Im Schatten der Mangroven - James Lee Burke - E-Book

Im Schatten der Mangroven E-Book

James Lee Burke

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Beschreibung

Dave Robicheaux muss den grausamen Mord an einer jungen Frau aufklären. Eine erste Spur führt ihn ausgerechnet zu einem Schulfreund. Zeitgleich behauptet der alkoholsüchtige Filmstar Sykes ein jahrzehntealtes Skelett in den Atchafalaya-Sümpfen gefunden zu haben. Robicheaux zweifelt anfangs an der Glaubwürdigkeit Sykes', gerät jedoch ins Grübeln: Vor 35 Jahren war er in den Sümpfen Zeuge eines kaltblütigen Mordes an einem Schwarzen. Der Täter konnte allerdings nie identifiziert werden und auch die Leiche wurde nie gefunden. Während Robicheaux sich entschließt, den alten Fall noch einmal aufzurollen, verschwindet eine weitere Frau … Zupackend und ehrlich: Das ist Detective Dave Robicheaux. Der Vietnam-Veteran mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn ermittelt in flirrender Südstaaten­atmosphäre.

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James Lee Burke • Im Schatten der Mangroven

Für FrankundTina Kastor und Jerry und Maureen Hoag

JAMES LEE BURKE

Im Schatten der Mangroven

Ein Dave-Robicheaux-Krimi Band 6

Aus dem Amerikanischen von Oliver Huzly

1

Bei Sonnenuntergang war der Himmel schwarz geworden, und das peitschende Unwetter hatte sich vom Golf her landeinwärts gewälzt und New Iberia unter Wasser gesetzt. Die East Main Street war übersät mit Blättern und Ästen, die der Sturm aus dem langen Baldachin von Eichen gerissen hatte, welcher die Straße vom alten Ziegelbau der Post bis zur Zugbrücke über den Bayou Teche am Stadtrand überdachte. Die Luft hatte sich jetzt abgekühlt, und sie war durchsetzt mit leichtem Nieselregen und mit dem üppigen Aroma von fruchtbarem nassen Humus, von Jasmin, der in der Nacht blüht, Rosen und jungem Bambus.

Ich wollte gerade mit meinem Pick-up bei Del’s halten, um zum Abendessen für uns drei Portionen frischen Crawfish mitzunehmen, als ein lavendelfarbener Cadillac schlingernd aus einer Seitenstraße schoss, gegen den Bordstein prallte, dabei eine Radkappe auf dem Bürgersteig hinterließ, und lange, schlangenlinienförmige Reifenspuren durch das matt schimmernde gelbe Licht der Straßenlaternen zog, das sich auf dem regennassen Asphalt spiegelte.

Mein Dienst war beendet, und ich war müde und ausgelaugt. Ich hatte den Tag damit verbracht, im Wald nach einem 19-jährigen Mädchen zu suchen. Ich fand sie schließlich, wo man sie liegen gelassen hatte: in einem Graben, Mund und Handgelenke mit Klebeband umwickelt. Vergeblich versuchte ich, nicht an den Rest zu denken. Der Pathologe war ein netter Mann. Er war mit dem Leichensack zur Hand, bevor irgendwelche Reporter oder Familienangehörigen eintrafen.

Verhaftungen wegen Trunkenheit am Steuer sind mir zuwider. Es ist mir zuwider, die Erklärungsversuche der Fahrer mitanhören zu müssen, ihre mitleiderregenden Versuche, nüchtern zu wirken, mitansehen zu müssen, und es bereitet mir auch keinerlei Genugtuung, wenn die blanke Furcht in ihre Augen tritt, wenn ihnen dämmert, dass ihnen der Gang in die Ausnüchterungszelle bevorsteht und dass ihnen der nächste Morgen kaum Besseres zu bieten haben wird, von der Erwähnung ihres Namens in der Zeitung ganz abgesehen. Aber vielleicht ist es mir in Wahrheit auch einfach zuwider, ein Abbild meiner selbst zu sehen, wenn ich in ihre Gesichter blicke.

Aber ich glaubte nicht, dass dieser bestimmte Fahrer noch einen Block weiter kommen würde, ohne einem geparkten Wagen den Kotflügel abzureißen oder in irgendeinem Vorgarten zu landen.

Ich steckte mein tragbares Signallicht in den Zigarettenanzünder und setzte es mit dem Magnetfuß aufs Dach der Fahrerkabine, dann ließ ich ihn genau vor The Shadows rechts ranfahren, einer riesigen Südstaatenvilla aus Ziegelsteinen und mit weißen Säulen, die man 1831 hier am Bayou Teche errichtet hatte.

Ich hielt meine Polizeimarke vom Iberia Parish Sheriff’s Department offen in der Hand, als ich an sein Fenster trat.

„Kann ich bitte Ihren Führerschein sehen?“

Er besaß markante Züge, ein römisches Profil, breite rechteckige Schultern und große Hände. Als er lächelte, sah ich, dass seine Zähne überkront waren. Die Frau neben ihm trug das Haar in blonden Ringellöckchen, und ihr Körper war so geschmeidig, sonnengebräunt und wohlgeformt wie der einer Schwimmerin bei den Olympischen Spielen. Ihr Mund wirkte so rot und empfindlich wie eine Rose. Außerdem sah sie aus, als wäre sie seekrank.

„Führerwas wollen Sie sehn?“, fragte er und versuchte, mir dabei gerade ins Gesicht zu schauen. Aus dem Wageninnern drang ein schwerer, warmer Geruch an meine Nase, wie der Rauch brennenden feuchten Laubs.

„Ihren Führerschein“, wiederholte ich. „Bitte nehmen Sie ihn aus Ihrer Brieftasche, und geben Sie ihn mir.“

„Oh, yeah, klar doch“, sagte er. „Ach, vorhin, da hab ich echt nicht aufgepasst. Tut mir leid. Ehrlich.“

Er fischte den Führerschein aus der Geldbörse, ließ ihn in seinen Schoß fallen, ertastete ihn wieder und reichte ihn mir dann hoch, die ganze Zeit über bemüht, seinen Blick nicht von meinem Gesicht gleiten zu lassen. Sein Atem roch wie vergorenes Obst, das man lange Zeit in einem verschlossenen Steinkrug sich selbst überlassen hatte.

Unter einer Straßenlaterne betrachtete ich den Führerschein.

„Sie sind Elrod T. Sykes?“, fragte ich.

„Jawohl, Sir, der bin ich.“

„Würden Sie bitte aus dem Wagen steigen, Mr. Sykes?“

„Jawohl, Sir, was immer Sie wünschen.“

Er war an die vierzig, aber gut in Form. Trug ein hellblaues Golfhemd, Slipper und graue Gabardinehosen, die locker von seinem flachen Bauch und seinen schmalen Hüften fielen. Er schwankte ein wenig und legte eine Hand auf die Wagentür, um sich zu stützen.

„Wir haben hier ein kleines Problem, Mr. Sykes. Ich glaube, das ist Marihuana, was Sie da in Ihrem Auto geraucht haben.“

„Was … Junge, Junge, das wär aber wirklich übel, wenn dem so wäre, oder?“

„Und wie ich es sehe, hat Ihre Freundin gerade den Rest des Joints verschluckt.“

„Das wäre aber wirklich in der Tat übel, Sir.“ Er schüttelte den Kopf in tiefem Ernst.

„Nun gut, lassen wir das mit dem Gras jetzt mal beiseite. Aber ich muss Sie leider verhaften. Wegen Trunkenheit am Steuer.“

„Das ist jetzt aber wirklich ganz übel. So hab ich mir den heutigen Abend ganz und gar nicht vorgestellt.“ Er sperrte die Augen weit auf und machte den Mund auf und zu, ganz so, als ob er versuchte, die Ohren wieder freizubekommen. „Sagen Sie mal, haben Sie mich erkannt? Was ich damit sagen will, da gibt’s jede Menge Reporter, die mir nur zu gerne mal den Arsch aufreißen würden. Glauben Sie mir, Sir, das wär das Letzte, was ich brauche. Das kann ich nicht deutlich genug betonen.“

„Ich werde Sie jetzt zum Stadtgefängnis fahren, Mr. Sykes. Ist nur die Straße hier runter. Dann lasse ich einen Wagen kommen, der Ms. Drummond dahin bringt, wo sie übernachtet. Aber Ihr Cadillac wird abgeschleppt.“

Er atmete mit einem langen Seufzer aus. Ich wandte mein Gesicht ab.

„Sie gehen also ins Kino?“, fragte er.

„Ja, und Ihre Filme haben mir immer gefallen. Wenn Sie jetzt bitte den Zündschlüssel abziehen würden.“

„Ja, klar doch“, sagte er schicksalsergeben.

Er beugte sich zum Fenster hinein und zog die Schlüssel ab.

„El, tu was“, sagte die Frau.

Er richtete sich kerzengerade auf und sah mich an.

„Das Ganze ist mir wirklich irrsinnig peinlich“, sagte er. „Kann ich vielleicht mit einer großzügigen Spende davonkommen, für Mütter gegen Alkohol am Steuer oder so was?“

Im Licht vom Stadtpark konnte ich den Regen sehen, der auf die Wasseroberfläche des Bayou Teche prasselte.

„Mr. Sykes, Sie sind hiermit verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen, aber wenn Sie sich dafür entscheiden, etwas zu sagen, kann dies später gegen Sie verwendet werden“, sagte ich. „Als Ihr langjähriger Fan empfehle ich Ihnen, kein weiteres Wort mehr zu sagen. Schon gar nicht über irgendwelche Spenden.“

„Anscheinend machen Sie nicht viel Federlesens. Waren Sie mal ein Texas Ranger? Die machen auch nicht viel Federlesens. Wenn man bei einem von denen frech wird, gibt’s gleich was auf die Rübe.“

„Nun, das halten wir hier nicht so“, sagte ich. Ich legte meine Hand unter seinen Arm und führte ihn zu meinem Pick-up, öffnete die Wagentür und half ihm hinein. „Sie werden sich doch wohl in meinem Wagen nicht übergeben, oder?“

„Nein, Sir, mir geht’s blendend.“

„Gut. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“

Ich ging wieder zurück zu dem Cadillac und pochte an die Scheibe der Beifahrertür. Die Frau, deren Name Kelly Drummond war, kurbelte das Fenster herunter und blickte zu mir hoch. Ihre Augen waren von einem tiefen, intensiven Grün. Sie befeuchtete sich die Lippen, und ich sah verschmierten Lippenstift auf ihren Zähnen.

„Sie werden hier so etwa zehn Minuten warten müssen, dann wird jemand kommen und Sie heimfahren“, sagte ich.

„Officer, es ist meine Schuld“, sagte sie. „Wir haben uns gestritten. Elrod ist ein guter Fahrer. Ich finde nicht, dass er eine Strafe verdient hat, nur weil ich ihn verärgert habe. Darf ich aussteigen? Mir tut der Hals weh.“

„Ich gebe Ihnen den Rat, den Wagen zu verriegeln und sich nicht vom Fleck zu rühren, Ms. Drummond. Außerdem rate ich Ihnen, sich einmal über die Gesetze zu informieren, die den Besitz von Rauschmitteln im Staat Louisiana betreffen.“

„Wow, also, es ist ja nicht so, dass wir irgendjemandem Schaden zugefügt haben. Elrod kommt in Teufels Küche. Mikey wird ihm die Hölle heiß machen. Warum bringen Sie nicht ein bisschen Verständnis dafür auf ?“

„Mikey?“

„Unser Regisseur. Der Bursche, der an die zehn Millionen Dollar in Ihr kleines Kaff bringt. Darf ich jetzt aussteigen? Ich bin wirklich nicht scharf drauf, einen Hals wie Quasimodo zu bekommen.“

„Sie können gehen, wohin Sie wollen. In dem Billardsalon dahinten ist ein Münztelefon. Von dort aus können Sie eine Kautionsagentur anrufen. An Ihrer Stelle würde ich nicht aufs Revier kommen, um Mr. Sykes zu helfen. Waschen Sie sich erst mal mit ordentlich Shampoo das mexikanische Lachgras aus dem Haar.“

„Mannomann, so was von den Arsch offen. Wo haben die Sie bloß aufgetrieben?“

Ich ging zurück zu meinem Wagen und stieg ein.

„Hören Sie, vielleicht kann ich dem Gericht mein Entgegenkommen zeigen“, sagte Elrod Sykes.

„Was?“

„Nennt man das nicht so? Da ist doch nichts Schlechtes dran, oder? Mann, ich sag’s Ihnen, jetzt verhaftet zu werden, ist wirklich das Letzte, was ich brauche.“

„Die wenigsten Menschen, die sich vor einem Richter wiederfinden, haben damit gerechnet“, sagte ich und ließ den Motor an.

Er schwieg, während ich wendete, um zum Revier der städtischen Polizei zu fahren. Er schien angestrengt über etwas nachzudenken. Dann sagte er: „Hören Sie mal. Ich weiß, wo eine Leiche liegt. Ich hab sie gesehen. Niemand hat mir geglaubt, aber ich hab das vermaledeite Ding gesehen. Tatsache.“

„Sie haben was gesehen?“

„Einen Farbigen, ich meine, einen Schwarzen, so sah es jedenfalls aus. Nur ein großes, trockenes Netz aus lauter Haut, und drunter Knochen. Wie ein großes Rattennest.“

„Wo war das?“

„Draußen im Atchafalaya-Sumpf, vor ungefähr vier Tagen. Wir drehten ein paar Szenen in der Nähe eines Indianer reservats, so was in der Art. Ich bin da hinter so ’n paar Trauerweiden verschwunden, um mal zu pinkeln, da hab ich ihn gesehen. Er ragte aus einer Sandbank.“

„Und bis zu diesem Augenblick hielten Sie es für nicht der Mühe wert, das zu melden?“

„Ich hab’s Mikey gesagt. Der meinte, es sind wahrscheinlich Knochen, die aus einem indianischen Grabplatz rausgespült worden sind, so was in der Art. Mikey kann ziemlich stur sein. Er hat gesagt, das Allerletzte, was wir jetzt brauchen, wäre Ärger mit der Polizei oder Archäologen von irgendeiner Uni.“

„Darüber reden wir morgen, Mr. Sykes.“

„Sie wollen also auch nicht auf mich hören. Aber das macht nichts. Ich hab Ihnen gesagt, was ich gesehen hab. Machen Sie damit, was Sie wollen.“

Er starrte unverwandt durch die Scheibe, an der breite Wasserschlieren herabflossen. Das attraktive Gesicht wirkte jetzt blässlich, müde, ernüchtert, als hätte er sich mit dem Szenario, das nun folgen würde, abgefunden. Ein Szenario – zwischen Haftformalitäten und Ausnüchterungszelle –, das er nur allzu gut kannte. Ich erinnerte mich an zwei oder drei Geschichten, die in den letzten Jahren über die Nachrichtenagenturen die Runde gemacht hatten – eine Prügelei mit ein paar Cops in Dallas oder Fort Worth, ein gewaltsamer Rauswurf aus einem Jachtclub in Los Angeles und eine Festnahme wegen Kokainbesitzes, wo er sich schuldig bekannt hatte. Mir war zu Ohren gekommen, dass junge Böhnchen, Mineralwasser und ein Leben in Nüchternheit der letzte Schrei in Hollywood waren. Allem Anschein nach hatte Elrod Sykes den Trend verpasst.

„Tut mir leid, wie war doch gleich Ihr Name?“, fragte er.

„Dave Robicheaux.“

„Nun, hören Sie, Mr. Robicheaux, viele Leute wollen mir nicht glauben, wenn ich ihnen erzähle, dass ich was sehe. Aber die Wahrheit ist, ich sehe die ganze Zeit bestimmte Sachen, wie Schatten, die sich hinter einem Schleier bewegen. In meiner Familie nennen wir das ‚die Gabe‘. Als ich klein war, erzählte mir mein Großvater: ‚Mein Sohn, der Herrgott hat dir die Gabe verliehen. Er hat dir ein drittes Auge gegeben, mit dem du Dinge sehen kannst, die andere Leute nicht wahrnehmen. Aber das ist ein Geschenk des Herrn, und du darfst es nie zu etwas anderem einsetzen.‘ Ich habe diese Gabe noch nie missbraucht, Mr. Robicheaux, obwohl ich eine ganze Masse anderer Sachen getan habe, auf die ich ganz und gar nicht stolz bin. Aber unterm Strich ist es mir egal, ob die Leute denken, ich hätte meinen Schädel mit zu viel Freizeitchemikalien pochiert.“

„Aha.“

Dann schwieg er wieder. Wir waren jetzt fast beim Gefängnis. Der Wind blies Regentropfen aus den Eichen, und der Mond stanzte einen metallisch silbernen Lichtrahmen um die Umrisse der Gewitterwolken. Sykes kurbelte das Fenster auf seiner Seite halb herunter und atmete den kühlen Duft der Nacht ein.

„Aber wenn das ein Indianer war, den es aus einer Grabstätte gespült hat, und kein Farbiger, dann frag ich mich, wieso er eine Kette um sich gewickelt hatte“, sagte er.

Ich trat auf die Bremse und fuhr rechts ran.

„Sagen Sie das noch mal.“

„Da war eine verrostete Kette, mit Gliedern so groß wie meine Faust, über Kreuz um seinen Brustkorb gewickelt.“

Ich musterte sein Gesicht. Es wirkte offen und arglos, frei von Verschlagenheit. Es war bleich im Mondlicht und bereits aufgedunsen vom kommenden Kater.

„Erwarten Sie, dass man Ihnen wegen der Sache mit dieser Leiche bei der Trunkenheit am Steuer entgegenkommt, Mr. Sykes?“

„Nein, Sir, ich hab Ihnen nur sagen wollen, was ich gesehen hab. Ich hätte mich nicht hinters Steuer setzen sollen. Kann gut sein, dass Sie mich vor einem Unfall bewahrt haben.“

„Manche Leute würden das für einen Anfall von Gefängnisreue halten. Was meinen Sie?“

„Nur, dass Sie vermutlich einen ziemlich harten Filmregisseur abgeben würden.“

„Können Sie diese Sandbank wiederfinden?“

„Jawohl, Sir, ich glaube, das kann ich.“

„Wo wohnen Sie und Ms. Drummond?“

„Das Studio hat für uns ein Haus draußen am Spanish Lake gemietet.“

„Ich muss Ihnen was gestehen, Mr. Sykes. Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer sind ein ziemliches Kreuz. Außerdem bin ich hier im Revier der Stadtpolizei und erledige deren Arbeit. Wenn ich Sie beide jetzt heimfahre, geben Sie mir dann Ihr Ehrenwort, dass Sie bis morgen früh dort bleiben?“

„Jawohl, Sir, das verspreche ich Ihnen.“

„Aber ich will, dass Sie Punkt neun Uhr bei mir im Büro erscheinen.“

„Punkt neun. Klare Sache. Wird gemacht. Ich weiß wirklich zu schätzen, was Sie da tun.“

Die Verwandlung in seinem Gesicht erfolgte unmittelbar, als hätte man einem Verhungernden eine Infusion mit flüssigem Nektar verabreicht. Aber als ich mitten auf der Straße wendete, um die Schauspielerin namens Kelly Drummond wieder aufzulesen, sagte er etwas, das mich an seinem Geisteszustand zweifeln ließ.

„Gibt’s hier in der Gegend eigentlich irgendwelches Gerede über Soldaten der Südstaatenarmee draußen am See?“

„Versteh ich nicht.“

„Genau so, wie ich sagte. Erzählt man sich irgendwas über Männer in grauen oder nussbraunen Uniformen, die da draußen rumspuken? Ein ganzer Haufen, nachts, draußen im Nebel.“

„Drehen Sie da draußen nicht einen Film über den Bürgerkrieg? Reden Sie von Schauspielern?“ Ich sah ihn schief an. Seine Augen blickten unverwandt nach vorne, auf irgendeinen privaten Gedanken konzentriert, der direkt vor der Windschutzscheibe zu schweben schien.

„Nein, die Burschen waren keine Schauspieler“, sagte er. „Denen war im Gefecht übel mitgespielt worden, und hungrig sahen sie auch aus. Hier ist es doch gewesen, oder?“

„Was?“

„Die Schlacht.“

„Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Sykes.“

Weiter vorne an der Straße sah ich Kelly Drummond in ihren hochhackigen Schuhen und Levi’s-Jeans auf Tee Negs Billardsalon zustapfen.

„Doch, das können Sie wohl“, sagte er. „Sie glauben noch, wo’s die meisten nicht mehr tun, Mr. Robicheaux. Das auf jeden Fall. Und wenn ich sage, Sie glauben, dann wissen Sie auch genau, was ich damit meine.“

Er blickte mir voller Zuversicht und mit heiterer Gelassenheit ins Gesicht und blinzelte mit einem blutunterlaufenen Auge.

2

Meine Träume führten mich an viele Orte: manchmal zurück zu einem windgebeutelten Geschützposten auf der Kuppe eines orangefarbenen Hügels, der von Granaten durchlöchert war; zu einem milden, noch leicht nebligen Morgen, an dem Enten vor einer rosigen Sonne in die Luft stiegen, während mein Vater und ich in unser Versteck gekauert auf jenen Moment des Herzklopfens warteten, in dem ihre Schatten über Rohrkolben und Schilfdickicht hinweg auf uns zurasen würden; auf ein flutlichtbestrahltes Baseballfeld der American Legion, wo ich mit 17 gegen eine Mannschaft aus Abbeville ein absolut perfektes Spiel als Pitcher hinlegte, nach welchem mich dann eine schöne, mir unbekannte Frau, vielleicht zehn Jahre älter als ich, so heftig auf den Mund küsste, dass es mir in den Ohren klingelte.

Aber heute Nacht fand ich mich im Sommer meines ersten College-Jahres wieder. Im Juli 1957 und tief in der Atchafalaya-Marsch. Der Hurrikan Audrey hatte gerade Südlouisiana heimgesucht und allein im Cameron Parish mehr als 500 Menschen getötet. Ich hatte einen Job auf einem der Boote, die seismografische Messungen und Testbohrungen für die Ölgesellschaften vornahmen, und die Barkasse mit dem Bohrer hatte soeben das eiserne Pfahlwerk im gelben Wasser einer langen flachen Bucht versenkt, und die Mannschaft des wannenförmigen Messschiffs hatte mich bei einer Reihe von Bauminseln abgesetzt, damit ich eine lange Rolle elektrischen Kabels wieder aufsammelte, das quer durch die Bäume und über spitze Sandbänke und Sumpfausläufer ausgelegt war. Die Sonne stand grell weiß am Himmel, und die Luft war so feucht wie der Dampf, der von einem Topf mit gekochtem Gemüse aufsteigt. Sobald ich im Schatten der Bäume war, umschwärmte mich ein grauer Nebel von Moskitos so dicht wie ein Helm vor meinen Augen und Ohren.

Kabelrolle und Spule hingen an Leinenriemen vor meiner Brust, und immer wenn ich ein, zwei Meter Kabel aufgespult hatte, musste ich innehalten und tief ins Wasser eintauchen, um die Moskitos von der Haut zu bekommen, oder mir frischen Schlamm auf Schultern und Gesicht schmieren. Es war der fünfte Tag meines Jobs, der zehn dauern sollte, was bedeutete, dass heute Abend der Vorarbeiter erlauben würde, dass sein Boot ein paar von uns am Damm bei Charenton absetzte, von wo aus wir dann in ein kleines Kaff in der Nähe von Morgan City fahren würden, wo wir ins Kino gehen konnten. Als ich so auf meinen Armen Moskitos zu blutigem Matsch zerschlug und durch sandigen Morast watete, der mir bis über die Knie ging, musste ich die ganze Zeit an die kalte Dusche denken, die ich später auf dem Mannschaftsboot nehmen, an das gebratene Hühnchen, das ich abends im Speisesaal essen würde, an die Fahrt in die Stadt, zwischen Zuckerrohrfeldern hindurch, am kühler werdenden Abend. Dann brach ich am Ufer einer weiteren Bucht aus der Waldung heraus, in eine milde Brise, Sonnenlicht, den Anflug von Regen, der sich im Süden ankündigte.

Ich ließ die schwere Kabelrolle in den Sand fallen, kniete im flachen Wasser nieder und wusch mir den Schlamm von der Haut. Knapp hundert Meter entfernt, auf der anderen Seite der Bucht, sah ich ein Kajütenboot, das an der Mündung eines schmalen Bayou vertäut war. Ein schwarzer Mann trat vom Bug auf die Uferböschung, gefolgt von zwei weißen Männern. Dann sah ich genauer hin und merkte, dass da etwas ganz und gar nicht stimmte. Einer der Weißen hielt eine Pistole in der Hand, und die Arme des Schwarzen waren ihm mit einer dicken Kette, die man um seinen Oberkörper gewickelt hatte, an den Leib gefesselt.

Ich starrte ungläubig hinüber, als der Schwarze plötzlich ein kurzes Strandstück entlangrannte, den Kopf nach hinten über die Schulter verdreht, und der Mann mit der Pistole zielte und schoss. Die erste Kugel musste ihn ins Bein getroffen haben, weil es unter ihm nachgab, als hätte man den Knochen mit einem Hammer entzweigeschlagen. Er kam noch einmal halb auf die Beine, stolperte ins Wasser und kippte zur Seite. Ich sah, wie die Kugeln um ihn herum im Wasser aufspritzten, als der Kopf mit den krausen Locken versank. Der Mann mit der Pistole watete ihm hinterher und schoss immer weiter, bis er fast senkrecht hinunter ins Wasser zielte, während der andere Weiße von der Uferböschung aus ruhig zusah.

Den Schwarzen sah ich nicht mehr.

Dann blickten die zwei Weißen über die sich flach dahinstreckende Bucht und sahen mich. Ich erwiderte ihren Blick, stumpf, fast verlegen, wie jemand, der im falschen Augenblick eine Schlafzimmertür geöffnet hatte. Dann gingen sie in aller Seelenruhe zurück zu ihrem Boot, ohne erkennbare Anzeichen von Hast oder Sorge, gerade so, als wäre mein Erscheinen völlig belanglos.

Später erzählte ich dem Vorarbeiter, jemandem vom Sheriff’s Department und zu guter Letzt allen, die mir zuhören wollten, was ich da gesehen hatte. Aber ihr Interesse hielt sich in Grenzen, eine Leiche wurde in der Gegend nie gefunden, und es wurde auch nie irgendein schwarzer Mann aus der Gegend als vermisst gemeldet. Mit der Zeit versuchte ich mir selbst einzureden, dass der Mann in Ketten seinen Peinigern entkommen war, für unglaublich lange Zeit den Atem angehalten hatte und irgendwo stromabwärts wieder aufgetaucht war, um einem neuen Tag entgegenzusehen. Als 19-Jähriger wollte ich nicht wahrhaben, dass es möglich war, dem Mord an einem Menschen ebenso wenig Bedeutung beizumessen wie einem abgeschnittenen Stückchen Fingernagel.

Am Morgen, nachdem ich Elrod T. Sykes wegen Trunkenheit am Steuer angehalten hatte, stand Punkt neun Uhr ein Rechtsanwalt, und nicht Elrod Sykes, in meinem Büro. Er war groß gewachsen, hatte silbergraues Haar, und er trug einen grauen Anzug mit roten Steinen in den Manschettenknöpfen. Er nannte mir seinen Namen, den ich mir nicht merkte. Tatsächlich interessierte es mich nicht im Geringsten, was er zu sagen hatte.

„Selbstverständlich steht Mr. Sykes zu Ihrer Verfügung“, sagte er, „und sowohl er als auch ich wissen die Höflichkeit zu schätzen, die Sie ihm gestern Abend erwiesen haben. Selbstverständlich ist ihm äußerst unangenehm, was geschehen ist. Ich weiß nicht, ob er Ihnen gesagt hat, dass er ein neues Medikament gegen sein Asthma genommen hatte, auf das allem Anschein nach sein Kreislauf sehr stark reagiert hat. Auch das Studio weiß zu schätzen …“

„Wie war doch gleich Ihr Name, Sir?“

„Oliver Montrose.“

Ich hatte ihn noch nicht gebeten, Platz zu nehmen. Ich pickte mehrere Büroklammern aus einer kleinen Blechdose auf meinem Schreibtisch und ließ sie eine nach der anderen auf meine Schreibtischunterlage fallen.

„Wo befindet sich Sykes jetzt im Augenblick, Mr. Montrose?“

Er sah auf die Uhr.

„Jetzt um diese Zeit sind sie draußen am Drehort“, sagte er. Als ich darauf nicht antwortete, trat er von einem Fuß auf den anderen und fügte hinzu: „Draußen am Spanish Lake.“

„Am Drehort am Spanish Lake?“

„Ja.“

„Wollen wir doch mal sehen. Das liegt ungefähr acht Kilometer außerhalb der Stadt. Von dort hierher zu fahren sollte nicht länger als eine Viertelstunde dauern. 30 Minuten sollten also hinreichend Zeit für Sie sein, Mr. Sykes aufzutreiben und dafür zu sorgen, dass er in diesem Stuhl hier vor mir sitzt.“

Er blickte mich kurz an und nickte dann.

„Das wird bestimmt kein Problem sein“, sagte er.

„Yeah, ganz bestimmt nicht. Deshalb hat er ja wohl Sie hergeschickt, anstatt zu seinem Wort zu stehen. Das können Sie ihm ruhig von mir ausrichten.“

Zehn Minuten später kam der Sheriff in mein Büro, einen aufgeschlagenen Aktenordner in den Händen, und nahm mir gegenüber Platz. Er war Inhaber einer chemischen Reinigung und der Präsident des örtlichen Lions Club gewesen, bevor er sich zum Sheriff hatte wählen lassen. Er trug eine randlose Brille und hatte weiche Pausbäckchen, von blauroten Adern durchzogen. In seiner grünen Uniform erinnerte er mich eher an den Leiter einer Kindertagesstätte als an einen Vertreter von Recht und Ordnung, aber er war ein ehrlicher und anständiger Mann und sich nicht zu schade, auf die zu hören, die mehr Erfahrung hatten als er.

„Ich habe den Autopsiebericht und die Fotos von diesem LeBlanc-Mädchen“, sagte er. Er nahm die Brille ab und kniff sich in die rote Schwiele auf dem Nasenrücken. „Wissen Sie, ich mache diesen Job jetzt seit fünf Jahren, aber so was –“ „Wenn es Ihnen nichts mehr ausmacht, dann müssen Sie sich Sorgen machen, Sheriff.“

„Nun gut, wie auch immer, laut Bericht ist ihr wahrscheinlich das meiste davon zugefügt worden, als sie schon tot war, das arme Mädchen.“

„Darf ich ihn sehen?“ Ich streckte die Hand nach dem Ordner aus.

Als ich die Fotos betrachtete, musste ich schlucken, obwohl ich erst gestern das Ganze mit eigenen Augen gesehen hatte. Ihrem Gesicht hatte der Mörder nichts angetan. In der Tat hatte er es mit ihrer Bluse bedeckt, entweder im Verlauf der Vergewaltigung oder vielleicht bevor er ihr junges Herz mit einem Eispickel zum Stillstand brachte. Aber in den 14 Jahren, die ich beim Police Department von New Orleans zugebracht hatte, und auch in den drei Jahren, in denen ich mit Unterbrechungen für das Büro des Sheriffs im Iberia Parish gearbeitet hatte, waren mir wenige Fälle untergekommen, in denen Gewalttätigkeit oder Wut sich in einem solchen Ausmaß am Körper einer Frau ausgetobt hatten.

Dann las ich mich durch die klinische Prosa, die die Autopsie in allen Einzelheiten beschrieb, die Beschaffenheit der Wunden und die sexuelle Penetration der Vagina, und dann die Abwesenheit von fremden Hautspuren unter den Fingernägeln des Mädchens vermerkte, sowie die Schätzungen und Vermutungen des Pathologen, was den Zeitpunkt und die unmittelbare Todesursache betraf, und zuletzt die Art von Werkzeug, das der Mörder wahrscheinlich dazu verwendet hatte, das Opfer zu verstümmeln.

„Das kann man drehen und wenden, wie man will, ich schätze, wir haben es hier mit einem Psychopathen zu tun oder einem Typ, der sich mit Crack oder Acid vollgedröhnt hat“, sagte der Sheriff.

„Ja, vielleicht“, sagte ich.

„Oder meinen Sie etwa, jemand anders würde ein 19-jähriges Mädchen mit einem Skalpell oder einem Rasiermesser ausweiden?“

„Vielleicht will der Kerl auch nur, dass wir ihn für übergeschnappt halten. Er war schlau genug, am Tatort nichts außer dem Eispickel zu hinterlassen, und auf dem waren keinerlei Abdrücke. Auf dem Klebeband, mit dem er sie gefesselt und geknebelt hat, waren auch keine. Sie ist zur Vordertür aus dieser Kneipe rausgegangen, aus freien Stücken, um ein Uhr morgens, als der Laden noch gut voll war, und irgendwie hat er sie entführt oder dazu gebracht, mit ihm zu gehen, all das zwischen der Eingangstür und ihrem Auto, das nur 30 Meter weit weg geparkt war.“

„Fahren Sie fort“, sagte er mit nachdenklichem Blick.

„Ich glaube, dass sie den Kerl gekannt hat.“

Der Sheriff setzte die Brille wieder auf und kratzte sich mit dem Fingernagel im Mundwinkel.

„Sie hat ihre Handtasche am Tisch gelassen“, sagte ich. „Ich denke, dass sie nach draußen ging, weil sie etwas aus dem Wagen holen wollte. Dabei hat sie jemanden getroffen, den sie kannte. Psychopathen versuchen nicht, eine Frau direkt vor einer Bar voller betrunkener Rednecks und Ölarbeiter gewaltsam zu etwas zu zwingen.“

„Was wissen wir über das Mädchen?“

Ich holte meinen Notizblock aus der Schreibtischschublade und blätterte ihn auf der Unterlage durch.

„Ihre Mutter ist gestorben, als sie zwölf war. Sie ist in der Neunten von der Schule abgegangen und ist ein paarmal von ihrem Vater abgehauen. Das war in Mamou. Mit 16 ist sie in Lafayette wegen Prostitution verhaftet worden. Seit ungefähr einem Jahr wohnte sie hier bei ihren Großeltern, draußen am Ende der West Main Street. Ihren letzten Job hatte sie vor ungefähr drei Wochen draußen in einer Bar in St. Martinville, wo sie gekellnert hat. Wenige enge Freunde, falls überhaupt welche, keine feste Beziehung, weder gegenwärtig noch in jüngster Vergangenheit, zumindest den Großeltern zufolge. Man kann nicht behaupten, dass sie große Chancen auf ein richtiges Leben gehabt hätte, oder?“

Ich konnte hören, wie sich der Sheriff mit dem Daumen am Kiefer entlangfuhr.

„Nein, die hatte sie nicht“, sagte er. Sein Blick schweifte zum Fenster hinaus und wandte sich dann wieder meinem Gesicht zu. „Schlucken Sie das, dass da keine Beziehung gewesen sein soll?“

„Nein.“

„Ich auch nicht. Abgesehen davon, dass sie ihren Mörder wahrscheinlich kannte, haben Sie noch irgendwelche anderen Theorien?“

„Eine.“

„Und die wäre?“

„Dass ich völlig falsch liege, dass wir es mit einem Psychopathen oder Serienmörder zu tun haben.“

Er erhob sich, um zu gehen. Er hatte Übergewicht, war andauernd auf Diät, und sein Bauch ragte über seinen Revolvergurt, aber die aufrechte Körperhaltung ließ ihn größer und schlanker wirken, als er tatsächlich war.

„Da bin ich aber froh, dass wir die Sache hier so klar im Griff haben, Dave“, sagte er. „Passen Sie auf, ich will, dass Sie bei diesem Fall alle verfügbaren Kräfte einsetzen. Ich will diesen Mistkerl aus dem Verkehr ziehen, ein für alle Mal.“

Ich nickte und fragte mich, wieso er das Offensichtliche so ausdrücklich feststellte.

„Und genau deshalb werden wir in dieser Sache mit dem FBI zusammenarbeiten“, fuhr er fort.

Ich verzog keine Miene, meine Hände ruhten geöffnet und reglos auf der Schreibtischunterlage.

„Sie haben die angerufen?“, fragte ich.

„Das habe ich in der Tat, und der Bürgermeister auch. Der Tatbestand des Kidnappings ist genauso erfüllt wie der der Vergewaltigung und des Mordes, Dave.“

„Ja, okay, könnte sein.“

„Die Vorstellung, mit diesen Burschen zusammenzuarbeiten, gefällt Ihnen nicht?“

„Mit dem FBI arbeitet man nicht zusammen, Sheriff. Von denen nimmt man Anweisungen entgegen. Man kann schon von Glück sagen, wenn sie einen vor einer Fernsehkamera nicht wie einen unwichtigen Dorfdödel behandeln. Da lernt man so richtig schön, was es heißt, in seine Schranken verwiesen zu werden.“

„Tja, man kann Ihnen jedenfalls nicht vorwerfen, dass Sie mit Ihren Gefühlen hinterm Berg halten, Dave.“

Fast auf den Punkt genau 30 Minuten, nachdem der Anwalt Oliver Montrose mein Büro verlassen hatte, warf ich einen Blick aus dem Fenster und sah Elrod T. Sykes seinen lavendelfarbenen Cadillac im Parkverbot abstellen. Die Weißwandreifen kratzten am Bordstein, und er stieg aus dem Wageninneren ins grelle Sonnenlicht. Er trug braune Hosen mit Streifen, eine Sonnenbrille und ein zitronengelbes kurzärmeliges Hemd. Der Anwalt stieg auf der Beifahrerseite aus, aber Sykes bedeutete ihm zu bleiben, wo er war. Sie hatten eine kurze Diskussion, dann betrat Sykes allein das Gebäude. Die Sonnenbrille in der Hand, trat er durch meine Bürotür, das Haar feucht und frisch gekämmt, ein verlegenes Grinsen im Mundwinkel.

„Nehmen Sie bitte kurz Platz“, sagte ich.

Die Haut um seine Augen war bleich. Verkatert. Er setzte sich und fasste sich an die Schläfe, als wäre sie wund.

„Diesen Söldner vorzuschicken, tut mir leid. War nicht meine Idee“, sagte er.

„Von wem stammte sie dann?“

„Mikey meint, dass er über alles zu entscheiden hat, was Auswirkungen auf den Film hat.“

„Wie alt sind Sie, Mr. Sykes?“

Er machte große Augen und schürzte die Lippen.

„40. Na ja, eigentlich 43“, sagte er.

„Als Sie sich betrunken hinters Steuer gesetzt haben, mussten Sie da auch diesen Mann um Erlaubnis bitten?“

Er blinzelte, als hätte ich ihm einen Schlag versetzt, ein feuchter Laut quoll aus seiner Kehle, und er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund.

„Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll“, sagte er. Er hatte einen eigentümlichen Akzent, Nord-Texas, etwas belegt, leicht näselnd, als hätte er einen groschengroßen schmelzenden Eisklumpen in der Wange. „Ich habe mein Wort gebrochen, das ist mir völlig bewusst. Aber ich lasse andere genauso im Regen stehen, Mr. Robicheaux. Es kostet 10 000 Dollar die Stunde, wenn man hundert Menschen rumstehen lassen muss, während ein Typ wie ich zusieht, dass er seinen Hals aus der Schlinge zieht.“

„Ich will mal hoffen, dass Sie das geregelt kriegen.“

„Ich schätze, hier darf ich kaum Aspirin und Mitgefühl erwarten, stimmt’s?“

„Ein Deputy aus dem St. Mary Parish wird sich mit uns mit einem Boot am Chitimacha-Indianerreservat treffen. Ich gehe davon aus, dass er jetzt schon auf uns wartet.“

„Okay, ich muss zugeben, eigentlich freue ich mich drauf. Hab ich Ihnen gestern Abend eigentlich erzählt, dass mein Großvater ein Texas Ranger war?“

„Nein, haben Sie nicht.“ Ich sah auf die Uhr.

„Na ja, Tatsache, das war er. Er hat mit Frank Hammer zusammengearbeitet, dem Ranger, der oben in Arcadia, Louisiana, Bonnie und Clyde erwischt hat.“ Er lächelte mich an. „Wissen Sie, was er mir immer gesagt hat, als ich klein war? ‚ Junge, es gibt zwei Gangarten – volles Rohr und scheiß drauf.‘ Mann, das war eine Kanone. Er …“

„Lassen Sie mich mal kurz was klarstellen. Und nehmen Sie’s nicht persönlich.“

„Jawohl, Sir.“

„Gestern hat jemand im Süden des Bezirks ein 19-jähriges Mädchen vergewaltigt und ermordet. Er hat ihr die Brüste abgeschnitten, die Eingeweide aus dem Bauch gerissen, Zweige in die Vagina gestopft. Ich hab’s nicht so gerne, hier in meinem Büro drauf zu warten, dass Sie aufkreuzen, wann es Ihnen passt. Die Probleme Ihrer Filmgesellschaft interessieren mich nicht, und an einem Morgen wie diesem wäre ich Ihnen ausgesprochen dankbar dafür, wenn Sie die Histörchen aus Ihrer Familiengeschichte Ihrem Werbefritzen überlassen würden.“

Er versuchte meinem Blick standzuhalten, aber dann wurden seine Augen wässrig und er sah weg.

„Wenn ich vielleicht mal Ihre Toilette benutzen dürfte“, sagte er. „Ich fürchte, mir ist heute Morgen was auf den Magen geschlagen.“

„Ich warte draußen. Zwei Minuten, Mr. Sykes.“

Der Himmel war hell und etwas diesig, der Wind heiß wie Feuer, als wir in Richtung Atchafalaya River fuhren. Zweimal musste ich anhalten, damit Elrod Sykes sich am Straßenrand übergeben konnte.

Es fühlte sich seltsam an, nach so vielen Jahren wieder diesen Teil des Atchafalaya-Beckens zu betreten. Im Juli 1957, nachdem der Hurrikan sich verzogen und die Sturzflut endlich aufgehört hatte, rochen die überfluteten Waldungen und Bauminseln, die Kanäle, deren Blätterdächer so dicht waren, dass kaum je Sonnenlicht aufs Wasser fiel, und die Strandstreifen entlang der Buchten noch wochenlang nach Tod. Dieser Geruch, schwer, modrig, stechend wie der einer verwesenden Ratte, schien den ganzen Tag lang in der Hitze zu stehen, und nachts wehte er durch den Fliegenschutz auf dem Mannschaftsboot, und er erwartete einen morgens, wenn man durch die Kombüse in den Speisesaal trat.

Viele der Tiere, die nicht ertranken, verhungerten. Waschbären kletterten die Vertäuung hoch und kratzten an der Gazeverkleidung der Kombüse nach Futter, und wir holten viele Hasen aus den Baumwipfeln, die kaum noch übers Wasser ragten, und brachten sie mit dem Wannenboot zum Damm bei Charenton. Manchmal trieben nachts in der Dunkelheit riesige Bäume vorbei, deren Wurzelverästelungen so breit wie Scheunendächer waren, und kratzten vom Bug bis zum Heck mit den Ästen am Schiffsrumpf entlang. Eines Abends, als der Mond, voll und gelb, tief über den Trauerweideninseln stand, hörte ich, wie etwas hart auf einer Seite gegen das Boot schlug, wie eine große hölzerne Faust, die ihre Knöchel über die Planken rollen lässt. Ich setzte mich in meiner Koje auf und blickte durch das Gazefenster nach draußen. Dort sah ich ein Hausboot, mit dem Deck nach unten. Es drehte sich in der Strömung, und verwickelte Fischernetze hingen aus einem Fenster wie Spinnweben aus einer Augenhöhle.

Ich dachte an die Hunderte von Menschen, die im Cameron Parish entweder unter einer Flutwelle erdrückt worden oder ertrunken waren, deren Leichen tief in die Sümpfe entlang des Calcasieu River gespült worden waren, und wieder trug mir der Wind diesen durchdringenden, üblen Geruch in die Nase. Ich konnte nicht mehr einschlafen, bis die Sonne wie eine rote, geschmolzene Kugel durch den Nebel am anderen Ende der Bucht aufstieg.

Wir brauchten nicht lange, um die Bauminsel zu finden, wo Elrod Sykes das Skelett eines Indianers oder Schwarzen gesehen zu haben behauptete. Wir überquerten den weiten Bogen des Atchafalaya in einem Boot des Sheriff’s Department, an dessen Heck zwei Außenbordmotoren montiert waren, fuhren durch einen Kanal zwischen Reihen von Sandbänken hindurch, deren Kuppen, in der Sonne getrocknet, wie die Rücken eines ganzen Schwarms springender Delfine aussahen, überquerten eine lange Bucht und ließen das Boot auf ein schmales Strandstück gleiten, das schwarz in eine dichte Ansammlung von Trauerweiden und eine Kette von gefluteten Schlund- und Sandlöchern mündete.

Elrod Sykes trat vom Bug in den Sand und stierte in die Bäume. Er hatte das Hemd ausgezogen und verwendete es dazu, sich den Schweiß von der gebräunten Brust und den Schultern zu wischen.

„Dahinten ist es“, sagte er und wies die Richtung. „Man sieht meine Fußabdrücke, wo ich reingegangen bin, um zu pinkeln.“

Der Deputy aus dem St. Mary Parish setzte sich eine Stoffmütze auf den Kopf und besprühte Gesicht, Hals und Arme mit Insektenschutz. Dann gab er mir die Sprühdose.

„Wenn ich Sie wäre, würde ich das Hemd anziehen, Mr. Sykes“, sagte er. „Früher hatten wir hier mal ’ne Menge Fledermäuse. Das war, bevor die Moskitos sie alle aufgefressen haben.“

Sykes lächelte freundlich und wartete, bis die Dose mit dem Insektenspray an ihn weitergereicht wurde.

„Jede Wette, Sie werden’s nicht glauben“, sagte der Deputy, „aber hier ist es schon so trocken gewesen, dass ich einen Catfish mit einer Wasserflasche über den Damm hab laufen sehen.“

Sykes’ Augen zogen kleine Fältchen in den Winkeln, dann ging er uns voran in die Düsternis.

„Der Junge ist ganz schön weit weg von seinen Hollywood-Häschen, stimmt’s?“, sagte der Deputy hinter mir.

„Wie wär’s, wenn Sie Ihren Humor mal abstellen?“, erwiderte ich.

„Was?“

„Der Mann stammt von hier aus dem Süden. Seien Sie nicht so herablassend.“

„Herabla –“ Ich ließ ihn stehen und schloss zu Sykes auf, als er aus den Weiden in eine flache Mulde zwischen den Bäumen und einer Sandbank trat, in der das Wasser stand. Es war heiß und roch nach totem Hornhecht.

„Da“, sagte er. „Direkt unter den Wurzeln dieses toten Baums. Ich hab’s euch ja gesagt.“

Eine sonnengebleichte Zypresse, von der die Rinde abgefallen war, lag quer auf einer Sandbank, der vom Wasser glatt gespülte Stumpf wurmstichig, und in den Wurzelverästelungen, wie im Griff einer gichtigen Hand, lag ein Skelett, zusammengekrümmt wie ein Embryo, umhüllt von einem dichten Netz getrockneter Algen und sonstigem Treibgut.

Was man an Knochen sah, war blank poliert und so verwittert, dass es fast schwarz war, aber Teile der Haut waren getrocknet, bis sie die Farbe und Beschaffenheit ausgedörrten Leders aufwiesen. Eine dicke, rostige Kette war um Arme und Brustkorb geschlungen, genau wie Sykes gesagt hatte. Die Enden waren mit einem Vorhängeschloss verbunden, so breit wie meine Hand.

Ich brach einen Zweig von einer Weide, schabte das Laub mit meinem Puma-Messer ab und kniete vor dem Skelett nieder.

„Was meinen Sie wohl, wie er unter diese Wurzeln geraten ist?“, fragte Sykes.

„’57 ging hier ein übler Hurrikan durch“, sagte ich. „Da hat’s Bäume wie den wie Karotten aus dem Boden gerissen. Ich nehme an, die Leiche dieses Mannes hat sich in irgendwelchen treibenden Bäumen verfangen und ist später auf dieser Sandbank darunter geraten.“

Sykes kniete sich neben mich.

„Das versteh ich nicht“, sagte er. „Woher wollen Sie wissen, dass es 1957 passiert ist? Dieser Teil des Landes wird doch andauernd von Hurrikans verwüstet, oder?“

„Gute Frage, Kumpel“, sagte ich, und mit dem Weidenzweig entfernte ich das Netz getrockneter Algen zuerst von einem Schienbeinknochen, dann dem anderen.

„Das linke ist in zwei Stücke gebrochen“, sagte Sykes.

„Ja. Da hat ihn die Kugel getroffen, als er vor zwei weißen Männern fliehen wollte.“

„Sind Sie ’n Hellseher oder so was?“, fragte Sykes.

„Nein, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen. Ungefähr anderthalb Kilometer von hier.“

„Sie haben’s gesehen?“

„Ja.“

„Was ist denn jetzt los?“, fragte der Deputy hinter uns. „Wollen Sie damit sagen, dass irgendwelche Weißen jemand gelyncht hätten?“

„Yeah, genau das sage ich. Wenn wir zurückkommen, müssen wir mit Ihrem Sheriff reden und dafür sorgen, dass ein Gerichtsmediziner hier rausgeschickt wird.“

„Ich weiß ja nicht, wie Sie das drüben im Iberia Parish so handhaben, aber hier wird sich niemand groß für irgendeinen Niggerscheiß interessieren, der 35 Jahre her ist“, sagte der Deputy.

Ich stocherte mit dem Zweig um die Knochen herum und zog ein dichtes Geflecht von Algen ab, unter dem die Beine, die Beckenknochen und die Schädeldecke, auf der oben immer noch ein Flecken zerzausten schwarzen Haars klebte, zum Vorschein kamen. Ich kratzte an den verwitterten, schwarz gewordenen Arbeitsstiefeln und den bunten Fetzen, die vom Becken baumelten.

Dann legte ich den Zweig weg und nagte an meinem Daumennagel.

„Wonach suchen Sie, Mr. Robicheaux?“, fragte Sykes.

„Es geht nicht drum, was da ist, sondern was fehlt“, sagte ich. „Er hat keinen Gürtel in der Hose, und die Stiefel haben keine Schnürsenkel.“

„Der Scheißkerl hat sich vermutlich bei der Heilsarmee eingekleidet. Na und?“, sagte der Deputy, zerklatschte einen Moskito auf seinem Hals und betrachtete den rotschwarzen Matsch in seiner Handfläche.

Später an diesem Nachmittag machte ich mich wieder an den Fall des ermordeten Mädchens, dessen voller Name Cherry LeBlanc war. Niemand wusste, wo ihr Vater steckte, der aus Mamou verschwunden war, nachdem man ihn beschuldigt hatte, sich an einem schwarzen Kind in der Nachbarschaft vergangen zu haben, aber ich sprach noch einmal mit ihren Großeltern, dem Besitzer der Bar in St. Martinville, wo sie zuletzt gearbeitet hatte, dem Mädchen, in deren Gesellschaft sie am Abend ihres Todes in dem Bretterverhau von Kneipe gewesen war, mit einem Captain der Polizei von Lafayette, der sie nach ihrer Verhaftung wegen Prostitution zur Bewährung empfohlen hatte. Ich erfuhr wenig über sie, außer dass sie allem Anschein nach eine glücklose und fatalerweise attraktive junge Frau ohne Schul- und Berufsausbildung gewesen war, die ihr Glück in einem Scheißspiel versucht hatte, wo die Würfel für Menschen wie sie schon immer zu ihren Ungunsten präpariert waren.

Außerdem erfuhr ich über sie, dass sie Zydeco-Musik geliebt hatte und in die Kneipe gekommen war, um Sam „Hogman“ Patin seine Mundharmonika und seine zwölfsaitige Gitarre mit dem Bottleneck spielen zu hören.

Mein Schreibtisch war übersät mit dahingekritzelten Notizen aus meinem Block, Fotos aus der Leichenhalle und vom Tatort, Vernehmungskassetten und Fotokopien aus den Unterlagen des Sozialamts über die LeBlanc-Familie, als der Sheriff mein Büro betrat. Der Himmel draußen war jetzt lavendelfarben und rosa, und die Wedel der Palmen draußen am Bürgersteig hingen schlaff in der Hitze und warfen dunkle Silhouetten vor der tief stehenden Sonne.

„Ich erhielt gerade einen Anruf des Sheriffs drüben im St. Mary Parish“, sagte er.

„Und?“

„Er hat sich sehr bedankt für die zusätzliche Arbeit.“ Er setzte sich auf die Schreibtischkante.

„Sagen Sie ihm, er soll sich einen anderen Job suchen.“

„Er lässt ausrichten, Sie können gerne rüberkommen und die Untersuchung führen, wenn Sie mal frei haben.“

„Was unternimmt er in der Angelegenheit?“

„Die Knochen sind jetzt beim Leichenbeschauer. Aber ich will Ihnen nichts vormachen, Dave, ich glaube nicht, dass das irgendwohin führt.“

Ich lehnte mich in meinem Drehstuhl zurück und trommelte mit den Fingern auf dem Schreibtisch. Meine Augen brannten und der Rücken tat mir weh.

„Ihre Aussage von damals wurde jetzt anscheinend im Nachhinein bestätigt“, sagte der Sheriff. „Lassen Sie’s erst mal dabei bewenden.“

„Mal sehen.“

„Schauen Sie, ich weiß, dass Sie eine Menge Arbeit auf dem Tisch haben, aber ich habe da ein Problem, mit dem Sie sich mal befassen müssten, wenn Sie die Zeit dazu haben. Vielleicht gleich morgen früh als allererstes.“

Ich blickte ihn nur an.

„Baby Feet Balboni“, sagte er.

„Was ist mit ihm?“

„Er ist in New Iberia. Im Holiday Inn, begleitet von einem halben Dutzend seiner Schmalzlockenkumpane und ihren Huren. Der Hoteldirektor hat mich aus einer Telefonzelle auf der Straße angerufen, weil er solche Angst hatte, dass ihn einer von ihnen hören würde.“

„Ich weiß nicht, was ich da tun kann“, sagte ich.

„Wir müssen erfahren, was er hier in der Stadt macht.“

„Er ist hier aufgewachsen.“

„Hören Sie, Dave, nicht mal in New Orleans werden sie mit diesem Burschen fertig. Er hat die Hälfte der Giacanound Cardo-Familien zu Hackfleisch verarbeitet, um dahin zu kommen, wo er heute ist. Der wird sich hier nicht wieder häuslich niederlassen. Auf gar keinen Fall.“

Ich rieb mir das Gesicht. Meine Barthaare drückten stoppelig und hart gegen meine Handfläche.

„Soll ich einen anderen schicken?“, fragte der Sheriff.

„Nein, geht schon in Ordnung.“

„Sie waren in der Highschool befreundet, oder?“

„Wir haben nur zusammen in einer Mannschaft gespielt.“

Ich ließ meinen Blick aus dem Fenster über die länger werdenden Schatten schweifen. Er musterte mein Gesicht.

„Was ist los, Dave?“

„Nichts.“

„Macht es Ihnen was aus, dass wir einen Baseballkameraden von Ihnen aus der Stadt werfen wollen?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Haben Sie je die Story gehört, was er mit dem Cousin von Didi Giacano gemacht hat? Er soll ihn am eigenen Darm an einem Fleischerhaken aufgehängt haben.“

„Die haargenau gleiche Geschichte habe ich über ein halbes Dutzend verschiedener Mafiosi in den Bezirken von Orleans und Jefferson gehört. Das ist eine alte NOPD-Gruselgeschichte.“

„Also nur ein bisschen üble Presse, ja?“

„In meinen Augen war Julie zu 90 Prozent nur immer ein großer Selbstdarsteller“, sagte ich.

„Klar doch, und Gorillascheiße schmeckt wie Schokoladeneis. Dave, manchmal sind Sie wirklich zum Schießen.“

3

Julie Balboni sah genauso aus wie sein Vater, der in den Vierzigerjahren im Iberia Parish den Großteil der Spielautomaten besessen hatte und gemeinsam mit einer syrischen Familie das Glücksspiel und die Prostitution in dem Teil von Lafayette kontrolliert hatte, den man Underpass nannte. Schon in der elften Klasse war Julie riesig gewesen, an die zwei Meter, mit breiten Hüften und oben wie unten schmal zulaufend, wie eine dicke Banane, mit winzigen Knöcheln und Schuhgröße 7 und einem Schädel so groß wie der eines Wasserbüffels. Ein Jahr später füllte er diese Statur richtig aus.

Das war auch das Jahr, in dem er wegen Einbruchs in einen Schnapsladen verhaftet wurde. Sein Vater marschierte mit vorgehaltener Waffe mit ihm in den Wald und prügelte ihm mit der Tülle eines Gartenschlauchs die Haut vom Rücken.

Das Haar wucherte auf seinem Kopf wie schwarze Schlangen, und weil ein Arzt bei seiner Geburt einen Nerv in seinem Gesicht verletzt hatte, sackte manchmal ein Mundwinkel unkontrolliert nach unten, was seinem Gesicht einen obszönen oder lüsternen Ausdruck verlieh, der die meisten Mädchen abstieß. Er furzte im Unterricht, rülpste während des Verfassungseids, kämmte seine Schuppen aufs Pult. Wenn er jemanden nicht leiden konnte, fasste er sich an den Sack und forderte den anderen zum Reinbeißen auf. Auf dem Flur und in den Umkleidekabinen machten wir einen großen Bogen um ihn. Seine Lehrer waren insgeheim erleichtert, wenn seine Mutter und sein Vater beim Elternabend nicht auftauchten.

Sein anderer Spitzname war Julie the Bone, obwohl ihm das niemand ins Gesicht sagte, weil er Stammkunde in Mabel Whites Negerbordell in Crowley und in den schwarzen Absteigen auf der Hopkins Avenue in New Iberia war.

Aber zwei unbestrittene Talente hatte Julie. Als Kickboxer und als Fänger im Baseball war er gleichermaßen gut. Seine Knöchel waren zu empfindlich, um Football zu spielen, für einen Läufer war er zu dick, aber mit einer schnellen Bewegung seines mächtigen Oberschenkels konnte er einen Gegner beim Kickboxen Blut spucken lassen, und hinter dem Schlagmal konnte er dem Schläger den Ball direkt von der Keule stibitzen oder einen flachen Aufsetzer wie ein Staubsauger vom Boden aufklauben und mit der Wucht eines Luftgewehrschusses dem Mann am dritten Mal zuwerfen.

In meinem letzten Spiel als Werfer der Highschool-Mannschaft ging ich gegen Abbeville in die zweite Hälfte des neunten Innings, den Sieg schon fast in den Händen. Es war ein milder, rosiger Abend, in der Luft der Duft von Blumen und frisch gemähtem Gras. Es waren nur noch drei Wochen bis zum Schulabschluss, und wir alle hatten das Gefühl, als umfange uns ein Hauch von Magie und der Frühling sei ein eigens für uns geschriebenes Lied. Unschuld, eine glorreiche Zukunft, das siegesgewisse Aufbrausen in den Lenden, die Bestätigung im Kuss eines Mädchens unter den dunklen Eichen wie eine im Mund zerplatzende Erdbeere – all das war unser.

Wir verspürten sogar Wohlwollen und Kameradschaft gegenüber Baby Feet. Der unmittelbar bevorstehende Schulabschluss und der Lorbeer einer erfolgreichen Saison schien die Unterschiede unserer Herkunft und unserer Lebensgeschichten weggeschmolzen zu haben.

Dann schaffte der Werfer der Gegenseite, ein Haudegen, der Ellenbogen, Knie und auch die Spikes seiner Schuhe einsetzte, wenn es sein musste, als Schläger zwei Bases und rückte in der nächsten Runde zur dritten Base vor. Baby Feet gab das Zeichen zur Auszeit und joggte zum Abwurf. Schweiß floss ihm aus der Kappe, die er mit dem Schirm nach hinten trug. Er machte einen neuen Ball für mich warm.

„Setz ihn in den Sand. Ich gebe dem Schwanzlutscher seine Chance“, sagte er.

„Ich weiß nicht, ob das so schlau ist, Feet“, sagte ich.

„Bis jetzt hab ich die noch alle kleingekriegt, oder? Mach, was ich sag.“

Beim nächsten Wurf blickte ich kurz zu dem Läufer an der dritten Base, bevor ich den Ball flach neben dem Schläger in den Sand setzte. Baby Feet fing ihn tatsächlich, machte dann eine schnelle Drehung, bei der er wie ein Elefant Staub aufwirbelte, und rannte los nach hinten, als hätte er den Ball verpasst und müsste hinterher.

Der Läufer an der dritten Base setzte sich in Bewegung. Doch auf einmal war Baby Feet wieder an der Home Plate, die Fängermaske immer noch vor dem Gesicht – der Ball hatte seine Hand ja nie verlassen. Der Läufer merkte, dass er auf die Finte hereingefallen war, und versuchte Baby Feet zu rammen, als er heranrauschte, und streckte im Rutschen einen dornenbewehrten Fuß hoch, in Richtung von Baby Feets Gesicht. Die Spikes knallten gegen die Gesichtsmaske, und Baby Feet klopfte ihm mit dem Ball auf den Kopf, um ihn abzuschlagen. Dann, zu diesem Zeitpunkt bereits völlig unnötig, trat er mit seinen eigenen Spikes fest auf den Knöchel des anderen Jungen und drehte den Schuh.

Die Spieler auf dem Feld, die Trainer, die Zuschauer auf ihren Sitzen, alle starrten wie benommen zur Home Plate. Baby Feet machte in aller Ruhe die Spikes im Sand sauber, kniete sich hin, um einen Schienbeinschützer festzubinden, und sein Gesicht blieb kühl und unbeteiligt, als er mit zusammengekniffenen Augen auf die Flagge blickte, die hinter dem Spielfeld an einer Metallstange flatterte.

Es war nicht schwer, ihn im Holiday Inn zu finden. Er und seine Entourage waren die einzigen Menschen im und am Swimmingpool. Ihre sonnengebräunten Leiber glänzten, als hätten sie sie mit zerlassener Butter eingerieben. Sie trugen eng anliegende Sonnenbrillen, so schwarz wie Blindenbrillen, rekelten sich genussvoll in Liegestühlen, die Genitalien scharf abgezeichnet unter der knappen Badekleidung. Andere ließen sich auf Luftmatratzen treiben, an der Seite kleine Halter mit tropischen Drinks, und von ihren Fingern und Zehenspitzen stieg der flirrende Dunst von Sonnenöl in die Luft.

Eine Frau kam mit ihren zwei Kindern durch eine Schiebetür nach draußen, geleitete sie zum flachen Becken. Dann merkte sie offenkundig, in was für einer Gesellschaft sie sich da befand. Sie blickte sich nervös um, als hörte sie das Hohngezwitscher unsichtbarer Vögel, und trat dann flugs den Rückzug in ihr Zimmer an, die Kinder fest an der Hand.

Julie the Bone hatte sich nicht groß verändert, seit ich ihn vor sieben Jahren zuletzt in New Orleans gesehen hatte. Die Augen, die an schwarze Murmeln erinnerten, lagen ein bisschen tiefer im Gesicht, das wild wuchernde Haar wies graue Stellen auf, aber der mächtige Brustkorb und der Bauch, so ausladend wie ein Waschzuber, schienen immer noch die Farbe und Beschaffenheit von Walfischhaut aufzuweisen. Wenn man die wulstigen Narben unter dem Haar an Schultern und Rücken sah, wo sein Vater ihn geprügelt hatte, die Sehnen und Adern, die sich in seinem Hals ballten, und die weißen Knöchel, die aus seinen gewaltigen Händen herausragten, konnte man den Eindruck bekommen, dass man schon eine Abrissbirne brauchte, aus großer Höhe an einem Stahltau geschwungen, um diesem Mann wirklich beizukommen, sollte er sich je dazu entschließen, seine unmittelbare Umgebung in Schutt und Asche zu legen.

Er richtete sich auf einem Ellbogen im Liegestuhl auf, schob die Sonnenbrille hoch ins Haar und blinzelte durch die heiße Luft, als ich mich ihm näherte. Neben ihm saßen zwei seiner Männer unter einem Sonnenschirm an einem Glastisch und spielten Karten mit einer Frau mit gebleichtem Haar und so sonnengebräunter Haut, dass sie wie Lagen weichen Leders aussah. Beide Männer legten die Karten weg und standen auf, und einer von ihnen, der wirkte wie aus Kesselstahlstücken zusammengeschmiedet, stellte sich mir in den Weg. Sein orangerot-graues Haar klebte ihm in feuchten Locken flachgedrückt auf dem Kopf, und auf seine Handrücken hatte er Pachuco-Kreuze tätowiert. Ich öffnete mein Seersucker-Jackett, damit er die Polizeimarke an meinem Gürtel sehen konnte. Aber auf seinem Gesicht machte sich bereits Erkennen breit.

„Wie läuft’s denn so, Cholo?“, sagte ich.

„Hey, Lieutenant, wie geht’s?“, sagte er und drehte sich dann zu Baby Feet. „Hey, Julie, es ist Lieutenant Robicheaux. Vom First District in New Orleans. Du weißt doch noch, als …“

„Yeah, ich weiß, wer das ist, Cholo“, sagte Baby Feet mit einem Lächeln und nickte mir zu. „Was führt dich her, Dave? Hat jemand ’n Baseball über unsern Zaun geschmissen?“

„Ich war nur grad in der Gegend. Hab gehört, du wärst auf eine kurze Stippvisite wieder in der Stadt.“

„Im Ernst?“

„Tatsache.“

„Klar. Du bist beim Friseur gewesen, und irgendjemand sagt, ‚Bone ist in der Stadt‘, und da hast du dir gedacht, ‚Mensch, toll. Da muss ich dem alten Feet doch glatt mal Hallo sagen.‘“

„Du bist ein berühmter Mann, Julie. So was spricht sich rum.“

„Und ich bin nur für eine kurze Stippvisite hier, ja?“

„Yeah, genau so hört man’s.“

Seine Augen musterten mich von oben bis unten. Er lächelte vor sich hin und nippte an einem hohen, in eine Serviette gewickelten Glas mit klein gestoßenem Eis, Obststückchen und einem winzigen Papierschirm.

„Wie ich höre, bist du jetzt Detective für den hiesigen Sheriff.“

„Immer mal wieder.“

Er schob einen Stuhl mit dem Fuß in meine Richtung, hob ihn dann hoch und stellte ihn in den Schatten ihm gegenüber. Ich zog mein Jackett aus, legte es gefaltet über den Arm und nahm Platz.

„Macht ihr euch wegen mir Sorgen, Dave?“

„Manchen Leuten in New Iberia bist du ein bisschen unheimlich. Wer fackelt schon den Nachtclub des eigenen Vaters ab?“

Er lachte.

„Ja, nach dem Ding hat mein Alter nicht mehr so gern mit dem Gartenschlauch hantiert“, sagte er.

„Jeder stattet seiner Heimatstadt hin und wieder einen kleinen Besuch ab. Das ist völlig normal. Deshalb macht sich niemand Sorgen, Julie.“ Ich sah ihm in die Augen. Unter den verschwitzten Brauen glänzten und funkelten sie wie Obsidian.

Er schüttelte eine Zigarette aus einem Päckchen auf dem Betonboden und zündete sie an. Er blies Rauch ins Sonnenlicht und ließ seinen Blick über den Pool schweifen.

„Nur, dass ich bloß ein Durchreisevisum hab, versteh ich dich recht?“, sagte er. „Man erwartet von mir, dass ich ein bisschen Geld hierlasse, schön die Hauptstraße meide, meine Jungs anweise, nicht auf den Bürgersteig zu spucken oder sich im Restaurant die Nase mit der Serviette zu putzen. Trifft’s das in etwa so, Dave?“

„Es ist eine Kleinstadt mit Kleinstadtproblemen.“

„Scheißdreck.“ Er holte tief Luft, verdrehte dann den Hals, als sei er steif. „Margot …“, sprach er die Frau an, die unter dem Sonnenschirm Karten spielte. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und trat hinter ihn, das schmale Gesicht ausdruckslos unter der Sonnenbrille, um seinen Hals mit ihren Fingern zu massieren. Er nahm den Mund voll Eis, Orangenscheiben und Kirschen und musterte mein Gesicht, während er kaute.

„Diese Einstellung geht mir ein bisschen auf den Sack, Dave. Du musst schon entschuldigen.“ Er deutete mit den Fingerspitzen auf sein Brustbein. „Aber manchmal scheint’s keine Rolle zu spielen, was ein Mann jetzt im Moment macht. Es ist immer nur die Vergangenheit, die die Leute im Kopf haben. Nimm nur Cholo hier. Er hat vor 15 Jahren mal einen Fehler gemacht, und genau das müssen wir uns immer wieder anhören. Was soll die Scheiße? Findest du das fair?“

„Er hat seinen Schwager vom Dach der Jax-Brauerei auf einen Wagen beim Mardi-Gras-Umzug runtergeworfen. Das war selbst für New Orleans was Neues.“

„Hey, Lieutenant, da ging’s noch um ’ne Menge anderer Dinge. Der Kerl hat meine Schwester verprügelt. Der war ein beschissenes Tier.“

„Hör zu, Dave, du bist schon lange weg aus New Orleans“, sagte Baby Feet. „Die Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen. Schwarze Kids mit nix als Scheiße im Hirn halten die ganze Scheißstadt zum Narren. Sogar im Audubon-Park werden Leute gekillt. Bei Gott. Wenn du auf der St. Charles in die Straßenbahn steigen willst, hängen da die Nigger und Japse schon zu den Türen und Fenstern raus. Früher gab’s gewisse Übereinkünfte mit der Stadt. Jeder kannte die Regeln, niemand kam zu Schaden. Mach jetzt mal einen kleinen Spaziergang bei den Projects, Desire oder St. Thomas, und pass mal auf, was dann passiert.“

„Worauf willst du raus, Julie?“

„Wer braucht so ’n Scheiß, darauf will ich raus! Ich besitze ein Tonstudio, derselbe Laden, wo Jimmy Clanton seine erste Platte aufgenommen hat. Ich bin in der Unterhaltungsbranche. Ich telefoniere jeden Tag mit Leuten in Kalifornien, über die du in den Illustrierten liest. Wenn ich hier in dieses Drecksloch reinkomme, sollten sie eigentlich einen ‚Willkommen-daheim-Balboni-Tag‘ ausrufen. Stattdessen teilt man mir mit, dass ich hier die Luft verpeste. Das verletzt mich, wenn du verstehst, was ich meine.“

Ich rieb die Handflächen aneinander.

„Ich bin nur der Bote“, sagte ich.

„Hat dich der Wäschereibesitzer, für den du arbeitest, geschickt?“

„Er hat so seine Befürchtungen.“

Er winkte die Frau weg und setzte sich im Liegestuhl auf.

„Gib mir fünf Minuten, um mich anzuziehen. Dann möchte ich, dass du mich kurz wo hinfährst“, sagte er.

„Meine Zeit ist grad ziemlich knapp.“

„Ich verlange 15 Minuten deiner Zeit, allerhöchstens. Meinst du, die kannst du für mich erübrigen, Dave?“ Er stand auf und ging an mir vorbei in Richtung seines Zimmers. Aus den Fettpölsterchen an seiner Taille ragten Büschel schwarzen Haars wie Schweineborsten. Er drehte sich mit ausgestrecktem Zeigefinger zu mir. „Sei bloß noch da, wenn ich wiederkomm. Du wirst es nicht bereuen.“

Die Frau mit dem gebleichten Haar setzte sich wieder an den Tisch. Sie nahm die Brille ab, spreizte kurz die Beine und sah mir ins Gesicht, ihr Blick war weder aufreizend noch feindselig, sondern einfach leblos. Cholo lud mich ein, eine Partie Gin Rommé mit ihnen zu spielen.

„Danke, damit hab ich’s nie gehabt“, sagte ich.

„Dafür haben Sie’s aber mit Pferden gehabt, Lieutenant“, sagte er.

„Yep, Pferde und Jim Beam. Das gab auf der Rennbahn immer eine tolle Kombination ab.“

„Hey, erinnern Sie sich noch, wo Sie mir damals die 20 Mücken geliehen haben, damit ich von Jefferson Downs heimkomm? Das hab ich ihnen nicht vergessen, Lieut. Das war schwer in Ordnung.“

Cholo Manelli war der Sohn einer mexikanischen Waschfrau, die sich wahrscheinlich wünschte, statt seiner lieber eine Kegelkugel zur Welt gebracht zu haben, und eines gehirngeschädigten sizilianischen Buchmachers, dessen Kopf vom Schlagstock eines Cops im Irish Channel in Mitleidenschaft gezogen worden war. Er war in Iberville aufgewachsen, einer trostlosen Wüste von Sozialwohnungen gegenüber den alten Friedhöfen von St. Louis, und wurde mit elf das erste Mal zusammen mit seinen Brüdern verhaftet, weil sie die Penner, die in den leeren Grabkammern schliefen, ausgeraubt und verprügelt hatten. Mit Sand gefüllte Socken waren die Waffen ihrer Wahl gewesen.

Er wies die schwieligen, eckigen Hände eines Maurers auf, dazu ein Gesicht von der Ausdrucksstärke eines Tortenblechs. Ich hatte immer insgeheim gedacht, dass man keinerlei Unterschied merken würde, wenn man ihn einer Lobotomie unterzöge. Soziopath, lautete die Diagnose der Psychiater in Mandeville, und sie rückten seinem Kopf mit Stromstößen zu Leibe. Aber offenbar zeigte die Behandlung genauso viel Wirkung wie der Versuch, eine leere Autobatterie mit drei matten Mignonzellen aufzuladen. Bei seinem ersten Aufenthalt in Angola steckten sie ihn gleich zu den „Big Stripes“, wie man die Gewalttätigen und Unverbesserlichen wegen ihrer Kleidung dort nannte. Das war noch zu der Zeit, als der Staat Vertrauenshäftlinge, Kapos, als Wärter einsetzte: Sie waren beritten und mit großkalibrigen doppelläufigen Schrotflinten bewaffnet, und die Strafe eines jeden Häftlings, der unter ihren Augen entkam, wurde ihnen auf die eigene Haftzeit draufgeschlagen. Cholo musste mal ins Gebüsch und ließ sich für den Geschmack des Kapos zu viel Zeit. Er verpasste ihm vier Schrotkugeln in den Rücken. Zwei Wochen später fand man ein Einmachglas mit vergorener Obstmaische – der behelfsmäßige Alkohol, den die Häftlinge selbst herstellten – in der Zelle des Kapos. Wieder einen Monat später, inzwischen zurückgestuft in den normalen Haftbetrieb, bekam er von jemandem den kompletten Inhalt eines vollgeladenen Müllwagens auf den Kopf gekippt.

„Julie hat mir von der Sache erzählt, wo Ihnen so ’n Makake fast eine mit ’ner .38er verplättet hat“, sagte er.

„Wann soll das gewesen sein?“

„Als Sie Streifenpolizist waren. Im Quarter. Julie hat erzählt, er hat Ihnen das Leben gerettet.“

„Das hat er erzählt, ja?“

Cholo zuckte mit den Schultern.

„Das hat er erzählt, Lieutenant. Was weiß ich schon?“

„Lass gut sein, Cholo. Unser Detective hier hält nicht viel von höflicher Konversation“, sagte die Frau, ohne den Blick von den Karten zu heben. Sie klackte mit den lackierten Fingernägeln auf der gläsernen Tischplatte, und ihre Lippen erzeugten einen trockenen, saugenden Laut, wenn sie an ihrer Zigarette zog.

„Sind Sie an diesem Mordfall dran? Dem mit dem Mädchen?“, fragte er.

„Wieso wissen Sie denn davon?“

Sein Blick wanderte zur Seite.