Im Namen der Opfer - Jens Møller Jensen - E-Book

Im Namen der Opfer E-Book

Jens Møller Jensen

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Beschreibung

So mordet der Norden wirklich: Jens Møller Jensen, der bekannteste Mord-Ermittler Dänemarks, gewährt detailreiche und überraschende Einblicke in seine Arbeit und seine spektakulärsten Fälle - das ist True-Crime für alle, die auch skandinavische Krimis lieben In seiner langen Laufbahn als Leiter der Mord-Kommission Kopenhagen hat Jens Møller Jensen viele aufsehenerregende Fälle gelöst: u.a. die Ermordung der schwedischen Journalistin Kim Wall durch den Konstrukteur Peter Madsen auf dessen selbstgebautem U-Boot, einen aufsehenerregenden Schusswechsel im Kopenhagener Alternativ-Stadtteil Christiana und einen Terroranschlag auf die jüdische Synagoge. In seinem Sachbuch berichtet Jens Møller Jensen von diesen und anderen wahren Kriminal-Fällen. Er schildert dabei nicht nur, wie moderne Polizei-Arbeit aussieht, sondern konfrontiert die Leser*innen hautnah mit den Zweifeln und Anfechtungen, von denen auch ein erfolgreicher Mord-Ermittler nicht frei ist. Dabei wird deutlich, warum Jens Møller Jensen geduldig jeder Spur folgt, bis die Täter ermittelt sind: Er möchte jedem Opfer Gerechtigkeit widerfahren lassen.

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Seitenzahl: 451

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Jens Møller Jensen

mit Stine Bolther

Im Namen der Opfer

Der Leiter der Kopenhagener Mordkommission über seine schwierigsten Fälle

Aus dem Dänischen von Ulrike Strerath-Bolz

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Jens Møller Jensen ist der bekannteste Mordermittler Dänemarks. In seiner langen Laufbahn als Leiter der Mordkommission Kopenhagen hat er viele spektakuläre Fälle gelöst: u.a. die Ermordung der schwedischen Journalistin Kim Wall auf einem selbst gebauten U-Boot, einen aufsehenerregenden Schusswechsel in Christiana und einen Terroranschlag auf die jüdische Synagoge. In seinem Buch berichtet er von diesen und anderen Fällen – und konfrontiert die Leserinnen hautnah mit den Zweifeln und Anfechtungen, von denen auch ein erfolgreicher Ermittler nicht frei ist. Dabei wird deutlich, warum Jens Møller Jensen unerbittlich jeder Spur folgt, bis die Täter ermittelt sind: Er möchte jedem Opfer Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Inhaltsübersicht

Motto

Vorwort

Eine Bombe im Hotel

Die Hochzeit des Thronfolgerpaares

Wer ist eigentlich dieser Jens Møller Jensen?

Das Herreys-Konzert

Tod eines Steuerberaters

Die abgeschnittene Hand

Die Joggerin

Eine teure Kamera

Schüsse in Christiania

Wenn es Nacht wird in Bagsværd

Der Øbro-Mann

Der Präsident von Gambia

Als der Terror nach Dänemark kam

Den Einbrechern auf der Spur

Der Großvatermörder

Auf frischer Tat ertappt

Der hässliche Plan des Amagermannes

Ein vergifteter Kuchen

Der U-Boot-Mord

Statt eines Nachworts

Man kann anderen Menschen nur dann etwas bedeuten, wenn man sich selbst etwas bedeutet.

Vorwort

Bei der Eröffnung der alljährlichen Krimimesse in Horsens 2018 stellte der dänische Justizminister Søren Pape Poulsen in seiner Rede fest, dass die Fantasie es oft schwer hat, mit der Wirklichkeit mitzuhalten. Wörtlich sagte er: »Bücher über tatsächliche Begebenheiten können erschütternd sein. Aber True Crime ist wichtig, denn es kann uns helfen, Hintergründe zu verstehen. Mir gefällt es aber auch, wenn tatsächliche Ereignisse zur Vorlage von Theatervorstellungen werden und an der öffentlichen Debatte Anteil haben.«

Der Krimiautor Jesper Stein sagte auf derselben Messe: »Wir leben in einem Land, das von Sicherheit und Glück geprägt ist. Wir fühlen uns nur von Politikern und Ärzten abhängig. Sie sollen auf uns aufpassen, denn Bedrohungen unseres Körpers und unseres Privateigentums sind das Einzige, was uns in panische Angst versetzen kann.«

Genau aus diesen Gründen habe ich mich dazu entschlossen, ein Buch mit einer kleinen Auswahl der vielen Fälle zu schreiben, mit denen ich in meinen siebenunddreißig Jahren im dänischen Polizeidienst zu tun hatte.

Ich möchte dazu beitragen, ein professionelles Bild dieser schweren Verbrechen zu zeichnen, damit die Leserinnen und Leser diese Fälle nicht nur aus den Medien kennen. Und ich möchte dazu beitragen, die oft unnötige Angst der Menschen vor Kriminalität und Gewalt zu zerstreuen.

 

Schon in der ersten Woche in meinem derzeitigen Job kam ein größerer dänischer Verlag auf mich zu und wollte über ein Buchprojekt sprechen. Damals lehnte ich dankend ab. Und das war nicht das letzte Mal.

Doch irgendwann nach längerem Nachdenken, als ich feststellen musste, dass das Interesse nicht nachließ, kam ich zu einer anderen Einstellung. Denn Einblick und Wissen schaffen Sicherheit und Ruhe, und wenn die Menschen einen guten Einblick in die Polizeiarbeit und die Methoden bei der Aufklärung schwerer Verbrechen bekommen, dann fühlen sie sich vielleicht noch etwas sicherer in unserem ohnehin so sicheren Land.

Ich persönlich leide weder unter Lebensangst noch unter Lebensüberdruss, aber es ist auch für mich– wie vermutlich für alle– ein gutes Gefühl, dass die allermeisten Schwerverbrechen aufgeklärt werden und dass die Täter für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch deshalb habe ich beschlossen, in diesem Buch von wirklich schlimmen Fällen zu erzählen. Alle diese Fälle hatten tiefgreifende Folgen, nicht nur für die Opfer und die Täter, sondern auch für ihre Familien. Ihr Verlust und ihr Kummer hören auch dann nicht auf, wenn die Strafrichter ihr Urteil gesprochen haben. Im Gegenteil, sie leiden oft ein Leben lang.

Die Angehörigen der Mordopfer haben ein Recht darauf, dass das Familienmitglied, das sie verloren haben, nicht in Vergessenheit gerät. Und ich hoffe außerdem, dass potenzielle Täter nach der Lektüre meiner Fallgeschichten anders denken und dass so vielleicht der eine oder andere Mord, das eine oder andere Verbrechen verhütet werden.

 

In den Medien laufen Geschichten von tatsächlichen Verbrechen unter der Bezeichnung True Crime und es gibt viele Möglichkeiten, dieses Genre zu hören, zu sehen oder zu lesen. Ich hoffe, dass ich mit meinen Berichten dazu beitragen kann, die Verhältnisse rund um Schwerverbrechen in Dänemark zu aktualisieren und zu beschreiben.

In meiner Arbeit habe ich die dunklen Seiten des Lebens kennengelernt, bin vielen Schicksalen begegnet und musste mit diesen Begegnungen umzugehen lernen. Sie haben mich geprägt und ich hoffe, wenn Sie dieses Buch lesen, kommen auch Sie dazu, über die Schattenseiten unseres Daseins nachzudenken und Ihr eigenes Leben im Verhältnis dazu zu sehen.

Dieses Buch soll auf keinen Fall im Dienste der Unterhaltung mit blutrünstigen Details aufwarten. Es soll auch keine Enthüllungsstory über die neuesten Polizeimethoden sein. Alle Fälle, von denen ich hier berichte, wurden aufgeklärt. Das soll nicht heißen, dass meine Abteilung immer alle Fälle aufklärt oder dass mir unaufgeklärte Fälle nichts bedeuten. Im Gegenteil: Ich habe mehrfach Ermittlungen geleitet, die ins Leere liefen, und ich gebe zu, diese Fälle lassen mich bis heute nicht los. Ich hoffe, dass diese Rätsel eines Tages gelöst und dass die Täter zur Verantwortung gezogen werden.

 

Wichtig ist mir noch die Feststellung, dass ich die Fälle, von denen in diesem Buch die Rede ist, nicht selbst gelöst habe. Mein Anteil reicht von Fällen, bei denen ich direkt am Tatort war und mit dem Täter zu tun hatte, bis hin zu solchen, bei denen ich nur der Sparringspartner für die leitenden Ermittler und ihre Teams war. Mein Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen in der Ermittlungsarbeit– einer Arbeit, die oft genug bedeutet, dass man zu den unmöglichsten Tages- und Nachtzeiten seine Familie und Freunde im Stich lassen muss.

Die polizeiliche Ermittlungsarbeit ist immer Teamwork und wird von vielen verschiedenen Fachgruppen durchgeführt. Bevor die Ermittlungsteams der Kriminalpolizei auftauchen, haben die kompetenten Kollegen vom Streifendienst und auf den Revieren, oft auch die Hundeführer bereits Großartiges geleistet. Ihre Arbeit ist oft von ganz entscheidender Bedeutung für die Aufklärung eines Falls. Auch darauf werde ich in den Kapiteln dieses Buchs mehr als einmal eingehen. Wichtig ist aber auch unsere enge Zusammenarbeit mit den Juristen in den Staatsanwaltschaften. Sie spielt ebenfalls eine bedeutende Rolle für das Gesamtbild.

Im Innenverhältnis arbeiten wir eng mit den Kriminaltechnikern des Nationalt Kriminalteknisk Center (NKC) zusammen, deren Arbeit am Tatort von unschätzbarem Wert ist, ebenso mit unseren IT-Spezialisten im Nationalt Cybercrime Center (NC3). Sie alle haben ihren Anteil an den guten Aufklärungsraten der dänischen Polizei.

Unsere engsten externen Partner sind die Spezialisten von der rechtsmedizinischen Abteilung der Universität Kopenhagen, in der Pathologen, Odontologinnen, Rechtsgenetiker und Anthropologinnen beschäftigt sind.

All diesen fähigen Experten möchte ich für ihren Einsatz und die Zusammenarbeit danken.

 

Meine Familie war in all den Jahren, die ich im Polizeidienst verbracht habe, zu einem Leben gezwungen, bei dem man nie wissen konnte, ob ich zum Abendessen zu Hause sein würde und ob geplante Aktivitäten nicht plötzlich wegen eines großen Falles gestrichen werden müssten. Ich bin dankbar für die Unterstützung.

Und schließlich danke ich auch noch meinem Verlag, Politikens Forlag, der Lektorin Mette Weyde und meiner Co-Autorin Stine Bolther, die mich durch ihre unermüdliche Arbeit und Recherche zu den Geschichten noch einmal zu jedem einzelnen Fall zurückbrachte. Ohne sie wäre dieses Buch niemals zustande gekommen.

 

In den folgenden Kapiteln berichte ich von neun spektakulären Fällen, an denen ich in irgendeiner Weise mitgearbeitet habe. Stine Bolther hat aufgrund ihrer Recherchen in Gerichtsakten, Urteilsbegründungen, Zeitungsartikeln und Dokumenten die kurzen Einleitungen zu manchen Kapiteln geschrieben.

Zwischen den Kapiteln finden sich Anekdoten aus meinem Leben. Sie sollen den Text ein wenig auflockern– vielleicht kann ein Lächeln zwischendurch von den düsteren Geschichten ablenken. Und vielleicht können diese Anekdoten auch dafür sorgen, dass sich die einzelnen Geschichten erst einmal setzen dürfen. Eine kleine Erholung für Sie, bevor Sie beim Lesen zum nächsten Schwerverbrechen übergehen.

Last but not least wünsche ich mir, dass die Erinnerung an die Menschen, die ihr Leben verloren haben, weiterlebt. Sie haben es verdient, dass man sich an sie erinnert und ihr Andenken in Ehren hält.

 

Jens Møller Jensen, Kopenhagen im September 2018

Eine Bombe im Hotel

Mit einem Rucksack über der linken Schulter betritt der dunkelhaarige Mann ganz ruhig die Toilette des Hotels Jørgensen in Kopenhagen. Er schließt die Tür hinter sich, verriegelt sie, sodass das rote Zeichen am Schloss minutenlang zu sehen ist. Plötzlich hört man einen lauten Knall und die Überwachungskamera des Hotels filmt einen Mann, der wegläuft, jetzt ohne Rucksack und mit blutenden Verletzungen im Gesicht. Er läuft in den Keller und sucht etwas in einem Schrank. Sekunden später läuft er zur Tür hinaus ins Freitagsgewimmel der Kopenhagener Innenstadt. Niemand hat gesehen, was er aus dem Schrank holte.

(Quelle: Zeitungsartikel über den Fall)

 

Der Anruf vom Geschäftsführer des Hotels Jørgensen ging am Freitag, dem 10. September 2010, um 13:29 Uhr bei der Polizei ein. Das Jørgensen ist ein kleines Budget-Hotel in der Innenstadt von Kopenhagen, wo vor allem dänische Schulklassen auf Studienfahrt und ausländische Rucksackreisende wohnen. Von den Fenstern aus blickt man auf den Israels Plads, es gibt Schlafsäle wie in einer Jugendherberge, aber auch einige Einzel- und Doppelzimmer.

An diesem Tag war etwas höchst Ungewöhnliches in einer Toilette im Bereich der Gemeinschaftsräume geschehen. Man hatte einen lauten Knall gehört, dann war ein Mann herausgelaufen, der im Gesicht, an Armen und Händen blutete. Zeugen beobachteten, wie er zum H.C. Ørstedspark lief, den die Polizei dann auch schnell umstellte. Der Mann hätte quer durch den Park und auf der anderen Seite wieder hinauslaufen können, bevor die Streifenwagen da waren, doch genau das tat er nicht. Vielleicht hatten ihn die zahlreichen Verletzungen im Gesicht aufgehalten. Ein Zeuge hatte ihn jedenfalls beobachtet, wie er an einem Brunnen im Park stand und sich mit dem kalten Wasser das blutende Gesicht abwusch.

Der Ermittlungsleiter fuhr sofort zum Tatort. Im ersten Chaos versammelten sich viele Polizisten, Kriminaltechniker, Leute von der chemisch-bakteriologischen Bereitschaft und Bombenspezialisten beim Hotel Jørgensen und im nahe gelegenen Park. Und der Ermittlungsleiter kam schnell zu der Ansicht, dass auch die Abteilungen für Kapitalverbrechen und Organisierte Kriminalität hinzugezogen werden sollten. Deshalb informierte man die Mitarbeiter aus den beiden Abteilungen, dass sie an diesem Freitagnachmittag nicht nach Hause gehen sollten, solange keine näheren Informationen vorlägen. Normalerweise sind die Schichtwechselzeiten bei der Polizei morgens um sieben, nachmittags um fünfzehn und abends um dreiundzwanzig Uhr.

Der Ermittlungsleiter verfügte über seinen eigenen Bereitschaftsdienst und auch die Polizeistationen hatten Ermittler im Nachmittagsdienst, die jetzt mit ein paar Leuten aus der Zentrale zur Polizeistation Bellahøj fuhren und dort zunächst die Aufgabe hatten, die dreißig Zeugen zu vernehmen, die man vom Hotel Jørgensen hierhergebracht hatte.

Selbstverständlich wurden auch in der näheren Umgebung des Hotels Vernehmungen durchgeführt. Diese Vernehmungen sind ein ganz grundlegender Teil der Ermittlungen im Umkreis des Tatorts. Mit ihnen sichern wir die Informationen der Menschen, die sich am Ort eines Verbrechens aufgehalten haben. Was haben sie gesehen, gehört, beobachtet, erlebt? Oft finden auch kleine Details unser Interesse, auch Dinge, von denen die Leute denken, sie seien uninteressant.

Ich selbst war an diesem Tag dienstlich in Roskilde, wo ich bei der Polizei von Seeland arbeitete. Wieder zu Hause in Smørum, wollte ich mit meiner damaligen Frau zu einem doppelten fünfzigsten Geburtstag in ein Kopenhagener Restaurant fahren. Mein guter Freund Flemming Drejer feierte dort zusammen mit einem anderen Freund, Jan Nancke. Erst in den Radionachrichten hörte ich von der Bombenexplosion und dachte sofort an die Kollegen in der Hauptstadt. Als wir später auf dem Weg zu der Geburtstagsfeier an dem massiven Polizeiaufgebot um den H.C. Ørstedspark vorbeikamen, begriff ich, dass das ein größerer Fall war, aber ich ahnte natürlich nicht, dass ich mich noch eingehend damit beschäftigen würde.

Während des Geburtstagsfestes sprachen wir nicht besonders viel über den Hotel-Jørgensen-Fall. Das eine Geburtstagskind, Flemming Drejer, war zu dieser Zeit Leiter der Polizei im Norden der Insel Seeland, deshalb musste er zwischendurch telefonieren, weil die Fährverbindung nach Schweden unterbrochen war. Ansonsten ging es um gute Laune, Geselligkeit und Getränke, die zu dem festlichen Anlass passten.

 

Inzwischen hatte sich Dänemarks bester Bombenexperte aus dem kriminaltechnischen Zentrum an die Arbeit gemacht. Er hatte am Standort seiner Abteilung am Slotsherrensvej gerade alle Materialien für den Bereitschaftsdienst am Wochenende im Auto verstaut, als der Alarm kam. Deshalb war er schnell am Tatort und bemerkte dort einige seltsame Dinge. Zum einen fand er ein paar miteinander verbundene Leitungen, zum anderen stellte er fest, dass es in der Decke sehr viele Einschläge und Löcher gab. Einige durchgebrannte Glühbirnen lagen am Boden und eine Batterie war dort angeschlossen.

»Das könnte der Zündmechanismus einer Bombe sein«, sagte er und löste bei der dänischen Polizei einen Großalarm aus. Denn der Experte vermutete sehr stark, dass die Toilette von einer Bombenexplosion getroffen war. Er hatte eine ganze Reihe von Fortbildungen unter anderem beim FBI gemacht, er wusste also sehr genau, wovon er redete.

Die Bombe war um 13:25 Uhr hochgegangen. Um 13:38 Uhr fanden einer unserer erfahrensten Hundeführer, Alan Syhler, und sein Hund den Täter. Er hatte sich in einem Gebüsch versteckt, als der kluge Hund der Gruppe 1 bei der Durchsuchung des Parks seine Fährte aufnahm. In der Gruppe 1 finden sich die besten Polizeihunde, die wir haben. Der Beamte rief dem Mann zu, er solle aus dem Gebüsch kommen. Der Bombenleger kroch heraus und versuchte zu flüchten, wurde aber von dem Hund gestellt. In diesem Moment sah Alan Syhler, dass der Täter eine Tasche bei sich hatte. Aus diesem Grund behandelte er ihn wie einen potenziellen Selbstmordattentäter.

Unsere fantastischen Hundeteams mit Alan Syhler an der Spitze hatten die Situation total im Griff und reagierten richtig. Sie sperrten und evakuierten den Park und hielten Sicherheitsabstand zu dem Bombenleger, der in Handschellen auf dem Weg lag.

»Auf den Bauch legen und liegen bleiben«, hatten sie ihm befohlen. Und das tat er. Ihm war wohl klar, dass er mit seinem Leben spielte, wenn er jetzt noch einen Fluchtversuch unternahm.

 

So lag er da, mehr als vier Stunden. Die Beamten hatten den Eindruck, als würde er etwas unter seinem Kopf verstecken, konnten aber nicht erkennen, um was es sich handelte. Er hatte schwarze Haare und trug blaue Jeans, ein helles Shirt, schwarze Schuhe und ein Halstuch.

Erst nach ein paar Stunden kam unsere »Rullemarie« mitsamt den Bombenexperten, die sich den Mann näher ansehen sollten. »Rullemarie« ist der Spitzname eines rollenden Roboters, der auf eine Person oder ein Objekt zufahren und Menschen bzw. Gegenstände auf Sprengstoff untersuchen kann. Während der Bombenleger durchsucht wurde, lag eine Abteilung des Sondereinsatzkommandos in Bereitschaft, um einzugreifen, wenn es die Situation erfordern sollte. Dieses Sondereinsatzkommando, auf Dänisch »Aktionsstyrken«, kurz AKS, ist eine Einheit, die der Rigspoliti und dem Inlandsnachrichtendienst (PET) unterstellt ist. In besonders schwierigen Fällen und zur Verhaftung besonders gefährlicher Verbrecher können wir das AKS zur Unterstützung anfordern. Diese kleine, eng zusammengeschweißte Einheit besteht aus extrem professionellen und fähigen Leuten. Sie sind gut ausgebildet und Spezialisten für verschiedene Teile eines Zugriffs.

Beim AKS gibt es auch spezielle Hundeführer und Scharfschützen, die eine besondere Ausbildung im Schießen auf große Entfernungen haben– und das nötige mentale Training, um mit der Tatsache zurechtzukommen, dass sie einen Menschen erschießen müssen.

Während die »Rullemarie« den Mann durchsuchte, der auf dem Boden lag, löste sich plötzlich sein eines Bein. Es war eine groteske Situation, die für einiges Chaos sorgte. Was passierte hier? War das Bein bei der Bombenexplosion abgerissen worden? Handelte es sich um eine Prothese? Schnell stellten die Kollegen fest, dass es sich um ein künstliches Bein handelte.

 

Die »Rullemarie« fährt in den H.C. Ørstedsparken ein (Foto: Ritzau/Scanpix)

 

Nachdem die »Rullemarie« alles durchgecheckt und nichts gefunden hatte, näherte sich ein Bombenspezialist in voller Sicherheitsausrüstung dem Mann, um mit ihm zu sprechen. Erst am Abend, genauer gesagt um 19:31 Uhr, kam ein AKS-Arzt, um den Mann medizinisch zu untersuchen. Das war sechs Stunden nach der Explosion und vier Stunden nach der Verhaftung, aber in einer solchen Situation kann man kein Risiko eingehen. Die ganze Zeit waren ein Arzt und ein Rettungswagen in der Nähe im Stand-by, falls irgendetwas passieren sollte. Solange der Mann am Leben war und keinen unmittelbaren körperlichen Schaden genommen hatte, wollte sich ihm niemand allzu schnell nähern.

Als klar war, dass er keinen Sprengstoffgurt und auch sonst keine Waffen bei sich hatte, sollte er ins Rigshospitalet gebracht werden, um dort ärztlich untersucht und versorgt zu werden. Die Meldung, er sei ins Krankenhaus gebracht worden, ging an alle internen Systeme bis hinauf zur Regierung. Doch in diesem Moment kam eine etwas seltsame Frage aus Christiansborg: »Sollen wir euren Meldungen glauben oder dem, was wir in den Nachrichten auf TV2 sehen?«

Tatsächlich befanden sich die Reporter in einem Haus ein Stück vom Park entfernt und filmten, sodass man sehen konnte, dass der Verhaftete noch da war und dass sich rundum jede Menge Aktivität abspielte. Peinlich … Natürlich waren die Livebilder korrekt, der Mann war noch nicht im Krankenhaus, er sollte gleich abtransportiert werden.

Zunächst wurde ihm ein weißer Schutzanzug übergezogen, damit keine biologischen Spuren verloren gingen. Der Gegenstand unter seinem Kopf war übrigens ein Personalausweis, von dem sich später aber herausstellte, dass er nicht ihm gehörte. Wie schon berichtet, hatte ein Zeuge beobachtet, dass der Mann sich an einem Springbrunnen im Park gewaschen hatte, aber man konnte deutlich sehen, dass er von der Explosion böse Gesichtsverletzungen davongetragen hatte. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass er sich ganz in der Nähe des Explosionsortes befunden hatte, aber war er allein gewesen? Oder gab es noch mehr Täter? Was steckte hinter der ganzen Sache?

Alles war möglich und alles musste ganz genau untersucht werden.

Der einbeinige Mann machte keine Angaben zu seiner Identität oder zur Sache. Das machte die Ermittlungen schwierig, aber nicht unmöglich. Im Rigshospitalet wurde er zunächst ärztlich untersucht, wie wir es in einem solchen Fall immer tun. DNA-Proben wurden genommen, er wurde auf Verletzungen hin untersucht, von denen er viele hatte, vor allem im Gesicht.

Die Nacht verbrachte er im Gefängnis, bevor er am nächsten Tag zur ersten Vernehmung gebracht wurde, wo ihm auch seine Rechte erklärt wurden. Nach wie vor weigerte er sich, etwas zu sagen. Er machte keine Angaben über seine Identität und sagte im Gefängnis auch nicht, ob er Schweinefleisch oder nur Rindfleisch aß. Also bekam er Kartoffeln. Er bat darum, dass man ihm einen Koran, eine Bibel und eine Thora als Lesestoff in die Zelle bringen möge. Offenbar war er also ein gläubiger Mensch, wollte aber keinen Hinweis darauf geben, welcher Religion er angehörte.

Das machte mich nachdenklich.

 

Ich war ja wie gesagt auf dem Geburtstagsfest von Flemming Drejer gewesen und hatte nicht weiter über den Fall nachgedacht, doch am nächsten Morgen um acht Uhr rief mich mein damaliger Chef von der Midt-og Vestsjællands Politi an: Chefpolitiinspektør Sten Skovgaard.

»Jens, könntest du wohl nach Kopenhagen kommen und die Ermittlungen leiten?«, fragte er mich.

Mit anderen Worten: Man brauchte mich in der Hauptstadt. Ich ließ mir einige Informationen über die Aufgabe geben, die sich nach einer großen, sehr interessanten Herausforderung anhörte, und nahm das Angebot dann an. Schnell sprang ich noch unter die Dusche und war wenig später bereit zum Arbeiten, wenn auch etwas müde und leicht verkatert.

Am Samstagmittag um zwölf Uhr, einen Tag nach der Bombenexplosion im Hotel Jørgensen, traf ich mich zu einer ersten Besprechung mit dem damaligen Polizeipräsidenten Jørgen Aaby, Kripochef Svend Foldager, den Polizeidirektoren Ove Dahl und Mogens Lauritsen, Polizeihauptkommissar Steffen Th. Steffensen, Polizeihauptkommissar Kim Kliver vom NEC und dem leitenden Polizeidirektor Michael Hellensberg vom Inlandsgeheimdienst PET. Bei diesem Treffen wurde die Einrichtung einer Sonderkommission beschlossen, die wir Taskforce København nannten und die sich ausschließlich mit diesem Fall beschäftigen sollte. Ich entwickelte ein kleines Organisationsdiagramm und dann konnten wir auch schon anfangen.

Ich wurde Leiter der Gesamtermittlungen und hatte zwei Kommissare an der Seite, die die nach vorn bzw. in die Vergangenheit gerichteten Ermittlungen durchführen sollten. Den beiden waren einige Vicepolitikommissare unterstellt, sodass die Taskforce insgesamt fünfundzwanzig bis dreißig Ermittler plus sechs Leiter und sechs Leute vom Nachrichtendienst umfasste.

Der Nachrichtendienst hat sich von einer recht geschlossenen Organisation hin zu einer offeneren Arbeitsweise entwickelt. Dies war jedoch das erste Mal, dass der PET offiziell seine Leute in eine polizeiliche Ermittlung schickte, wo sie auf Augenhöhe mit uns zusammenarbeiten und nicht nur von außen auf unsere Arbeit schauen sollten.

Nun könnte man vielleicht denken, das seien aber ziemlich viele Kräfte für einen solchen Fall. Schließlich war der mutmaßliche Täter bereits in Haft, die Bombe war hochgegangen. Aber damit war die Sache ja nicht erledigt. Es gab noch sehr viel Ermittlungsbedarf. Wer war der Täter? Wir waren uns relativ schnell einig, dass die Explosion in der Toilette nicht geplant gewesen war. Aber was war dann sein Ziel gewesen? Und was war sein Motiv? Damals waren die Mohammed-Karikaturen noch in aller Munde. Sie waren seit Jahren ein Dorn im Auge verschiedener fanatischer religiöser Fundamentalisten und Terroristen und für diese Leute gilt es als besonders ehrenvoll, Attentate an den Jahrestagen früherer Angriffe durchzuführen. Am Tag nach der Bombenexplosion jährte sich der 11. September zum neunten Mal. Am 11. September 2001 waren die USA von mehreren Terrorangriffen getroffen worden. Konnte es da einen Zusammenhang geben? Wir mussten herausfinden, ob es überhaupt einen terroristischen Hintergrund gab, ob der Mann ein radikalisierter Attentäter war. Und das lässt sich nicht klären, wenn man nur vier Ermittler in einem Büro sitzen hat. Dafür braucht man wirklich große Ressourcen. Aber erst mal mussten wir feststellen, ob es sich um einen Einzeltäter handelte oder ob es Mittäter gab.

An diesem Samstag stand auf der Titelseite der Tageszeitung Ekstra Bladet: »PET heute Abend: Terror nicht ausgeschlossen«.

 

In Dänemark werden Fälle mit einem terroristischen Hintergrund immer vom Nachrichtendienst übernommen, solange keine konkrete Tat vorliegt. Nach einer Tat übernimmt die Polizei in dem Kreis, in dem der Tatort liegt. Unsere Aufgabe als Abteilung für Tötungsdelikte besteht darin, rückwärts zu ermitteln, während der PET vorwärts ermittelt, um herauszufinden, ob weitere Anschläge drohen. Das alles passiert natürlich in enger Zusammenarbeit.

In diesem konkreten Fall bestand unsere Aufgabe darin, zu dokumentieren, was der Mann geplant hatte. Handelte es sich um einen Terroranschlag? Wie und wo hatte der Mann sich radikalisiert? Die Aufgabe vom PET lag darin, herauszufinden, ob er Mittäter in anderen Ländern hatte. Hatten er oder andere einen Anschlag in Dänemark geplant? Der PET war auch damit beauftragt, die Nachrichtendienste anderer Länder mit Informationen über eventuelle Anzeichen eines bevorstehenden Terroranschlags zu versorgen.

Wir schickten Anfragen über das Kommunikationszentrum der Rigspoliti in die ganze Welt, unter anderem mit Fotos und Beschreibungen des Mannes. Der PET tat dasselbe in den eigenen geschlossenen Systemen. In den meisten westeuropäischen Ländern gibt es eine Art Mini-Nachrichtendienst, der Teil der offen arbeitenden Polizei ist. In Dänemark, Schweden und Norwegen werden diese Aufgaben komplett von den verdeckt arbeitenden Nachrichtendiensten übernommen. Das brachte einige Herausforderungen mit sich. Wenn wir über die offenen Netzwerke bei den Polizeibehörden anderer Länder anfragten, antworteten ihre Anti-Terror-Einheiten über das Netzwerk PWGT (Police Working Group on Terrorism), das bei Europol angesiedelt ist. Bei uns in Dänemark landete die Antwort aber in einer PET-Mailbox und es konnte leider manchmal eine Weile dauern, bis sie die Mail fanden, die eigentlich an die Polizei adressiert war.

Ich habe mehr als einmal geflucht und versucht, jemanden dazu zu bewegen, dass sich an diesen Verhältnissen etwas ändert, denn ich glaube nicht, dass das dänische Modell sinnvoll ist. Aber dafür braucht es eine Gesetzesänderung. Und solange die nicht vollzogen ist, sitzt im neuen Terrornetzwerk von Europol halt ein Vertreter des dänischen Staates, der eigentlich PET-Mitarbeiter ist und sich in Teilzeit mit dieser Aufgabe beschäftigt, während er die übrige Zeit mit seinen PET-Aufgaben in Den Haag befasst ist.

Da kann es schon mal sein, dass er nicht jeden Tag die Mailbox checkt, in der Informationen für uns landen. Und wenn tatsächlich ein Terroranschlag stattfindet, ist er mit seiner Arbeit für das geschlossene nachrichtendienstliche Netzwerk beschäftigt– was ja nur vernünftig ist– und lässt den Stuhl bei Europol leer. Wie gesagt, das ist nicht besonders sinnvoll und kann im äußersten Fall unabsehbare Folgen haben.

Nach dem Treffen bekam ich einen Haufen Geld bewilligt, um eine Eil-DNA-Analyse machen zu lassen. So eine Analyse kostet umgerechnet etwa 13000 Euro, aber dafür bekommt man das Ergebnis auch schon nach vierundzwanzig Stunden.

So konnten wir das DNA-Profil mitsamt den Fingerabdrücken und einem Foto des Bombenlegers in die Welt hinausschicken. Wir hofften natürlich, dass die Kollegen irgendwo im Ausland ihn erkennen würden.

 

Im Hotel Jørgensen hatte die Durchsuchung bereits am Freitag begonnen und war während des Wochenendes weitergeführt worden. Das ganze Haus wurde auf den Kopf gestellt, außerdem sicherten wir jede Menge Videomaterial von den Überwachungskameras aus dem Hotel und aus den umliegenden Straßen. Unter anderem war da zu sehen, wie der Bombenleger die Toilette betrat, die dann 38 Minuten später in die Luft ging. Dann rannte er weg, begab sich zu einem Garderobenschrank im Keller und flüchtete danach aus dem Hotel.

Alle Hotelgäste waren, wie schon berichtet, am Freitagabend zur Polizeistation Bellahøj gebracht worden, wo sie dann vernommen wurden. Unter ihnen befand sich ein japanischer Tourist, der eine besonders interessante Aussage machen konnte. Er hatte im selben Zimmer übernachtet wie der Bombenleger und mit ihm gesprochen. Tatsächlich hatte er sogar die eine Hälfte des Namens mitbekommen. Wir wussten nicht, ob er den Rest einfach nicht richtig verstanden hatte oder ob der Mann absichtlich seine Identität verschleiert hatte. Jedenfalls hatten sich die beiden ein wenig angefreundet und in den zwei Tagen vor dem Anschlag gemeinsam ein paar Touren durch die Stadt gemacht. Der Japaner erzählte, dass sie in einer Bar namens Floss in der Nähe der Hauptstraße Strøget gewesen waren, dass der Bombenleger keinen Alkohol getrunken hatte und dass er erzählt hatte, er interessiere sich für Kampfsport. Sie hatten französisch miteinander gesprochen.

»Er war ein bisschen komisch«, berichtete der Japaner und erklärte diesen Eindruck damit, dass der Bombenleger sehr zurückhaltend gewesen sei und versucht habe, anderen Menschen aus dem Weg zu gehen. Außerdem habe er sehr viel Zeit im Keller an seinem Garderobenschrank verbracht.

Ein anderes wichtiges Detail, das der Japaner uns liefern konnte, bezog sich darauf, dass der Bombenleger sich einmal für etwa zehn Minuten seinen Laptop ausgeliehen hatte. Diese Information war natürlich Gold wert. Der Mann hatte kein eigenes Smartphone und auch keinen Computer gehabt, nichts, mit dem er sich verraten konnte. Auch keine Papiere, aus denen seine wahre Identität hervorging. Stattdessen führte er viererlei Papiere mit gefälschten Identitäten mit sich. Bei der Einreise nach Dänemark hatte er sich als Franzose mit Namen Didier Maxime ausgegeben, im Hotel war er unter dem Namen Raoul Foltz gemeldet und das Ticket für die Rückreise war auf den Namen Hans Veller ausgestellt. Seine vierte Identität ging aus einem belgischen Ausweis hervor. Da hieß er David François J. De Vicq de Cumptich.

Sofort schickten wir den Computer des Japaners zur Untersuchung an unsere Techniker, die dann auch schnell herausfanden, dass der Bombenleger auf Google nach der Tageszeitung Jyllands-Posten gesucht hatte. Außerdem hatte er den Kulturredakteur der Zeitung recherchiert, Flemming Rose, der 2005 den Abdruck der Mohammed-Karikaturen genehmigt hatte. Als ich davon erfuhr, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Der Mann war wohl wirklich ein Terrorist. Er hatte den obersten Link angeklickt und war so auf die offizielle Website der Zeitung gekommen, wo die Adresse in Jütland angegeben ist. Tatsächlich ist es so, dass man bei der Google-Suche nach Jyllands-Posten nicht zu der Adresse der Zeitung in Kopenhagen geleitet wird. Deshalb hatte er wohl auch nicht bemerkt, dass ein Teil der Nachrichtenredaktion sich nach wie vor in Kopenhagen befindet, und gedacht, die Zeitung sei inzwischen komplett nach Jütland umgezogen. Dort befindet sich seit jeher die Zentrale: in Viby bei Århus.

Später fanden wir in der gesprengten Toilette einen Stadtplan von Kopenhagen, auf dem die Adresse der Zeitung am Kongens Nytorv eingezeichnet war. Das war insofern interessant, als der Stadtplan aus dem Jahr 2009 stammte. Zu dieser Zeit hatte Jyllands-Posten noch ihr Büro am Kongens Nytorv gehabt. Danach war die Hauptstadtredaktion ins Haus der Zeitung Politiken umgezogen, das am Rådhuspladsen liegt. Aber das war wohl noch nicht allgemein bekannt. Der Stadtplan war der gleiche, der gratis an die Hotelgäste ausgegeben wurde. Aber die Jahreszahl stimmte nicht, vermutlich hatte der Mann ihn also anderweitig bekommen. Seltsame Sache, dem mussten wir nachgehen.

Auf der Vorderseite des Stadtplans stand mit Kugelschreiber: Jyllands-Posten, Grøndahlsvej 3, 8260 Viby J. Außerdem war auch der Israels Plads markiert, wo das Hotel Jørgensen liegt, Halmtorvet mit dem Reisebüro Euro-Lines, ein Postamt im Stadtteil Østerbro sowie ein Wechselbüro im Stadtteil Nørrebro. Und schließlich gab es ein Kreuzchen bei der Adresse, wo jemand mit dem Familiennamen Rose wohnte. Vielleicht hatte er geglaubt, es handele sich um den früheren Kulturredakteur von Jyllands-Posten, Flemming Rose. Aber das stimmte nicht.

 

Im H.C. Ørstedsparken gibt es einen großen See, den wir ebenfalls durchsuchen mussten, weil es sein konnte, dass der Bombenleger eine Waffe oder andere Beweismittel hineingeworfen hatte. Wir fanden viele Gegenstände auf dem Grund dieses Sees, unter anderem einen großen Geldschrank, den wir gar nicht sofort heben konnten, weil er zu schwer war. Er wurde vor Ort geöffnet, war aber leer. Außerdem fanden wir eine Statue aus dem Besitz der Glyptothek, die vor dem Museum gestanden hatte und gestohlen worden war. Und sage und schreibe sechzig Fahrräder.

Mit einem Schlammsauger saugten wir den gesamten Schlamm aus den Abwasserleitungen zwischen dem Park und dem Hotel und versprühten ihn auf einem Parkplatz, wo einige Mitarbeiter alles durchspülen und überprüfen konnten, ob sich irgendetwas Interessantes darin fand. Aber das war nicht der Fall.

Später stellten wir fest, dass der Täter an diesem Tag ein Busticket gekauft hatte. Vermutlich hatte er gehofft, er könnte sich im Park verstecken und dann mit dem Euro-Lines-Bus vom Halmtorvet aus nach Belgien zurückfahren.

Die Videoaufzeichnungen aus dem Hotel zeigten, dass er am Garderobenschrank im Keller nach seiner Tasche gesucht hatte. Und wie wir später herausfanden, war die Busfahrkarte in dieser Tasche. Außerdem zeigten die Videos, dass er vor der Explosion schon zwei Mal mit verschiedenen Gegenständen in der Toilette gewesen war. Das eine Mal hatte er eine Plastiktüte bei sich gehabt und sich 75 Minuten lang darin aufgehalten. Am nächsten Tag war er dann 38 Minuten dort gewesen, bevor die Bombe hochging. Wir vermuteten, dass er seine immer weiter zusammengebastelte Bombe mit in die Toilette nahm und die ganze Ausrüstung in dem Schrank im Keller versteckte. Den Schrank hatte er gemietet und wie üblich mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Die Untersuchung der Toilette durch unsere Techniker zeigte schnell, dass dort tatsächlich eine Bombe hochgegangen war. Sie hatte Stahlkugeln und andere Metallteile enthalten. In dem Raum fanden sich an die 500 kleine Stahlkugeln– der Mann hatte ein unglaubliches Schwein gehabt, dass ihm nicht mehr passiert war, die Aktion hätte ihn das Leben kosten können. Tatsächlich war die Explosion nach unten gegangen, in die Toilettenschüssel, und nicht nach oben in Richtung seines Kopfes. Trotzdem hatte selbst die Decke einiges abbekommen, es gab eine ganze Reihe von Kugeleinschlägen. Aber der größte Teil war in der Toilette gelandet.

Woher hatte er diese vielen grauen Stahlkugeln? Wofür wurden sie normalerweise verwendet? Das herauszufinden kostete uns einige Zeit. Wir sprachen mit Fahrradhändlern und Leuten, die sich mit Splatterguns auskannten, und brachten dabei in Erfahrung, dass solche Kugeln in Dänemark nicht produziert werden. Vermutlich waren sie als Munition für Druckluftpistolen importiert worden.

Unser Bombenexperte hatte sofort festgestellt, dass es kein Feuerwerkskörper war, der da hochgegangen war. Ein großer Böller könnte durchaus entsprechende Schäden und Risse im Waschbecken und in der Toilettenschüssel verursachen, aber er hätte keine Stahlkugeln in Richtung Decke, Fußboden und Wände geschickt. War unser Bombenleger ein einsamer Wolf? Oder stand eine größere Gruppe hinter dem Anschlag? Das mussten wir herausfinden und wir hatten keine Zeit zu verlieren.

Im Garderobenschrank des Mannes stand noch seine Tasche, die wir sofort sicherstellten. Eine weitere Tasche fanden wir in der Toilette, und zwar unmittelbar rechts neben der Tür. Die Tasche im Schrank enthielt eine geladene und entsicherte Pistole vom Typ FN Browning Model 1935 Hi Power mit drei vollen Magazinen und insgesamt 40 Patronen. Niemand geht das Risiko ein, sich mit so einem Teil beim Grenzübertritt erwischen zu lassen, wenn er nicht auch die Absicht hat, es zu benutzen. Außerdem lag ein spitzes Messer in der Tasche.

 

Am Sonntag hatte ich mein Team für die Taskforce København zusammengestellt, sodass wir sofort an die Arbeit gehen konnten. Einer der ersten Sachverhalte, die wir genauer prüften, war die Beinprothese. Sie sollte uns helfen, die Identität des Attentäters festzustellen und herauszufinden, woher er kam.

Wenn man bei einer Beinprothese den Latex und alles andere entfernt, was sie »echt« aussehen lässt, bleibt eine Stahlschiene. Auf der steht das Land, in dem sie produziert wurde, und eine Seriennummer. Die allerdings war hier weggeschliffen. Der Mann hatte also vorausgesehen, dass sein künstliches Bein Aufschluss über seine Identität und Herkunft geben könnte. Der Medizintechniker, der uns in diesem Fall unterstützte, erklärte uns, die Nummer müsse schon entfernt worden sein, bevor die Außenhaut an das Stahlskelett montiert wurde.

Wenn man eine Prothese bekommt, gibt es zunächst eine Art Rohfassung, die ein bisschen so aussieht wie bei Captain Hook, weil sie nur aus dem Stahlteil und der Mechanik besteht. Sie wird dann einige Wochen lang getragen und angepasst, bevor die Außenhaut aufgebaut wird, damit die Prothese nicht mehr auf den ersten Blick als solche zu erkennen ist.

Am Montag fuhr ich mit ein paar Kollegen ins Hotel. Man bekommt immer ein besseres Verständnis für einen Tatort, wenn man ihn tatsächlich besucht. Mir kam das Haus eher wie eine Jugendherberge vor, ziemlich verbaut. Im Keller befanden sich mehrere verschlungene Gänge.

Am Dienstag, dem 14. September, hielten der Leitende Polizeidirektor Svend Foldager und ich ein Fahndungstreffen mit den leitenden Beamten der zwölf dänischen Polizeikreise ab. Wir trafen uns fast jede Woche per Videokonferenz und an diesem Tag ging es vor allem darum, die Kollegen über den Ernst der Lage zu informieren.

Das künstliche Bein des Bombenlegers, das in den Ermittlungen eine wichtige Rolle spielte (Foto: Ritzau/Scanpix)

Schließlich ist so eine Bombenexplosion nichts Alltägliches, weder in Kopenhagen noch überhaupt in Dänemark. Wir erklärten den Kollegen, dass wir jetzt ein Foto an die Presse schicken würden und hofften, den Täter auf diese Weise identifizieren zu können. Und es war interessant zu sehen, wie unterschiedlich diese Idee aufgenommen wurde. Einige fanden, wir sollten das lieber nicht machen, weil die Journalisten dann womöglich die Identität des Bombenlegers früher herausfänden als wir. Das war uns vollkommen egal, wir wollten nur möglichst schnell erfahren, wer er war. Und da er es uns nicht sagte, mussten wir wohl oder übel die Öffentlichkeit um Hilfe bitten. Also bearbeiteten wir sein Foto so, dass die Verletzungen nicht mehr gut zu sehen waren, und veröffentlichten es zusammen mit einer detaillierten Personenbeschreibung.

Dabei unterlief uns ein Fehler– in der ersten Pressemitteilung stand, er sei eins achtzig groß, korrekt war eins neunundsechzig. Peinliche Panne, denn wir hatten den Täter ja in Gewahrsam und hätten mal nachmessen können.

Am späten Abend rief jemand aus der Chefredaktion der Tageszeitung Berlingske Tidende an. Sie hatten einen Hinweis auf die Identität des Mannes bekommen, der interessant klang, und schickten uns gleich darauf eine Mail. Die Journalisten hatten Kontakt zu einem Boxtrainer in Belgien gehabt, übrigens einem ehemaligen Polizisten, der ihnen berichtet hatte, bei dem Mann auf dem Foto handele es sich um einen einbeinigen tschetschenischen Boxer, der in Belgien lebte. Der Tschetschene hatte zwanzig Kämpfe bestritten und zwölf gewonnen. Er war verheiratet mit einer Frau, die ebenfalls aus Tschetschenien stammte, und hatte außerdem eine belgische Geliebte.

Am nächsten Tag wollte BT die Identität des Mannes als Hauptnachricht öffentlich machen. Und sie wünschten sich natürlich einen Vorsprung vor den anderen Medien, sollten wir feststellen, dass ihre Informationen richtig waren.

»Warum habt ihr ihn nicht selbst gefunden?«, fragte der BT-Journalist unseren Chef Svend Foldager.

»Gute Frage«, sagte er darauf und bestätigte, dass die Zeitung– wenn ihre Informationen richtig waren– ein großes Problem für uns gelöst hatte. Ich will nicht verschweigen, dass ziemlich viele Kollegen von uns in der Tat sauer waren, dass wir es nicht selbst geschafft hatten.

Wenn BT die Geschichte brachte, bestand ein großes Risiko, dass die Familie und Freunde des Täters in Belgien Beweismittel verschwinden ließen, bevor wir kamen. Also machten wir uns sofort an die Arbeit, um noch in derselben Nacht die Informationen der Zeitung zu verifizieren. Ich rief bei der belgischen Polizei an und bekam einen Kollegen von der Anti-Terror-Einheit zu fassen.

Sie umstellten das Haus des Bombenlegers und gingen am frühen Morgen rein.

Wenig später bekamen wir die echten Papiere des Boxers zugesandt, die tatsächlich zu dem verhafteten Mann passten. Ein besonderes Kennzeichen war seine mehrfach gebrochene Nase, wie es bei vielen Boxern der Fall ist. Wir waren sicher, den Richtigen erwischt zu haben. Er war vierundzwanzig Jahre alt, 1986 in Tschetschenien geboren und wohnte inzwischen wie gesagt in Belgien. Dort war er polizeibekannt, unter anderem wegen Gewalttätigkeit und Waffenbesitzes. Außerdem fand sich in seinem Haus ein Schlüssel, von dem sie nicht wussten, wozu er gehörte.

Noch in derselben Nacht baten wir die belgische Polizei um die Aufnahmen der Überwachungskameras auf dem Bahnhof in Lüttich. Und richtig: Dort hatte er sein Ticket nach Dänemark gekauft.

Die belgische Polizei durchsuchte das Haus des Bombenlegers und die Wohnung seiner Mutter, wo sich auch seine schwangere Freundin gerade aufhielt. Während der Durchsuchung fragten sie seine Mutter, ob sie wüsste, wozu der gefundene Schlüssel gehörte, aber sie gab ihnen keine Antwort. Das kam ihnen verdächtig vor. Der Schlüssel wurde dann noch an verschiedenen Garagentoren in größeren und kleineren Garagenanlagen getestet, aber ohne Erfolg.

Ich glaube nach wie vor, dass der Schlüssel zu einer Garage gehörte. Und es wäre natürlich interessant gewesen, dort leere Verpackungen von Aceton und Wasserstoffperoxid zu finden– die Hauptzutaten für den Sprengstoff TATP, auch Acetonperoxid oder »Mutter des Satans« genannt (mit diesem Sprengstoff wurden z.B. die großen Anschläge 2005 in London und 2015 in Paris verübt). Oder Listen von Mitverschwörern. Aber wir hatten leider kein Glück.

Die belgische Polizei fand allerdings bei der Familie des Mannes und bei seiner Freundin verschiedene Arten von elektronischer Ausrüstung, darunter einen PC mit Anleitungen zum Bombenbauen sowie sechzehn Radikalisierungsvideos mit Aufnahmen von Anschlägen auf alliierte Truppen. Die Filme stammten nicht vom IS, sondern von al-Qaida und waren im Mittleren Osten produziert.

Wenn wir elektronische Geräte, also z.B. Computer oder Telefone finden, die uns interessieren, kopieren wir immer den gesamten Inhalt, sodass wir mit den Kopien arbeiten können und das Original als Beweismittel behalten, falls etwas doppelt gecheckt werden muss.

Irgendwann nach 2008 hatte unser Bombenleger, so stellten wir im Zuge unserer Ermittlungen fest, Kontakt mit einem bestimmten Imam gehabt, der nicht weit von seinem Wohnort Lüttich lebte. Ein Sohn dieses Imams war bei einem Terroranschlag in Afrika ums Leben gekommen; der andere Sohn war ebenfalls Imam. Beide Männer waren tief gläubig. Der Bombenleger hatte intensiven Kontakt mit der Familie gehabt, doch wir wissen nicht, ob sie an seiner Radikalisierung beteiligt war. An seinen Plänen für einen Anschlag auf Jyllands-Posten hatten sie jedenfalls offenbar keinen Anteil.

Weiterhin fanden wir heraus, dass der Bombenleger 2008 Architektur studiert und in diesem Zusammenhang auch Kopenhagen besucht hatte. Das Reisebüro Euro-Lines konnte feststellen, dass er auch damals mit dem Bus von Brüssel nach Kopenhagen gefahren war. Er war am 6. Oktober 2008 angekommen und drei Tage später wieder nach Hause gefahren. Damals reiste er unter seinem richtigen Namen, war also offenbar noch nicht radikalisiert, sondern ein ganz normaler Student, der sich auch normal verhielt.

 

Nach unseren Ermittlungen in dem Hotel in Kopenhagen waren wir überzeugt, dass der Mann während seiner nächtlichen Aufenthalte auf der Toilette eine Briefbombe gebaut hatte, die beim Öffnen des Umschlags hochgehen sollte. Der Brief bestand aus zwei Umschlägen ineinander, und wenn man den inneren Umschlag aus dem äußeren herausnahm, wurde die Bombe gezündet. So lautet jedenfalls meine ganz private Theorie, die unsere Techniker unterstützen.

Der Zündmechanismus war raffiniert gebaut. Wenn Strom aus einer 9-Volt-Batterie an eine kleine Glühbirne angeschlossen und deren Glas zerstört wird, entwickelt der kleine Glühfaden genug Wärme, um den Sprengstoff TATP hochgehen zu lassen.

In der gesprengten Toilette fanden wir Reste von Umschlägen, die mit Blasenfolie ausgekleidet waren und in denen er die Bombe vermutlich verschicken wollte. Der größere Umschlag war im Format A3, der kleinere in A4. Die beiden Umschläge waren mit Angelschnur verbunden, sodass die Bombe gezündet wurde, wenn man an dem kleineren Umschlag zog. Wir fanden auch ein Multi-Tool, das er wohl benutzt hatte, um die Bombe zu bauen. Und wir fanden die äußere Hülle einer Haustürklingel– das Teil, das im Haus angebracht ist und »ding-dong« macht.

In der Toilette entdeckten unsere Techniker auch einen schwarzen Behälter, bei dem sie mit ihren spezialisierten Geräten nachweisen konnten, dass er mit TATP in Kontakt gewesen war. Es war eine Art Druckbehälter, und wir dachten erst, es handele sich um ein Teil von einem Wassersprudler, aber letztlich zeigte sich, dass er von einer Druckluftpistole stammte.

TATP oder Acetonperoxid ist irrsinnig instabil, aber wenn man es luftdicht verpackt, kann man es einigermaßen sicher transportieren. Tatsächlich war der schwarze Behälter mit TATP gefüllt, das der Mann sicher nicht in Dänemark hergestellt hatte. Denn obwohl wir sämtliche Drogeriemärkte und Apotheken im Großraum Kopenhagen aufsuchten und viele Stunden Videomaterial durchsahen, konnten wir keine Hinweise finden, dass er die Grundstoffe hier gekauft hatte. Ich glaube, er hat die Bombe aus Belgien mitgebracht.

Fachsprachlich würde man die ursprüngliche Bombe als Haftmine bezeichnen. Man kann sie z.B. an einer Wand befestigen. Wenn das TATP in einem solchen Druckbehälter aus Stahl gezündet wird, wirkt es wie ein wild gewordenes Projektil, im Grunde wie eine Handgranate, die in kleine Stücke explodiert und die Umgebung dabei zerreißt. Der Behälter war so groß, dass er massive Schäden verursacht hätte.

Unsere Ermittlungen zeigten, dass die Briefbombe unter normalen Umständen noch in einigen Metern Entfernung tödlich gewirkt hätte. Der Mann hatte also großes Glück gehabt. Seine Rettung war wohl, dass die Bombe noch nicht fertig war.

Wir fanden auch eine Quittung vom Postamt in Østerbro, wo er am Tag der Explosion, am 10. September also, unter anderem die Umschläge gekauft hatte.

Die Pistole, die er in seinem Spind versteckt hatte, sollte wohl bei einem Angriff auf die Redaktionsräume von Jyllands-Posten eingesetzt werden, von denen er glaubte, sie befänden sich noch am Kongens Nytorv.

Die Kriminaltechniker und Ermittler arbeiteten tagelang im Hotel Jørgensen (Foto: Uffe Weng, Ritzau/Scanpix)

 

Was er gemacht hätte, wenn die Bombe nicht an diesem Freitag um 13:25 Uhr hochgegangen wäre, weiß ich nicht. Aber ich glaube, er wäre mit dem Bus zurück nach Belgien gefahren, der planmäßig um 16:10 Uhr abfahren sollte. Wofür er die Pistole in den paar Stunden benutzt hätte, die ihm bis zur Abfahrt des Busses noch blieben, darüber können wir nur spekulieren. Und Spekulationen nützen uns nichts.

 

Unsere Ermittlungen waren in höchstem Maße abhängig von der Videoüberwachung, denn nur dort fanden wir Spuren, die uns weiterbrachten. Endlos viel Videomaterial wurde eingesammelt und durchgesehen, insgesamt etwa 15 Terabyte, eine unerhörte Menge. Nach dem Terroranschlag am 7. Juli 2005 in London waren sechshundert Personen mehrere Monate mit dem Videomaterial beschäftigt. In Kopenhagen hatten wir vier Mitarbeiter dafür, und zwei Wochen Zeit.

Wichtig war vor allem, herauszufinden, ob er sich mit jemandem getroffen hatte oder ob ihm jemand gefolgt war. Hatte er sich von jemandem ein Telefon geliehen? Doch nein, er war fast die ganze Zeit allein gewesen. Wir konnten seinen Weg genau verfolgen: Ankunft mit dem Bus aus Brüssel am Dienstag, dem 7. September, Einchecken im Hotel Jørgensen morgens um 6:20. An diesem Vormittag hob er etwa 1500 dänische Kronen (etwa 200 Euro) am Geldautomaten ab, bevor er ins Hotel zurückkehrte, wo er sich dann im Rezeptionsbereich hinsetzte und schlief. Er hatte so früh am Tag sein Zimmer noch nicht beziehen können, deshalb hatte er die Erlaubnis bekommen, sein Gepäck an der Rezeption abzustellen.

Für einige Zeiträume wissen wir nicht genau, wo er war. Ich vermute, da war er draußen unterwegs und stellte seine Nachforschungen an.

Wir konnten ihm auf den Videos zusehen, wie er zweimal im Postamt gepolsterte Umschläge kaufte, Klebeband und eine kleine braune Pappschachtel. Das war am 8. und 10. September. Und er war dabei so gut verkleidet, dass wir ihn vermutlich in den Unmengen von Videomaterial übersehen hätten, wenn wir nicht gewusst hätten, wonach wir suchen.

Er hatte nämlich nicht nur vier verschiedene Ausweise bei sich, sondern auch mehrere Verkleidungen. Unter seinen Sachen fanden wir einen kleinen Zettel, auf dem er sich notiert hatte, welche Kleidung er zu seinen verschiedenen Identitäten tragen wollte. Wenn er das Hotel verließ, trug er die eine Kleidung, wenn er das Postamt betrat, war er total anders angezogen. Er muss sich also unterwegs umgezogen haben. Tatsächlich überließ er nichts dem Zufall, er hatte alles genau bedacht und geplant. Für mich zeigte das, wie professionell er arbeitete. Er hatte keinen Selbstmordanschlag geplant, er wollte lebend davonkommen, ohne entdeckt zu werden.

Bei der Ankunft im Hotel wirkte er wie ein Rucksacktourist mit Ziegenbärtchen und Pudelmütze. Auf dem Postamt in Østerbru war er seriös gekleidet mit gebügelter Hose und Hemd und einer Schiebermütze. Außerdem trug er eine Sonnenbrille. Das Hemd hatte er ausgepolstert, sodass es aussah, als hätte er einen Bauch. Er trug keine Handschuhe, war aber schlau genug, ein Stück Papier um die Pappschachtel zu legen, die er kaufte, damit er darauf keine Fingerabdrücke hinterließ. Und er bezahlte alles mit Bargeld.

Am Mittwoch kaufte er in der Nørrebrogade ein Computerspiel für 100 Kronen, wahrscheinlich, weil er das CD-Cover für die Briefbombe brauchte. Eine Pappscheibe mit darauf festgeklebten Stahlkugeln wirkte als Trennscheibe zwischen dem Schwarzpulver und dem TATP, sodass genug Platz blieb, um Druck aufzubauen, der dann die Stahlkugeln herausschleuderte. Auch seine Rückfahrkarte kaufte er am Freitag. Ansonsten war er sehr sparsam und gab nicht viel Geld aus.

 

Im Umgang mit der Presse verfolgten wir eine bewusste Strategie, weil wir uns eine dauerhafte Aufmerksamkeit der Medien wünschten. Deshalb lieferten wir ihnen jeden Tag zwei oder drei Informationsbrocken, was dazu führte, dass wir jeden Tag zwischen dreißig und achtzig Meldungen aus der Bevölkerung bekamen. Unter anderem gaben wir ein Foto frei, auf dem der Mann mit Brille und Mütze zu sehen war. Daraufhin rief uns jemand an, der mit dem Fahrrad unterwegs gewesen war und den Mann getroffen hatte. Er hatte ihn nach dem Weg zum Postamt in der Øster Allé im Stadtteil Østerbro gefragt.

Diesem Zeugen hatten wir es zu verdanken, dass wir herausfanden, in welchem Postamt der Mann die Umschläge und einige andere Dinge gekauft hatte. Und obwohl er auf den Videos in seiner Verkleidung ganz anders aussah, konnten wir ihn erkennen. Ohne die Zeugenaussage wäre es uns viel schwerer gefallen.

Die Presse brauchte einige Zeit, bis bekannt wurde, dass ich mich in Kopenhagen aufhielt und mit dem Fall befasst war. Das verschaffte mir Ruhe zum Arbeiten. Das Tempo der Medien ist ja inzwischen unglaublich gestiegen, die Journalisten bekommen alles sehr schnell mit und liegen ständig im Wettstreit miteinander. Außerdem bekommen die Nachrichtenredaktionen sehr viele Informationen von der Bevölkerung, und sobald irgendwelche Dinge in den Medien auftauchen, müssen wir herausfinden, ob die Meldungen richtig oder falsch sind. Denn unsere Politiker lesen ja mit und verlangen Erklärungen.

Im Fall Hotel Jørgensen wurde z.B. bald berichtet, im Norden von Seeland seien mehrere Menschen verhaftet worden, die Schusswaffen im Auto hatten. Das waren haltlose Gerüchte, trotzdem ritten die Medien lange darauf herum, schon während unser einbeiniger Täter noch im Park lag.

Krisenkommunikation ist eine schwierige Sache. Wenn wir nichts verlauten lassen, werden die Menschen unruhig. Aber wir dürfen natürlich auch keine Fehlinformationen herausgeben, die wir später wieder zurücknehmen, denn dann erwecken wir den Eindruck, die Sache nicht im Griff zu haben. Wir müssen also schnell sein und gleichzeitig nur wasserdichte Informationen an die Öffentlichkeit geben. Es ist eine höchst undankbare Aufgabe, sich vor die Mikrofone zu stellen, einmal tief durchzuatmen und zu sagen: »Ja, irgendwas ist passiert, wir haben auch gehört, dass es gekracht hat, und wir haben ein paar Streifenwagen hingeschickt. Mehr wissen wir im Moment nicht.«

Vielleicht sind wir manchmal zu zurückhaltend. Wir arbeiten daran, offener zu kommunizieren, aber in einer ernsten Situation müssen wir die Interessen der Öffentlichkeit dann eben doch zur Seite schieben, vor allem dann, wenn letztlich reine Neugier im Spiel ist. Wenn echte Gefahr für Mitbürgerinnen und Mitbürger besteht, sieht es anders aus. Selbstverständlich müssen die Menschen informiert werden, wenn potenzielle Gewalttäter draußen frei herumlaufen.

 

Nach ein paar Tagen im Vestre Fængsel wurde der Bombenleger in das Untersuchungsgefängnis verlegt, das im alten Polizeihof in Kopenhagen untergebracht ist. Dort gibt es einen kleinen Hochsicherheitstrakt für besonders gefährliche Kriminelle, z.B. für Mitglieder von Rockerbanden. Die Zellen sind besonders gesichert und werden ständig kontrolliert. Jede Zelle hat eine Fläche von sieben bis acht Quadratmetern, die Möblierung ist eher spärlich und besteht aus einer Schlafpritsche, einem Schreibtisch, einem Stuhl, einem Schrank und einem Waschbecken. Alles ist fest verschraubt, sodass der Häftling weder sich selbst noch den Vollzugsbeamten Schaden zufügen kann.

Ein Journalist von Berlingske Tidende rief uns an und sagte, sie hätten der Mutter des Bombenlegers die Reise nach Kopenhagen bezahlt, um an die Geschichte der Familie zu kommen. Das klang interessant. Und ich spitzte noch mehr die Ohren, als der Journalist mich fragte, ob ich Lust hätte, ebenfalls mit ihr zu reden. Ja, natürlich hatte ich Lust dazu!

Sie kam also nach Dänemark und wir konnten mit ihr reden, aber sie wollte uns keine Informationen geben. Sie hätte uns wirklich helfen können, den roten Faden in der Entwicklung der Familie zu finden. Hatte es eine Radikalisierung gegeben? Warum war ihr Sohn in Kopenhagen gelandet, mit einer Bombe in der Tasche?

Im Interview mit BT erzählte sie, dass ihre Familie sich von den Behörden enttäuscht und marginalisiert fühlte. Sie hatten den Eindruck, in Belgien nicht willkommen zu sein, lebten dort wie in einem Getto und empfanden ihre Umgebung als verächtlich und herablassend. Früher hatten sie ein ganz normales westliches Leben geführt. Jetzt trug sie muslimisch geprägte Kleidung.

Sie berichtete den Journalisten auch, inzwischen sei die Tochter des Bombenlegers geboren, sein zweites Kind. Und sie erzählte, dass er schon mit zehn Jahren seinen rechten Unterschenkel verloren hatte, als er auf einem Spielplatz in Tschetschenien auf eine Landmine getreten war.

Wir erlaubten ihr, ihren Sohn zu besuchen. Wenn man unter den Bedingungen einsitzt, die für ihn galten, darf man einmal pro Woche eine Stunde Besuch empfangen, allerdings immer unter polizeilicher Aufsicht. Aber wir wollen auch, dass unsere Häftlinge menschlich intakt bleiben und die Verbindung zu ihren Lieben aufrechterhalten können. Es ist psychisch nicht gerade aufbauend, allein und ohne jeden Kontakt im Untersuchungsgefängnis zu sitzen.

Als der Mann von den Vollzugsbeamten in den Besuchsraum geführt wurde, fanden sie bei der Leibesvisitation einen handgeschriebenen Brief an seine Freundin in Belgien. Außerdem bekamen sie mit, dass er seiner Mutter sagte, sie solle seinen Freunden und seiner Geliebten raten, komplett zu schweigen. Seine Mutter hatte belgische Schokolade und warme Kleidung für ihn mitgebracht.

 

Der Strafrahmen für terroristische Anschläge reicht bis hin zu lebenslanger Haft. Als der Fall des Bombenlegers vor dem Schwurgericht in Kopenhagen verhandelt wurde, erklärte er sich für nicht schuldig. Er habe in Dänemark Urlaub gemacht, war seine Aussage. Am 31. Mai 2011 wurde er trotzdem zu einer Gefängnisstrafe von zwölf Jahren und zur Ausweisung aus Dänemark verurteilt.

Er war mit seinen Vorbereitungen weit gekommen, aber am Ende hatte niemand einen Schaden davongetragen. Wenn man das bedenkt, sind zwölf Jahre eine ansehnliche, ernsthafte Strafe.

Knapp zwei Jahre und acht Monate nach dem Anschlagsversuch, im Jahr 2013, wurde er nach Belgien ausgewiesen, um seine Strafe dort abzusitzen. Weltweit gibt es die Regelung, dass Häftlinge aus einem anderen Land einen Antrag stellen können, ihre Strafe im Herkunftsland zu verbüßen. Dafür, dass diesem Antrag so schnell stattgegeben wurde, gab es sicher viele Gründe. Zum einen hatte die belgische Polizei das eine oder andere Wörtchen mit dem Mann zu reden. Nach wie vor war die Herkunft des Schlüssels nicht geklärt, den man in seinem Haus gefunden hatte, und außerdem bestand der Verdacht, er könne von einer Terrorzelle radikalisiert worden sein. Eine andere Erklärung lautet, dass man Täter, die in einen Terroranschlag verwickelt sind, gerne zu Hause haben will, statt sie im Ausland in Haft zu wissen. Möglicherweise lässt sich ja über Resozialisierungsmaßnahmen ein gewisser Einfluss ausüben.

 

Schon bei diesem Fall arbeiteten wir gut mit dem PET zusammen. Heute ist diese Zusammenarbeit noch besser und enger. Alles andere wäre auch eine Katastrophe, denn Fälle wie den mit der Bombe im Hotel Jørgensen müssen wir gemeinsam lösen.

Selbstverständlich unterliegt der Nachrichtendienst einer ganz anderen Art der Geheimhaltung, auch gegenüber der Polizei. Es gibt viele Dinge, die ich als normaler Polizist gerne wüsste, aber in der Zusammenarbeit mit dem PET bekommt man nur die notwendigen Informationen, und dann ist Schluss.

Am liebsten warten die Kollegen vom PET, bis genug Ermittlungsmaterial da ist, um so viele Täter und Hinterleute wie möglich in Haft zu bringen. Doch wir können in der offenen Polizeiarbeit nicht immer so lange warten, weil wir in Sachen Sicherheit der Bürger keine Kompromisse eingehen dürfen. In einer traditionellen, nach vorn gerichteten Ermittlung– sagen wir, bei einem Drogendelikt– haben wir einen gewissen Spielraum. Verhaften wir die Täter nicht heute, dann entgehen uns vielleicht zwei Kilo Heroin, aber wir kriegen sie auf jeden Fall morgen. Bei Terroranschlägen gibt es diesen Spielraum nicht, denn da geht es um Leben und Tod.

Wir in Dänemark wussten nichts von dem Bombenleger im Hotel Jørgensen, bevor er nach Kopenhagen kam. Weder der PET noch die dänische Polizei. Dabei war sowohl in Belgien als auch in Deutschland bekannt, dass er mit Salafisten und Islamisten in Kontakt stand. Aber nachdem solche Kontakte an sich ja nicht verboten sind, kann man den Kollegen dort keinen Vorwurf machen, weil sie uns nicht informierten.

Leider ist der Terrorismus heute in der westlichen Welt allgegenwärtig. Ich habe oft darüber nachgedacht, ob mir das Angst macht. Und jedes Mal bin ich zu demselben Schluss gekommen, der auch meine Lebensphilosophie prägt: Angst hilft uns nicht weiter. Wir wollen und dürfen unseren Lebensstil nicht ändern.