Prüfung. Vom Augenblick meines Aufstehens bis zu dem Moment, in dem ich abends ins Bett ging, drehte sich alles darum, Fehler zu vermeiden. Meine Mutter hatte ihre eigenen Vorstellungen von Perfektion und führte eine unsichtbare Checkliste über mein Verhalten und meine Schulleistungen. Mein Stiefvater hingegen verlangte absoluten Gehorsam, ohne Raum für Ausflüchte oder Zweifel.

So spielte ich ein anderes Mal gedankenverloren in der Küche mit einem Glas. Ich stellte mir vor, es wäre ein kostbarer Schatz, den ich bewachen muss. Doch meine kleinen Hände versagten, das Glas rutschte mir aus den Fingern und zerbrach in unzählige Scherben. Das Geräusch des zerbrechenden Glases hallte durch die Küche wie ein Donnerschlag. Ich erstarrte. Im nächsten Moment hörte ich seine schweren Schritte, langsam, bedrohlich, unausweichlich.

„Hast du jemals gelernt, vorsichtig zu sein?“, fragte er, seine Stimme war leise, aber schneidend, wie ein Messer, das an meiner Selbstachtung sägte. Sein Blick wanderte nicht zu mir, sondern blieb auf den Scherben auf dem Boden fixiert. Nach einem Moment des Schweigens sagte er knapp: „Räum das auf“, bevor er sich umdrehte und aus der Küche ging.

Die Tränen liefen mir über die Wangen, die Scherben vorsichtig einsammelnd, doch ich wagte es nicht, laut zu weinen. Die Angst, dass er zurückkommt und mich für die in mir vorhandenen Emotionen tadeln würde, hielt mich davon ab, meinen Schmerz zu zeigen.

In seltenen Momenten sah ich eine andere Seite an ihm. Einmal, als er dachte, ich sei schon im Bett, hörte ich, wie er meiner Mutter von der Beförderung eines Kollegen erzählte. „Der Mann hat zwei linke Hände,“ sagte er, und lachte. Ein echtes Lachen, das ich bei ihm nie zuvor gehört hatte. In diesem Moment klang er wie ein normaler Mensch. Diese kurzen Einblicke machten das, was folgte, nur noch schwerer zu ertragen.

Seine Präsenz war erdrückend, selbst in der Stille. Er war kein Mann, der viel sprach, aber wenn er es tat, hatten seine Worte Gewicht. Sie waren wie präzise Werkzeuge, die er nur dann einsetzte, wenn es nötig war, um zu korrigieren, zu belehren oder zu drohen. Eine seiner liebsten Aussagen war: „Ein Mann, der keine Disziplin hat, ist kein Mann.“ Diese Sätze waren wie unsichtbare Ketten, die mich festhielten und mir ein Gefühl von Wertlosigkeit vermittelten.

Mit jedem dieser Momente formte sich ein Teil meines Wesens, geprägt von Angst, Unsicherheit und dem verzweifelten Wunsch, Fehler zu vermeiden, ein Wunsch, der sich nie vollständig erfüllte.

Ich erinnere mich an einen Abend, als ich etwa zehn Jahre alt war. Es war ein Mittwoch, und ich hatte meine Matheaufgaben nicht verstanden. Meine Mutter saß im Wohnzimmer, ihre Augen fest auf einen Stapel Papiere gerichtet, den sie akribisch sortierte. Der Fernseher lief im Hintergrund, und das monotone Murmeln der Nachrichten füllte den Raum mit einer trügerischen Ruhe. In der Küche saß ich über meinem Matheheft und kämpfte mit einer Aufgabe, die mich zur Verzweiflung brachte. Ich hatte das gleiche Problem immer wieder durchgerechnet, doch die Zahlen ergaben einfach keinen Sinn.

Die Frustration stieg in mir auf wie Wasser, das langsam zum Kochen gebracht wird. Meine Finger krampften sich um den Bleistift, und ich begann, leise vor mich hinzumurmeln: „Kapier's einfach nicht.“ „Blöde Zahlen.“ Die Worte entglitten mir wie ein leiser Hilferuf, mehr an mich selbst gerichtet als an jemanden im Raum.

Plötzlich hörte ich Schritte, die mit Nachdruck über die Dielen kamen. Mein Magen verkrampfte sich sofort. Mein Stiefvater tauchte aus dem Nichts auf, sein Gesicht war dunkel vor Ärger. „Was hast du gerade gesagt?“ Seine Stimme war ruhig, aber durchdrungen von einer gefährlichen Schärfe. Er blieb in der Tür stehen, sein Blick brannte sich in mich. Ich spürte sofort, dass ich etwas falsch gemacht hatte, auch wenn ich nicht genau wusste, was es war.

„Ich...“ „Ich verstehe die Aufgabe nicht“, stammelte ich, meine Stimme kaum hörbar.

Er trat näher, ohne ein Wort zu sagen. Seine bloße Anwesenheit ließ die Luft in der Küche dicker werden. Er beugte sich über mein Heft, seine Hände auf dem Tisch abgestützt, sodass ich seinen Atem spüren konnte. Seine Augen scannten die Seite, und ich konnte förmlich hören, wie sich in seinem Kopf das Urteil formte.

„Rechne es noch einmal vor“, befahl er schließlich, seine Stimme kalt und emotionslos.

Meine Hände zitterten, als ich den Bleistift wieder aufnahm. Doch die Angst hatte jeden klaren Gedanken aus meinem Kopf verdrängt. Die Zahlen verschwammen vor meinen Augen. Ich setzte mehrmals an, kratzte Zahlen aufs Papier, strich sie wieder durch. Nichts ergab Sinn. Die Stille wurde unerträglich.

„Du denkst nicht nach“, sagte er schließlich. „Du sitzt hier und spielst das arme Opfer, anstatt dein Gehirn zu benutzen.“ Seine Worte waren wie Nadelstiche, präzise platziert, um maximal zu verletzen.

Ich wagte einen Blick zu meiner Mutter hinüber. Sie saß noch immer im Wohnzimmer, den Kopf über ihre Papiere gebeugt, als könnte sie uns nicht hören. Ihre Schultern waren angespannt, doch sie rührte sich nicht. In diesem Moment fühlte sich ihre Stille schlimmer an als seine Worte.

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Seine Stimme schnitt durch meine Gedanken. Ich zwang mich, den Blick zu heben. Seine Augen bohrten sich in meine, und ich sah darin eine Mischung aus Verachtung und Ungeduld.

„Wenn du jetzt nicht fähig bist, eine einfache Aufgabe zu lösen, was willst du dann später mal werden?“ Er richtete sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust. „Ein Versager, genau wie—“ Er brach ab, doch ich wusste, was er sagen wollte. Mein Vater. Immer wieder kam er auf ihn zurück, einen Mann, den ich kaum kannte.

Tränen brannten in meinen Augen, aber ich biss die Zähne zusammen. Weinen würde alles nur schlimmer machen. Stattdessen starrte ich wieder auf das Heft, die Zahlen verschwommen durch den Tränenfilm, den ich nicht wegblinzeln konnte.

„Mach die Aufgaben morgen in der Schule fertig“, sagte er schließlich, seine Stimme jetzt müde, fast gelangweilt. „Ich verschwende meine Zeit nicht mit jemandem, der nicht lernen will.“ Er drehte sich um und verließ die Küche. Keine Tür knallte dieses Mal. Das machte es irgendwie noch schlimmer.

Ich saß allein am Küchentisch, das Heft vor mir, und fühlte mich klein und wertlos. Die Stimme meines Stiefvaters hallte noch in meinem Kopf nach, und mit ihr die unausgesprochenen Worte: „Du bist nicht genug.“

***

Mein Zimmer im Obergeschoss war klein und funktionell eingerichtet. Ein Bett mit einer altmodischen Decke, ein Schreibtisch, an dem ich selten saß, und ein Regal voller Bücher, die ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Die Wände waren kahl bis auf ein Poster von einem fernen Ort, eine grüne Wiese mit Bergen im Hintergrund. Es war ein Geschenk meiner Lehrerin, Frau Köhler, die mich ermutigte, zu träumen. Dieses Zimmer war der einzige Ort, an dem es sich sicher anfühlte, obwohl die Geräusche des Hauses immer präsent waren.

Die Stimmen meiner Eltern waren oft laut, durchdrungen von Streit oder Befehlen. Wenn das erste laute Wort fiel, spannte sich mein ganzer Körper an. Meine Ohren schärften sich automatisch, versuchten zu erkennen, ob es ein gewöhnlicher Wortwechsel war oder der Beginn eines Sturms. Wenn sie anfingen, wurde ich still, lauschte den ersten Anzeichen von Ärger und zog mich zurück, bevor ich hineingezogen werden konnte. Ich schloss die Tür und hoffte, dass diese einfache Geste mich unsichtbar machen könnte. Doch das dumpfe Geräusch der Schritte auf der Treppe, die plötzlich und wütend nach oben kamen, erinnerte mich daran, dass ich nie wirklich sicher war. Es gab keinen Schlüssel, der die Tür verriegeln konnte, und keine Worte, die mich vor der Welt draußen schützen würden.

In diesen Momenten war mein kleines Regal meine Rettung. Ich hatte es in mühevoller Arbeit sortiert: Abenteuerromane in einer Reihe, Bücher über Tiere in einer anderen. Jedes Buch war eine Flucht, ein Schlüssel zu einer Welt, die so anders war als meine eigene. Ich las von Kindern, die mutig gegen Piraten kämpften, von Tieren, die auf wundersame Weise sprechen konnten, und von fernen Ländern, die so bunt und lebendig waren, dass ich mir vorstellte, die Farben würden aus den Seiten tropfen.

Mein Lieblingsbuch war „Die Reise zum Mittelpunkt der Erde.“ von Jules Verne. Die Vorstellung, in eine vollkommen unbekannte Welt abzutauchen, die von Schönheit und Gefahren gleichermaßen geprägt war, faszinierte mich. Ich stellte mir vor, wie Professor Lidenbrock und sein Neffe Axel in diese geheimnisvolle Unterwelt eintauchten, weg von allen Regeln und Erwartungen der Oberfläche. In diesen Stunden war ich Axel, mutig trotz meiner Ängste, entschlossen, Wunder zu entdecken. Ich las es immer wieder, oft mit einer Taschenlampe unter der Decke, wenn das Licht ausgegangen war und das Haus in Dunkelheit lag. Jedes Mal, wenn ich las, stellte ich mir vor, wie ich selbst Teil dieser Abenteuer wäre. Mutig, stark und frei von den Einschränkungen meines Lebens.

Doch die Flucht war nie vollständig. Auch wenn ich in meinen Büchern versank, blieben die Schatten der Realität immer präsent. Manchmal hörte ich in der Zeit des Lesens das Knarren der Treppe oder das leise Summen des Fernsehers aus dem Wohnzimmer. Diese Geräusche waren wie Ketten, die mich an meine Umgebung banden, egal, wie sehr ich versuchte, ihnen zu entkommen.

Nachts, wenn das Haus still wurde und ich endlich allein mit meinen Gedanken war, holten mich meine Ängste ein. Die Geschichten, die mich tagsüber gerettet hatten, konnten die Realitäten in meinen Träumen nicht verdrängen. Stattdessen träumte ich von Szenen, die aufschrecken ließen, von lauten Stimmen, von unerreichbaren Orten, von einer Zukunft, welche so grau wie die Gegenwart sind. Ich schreckte oft schweißgebadet hoch, das Herz raste, und mein erster Gedanke war immer: „Bin ich laut gewesen?“ „Hat er mich gehört?“ Ich wachte oft mit einem Knoten im Magen auf, unfähig, den Tag zu beginnen, ohne das Gefühl zu haben, dass die Wände meines Zimmers näher rückten.

Trotzdem war dieses Zimmer mein Schutzraum. Hier entwickelte ich meine ersten Strategien, mit der Welt umzugehen. Ich lernte, meine Gedanken zu ordnen, in stillen Monologen zu sprechen, die nie laut werden durften.

Ich übte mich darin, die Geschichten aus den Büchern mit meinem eigenen Leben zu verweben, mich selbst als Held meiner eigenen kleinen Abenteuer zu sehen. Es war ein kindlicher Versuch, Hoffnung zu schöpfen, wo es kaum eine gab.

An einem Abend im Winter fegte ein kalter Wind um die Ecken des Hauses. Er ließ die Fensterscheiben zittern und hüllte die Welt in eine klirrende, eisige Stille. Der Schnee lag wie eine schwere Decke über den Straßen, und die Straßenlaternen tauchten die Winterlandschaft in ein gedämpftes, fast melancholisches Licht. Es war einer jener Abende, an denen die Kälte selbst durch die dicksten Wände zu kriechen schien, und das Heulen des Windes schien die Einsamkeit zu verstärken, die ich so oft verspürte.

Ich saß auf meinem schmalen Bett, eingehüllt in eine alte, abgenutzte Decke, die ich fest um mich gezogen hatte. Auf meinen Knien lag ein Buch, das ich aus der Bibliothek ausgeliehen hatte. Es war alt, die Seiten vergilbt, und die Ecken waren von den vielen Händen, die es vor mir gehalten hatten, abgestoßen. Am Rand der Seiten fanden sich handgeschriebene Notizen, kleine Gedanken, Beobachtungen und manchmal nur einfache Kritzeleien, die die früheren Leser hinterlassen hatten. Diese Spuren einer unbekannten Vergangenheit machten das Buch für mich lebendig, fast so, als ob ich mit seinen früheren Besitzern verbunden wäre.

Ich blätterte langsam durch die Seiten und hielt inne, als ich auf ein Bild stieß. Es zeigte einen Jungen, der auf einer grünen Wiese stand, umgeben von majestätischen, schneebedeckten Bergen. Die klare, kalte Luft schien in seinem Lächeln eingefangen zu sein, ein Lächeln voller Aufregung und Freiheit. Der Junge trug einen Rucksack, und sein Gesichtsausdruck schien zu sagen: „Ich gehöre hierhin, in die weite Welt.“

Ich strich mit den Fingern über das Bild und spürte die raue Textur des Papiers. Der Kontrast zwischen der unendlichen Weite dieser Berge und der Enge meines eigenen Lebens war schmerzhaft offensichtlich. War dort draußen wirklich so viel Platz? So viel Stille, die nicht bedrohlich war? Die Sehnsucht, die dieses Bild in mir auslöste, war wie ein leises Ziehen in meiner Brust, ein Gefühl, das ich nicht ganz benennen konnte, aber das mich nicht losließ.

Zum ersten Mal stellte ich mir Fragen, die größer waren als meine kleine Welt: Könnte ich irgendwann einfach gehen? Die Grenzen meines Lebens hinter mir lassen? Frei sein von den Stimmen, die mir sagten, ich sei nicht genug?

Während der Wind draußen an den Fenstern rüttelte, verlor ich mich in der Vorstellung, in dieser Szene zu stehen, umgeben von der Stille der Berge, fernab von den Regeln und Erwartungen meines Alltags. Der Gedanke war überwältigend und zugleich tröstlich. Es war ein kurzer Moment, aber er pflanzte einen Gedanken in mir, eine Idee, die vielleicht eines Tages zur Realität werden könnte.

Diese Frage blieb bei mir. Jedes Mal, wenn ich ein Buch aufschlug, jedes Mal, wenn ich ein Abenteuer las, schien dieser Gedanke stärker zu werden. Vielleicht könnte ich eines Tages auch fliehen, nicht nur in die Welten der Bücher, sondern in eine echte, greifbare Freiheit.

***

Mit der Zeit begann ich, die Kritik meiner Eltern zu verinnerlichen. Ihre Stimmen wurden zu meiner eigenen, leise, aber allgegenwärtig. „Warum kannst du das nicht?“ „Du bist nicht gut genug.“ Diese Sätze brannten sich tief ein, als wären sie die Wahrheit. Ich begann, an mir selbst zu zweifeln, an meiner Fähigkeit, etwas zu schaffen, an meinem Wert als Mensch.

Doch neben diesen Selbstzweifeln keimte auch eine Wut. Es war eine Wut auf die Welt, die mir keine Pause gönnte, auf meine Eltern, die mich nicht zu sehen schienen, und auf mich selbst, weil ich nicht stark genug war, um all dem zu entkommen. Diese Wut loderte tief in mir, flackerte bei jeder kritischen Bemerkung, bei jedem verächtlichen Blick. Ich zeigte sie selten offen - dafür war in unserem Haus kein Platz. Stattdessen sammelte sie sich in mir an, baute immer mehr Druck auf.

In den dunkelsten Momenten, wenn ich allein in meinem Zimmer saß und die Stimmen meiner Eltern aus den unteren Etagen hörte, kamen Gedanken auf, die ich lange nicht zulassen wollte. Was wäre, wenn ich einfach nicht mehr da wäre? Wenn all das, die Kritik, die Wut, die ständigen Kämpfe ein Ende hätte? Diese Gedanken kamen leise, fast wie ein Flüstern, und sie erschreckten mich. Aber sie waren auch verlockend, wie eine verbotene Tür, hinter der Ruhe und Frieden lagen.

Es gab Abende, an denen diese Gedanken besonders laut wurden. Es war nach einem Streit mit meinem Stiefvater. Er hatte mich wegen einer Kleinigkeit angeschrien, ich hatte wieder einmal vergessen, meine Schuhe vor der Tür abzulegen. Seine Worte waren schneidend: „Du bist ein Versager. Du wirst nie etwas erreichen.“ Diese Sätze hallten noch lange in meinem Kopf wider, als ich in meinem Zimmer saß, die Beine an die Brust gezogen und das Gesicht in meinen Händen vergraben.

Der Gedanke, nicht mehr aufzuwachen, wenn ich mich schlafen legte, kam mir plötzlich und unaufhaltsam. Ich stellte mir vor, wie es wäre, einfach zu verschwinden, wie eine ausgeblasene Kerze. Kein Schmerz, keine Kritik, keine Enttäuschung mehr. Nur Stille. Es war ein Gedanke, der mir sowohl Angst machte, als auch Trost bot und das beängstigte mich am meisten.

Doch etwas hielt mich zurück. Vielleicht war es die vage Hoffnung, dass es besser werden könnte. Vielleicht war es die Angst, was nach dem Ende kommen könnte. Oder vielleicht war es einfach die Erkenntnis, dass ich nicht wollte, dass die Menschen, die mich so tief verletzt hatten, gewinnen. Diese Wut, die ich in mir trug, war letztlich auch das, was mich am Leben hielt. Sie war der Funke, der mich daran erinnerte, dass ich noch kämpfen wollte. Für mich selbst, für eine Zukunft, die ich mir kaum vorzustellen wagte.

Mit der Zeit lernte ich, diese Gedanken zu verdrängen, sie tief in mir zu vergraben, wo sie nicht mehr so laut waren. Doch sie verschwanden nie ganz. Sie waren wie Schatten, die sich leise in die Ecken meines Bewusstseins zurückzogen, bereit, wieder aufzutauchen, wenn die Dunkelheit mich erneut einholte. Und so lebte ich weiter, ein Gefangener meiner eigenen Wut und Zweifel, immer auf der Suche nach einem Ausweg aus der Enge, die mein Leben bestimmte.

Unser Haus hatte Regeln, die niemals laut ausgesprochen wurden, aber deren Einhaltung man mit der Klarheit eines Gesetzes erwartete. Eine dieser Regeln lautete: „Störe nicht.“ Das bedeutete, dass ich leise sein musste, wenn mein Stiefvater vor dem Fernseher saß, oder ich mich nach oben in mein Zimmer zurückziehen sollte, wenn meine Mutter Besuch hatte. Jede Abweichung davon wurde nicht mit Worten, sondern mit Taten bestraft. Diese unausgesprochenen Regeln schwebten wie eine Wolke über unserem Alltag und ich lernte schnell, mich anzupassen.

Es war ein Freitag, ich muss in etwa 10 Jahre alt gewesen sein. Es war einer der wenigen Tage, an denen ich keine Schule hatte und keine Aufgaben im Haushalt erledigen musste. Ich hatte ein neues Spielzeugauto geschenkt bekommen und meine Begeisterung war kaum zu zügeln. Während meine Mutter in der Küche beschäftigt war, um Essen zu kochen, setzte ich mich auf den Wohnzimmerteppich und begann, das Auto über das weiche Muster des Teppichs fahren zu lassen. Das leise Brummen, das ich dabei machte, war das einzige Geräusch im Raum.

Doch plötzlich wurde die Tür geöffnet, und mein Stiefvater trat ein. Schon an der Art, wie er die Tür schloss, wusste ich, dass ich etwas falsch gemacht hatte, auch wenn ich nicht wusste, was es war. Seine Augen verengten sich, als er mich auf dem Teppich sitzen sah.

„Was machst du da?“, fragte er, seine Stimme war ruhig, aber durchdrungen von einer kalten Strenge, die meinen Atem stocken ließ.

„Ich...“ „Ich spiele“, antwortete ich leise, fast flüsternd, obwohl die Antwort offensichtlich war.

„Der Teppich ist nicht zum Spielen da“, erwiderte er knapp. Dann bückte er sich, hob das Auto auf und legte es mit einer fast verächtlichen Geste auf den Tisch. „Wenn du spielen willst, geh in dein Zimmer.“

Ich nickte hastig, schnappte mein Auto vom Tisch und verschwand die Treppe hinauf. Doch ich konnte die Anspannung in meiner Brust nicht abschütteln. Es war nicht nur das Verbot, das mich störte, sondern die Art, wie er es gesagt hatte. Als wäre mein Spielen nicht nur eine Unannehmlichkeit, sondern ein Vergehen, das er nicht tolerieren konnte.

Einige Wochen später passierte etwas Ähnliches, doch dieses Mal war die Strafe härter. Ich hatte an einem verregneten Nachmittag mein Schulheft im Wohnzimmer ausgebreitet und versuchte, eine Zeichnung anzufertigen. Meine Mutter hatte mich ignoriert, und ich nahm an, es sei in Ordnung, hier zu sitzen. Doch als mein Stiefvater hereinkam, verdunkelte sich seine Miene augenblicklich.

„Was habe ich dir gesagt?“, fragte er, während er sich vor mich stellte.

„Dass ich in meinem Zimmer spielen soll“, murmelte ich, während ich langsam mein Heft zusammenklappte.

„Das gilt nicht nur für Spielen“, sagte er und griff nach meiner Hand, die das Heft hielt.

Seine Finger waren rau und stark, und ich zuckte zusammen. „Es gilt für alles, was du machst. Dieses Wohnzimmer ist kein Platz für dich und du hast hier nichts ohne unsere Erlaubnis zu suchen.“

Ich nickte schnell, aber er ließ meine Hand nicht los. „Warum hörst du nicht einfach zu?“, fragte er, und bevor ich antworten konnte, zog er mich nach oben, sodass ich aufstand. Dann spürte ich seine Hand auf meiner Wange. Der Schlag kam so schnell, dass ich ihn nicht kommen sah. Es war nicht besonders hart, aber die Überraschung und die Demütigung brannten mehr als der eigentliche Schmerz.

Ich stand da, die Hand auf meine Wange gepresst, während er mich mit einem Ausdruck von Verachtung ansah. „Geh in dein Zimmer“, befahl er, und dieses Mal folgte ich, ohne zu zögern. Meine Beine zitterten, während ich die Treppe hinaufstieg, und die Tränen brannten in meinen Augen. Doch ich wagte es nicht, sie herauszulassen - nicht, bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte.

Es gab den Moment, da wagte ich es, ihn zu fragen, warum er mich wieder einmal geschlagen hatte. Es war ein mutiger Moment, geboren aus der Verzweiflung eines Kindes, das die Welt um sich herum nicht verstand. Doch seine Antwort ließ keinen Raum für Zweifel. „Weil du lernen musst, was es heißt, Respekt zu zeigen“, sagte er und sah mich an, als hätte ich etwas Grundlegendes nicht begriffen.

In meinem Zimmer, allein mit meinem Spielzeug und meinen Büchern, dachte ich oft über seine Worte nach. Respekt, ein Wort, das in unserem Haus wie eine Waffe benutzt wurde. Es war keine Tugend, sondern ein Werkzeug der Kontrolle, eine Rechtfertigung für alles, was er tat. Und mit der Zeit begann ich, dieses Wort ebenso zu fürchten wie seine Hände.

Es war ein grauer Tag, an den ich mich ebenfalls genau erinnere, weil er für mich wie eins der Symbole für meine Kindheit stand.

Meine Klasse hatte ein Fußballspiel gegen eine andere Schule. Ich war kein besonders guter Spieler, aber ich wollte unbedingt beweisen, dass ich etwas konnte.

Während des Spiels lief der Ball direkt auf mich zu, und ich hatte die Chance, ein Tor zu schießen. Doch ich zögerte. Ein Moment des Zweifels, der alles veränderte. Ein anderer Spieler schnappte sich den Ball, und ich hörte die enttäuschten Rufe meiner Teamkollegen. Wir verloren das Spiel, und ich fühlte mich, als hätte ich sie im Stich gelassen.

Als ich nach Hause kam und meiner Mutter davon erzählte, zuckte sie nur mit den Schultern. „Vielleicht solltest du dir ein Hobby suchen, das dir wirklich liegt“, sagte sie. Ihr Tonfall war nicht absichtlich verletzend, aber die Worte trafen mich tief. Es fühlte sich an, als würde sie meine Bemühungen negieren, als wäre mein Scheitern nur eine Bestätigung dafür, dass ich nicht gut genug war.

In dieser Zeit entwickelte ich auch eine fast obsessive Angst vor Fehlern. Jedes Missgeschick, jedes Versagen fühlte sich an wie ein Beweis dafür, dass ich nicht genug war. In der Schule war ich still, meldete mich selten und wagte es nicht, Fragen zu stellen, aus Angst, etwas Falsches zu sagen. Zu Hause wurde ich noch zurückhaltender, versuchte, unsichtbar zu sein, um Konflikte zu vermeiden.

Diese Angst prägte auch meine Beziehung zu anderen Kindern. Ich hatte Freunde, aber ich hielt sie immer auf Distanz. Ich konnte nicht riskieren, dass sie die Schwächen sahen, die ich so verzweifelt zu verstecken versuchte.

Es gab aber auch Momente, die sich wie ein Lichtblick in der Dunkelheit anfühlten. Ich muss ca. 12/13 gewesen sein, als meine Lehrerin, Frau Köhler, meine Aufsatzarbeit lobte. Es war das erste Mal, dass ich das Gefühl hatte, dass jemand meine Anstrengungen wirklich sah.

„Du hast Talent“, sagte sie, als sie mir die Arbeit zurückgab. „Du kannst mit Worten etwas ausdrücken, das andere nicht können.“ Ihre Worte gaben mir für einen kurzen Moment das Gefühl, dass ich etwas Besonderes sein könnte. Doch als ich die Arbeit zu Hause zeigte, blickte meine Mutter nur flüchtig darauf. „Das ist schön“, sagte sie, bevor sie sich wieder ihren Aufgaben widmete.

Die Enttäuschung war schmerzhaft, aber Frau Köhlers Worte blieben in meinem Kopf. Sie waren wie ein Samen, der langsam Wurzeln schlug, auch wenn die Erde um ihn herum kalt und unwirtlich war.

Auseinandersetzungen mit meinen Eltern über die Schule gehörten ebenfalls zu meinem Alltag. Ich war dreizehn und hatte in Mathematik eine schlechte Note bekommen. Eine Vier. Für mich war es keine Katastrophe, sondern ein Beweis dafür, dass ich mich durch ein Fach kämpfte, das mir einfach nicht lag. Aber für ihn war es weit mehr als das.

Beim Abendessen überbrachte ich ihnen die Nachricht, mussten sie doch die Arbeit unterschreiben. Meine Mutter hielt das Blatt mit der Note in der Hand, ihre Finger leicht zitternd, während sie es meinem Stiefvater am Esstisch reichte. Ich saß zwischen beiden am Tisch, meine Knie eng am Stuhl angewinkelt, und starrte auf den Boden. Schon bevor er das Blatt las, wusste ich, was kommen würde.

Seine Augen verengten sich, als er die Vier sah. Er legte das Papier auf den Tisch, seine Bewegungen waren langsam, als ob er die Wut in sich sammeln wollte, bevor sie ausbrach. „Was ist das?“, fragte er schließlich, seine Stimme ruhig, aber so schneidend wie ein Messer.

Ich antwortete nicht sofort. Stattdessen starrte ich weiter auf den Boden, als könnte ich mich dadurch unsichtbar machen. „Es ist...“ „Nur eine Note“, murmelte ich schließlich, kaum hörbar.

Das war der Moment, in dem er explodierte. „Nur eine Note? Nur eine Note?“, schrie er, und seine Stimme hallte durch das Haus, so laut, dass ich sicher war, die Nachbarn, nein das ganze Dorf könnten ihn hören. „Du wirst niemals etwas erreichen, wenn du so weitermachst!“

Er stand auf und umrundete bedrohlich den Tisch, während ich wie festgefroren auf meinem Stuhl saß. Meine Mutter hatte sich zurückgezogen, als ob sie nicht beteiligt sein wollte, obwohl ich sicher war, dass sie genau wusste, was passieren würde. „Weißt du, was du bist?“, fragte er, und ich konnte die Antwort in seinem Tonfall hören, noch bevor er sie aussprach. „Du bist ein Versager.“

Die Worte trafen mich wie ein Schlag, und ich wollte ihm widersprechen, wollte ihm erklären, dass ich mein Bestes gegeben hatte, dass ich die Aufgaben geübt hatte, dass ich die Formeln einfach nicht verstand.

Aber die Worte blieben mir im Hals stecken. Es war, als ob mein Körper sich weigerte, meine Stimme zu benutzen, weil er wusste, dass es nichts bringen würde. Stattdessen saß ich einfach da, starrte auf den Tisch und ließ ihn schreien.

Nach einer Weile blieb er vor mir stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, seine Augen brennend vor Wut. „Du bist genauso nutzlos wie dein Vater“, sagte er, und seine Stimme war ruhig, fast kalt.

Diese Worte schnitten tiefer, als ich es jemals zugeben konnte. Mein Vater. Ein Mann, den ich kaum kannte, der für mich mehr Mythos als Realität war. In meiner kindlichen Vorstellung war er immer ein Held gewesen, jemand, der mich geliebt hätte, wenn er geblieben wäre.

Und jetzt stand dieser Mann vor mir und zerstörte dieses Bild mit wenigen Worten. Es fühlte sich an, als hätte er mir die Luft aus den Lungen genommen.

Ich spürte, wie Tränen in meinen Augen brannten, aber ich weigerte mich zu weinen. Nicht vor ihm. Nicht jetzt. Doch meine stille Rebellion brachte ihn nur noch mehr in Rage. „Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“, brüllte er und packte meinen Arm. Der Schmerz war scharf, seine Finger gruben sich in meine Haut, und ich zuckte zusammen, doch ich wagte es nicht, mich zu wehren.

„Ich habe genug von deiner Faulheit“, fuhr er fort. „Du wirst heute Abend sitzen und diese verdammten Matheaufgaben lösen, bis du sie verstehst. Keine Ausreden mehr!“

Er ließ meinen Arm los und trat zurück, seine Wut hatte ihren Höhepunkt erreicht. Meine Mutter trat vorsichtig in den Raum, wahrscheinlich in der Hoffnung, die Situation zu entschärfen, aber er schnitt ihr das Wort ab, bevor sie etwas sagen konnte. „Und du“, sagte er, ohne sie anzusehen, „hör auf, ihn immer in Schutz zu nehmen. Kein Wunder, dass er so ist, wie er ist.“

Sie sagte nichts, sondern senkte den Kopf und zog sich zurück, ließ mich allein mit ihm und meiner Scham. Ich wollte schreien, weinen, ihm sagen, dass er nicht richtig lag, dass ich nicht nutzlos war. Aber ich tat nichts davon. Stattdessen zog ich mich in mein Zimmer zurück, nachdem er mich entlassen hatte, und verbrachte den Rest des Abends mit meinen Matheaufgaben. Doch die Zahlen verschwammen vor meinen Augen, und die Worte „Versager“ und „nutzlos“ hallten in meinem Kopf wider.

In dieser Nacht lag ich wach in meinem Bett und fragte mich, ob er vielleicht recht hatte. Vielleicht war ich wirklich nicht gut genug. Vielleicht war ich wirklich wie mein Vater. Ein Bild, das ich bis zu diesem Moment immer mit Stolz gesehen hatte, aber das jetzt nur noch mit Scham verbunden war. Es war ein Moment, der mich prägte, ein Moment, der sich wie ein scharfer Dorn in mein Selbstbewusstsein bohrte und mich noch viele Jahre begleiten sollte.

In den folgenden Jahren begann ich, mich innerlich gegen die Kontrolle meines Stiefvaters zu wehren. Es waren keine großen Gesten, sondern kleine Akte des Widerstands. Ich begann, meine Hausaufgaben absichtlich nicht zu machen, oder ich versteckte mich in der Schule, um nicht nach Hause gehen zu müssen.

Einmal blieb ich nach der Schule in der Bibliothek und las ein Buch, obwohl ich wusste, dass meine Eltern mich erwarteten. Als ich schließlich nach Hause kam, war meine Mutter besorgt und mein Stiefvater wütend. „Du kannst nicht einfach tun, was du willst“, sagte er, aber in mir wuchs die leise Überzeugung, dass ich es doch konnte.

Mit vierzehn begann ich endlich, ernsthaft darüber nachzudenken, wie ich mein Leben verändern könnte. Ich wusste, dass ich nicht für immer in diesem Haus bleiben wollte. Ich begann, Geld zu sparen - kleine Beträge, die ich von meinem Taschengeld abzweigte oder bei gelegentlichen Gefälligkeiten für die Nachbarn verdiente. Es war nicht viel, aber es war ein Symbol meiner Hoffnung auf Freiheit.

Die Idee, das Haus zu verlassen, war beängstigend, aber sie war auch der einzige Gedanke, der mich durch die schwierigsten Tage brachte. Ich wusste, dass ich eines Tages gehen würde, und dieser Gedanke hielt mich aufrecht.

Ein Schritt ins Ungewisse

Es war ein Montagmorgen im Spätherbst, und der Gedanke, zur Schule zu gehen, fühlte sich an wie ein Berg, den ich nicht zu erklimmen vermag. Die kalte Luft biss auf meiner Haut, als ich den Schulweg entlangging, meine Tasche über der Schulter. Jeder dieser Schritte war schwer, jeder Atemzug fühlte sich an, als würde ich in einer unsichtbaren Last ersticken. Die Schreie, die Demütigungen, die Schläge, sie hatten sich tief in mein Inneres gefressen, wie Risse in einem Fundament, das ohnehin nie stabil gewesen war. Ich war fünfzehn und an einem Punkt angelangt, an dem ich wusste, dass ich etwas ändern musste.

In der Nacht zuvor hatte ich kaum geschlafen. Ich hatte auf dem Rücken gelegen, die Augen an die Decke gerichtet, und immer wieder die Worte geprobt, die ich sagen wollte. „Mein Stiefvater schlägt mich.“ Zu direkt? „Zu Hause läuft es nicht gut.“ Zu schwach? Die Sätze formten sich in meinem Kopf, doch keiner fühlte sich richtig an. Wie erklärt man jemandem, dass das eigene Zuhause ein Gefängnis ist?

Am Morgen hatte ich vor dem Spiegel gestanden und mein Gesicht betrachtet. Keine sichtbaren Spuren von gestern Abend. Er war immer vorsichtig gewesen, seine Wut so zu platzieren, dass man sie unter der Kleidung verstecken konnte. Mein Oberarm war noch empfindlich von seinem Griff, als er mich gegen die Wand gedrückt hatte, weil ich es gewagt hatte, ihm zu widersprechen. Aber das konnte man nicht sehen. Die wahren Spuren waren tiefer, unsichtbar.

Während ich zur Schule ging, beobachtete ich die anderen Schüler. Sie lachten, scherzten, beschwerten sich über Hausaufgaben und strenge Lehrer. Ihre Sorgen erschienen mir so klein, so unbedeutend. Ich beneidete sie um ihre Leichtigkeit, um die Selbstverständlichkeit, mit der sie durch den Tag gingen. Wussten sie, wie privilegiert sie waren, einfach nur Teenager sein zu dürfen?

Vor Frau Bergers Tür zögerte ich noch einmal. Meine Hand schwebte über dem Türknauf. Wenn ich jetzt klopfte, gab es kein Zurück mehr. Ich würde die Fassade durchbrechen, die meine Familie so sorgfältig aufrechterhalten hatte. Ich würde zum Verräter werden. Doch dann erinnerte ich mich an gestern Abend, an seine Stimme, die durch das Haus gehallt hatte, an die Angst, die mich gelähmt hatte. Nein. Ich war nicht der Verräter. Ich war das Opfer, das versuchte zu überleben.

Ich holte tief Luft und klopfte. „Herein“ rief es, und ich öffnete langsam die Tür.

Frau Berger war eine ruhige, freundliche Frau, deren Büro immer nach Papier und einem Hauch von Parfüm roch. Sie blickte auf und schenkte mir ein Lächeln. „Ryan, was kann ich für dich tun?“, fragte sie, ihre Stimme war warm, ohne Druck auszuüben.

Ich zögerte. Die Worte, die ich sagen wollte, blieben mir im Hals stecken, als würde ich gegen einen unsichtbaren Knoten kämpfen. „Es geht um zu Hause“, brachte ich schließlich hervor, meine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Ihr Lächeln verschwand, und sie legte den Stift beiseite, den sie in der Hand hielt. „Setz dich“, sagte sie sanft. „Erzähl mir, was los ist.“

Es dauerte eine Weile, bis ich alles herausbrachte. Die ständigen Vorwürfe meines Stiefvaters, die unberechenbaren Wutausbrüche, die Schläge, die sich wie eine unausgesprochene Regel in unser Leben geschlichen hatten. Frau Berger hörte aufmerksam zu, unterbrach mich nicht. Als ich schließlich fertig war, nickte sie langsam und sprach mit einer Entschlossenheit, die mich überraschte.

„Ryan“, sagte sie schließlich, ihre Stimme leise, aber mit einer Entschlossenheit, die mich innehalten ließ. „Ich danke dir, dass du mir das anvertraut hast. Ich kann mir nur ansatzweise vorstellen, wie schwer es für dich gewesen sein muss, das alles zu erzählen. Aber es war genau der richtige Schritt. Niemand - absolut niemand - sollte in so einer Umgebung leben müssen. Das, was du beschreibst, ist nicht in Ordnung, und du hast das Recht auf ein Leben, in dem du sicher und respektiert wirst.“

„Wir werden das gemeinsam angehen. Es gibt Möglichkeiten, dir zu helfen und eine Lösung zu finden, die dich aus dieser Situation herausholt. Aber dafür benötige ich auch deine Unterstützung. Ich werde dich nicht allein lassen, und ich verspreche dir, dass wir alles machen werden, damit es dir besser geht.“

Die nächsten Wochen waren eine seltsame Mischung aus Hoffnung und Angst. Frau Berger leitete den Kontakt zum Jugendamt ein, und ich wurde mehrmals dorthin eingeladen, um mit einer Sozialarbeiterin namens Frau Schubert zu sprechen. Sie war eine energische Frau, die eine gewisse Strenge ausstrahlte, aber auch eine spürbare Empathie hatte.

„Ryan, wir müssen sicherstellen, dass du in einem sicheren Umfeld leben kannst“, sagte sie nach ein paar Treffen, ihre Stimme war ruhig, aber eindringlich. „Das ist unser Ziel.“ „Ein Umfeld, in dem auch du Dich sicher und wohlfühlen kannst“, führte sie weiter aus.

Bei einem unserer Treffen saß ich in ihrem kleinen, überheizten Büro und starrte auf meine Hände. Die Uhr an der Wand tickte unerträglich laut. Frau Schubert hatte einen Stapel Akten vor sich liegen, meine Akte, nahm ich an. Es fühlte sich seltsam an, dass mein ganzes Leben, all meine Schmerzen, auf ein paar Seiten Papier reduziert werden konnten.

„Ryan“, begann sie sanft, „ich muss dir ein paar Fragen stellen, die dir vielleicht unangenehm sind. Aber sie sind wichtig, damit wir dir wirklich helfen können.“

Ich nickte, obwohl sich mein Magen zusammenzog.

„Hat dein Stiefvater dich jemals geschlagen, dass Spuren zurückblieben? Blutergüsse, Schrammen?“

Die Frage hing im Raum. Ich schluckte. „Manchmal. Aber nie im Gesicht. Immer da, wo es keiner sieht.“

Sie notierte etwas. „Und deine Mutter? Hat sie das gewusst?“

Das war die Frage, die ich am meisten gefürchtet hatte. „Sie... sie war dabei. Manchmal.“ Meine Stimme brach. „Aber sie hat nie etwas gesagt. Nie eingegriffen.“