Im Vertrauen auf Gott und den „Führer“ - Edith Heuer - E-Book

Im Vertrauen auf Gott und den „Führer“ E-Book

Edith Heuer

4,9

Beschreibung

Versteckte Tagebücher des Vaters zeigen bewegende und irritierende Notizen aus zehn Jahren Nazi-Zeit. In den Friedensjahren wird die Faszination und Vereinnahmung der Hitlerjugend eines schwäbischen Dorfes erlebbar, im Reichsarbeitsdienst die Formung der jungen Männer zu widerspruchslos Gehorchenden. Die Kriegstagebücher erzählen vom Frankreichfeldzug 1940 und den brutalen Kämpfen und Verbrechen 1941 beim Vormarsch durch die Ukraine Richtung Moskau bis zum Zusammenbruch der Ostfront 1945 im Vorfeld von Berlin. Und sie erzählen von einer großen Liebe, die Motivation im täglichen Überlebenskampf war. In dieses persönliche Dokument eingeflochten sind zeitgleiche Ereignisse, Briefe, Gespräche und Schicksale von Zeitgenossen. Schlaglichtartig erscheinen die Verbote und Verordnungen, mit denen die jüdische Bevölkerung durch die nationalsozialistische Instrumentalisierung von Recht und Gesetz stigmatisiert und terrorisiert wurde. Ein Mosaik des komplexen Phänomens Nazi-Zeit.

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Seitenzahl: 643

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Meinen Kindern und Enkelkindern

Sie sind das Band in die Zukunft

INHALT

VORWORT

1. BEWEGTE FRIEDENSZEIT, JUNGE LIEBE

1935

Hitlerjugend, Sturmabteilung, Musterung

1936

Reichsarbeitsdienst, Reichsparteitag, Militär

1937

Manöver

1938

„Anschluss“ Österreichs, Festungsbau am Westwall, Sudetenkrise

2. DER KRIEG BEGINNT

1939

Manöver, Einsatz am Westwall

3. WELTKRIEG

1940

Im Westen durch Luxemburg und Belgien nach Frankreich

1941

Nach Osten durch Polen in die Ukraine und nach Russland

1942

Der Krieg in Russland geht weiter

1943

„Totaler Krieg“, Genesungsurlaub Heimat

1944

Vaterfreuden, im Westen an der Front

1945

Vom Westen an die Ostfront, letzte Gefechte an der Oder, Rückzug, Gefangenschaft, Flucht und Heimkehr

4. EIN BEWERTENDES NACHWORT

5. STICHWORTE (ALPHABETISCH)

6. ABKÜRZUNGEN

7. PERSÖNLICHER DANK

8. QUELLEN UND LITERATUR

VORWORT

Als mir meine Mutter die sieben Tagebücher aus dem väterlichen Nachlass übergab, ahnte ich nicht, dass mich diese Lektüre die nächsten dreizehn Jahre beschäftigen würde.

Zwischen dem 19. und dem 30. Lebensjahr hatte mein Vater fast täglich sein Leben und Erleben im Dritten Reich notiert. Es waren die zentralen Jahre seiner Jugend. Die Aufzeichnungen geben authentisch die Zeitatmosphäre von fast fünf Friedensjahren und die konkrete Wirklichkeit der Kriegsjahre wieder. Zunächst als „Erinnerung an eine glückliche Jugendzeit“ und der aufblühenden Liebe zu meiner Mutter angefangen, wurde daraus eine unmittelbare Dokumentation der raffiniert perfektionierten und erfolgreichen Strategie der nationalsozialistischen Beeinflussung, Erziehung und Vereinnahmung der damaligen Jugend – und ab 1939/40 ein Kriegstagebuch.

Beim Lesen der teilweise schwer zu entziffernden, meist mit Bleistift und in Sütterlin geschriebenen Tagebücher stockte mir manchmal der Atem und ich fragte mich: Ist das mein Vater? Waren das seine Gedanken, seine Wortwahl, seine Meinung? Hielt er das für richtig, was da passierte -neben allem, was er physisch und psychisch erdulden musste? Es waren zum Teil quälende Lesestunden, die ich nicht nur mit geschichtlichem Interesse verarbeiten konnte. Gerade die Kriegstagebücher berühren auch das Gebiet der Psychologie und der Theologie.

Über Jahre sammelte ich Informationen zur Nazi-Zeit, studierte Quellen und Bücher, um Licht in mein Halbwissen und die Rolle meines Vaters als Angehöriger eines Infanterie-Regiments zu bringen. Im Nachlass meines Schwiegervaters fanden sich in einem Schuber mit dem handschriftlichen Vermerk „Aus dem Widerstand 1933 – 1945“ Briefe, kirchliche Verlautbarungen, Zeitungsausschnitte und einige Veröffentlichungen von 1945/46, die bei Kriegsende also schon in den Schubladen der Autoren gelegen haben mussten. Hier wurden zeitnah die geistigen und politischen Ursachen des deutschen Unheils beleuchtet. Hier erfuhr ich detailliert, was es heißt, den „totalen Staat“ am eigenen Leibe zu erleben. Ich merkte bald, dass man mit Pauschalurteilen über unsere Elterngeneration falsch liegt und dass es nicht nur eine Gnade, sondern auch eine Arroganz der späten Geburt gibt. Um zu verstehen, musste ich mich intensiv in diese fremde Welt des ideologischen, skrupellosen Wahnsinns hinein begeben.

Zunächst begann ich mit meinem Mann die Tagebücher abzuschreiben. Mehr und mehr wurde mir klar, dass die sogenannte 68-er Generation, zu der ich gehöre, die Eltern als „Tätergeneration“ meist nur angeklagt und verurteilt hat. Verstanden haben wir unsere Eltern nicht – auch weil es uns an Wissen fehlte. Unseren Lehrern war damals freigestellt, ob sie über die Nazizeit sprechen wollten oder konnten. Einige hatten an der Front gekämpft und standen entsprechend gezeichnet vor uns: Mein Geografielehrer war erblindet, der Kunstlehrer hatte ein Auge und beide Hände verloren. Wir pubertierenden Mädchen hatten keine Ahnung von dem, was diese Männer hinter sich hatten. Über das Thema „Drittes Reich“ und den Krieg wurde generell kaum gesprochen. So blieben wohl auch die Tagebücher über 56 Jahre hinweg ungelesen.

Für den Erfolg der Nationalsozialisten wurden häufig Autoritätshörigkeit, sexuelle Verklemmtheit und Spießertum der Eltern angeführt, ohne sich mit der Kriegsgeneration und ihrer Vorgeschichte wirklich auseinandergesetzt zu haben. Volljährig und wahlberechtigt war mein Vater damals mit 21 Jahren, das war 1936. Es war also die Generation unserer Großeltern, die den Nationalsozialisten zum Wahlsieg verholfen hatte. Dabei sind die politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge entscheidend für die annähernd richtige Beurteilung der Problematik, denen sich diese Deutschen vor 1933 gegenüber sahen.

Adolf Hitler erwarb die Zustimmung zunächst einer Minderheit, aber dann einer wachsenden Mehrheit der Bevölkerung. Er war der „starke Mann“, mit dem die Staatskrise der Weimarer Republik mit ihrem zerstrittenen Reichstag und einem deutschen Volk, das gespalten war zwischen dem alten Regime (Kaiserreich) und der jungen Demokratie, überwunden werden sollte. Er kam den Hoffnungen und Interessen großer Teile der deutschen Gesellschaft entgegen. Er mobilisierte ihre sozialen Ängste und setzte sie für seine parteipolitischen Ziele ein. Er fand in allen Gesellschaftsschichten genug geistige Grundlagen für seine Pläne vor und konnte an schon vorhandene Vorstellungen anknüpfen.

Ein „Wirtschaftswunder“, das zwar seinen Preis hatte, aber innerhalb von nur drei Jahren eine Arbeitslosenzahl von 6 Millionen überwand, versprach die Aussicht auf materielle Sicherheit und Wohlstand. Jungen Leuten aus den unteren Schichten boten sich plötzlich ungeahnte Aufstiegschancen. Der Lebensstandard verbesserte sich, es gab mehr Konsumgüter. Freizeitaktivitäten und Ansätze für Tourismus breiteten sich aus. Kinos und Tanzlokale fanden reichlich Zuspruch. Mehr Bürger konnten sich Ausflüge oder Theaterkarten leisten. Dazu kamen die militärischen Erfolge, die das Erreichen der früheren nationalen Größe signalisierten. Die autoritäre öffentliche Ordnung, das Fehlen einer Verfassung, der zunehmende Verlust der bürgerlichen Rechte, die Diskriminierung der Juden und die Konzentrationslager schienen für die Mehrheit des Volkes dagegen zu verblassen. Das festigte Hitlers Rolle als erfolgreichen diktatorischen „Führer.“

Viele, die zunächst distanziert waren, wurden zumindest führergläubig - es waren gut 90% der Deutschen. Die Rhetorik vom „Volksgenossen“ und der alle verbindenden „Volksgemeinschaft“ war Mittel zum Zweck und schloss „Fremde“ aus. Nur wenige haben zu diesem Zeitpunkt das Unheil kommen sehen und ganz wenige haben sich dagegen aufgelehnt. Diese Wenigen erlitten Gewalt oder Vernichtung, falls sie das Land nicht verlassen konnten. Dass Hitler am Ende, als die Niederlage für jeden erkennbar war, das Volk verraten und die totale Zerstörung des eigenen Landes befohlen hat, ist vielen nicht bekannt.

Das Leben vor 1933 war politisch unbefriedigend und aufregend und stürzte ab 1929 Millionen in Arbeitslosigkeit und Armut, als Deutschland in den Strudel der Weltwirtschaftskrise geriet. Doch konnte jeder Bürger als Persönlichkeit so leben wie er war, konnte die Literatur lesen, die er wollte und die Musik hören, die er liebte. Niemand musste gezwungenermaßen das Land verlassen. Das Leben nach 1933 stellte die Menschen zunehmend vor existentielle Gewissensentscheidungen. Kein Lebensbereich blieb ausgespart vom Einfluss des totalen Staates. Die meisten Deutschen haben diesen Einfluss zugelassen – passiv oder aktiv.

Zu einem gerechten Urteil über die Vorfahren kann nur ein differenziertes Wissen verhelfen. Um zu erfahren, wie es im Volk „getickt“ hat, muss man Biografien lesen - und zwar die der „kleinen Leute.“ Filme und Berichte nähern sich bestenfalls immer nur der Wirklichkeit an, ob mit oder ohne Zeitzeugen, denn letztere berichten aus der Erinnerung. Tagebücher geben Tatsachen und Erlebtes unmittelbar wieder und zudem Einblick in das Innere des Verfassers. Für Historiker sind private Kriegstagebücher „so etwas wie Fenster zur Erlebniswelt einer großen Masse von Soldaten, die sonst bestenfalls in der Rolle grauer Statisten blieben.“114 Das Jahrzehnt, das mein Vater in seinem Ablauf festgehalten hat, zeigt ihn als Rädchen der großen Nazimaschinerie: ein verstörendes Zeitzeugnis und eine Liebesgeschichte zugleich.

2015 jährt sich zum siebzigsten Mal das Ende des Zweiten Weltkriegs und das Ende der Nazi-Herrschaft. Vielleicht können die persönlichen Notizen, ergänzt durch Informationen zu zeitgleichen lokalen und weltgeschichtlichen Vorgängen und zu persönlichen Schicksalen und Ereignissen auch für andere Nachgeborene zum Hineindenken in zwölf Jahre Nazi-Diktatur hilfreich sein.

Originalseite des ersten Tagebuches

Blick von der Neckarmauer an der „TÜBINGER CHRONIK“ zur Neckarbrücke, die den Namen des Grafen Eberhard im Bart trägt. Sein Denkmal ist auf dem Mittelpfeiler der Brücke zu sehen. Wegen des kriegswichtigen Metalls wurde der bronzene Friedensfürst 1942 für den Endsieg eingeschmolzen.

„Ein gewaltiges Aufklärungswerk wird nötig sein, um euch zu Wissenden zu machen“, sagte Thomas Mann im Januar 1945 bei einer seiner letzten BBC-Botschaften „Deutsche Hörer!“, die aus London über den „Feindsender“ zu hören war für die, die sich trauten. . .

Hinweise:

Alle Tagebucheinträge sind kursiv gedruckt und eingerückt. Ihre Rechtschreibung wurde nicht verändert. Auch die Schreibung der Ortsnamen wurde belassen.

Die täglichen Eintragungen wurden auf das Wesentliche gekürzt und somit verdichtet. Auf vertiefende Informationen im alphabetischen Stichwortverzeichnis („StwV.“) wird hingewiesen.

1. BEWEGTE FRIEDENSZEIT, JUNGE LIEBE

TAGEBUCH NR. 1 (24. 12. 1934 - 26. 5. 1938)

In seinem Schreibtisch versteckt lagen Vaters Tagebücher, eingewickelt in eine blaue Plastiktüte. Meine Mutter fand sie nach seinem Tod - sie hatte sie noch nie gesehen. Die Aufzeichnungen beginnen an Weihnachten 1934, damals war sie erst vierzehn Jahre alt. Nun war sie einundachtzig. Drei Wochen brauchte sie zum Lesen und schien dabei in einer anderen Welt zu leben. Der letzte Eintrag datiert vom 15. Juli 1945, dem Tag, als mein Vater nach seiner Flucht aus dem Gefangenenlager Gorleben zu Hause in Württemberg ankam.

Meine Mutter übergab mir die Tagebücher mit den Worten: „Ich wusste, dass er mich sehr geliebt hat, aber dass seine Liebe so groß war, wusste ich nicht.“

Dieser Heilige Abend war der glücklichste meines bisherigen Lebens, schrieb der 19-Jährige im ersten Eintrag, denn an diesem Abend brach sich die Liebe zu Ruth vollends Bahn.

Vorangegangen war ein ernstes, aber von großem Vertrauen geprägtes Gespräch mit meiner Großmutter, zu dem sie ihn gebeten hatte, nachdem ihr nicht verborgen geblieben war, dass sich zwischen ihm und meiner Mutter eine große Zuneigung angebahnt hatte.

Mein Vater wurde 1915, also im zweiten Jahr des Ersten Weltkrieges im württembergischen Dorf Nehren nahe der Universitätsstadt Tübingen als zweiter von drei Söhnen geboren. Eine kleine Pflegetochter hatten die Eltern dazu angenommen. Der Vater war Schlosser, das Leben war karg. Trotz Intervention der Lehrer mussten die Eltern ihrem Sohn den Besuch einer „Oberschule“, wie das Gymnasium damals genannt wurde, versagen, weil das Geld dafür nicht gereicht hätte, obwohl er intelligent, wissbegierig und strebsam war. Die Bibliothek der Dorfschule hatte er mehrmals durchgelesen. Auch das Erlernen eines Blasinstrumentes, um im Musikverein mitspielen zu können, war aus finanziellen Gründen nicht möglich. Der gute Abschluss einer Schriftsetzer-Lehre in der „Tübinger Chronik“ sollte die Grundlage für den späteren Berufswunsch werden: Zeitungsredakteur.

Die Eintragungen im ersten Tagebuch berichten von der fortschreitenden Militarisierung Deutschlands. Auch auf dem Land und im Dorf meines Vaters im Steinlachtal war das zu spüren. Das Leben dort war keine heile Welt im Vergleich zur Stadt, es war nur anders. Kleinbauern, Handwerker und zwei Betriebe prägten den Ort mit damals 1350 Einwohnern. Täglich pendelten ca. 200 Bürger aus dem Dorf zur Arbeit nach Tübingen, Reutlingen und in die umliegenden Gemeinden. Die Weltwirtschaftskrise 1929 hatte auch hier Arbeitslosigkeit und Armut gebracht.323 Der Vater meiner Mutter, der als Kaufmann ganz Deutschland und Österreich bereist hatte, war arbeitslos geworden, weil die Schrot-, Back- und Kaffeemühlen für Gewerbe und Haushalt seiner Dusslinger Firma kaum mehr Absatz fanden. Er, ein gänzlich unpolitischer Mann, soll gesagt haben, so könne es nicht weitergehen, vielleicht müsse man es halt mal mit dem Hitler versuchen.

Politisch war das Steinlachtal überwiegend „rot“. Die NSDAP hatte in Nehren nur etwa zehn Mitglieder und wurde skeptisch betrachtet. Aus der Notsituation heraus hatte zunächst die KPD großen Zulauf. Während in Berlin und anderen Großstädten die Straßen- und Saalschlachten stattfanden, gab es auch im Dorf Auseinandersetzungen in Versammlungen zwischen SPD- und KPD-Anhängern und natürlich persönliche Feindschaften. Die Reichstagswahl im November 1932 brachte der NSDAP im Dorf nur 103 Stimmen und Platz drei.323 Als der Rundfunk am 30. Januar 1933 meldete, dass Adolf Hitler zum neuen Reichskanzler ernannt worden sei, rief die württembergische KPD zu einem Massenstreik im ganzen Reich gegen die neue Regierung auf. Der Streik wurde kurzfristig wieder abgesagt, fand also in den Zentren der Arbeiterbewegung nicht statt, jedoch mit ca. 800 Teilnehmern im damals 4000 Einwohner zählenden Nachbardorf Mössingen im Steinlachtal. „Hitler bedeutet Krieg!“, lautete die Parole an einer Gartenmauer.367

Mit dabei war der ältere Bruder meines Vaters. Er war kommunistisch gesinnt, der jüngere Bruder sozialdemokratisch und mein Vater war in der Hitlerjugend aktiv. Es gab also sowohl in den Dörfern wie in den Familien politische Gegensätze, aber doch eine gewisse Kompromissbereitschaft, denn man war aufeinander angewiesen. Von meiner Großmutter ist allerdings überliefert, sie sei mit ihren politisierenden Söhnen manchmal fast verrückt geworden. Dass der Älteste, weil er am Mössinger Generalstreik* teilgenommen hatte, ins Gefängnis musste, war damals eine Schande für die Familie.

*s. StwV. „Mössinger Generalstreik“

Die Familie meines Vaters war in den protestantisch-pietistischen Traditionen verwurzelt. Disziplin und Ordnung, Zuverlässigkeit, Pflichterfüllung, Fleiß und Treue waren Tugenden, die gelebt wurden. Pietismus, Kommunismus bzw. Sozialismus schlossen sich im Steinlachtal nicht aus: Alle sahen den Kampf für eine Welt, in der Gerechtigkeit und Frieden und nicht das Kapital herrschen solle, als notwendig an.344 Das war ganz im Sinne des evangelischen Pfarrers und späteren Landtagsabgeordneten der SPD, Christoph Blumhardt, der immer die Zeitung neben der Bibel las und um 1900 auf einem Wahlplakat mit dem Slogan „bebel- und auch bibelfest“ zu sehen war.75 Die wachsende Armut in Württemberg, die Folgen der raschen Industrialisierung und die Beschneidung der Arbeiterrechte trugen dazu bei, dass sich dieser pragmatische Pfarrer der sozialistischen Arbeiterbewegung anschloss, obwohl die Sozialdemokratie damals noch als gottlos galt – für ihn war es ein Schritt in der Nachfolge Christi, wenn er postulierte „Jesus starb als Sozialist und die Jünger waren Proletarier“. Blumhardt forderte „die ethische Tat, das verantwortungsvolle Handeln, das gebotene Tun“. Wo er Menschrechte und Menschenwürde in Gefahr sah, forderte er auch ausdrücklich „Kampf“.23 So sahen es wohl auch die Kommunisten, die sich im Steinlachtal am Mössinger Generalstreik betei ligten, auch wenn sich die meisten von ihnen zu dieser Zeit längst von der Kirche entfernt hatten, die damals vor allem Heimat des deutschnationalen Bürgertums und an der Arbeiterfrage weniger interessiert war.

s. StwV. „Pietismus in Württemberg“

Vom jüngeren Bruder meines Vaters ist überliefert, dass er sich schon früh mit dem Kirchgang schwer getan hat. Um seiner Mutter Genüge zu tun, machte er sich zwar sonntags auf den Weg zur Kirche, deponierte das Gesangbuch aber bei einem Freund und bog zum Sportplatz ab, um nach dem Fußballspielen zur rechten Zeit wieder zu Hause zu erscheinen. Das Donnerwetter meiner strenggläubigen Großmutter war vorprogrammiert, als sie dahinter kam.

Die Tagebücher zeigen, wie sich die Nazi-Propaganda mit ihren an das Gefühl gerichteten Werbetricks der jungen Leute bediente, wie auch mein Vater davon gefangen war und die nationalsozialistischen Phrasen in „braunem Deutsch“* von sich gab. Die totale Vereinnahmung der Freizeit der Jugend durch die Partei ist in den Jahren 1935/36 eindrucksvoll dokumentiert.

*s. StwV. „Sprache“

31. Dezember 1934 (Silvester)

Nun stehen wir am Ende des Jahres 1934. Ich war um 18 Uhr in der Kirche mit meinem SA Kameraden Karl. Bis um 23 Uhr feierte ich zuhause Silvester mit den Eltern. Auf das verabredete Zeichen meiner SA-Kameraden brach ich dann auf, denn ich wollte doch das Neue Jahr anschießen. Kurz vor 12 Uhr standen wir bei der Post, nachdem wir vorher noch den Standpunkt der Ortspolizisten ausgekundschaftet hatten. Punkt 12 Uhr gab ich das Zeichen zum Schießen. Mächtig dröhnten unsere Vorderlader. Die Ortspolizisten haben wir in dieser Nacht geärgert, denn wir schossen ihnen manchmal beinahe an der Nase vorbei und nie konnten sie uns fassen. Werde ich nächstes Jahr Ruth auch das Neujahr anschießen dürfen? Ich hoffe wenigstens.

1935Hitlerjugend, Sturmabteilung, Musterung

6. und 7. Januar 1935

An diesen beiden Tagen war ich in Stuttgart bei der HJ-Führertagung. Übernachtet habe ich im Massenquartier, es war fein.

Um eine einheitliche Ausrichtung der Millionen Kinder und Jugendlichen in der Hitlerjugend (HJ) zu erreichen, wurde ab 1934 eine straff organisierte „Führerschulung“ begonnen nach dem Grundsatz Hitlers, dass „Jugend von Jugend geführt“ werden solle. Die jeweiligen Einheitsführer waren nur wenig älter als die von ihnen geführten Kinder und Jugendlichen. Die Wochenendlehrgänge der unteren Einheiten dienten der Vorbereitung der Heimabende. Ein Mitbestimmungsrecht gab es nicht.243

Mitglied der HJ konnte man ab 14 Jahren werden, mit 18 musste man der Sturmabteilung (SA) beitreten. Die HJ war die wichtigste Jugendorganisation der NSDAP. 1935 hatte sie schon fast vier Millionen Mitglieder, weil die anderen Jugendverbände gleichgeschaltet worden waren. Beamte wurden dazu verpflichtet, ihre Kinder in die HJ zu schicken. Wer ihr nicht beitrat, zählte als Außenseiter. Ab 1936 bestand Zwangsmitgliedschaft.

Schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler für die Jugend „das Heranzüchten kerngesunder Körper“ vor der „Überlastung des Gehirns“ propagiert und die Tugenden „Treue, Opferwilligkeit, Verschwiegenheit“ als notwendig für ein „großes Volk“ herausgestellt.138 In einem System von Rangstufen, Beförderungen und Rangabzeichen war die HJ streng nach dem „Führerprinzip“ geregelt. Die Kinder wurden in Unterordnung, im Wegstecken von Unangenehmem, in Disziplin und Gehorsam gedrillt. Es gab regelmäßig Sportwettkämpfe, Ausflüge und Zeltlager. Unangepassten und HJ-Verweigerern drohten Zwangsmaßnahmen durch NS-Schulleiter. Die systematische Indoktrination samt Rassenlehre fand an „Heimabenden“ statt.24 Hier wurden die Jugendlichen darauf vorbereitet, bestimmte gesellschaftliche Gruppen zu meiden und zu bekämpfen. Die propagierte Volksgemeinschaft basierte also von Anfang an auf dem Ausschlussprinzip und allmählich bildete sich die Einstellung heraus, dass eben Juden, Zigeuner etc. keine „Volksgenossen“ seien.

„Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl“ sollte die Jugend der HJ sein. Damit wollten die Nazis den überlegenen „Neuen Menschen“ der „Herrenrasse“ schaffen.

13. Januar 1935

Heute ist Saarabstimmung. Deutschland wird Sieger sein, hört man überall.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde das Saarland nach dem Versailler Vertrag für 15 Jahre unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt. Dann sollte durch eine Volksabstimmung geklärt werden, ob das Saarland dauerhaft französisch, selbständig oder deutsch werden solle. De facto stand das Saarland unter französischer Verwaltung. Der Volksabstimmung ging eine große Propagandakampagne der NSDAP mit Massenkundgebungen voraus.

15. Januar 1935

Heute Verkündung des Ergebnisses der Saarabstimmung. 90,5% stimmten für Deutschland. Allenthalben herrscht großer Jubel. Überall werden Siegesfeiern abgehalten.

Ab 15. 1. 1935 wurde die NS-Erziehungspolititk verbindlich für alle Schulen festgeschrieben. Die Rasse- und Vererbungslehre wurde fester Bestandteil des Lehrplans.

s. StwV. „Schule“

16. Januar 1935

Heute hatte ich Heimatabend mit meinem Jungvolk. Wir gedachten des großen Freiheitskämpfers Schill. Um ¼ 9 Uhr kam noch Ruth zu uns nach Hause. Ich begleitete sie dann bis zum Schulhaus, denn sie hatte noch BDM-Heimabend.

Der „Bund Deutscher Mädel“ (BDM) erfasste die 14- bis 18-jährigen Mädchen, eingeschlossen darin der „Jungmädelbund“ (JM) der 10- bis 13-Jährigen. Die Schulung der Mädchen fand an Heimabenden statt. Hier wurden Volks- und Rassenkunde vermittelt, sowie Lieder und Volkstänze eingeübt. Regelmäßig fanden Ausflüge und Wanderungen statt. Der Sport und die körperliche Fitness hatten einen hohen Stellenwert als Erziehung zur Disziplin. Hitler schrieb in „Mein Kampf“, dass das Hauptgewicht vor allem auf die körperliche Ausbildung zu legen sei, erst dann auf die Förderung der seelischen und zuletzt der geistigen Werte. Das Ziel der weiblichen Erziehung habe unverrückbar die kommende Mutter zu sein.132

26. Januar 1935

Heute Nacht tobte ein schwerer Schneesturm. Gegen ½ 10 Uhr morgens schneite es, wie man es selten noch zu sehen bekam. Heute Abend war SA-Nachtdienst. Geländeübung im Schnee bei Gomaringen. Ich war Melde-Empfänger des Stufs*. Nach Hause bin ich um ½ 2 Uhr gekommen, habe mir eine Milch heißgemacht, Butterbrot dazu gegessen und um 2 Uhr lag ich in der Falle.

*

Die SA (=Sturmabteilung) wurde 1920 als Ordnertruppe für die politischen Veranstaltungen der NSDAP gegründet und als paramilitärische Organisation auch für Terrorakte gegen politische Gegner eingesetzt. Sie errichtete 1933 die ersten Konzentrationslager. Chef der SA war Ernst Röhm.

1934 war die SA auf vier Millionen Mitglieder angewachsen. Viele erhofften sich eine Bevorzugung bei der Vergabe einer Arbeitsstelle. Röhm hatte sozialrevolutionäre Vorstellungen, wollte die SA in eine Reichsmiliz umwandeln und ihr die Reichswehr einverleiben. Hitler wollte aus der Reichswehr lieber so schnell wie möglich eine moderne kriegstaugliche Armee machen und so wurde Röhm und seine Führungsriege aus dem Weg geräumt. Die Mordaktion wurde als „Röhm-Putsch“ verschleiert. In der Folgezeit verlor die SA stark an Bedeutung.

Darstellung aus dem Organisationsbuch der NSDAP 1936298

Nun wurde die SS (= Schutzstaffel) zum wichtigsten Unterdrückungsinstrument der Nazis. Die SS war 1925 zu Hitlers persönlichem Schutz gegründet worden. Sie sollte seine Autorität in der Partei sichern und seine Befehle blindlings ausführen. Ab 1934 war sie zuständig für die Konzentrations- und Vernichtungslager. Das erste KZ der SS war Dachau. Heinrich Himmler ließ es als Reichsführer der SS und Polizeipräsident von München 1933 nordwestlich der Stadt Dachau zunächst zur Abschreckung politisch Andersdenkender erbauen. Es galt als Vorzeigelager, dessen Aufbau und Organisation auch für andere Lager Vorbild wurde. Gleichzeitig war es Ausbildungsort für SS-Führungspersonal und SS-Wachmannschaften. Das Lager Dachau hatte einen Sonderstatus: Hier wurde erstmalig im Reich einem Lagerkommandanten die alleinige Gerichtsbarkeit zuerkannt.25

Typisches Kleidungsstück der SA war das „Braunhemd“ und am linken Arm die rote „Kampfbinde“ mit schwarzem Hakenkreuz in weißem Kreis. 1932 hatte die Firma Hugo Boss im württembergischen Metzingen den Auftrag erhalten, Uniformen für die NS-Organisationen anzufertigen. Hugo Boss war 1931 in die NSDAP eingetreten und wurde „förderndes Mitglied“ der SS.355

s. StwV. „SS / Waffen-SS“

27. Januar 1935

Heute holten wir unsere Jungbannfahne ein, welche in Marienburg geweiht worden war.

Die Hakenkreuzfahne war das zentrale Symbol des Nationalsozialismus und als „heiliges Zeichen“ verehrt. In „Mein Kampf“ schrieb Hitler: „Im Rot sehen wir den sozialen Gedanken der Bewegung, im Weiß den nationalsozialistischen, im Hakenkreuz die Mission des Kampfes für den Sieg des arischen Menschen und zugleich mit ihm den Sieg des Gedankens der schaffenden Arbeit, die selbst ewig antisemitisch war und antisemitisch sein wird.“140 Die Fahnen hatten als sichtbares Zeichen der NS-Ideologie einen sakralen Status, wurden in einem pseudoreligiösen Ritus geweiht und mussten mit erhobener Hand gegrüßt werden.361

30. Januar 1935

Von ½ 4 - ¼ 5 Uhr Betriebsappell im Geschäft. 18.30 Uhr Dienst mit meinen Jungvolkern. Kleine Gedenkfeier der Machtübernahme. Heute abend habe ich durch Post meine 6,35 mm Gas-Alarm-Pistole erhalten.

Bei Betriebsappellen versammelte sich der Inhaber oder der Geschäftsführer eines Betriebes mit der Belegschaft zur ideologischen Information und Beeinflussung.

3.Februar 1935

Sonntag. Um ½ 8 Uhr stand ich auf, denn um 8 Uhr war SA-Dienst. Im Schießen habe ich gut abgeschnitten.

Der Umgang mit der Waffe und der Panzerfaust gehörte zum normalen Ausbildungs-Programm der HJ. Dass den Jugendlichen soldatische Tugenden vermittelt wurden, fanden viele gut und selbstverständlich, ging es doch um die „Feinde“ der Deutschen und das zu verteidigende Vaterland.

4.Februar 1935

Jeden Tag, ja zu jeder Stunde denke ich an Ruth. Ich würde sie am liebsten jeden Tag besuchen. Als ich heute abend nach Hause kam, herrschte da nicht die rosigste Stimmung. Meine beiden Brüder hatten vom Arbeitsamt Anweisung bekommen, in den Arbeitsdienst zu gehen.

Der „Freiwillige Arbeitsdienst“ FAD wurde 1931 in der Weimarer Republik per Notverordnung zum Abbau der hohen Arbeitslosigkeit eingeführt und war der Reichsanstalt für Arbeit unterstellt. Die „Freiwilligkeit“ galt nur für diejenigen, die es sich leisten konnten, ihn abzulehnen. Die meisten Personen wurden weniger als zehn Wochen gefördert. Vor 1933 war die Hälfte von ihnen nicht volljährig, also unter 21 Jahre alt.341

5.Februar 1935

Heute habe ich schon den Kopf voller Gedanken von Reichswehr usw. Ich glaube, daß ich bald Soldat werde. Nun ja, mir wird’s nicht schwerfallen.

„Reichswehr“ war von 1921 bis 1935 der offizielle Name der deutschen Berufsarmee. Nach dem Vertrag von Versailles war die Reichswehr in Umfang und Bewaffnung beschränkt und nur zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und als Grenzschutz erlaubt.

6.Februar 1935

Um 18.30 Uhr hatte ich Dienst mit meinen Jg. vom Jungvolk. Wir haben Lieder gelernt usw. Gleich zu Anfang wurde mir eine große Überraschung zuteil. Jungenschaftsführer Karl D. überreichte mir unter 3 kräftigen Zicke-Zacke- Hoi noch nachträglich mein Weihnachtsgeschenk, nämlich 1. u. 2. Band Adolf Hitler: „Mein Kampf“. Das hat mich tatsächlich unerwartet und freudig überrascht. Es ist mir immer eine Freude, wenn ich sehe, wie anhänglich und treu meine Jungvolker mir als ihrem Führer gegenüber sind.

12. Februar 1935

Die Einträge in dieses, mein Tagebuch, sind mir schon eine Lieblingsbeschäftigung geworden. Täglich male ich mir im Geiste aus, wie es wäre, wenn ich mit Ruth einmal glücklich vereint wäre. Dann wäre mir mein Tagebuch eine Erinnerung an eine glückliche Jugendzeit. Eigentlich habe ich dieses Buch nur wegen Ruth angelegt. Mag die Zukunft mir Heiteres und Erfreuliches oder Bitteres bringen, so habe ich wenigstens eine Erinnerung an meine erste Liebe. Aber hoffend schaue ich in die Zukunft.

Im Geschäft ist gegenwärtig nicht viel los. Heute Abend war SA-Sturmdienst in Gönningen. Wir vom „Stoßtrupp* Nehren“, wie wir uns zu nennen pflegen, fuhren mit den Fahrrädern bis Dusslingen und von dort per Lastauto bis Gönningen. Wir hörten einen Vortrag aus der wilhelminischen Zeit. Der Vortragende konnte nur nicht viel Temperament aufbringen. Um ½ 12 Uhr bin ich nach Hause gekommen.

* Ein Stoßtrupp ist eine Angriffsformation der Infanterie

13.Februar 1935

Heute haben wir prächtigen Sonnenschein. Man könnte sich in die Frühlingszeit versetzt glauben, wenn nicht noch überall Schneereste umherliegen würden. Von 18.30 bis 20 Uhr war Heimatabend J.V. Schießen.

14.Februar 1935

Von 20 - 22.30 Uhr war SA-Truppdienst in Dusslingen. Exerzieren und Spähtrupp-Aufgabe. Es war direkt wieder 12 Uhr, als ich ins Bett ging und um ½ 6 Uhr heißt die Parole: Raus!

15.Februar 1935

Freitag - Zahltag. Heute habe ich meinen Eltern den ersten Gehilfen- Lohn* nach Hause gebracht. Das war eine allgemeine Freude. Dann habe ich natürlich meine liebe Ruth aufgesucht.

*

24. Februar 1935

Um 1 Uhr wurde mir eine freudige Überraschung zuteil. Mein Oberscharführer Karl D. überbrachte mir mein SA-Sportabzeichen, für welches ich letztes Jahr die Leistungsprüfungen ablegte.

Mit dem SA-Sportabzeichen wurden Männer ausgezeichnet, die sich gemäß der NS-Ideologie zur „Hebung der Volksgesundheit“ erfolgreich sportlich betätigten. Der Erwerber musste „wehrwürdig“ sein, d.h. er durfte z.B. nicht wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ aufgefallen oder vorbestraft sein. Das Abzeichen wurde in Bronze, Silber und Gold verliehen. 1939 wurde es zum SA-Wehrabzeichen umbenannt, was seine wahre Hauptaufgabe deutlich zum Ausdruck brachte: vormilitärische Ertüchtigung der Jugend.384

27. Februar 1935

Um ½ 7 Uhr bis 8 Uhr Dienst mit Jungvolk. Heute abend habe ich meine Heim-Sparbüchse erhalten. Ich bin nämlich zum Sparen übergegangen.

Das Sparen wurde von den Nazis zur „Nationalen Pflicht“ erhoben – eine Beeinflussung der individuellen Sparneigung mit massenpsychologischem Hintergrund zur Finanzierung der militärischen Aufrüstung. Das Sparen von Kleingeld mit der Heimsparbüchse richtete sich vor allem an Kinder und Jugendliche. Die Büchse wurde von der Bank stets ohne Schlüssel übergeben, damit der Sparer sie zu Hause nicht öffnen konnte.21

1. März 1935

Heute ist ein Tag von großer Bedeutung. Das Saarland kehrt zu Deutschland zurück. Im Geschäft hatten wir morgens um ¼ 11 Uhr Flaggenhissung. Zur selben Zeit schneite es sehr stark. Es war erhebend, wie Schlag 10.15 Uhr die Freudensalven krachten, die Glocken ertönten und die Sirenen heulten.

Heute hatten wir auch Heimabend. Deshalb fuhr ich heute um ½ 4 Uhr nach Hause. Von ½ 6 - ½ 8 Uhr habe ich mein Liebstes aufgesucht. Sie war gerade beim Kämmen und Schönermachen. Wenn mich Ruth mit ihren strahlenden Augen ansieht, wird mir immer so froh und leicht ums Herz. Abends 8 Uhr haben wir einen Fackelzug gemacht. Der ganze Zug war flankiert von Fackelträgern meines Jungvolks. Das waren erhebende Augenblicke. Begeistert sangen Junge und Alte die Vaterlandslieder.

Der „Gau Saarland“ wurde sofort gleichgeschaltet. 8000 von Verfolgung Bedrohte flüchteten. Die „Heimholung der Saar ins Reich“ wurde von der Bevölkerung als bisher größter Erfolg Hitlers gefeiert.381 Warnende Hinweise wegen der politischen Verfolgung und dem Bau von Konzentrationslagern im Reich hatten angesichts der massiven NS-Propaganda nichts bewirkt.

2. März 1935

Heute morgen sah man überall übernächtigte und betrunkene Gestalten, denn heute nacht war die Polizeistunde aufgehoben. Um ½ 4 trug die Fußballmannschaft der Tübinger Chronik, bei der auch ich bin, ein Wettspiel aus gegen eine Mannschaft der Fa. Metz. Chronik gewann 10:0. Nachher gabs noch ein gemütliches Beisammensein bei 40 I Bier im SVT-Heim.

6.März 1935

Von 8 - ½ 11 war in der „Restauration“ ein Gasschutzvortrag von Pg. Lehrer Rein, welcher sehr aufschlußreich und aufklärend war. Pg. Walker aus Dußlingen sprach über Außenpolitik.

Der „Parteigenosse Lehrer Rein“ war ein außerordentlich beliebter Lehrer an der Schule von Nehren. Er erteilte meiner Mutter auch Klavierunterricht. Die Lehrer waren zu dieser Zeit in ihrer politischen Haltung in die Pflicht genommen und überwacht. Außerschulische Mitarbeit in NS-Organisationen war zwingend vorgeschrieben. Wie überall, so gab es auch in der Lehrerschaft NS-Anhänger, Angepasste und Leute mit innerem Widerstand.

7.März 1935

Heute Abend war SA-Truppdienst in Dusslingen bis ¾ 11 Uhr. Geländebeschreibung am Sandkasten.

In Nehren wurde der Gemeinderat an diesem 7. 3. 1935 darüber informiert, dass im Dorf der Luftschutz durchzuführen sei. In §594 des Sitzungsprotokolls heißt es: „Der Gedanke des Luftschutzes muss Allgemeingut werden, d.h. die Kenntnisse hierüber müssen in jede Familie eindringen, damit gegebenenfalls großer Schaden nach Möglichkeit vermieden wird. Notwendig ist es, dass deshalb sämtliche Beamte, Lehrer, Abordnungen der Fabriken und verantwortliche Männer aus den einzelnen Häusergruppen an einem hier abzuhaltenden Lehrkurs teilnehmen (...)“. Am 26. 6. 1935 wurde das „Luftschutzgesetz“ erlassen - ein Hinweis auf Kommendes.

9. März 1935

Um 9 Uhr hatte ich Probe im „Grünen Baum“ da wir ja am Sonntag unser Theaterstück „Abseits der Straße“ nochmals im Rahmen einer Veranstaltung für das Winterhilfswerk aufführen. Die Probe dauerte bis ½12 Uhr.

Das Winterhilfswerk (WHW) war eine Stiftung des öffentlichen Rechts und sammelte regelmäßig Sach- und Geldspenden. Neben der Linderung der Not von Arbeits- und Obdachlosen infolge der Weltwirtschaftskrise wurde das Zusammengehörigkeitsgefühl der „Nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ gestärkt. Ab 1936/37 dienten die Einnahmen als Basis der NS-Volkswohlfahrt (NSV). Das Spendenaufkommen übertraf 1939/40 die Höhe der Steuermittel, die für die Sozialverbände aufgewendet wurden. Weil viele befürchteten, dass mit den Spenden auch die Rüstungspolitik finanziert werde, wurde das WHW, das dem Propaganda-Ministerium unterstand, auch „Waffenhilfswerk“ genannt.353

13. März 1935

Heute abend ist Jungvolk. Dienst im Gelände. Wir haben unsere Lieder durchgesungen und einen kleinen Geländegang gemacht. Meine Jungs können sehr stramm marschieren, das haben sie heute wieder bewiesen.

14. März 1935

Im Geschäft habe ich heute einen neuen Chef bekommen, noch ziemlich jung. Heute abend war SA-Dienst in Dußlingen. Stuf.* R. erklärte das Fernglas und den Kompaß, sowie den Planzeiger.

* =Sturmführer

17. März 1935

Heldengedenktag. Alle Häuser haben die Flaggen auf Halbmast gesetzt. Nehrens SA traf sich zum Kirchgang auf der Wette.

Die Nationalsozialisten machten aus dem Volkstrauertag, der nach dem Ersten Weltkrieg 1922 eingeführt worden war und zur Solidarität mit trauernden Hinterbliebenen der Kriegstoten aufrief, den Heldengedenktag. So wurden die Toten als Helden verherrlicht und gleichzeitig für die zukünftigen Absichten missbraucht.

Zum heutigen Tage hat die Regierung ein Gesetz beschlossen, wonach wieder die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wird. Auf diese Nachricht hin gingen spontan alle Flaggen hoch.

Diese dick unterstrichene Nachricht war offensichtlich eine sehr freudige. Die allgemeine Wehrpflicht führte Hitler entgegen den Bestimmungen des Versailler Vertrages ein. Zwar protestierten Großbritannien, Frankreich und Italien, doch bereits im Juni gab es ein Abkommen mit den Briten, das dem Hitler-Regime eine gewisse Anzahl von Kriegsschiffen zugestand.

Großbritannien hoffte, die deutsche Wiederaufrüstung durch Verträge begrenzen zu können. Die Dauer des Wehrdienstes betrug zunächst ein Jahr und wurde 1936 auf zwei Jahre verlängert.

Die ersten Wehrpflichtigen stellte der Jahrgang 1914. Das deutsche Friedensheer sollte aus 36 Divisionen mit 580 000 Soldaten bestehen und bis 1939 kriegsfähig sein. Die „Reichswehr“ wurde in „Wehrmacht“ umbenannt.380

20. März 1935

Heute abend war Heimatabend des Jungvolkes. Zugleich verabschiedete sich unser Stammführer Alfred H. von uns, da er auf die Gebietsführung kommt.

Am 22. März 1935 wurde das erste regelmäßige Fernsehprogramm der Welt live aus Berlin gesendet: zwei Stunden an drei Abenden der Woche. Das Programm war fest in Nazi-Hand. Es gab 25 angemeldete Geräte und - bei schlechter Bildqualität - ca. 250 Zuschauer.400

21.März 1935

Heute abend ist SA-Dienst. Wir machten lautloses Anschleichen einer Gruppe an einen MG.-Posten.

23. März 1935

Heute, Samstag, war das Fußballspiel NS-Kurier Stuttgart – Chronik Tübingen. Wir haben dann auch die Kurier-Leute 3:0 herumgezogen.

26.März 1935

Heute abend habe ich Ruth wieder besucht, denn morgen verreist sie nach Eßlingen. Ihre Mutter hat mir die Wäsche und Kleider gezeigt, die sie mitnimmt. 12 Paar Strümpfe, wollene, baumwollene, seidene, dazu Hosen, Unterröcke, blendend weiße Schürzen, Taschentücher usw., ach, einfach herrlich anzusehen, wie schön geordnet alles dalag. Nun ja, Ruths Mutter ist eben ein Allerweltsmütterchen. Heute abend, da Ruth zum letzten Mal da war, waren wir nochmal recht fröhlich und ausgelassen.

27.März 1935

Mittwoch, strahlender Sonnenschein herrscht, als ich um ¾ 12 Uhr zum Bahnhof Tübingen gehe (ich habe im Geschäft um ½ 12 Uhr freigemacht) um Ruth vom Zug aus Nehren abzuholen und von ihr für 6 - 8 Wochen Abschied zu nehmen. Ich erkannte sie schon von weitem an ihrem roten Jäckchen mit Silberknöpfen, welche ich eigenhändig gekauft habe. Wir gingen gleich auf Bahnsteig1 und stiegen in den Zug, denn wir hatten noch 24 Minuten Zeit. Wir sprachen noch vieles miteinander, denn die Trennung ist doch lang. Wir neckten uns sogar noch gegenseitig. So verging nur zu schnell die Zeit. Noch ein letzter Händedruck, ein letzter, langer, inniger Blick, und der Zug fuhr an. Wir winkten einander, bis der Zug um eine Biegung verschwand. Während der Zug so aus dem Bahnhof rollte, überkam mich ein wehes Gefühl.

28. März 1935

Heute Abend war SA-Truppdienst, Vortrag über Schädlingsbekämpfung, sowie Außenpolitik in der „Krone“ in Dußlingen.

30. März 1935

Heute abend war Kameradschaftsabend des Sturmes 2/125 in Öschingen. Wir vom Stoßtrupp waren auch dabei. Ich habe mal wieder nach langer Zeit getanzt nach Herzenslust. Um 2 Uhr kam ich nach Hause.

Am 31. März 1935 wurde jüdischen Musikern das öffentliche Auftreten verboten.

6.April, Samstag

Heute wird Ruths Mutter nach Eßlingen verreisen. Ich habe ihr den Koffer zum Bahnhof gebracht. Ich möchte nur die Überraschung in Eßlingen miterleben. Ruth feiert nämlich am Sonntag ihren 15. Geburtstag. Ich habe ihr ein Foto-Album und Briefpapier mit ihrem Namen gekauft und ihrer Mutter mitgegeben. Dazu packte ich noch ein Sträußchen Veilchen in nasses Moos. Sie wird sich nicht schlecht freuen!

7.April 1935

Heute spielte ich in der II. Mannschaft gegen Mössingen als Mittelstürmer und schoß in der 1. Minute das 1. Tor. Sieg für Nehren 6:1.

8.April 1935

Heute erhielt ich die erste Karte von Ruth, welche mich glücklich machte. Heute und Morgen mache ich die Gehilfen-Prüfung.

Beim Verlag „Tübinger Chronik“ begann mein Vater 1930 eine kaufmännische Lehre, da er im grafischen Gewerbe zunächst keine Lehrstelle bekommen konnte. 1932 wechselte er auf eine Lehrstelle für Schriftsetzer. Nach vierjähriger Ausbildung legte er die Gesellenprüfung (hier: Gehilfenprüfung) mit sehr gutem Ergebnis ab.

Eine Zeitungsbeilage zu 90 JAHRE TÜBINGER CHRONIK vom 30. April 1935, in der mein Vater rechts als Schriftsetzer abgebildet ist. Titel des Artikels: „Vom Funk zur Rotationsmaschine, ein Rundgang durch den Verlag und die Druckerei der Tübinger Chronik“

20. April 1935

Heute ist unser Führer und Kanzler 46 Jahre alt.

Heute sandte ich Ruth ein Ostergeschenk: 1 Krokantei und einige Orangen, sowie ein Sträußchen Blumen. Das wird sie wieder sehr freuen. Ich wollte, ich könnte sie beim Auspacken heimlich beobachten!

27. April 1935

Heute muß ich aus traurigem Anlass zur Feder greifen. Hans V., einer meiner besten Jungvolk-Pimpfe, ist das Opfer eines tragischen Unfalls geworden. Beim Schaukeln in seiner Scheuer* rutschte er auf der Leiter aus, als das Seil, welches er um die Hüften schlingen wollte, gerade um den Hals hing, und erstickte. Seine Mutter fand ihn abends tot am Seil hängend.

1. Mai 1935

Gestern haben wir vom Jungvolk unseren unvergeßlichen Hans zur ewigen Ruhe gebettet. Es war ergreifend, wie er, angezogen mit dem Braunhemd, in dem er für Deutschlands Zukunft marschierte, im Sarge lag. Mit Wehmut denke ich an ihn zurück.

Die Durchführung des 1. Mai klappte diesmal bei uns nicht so ganz. Auch war absolut kein Maiwetter. Zeitweise schneite es sogar. Abends war ich in Tübingen bei unserer Betriebsfeier.

10. Mai 1935

Nun nehme ich dich wieder zur Hand, mein liebes Tagebuch. Übermorgen also werde ich zu meiner liebsten Ruth nach Eßlingen fahren. Wie wird sich das Mädel freuen! Ich habe heute meinen neuen Anzug erhalten, Schuhe kaufe ich morgen, sowie einen Koffer. Zum Muttertag werde ich für Oma einen Blumenstrauß mitnehmen. Bin sehr gespannt, wie es wird!?

13. Mai 1935

Gestern, am „Tag der Mutter“, war ich bei meinem Ruthi-Schatz. Sie hat mich am Bahnhof abgeholt. Das war ein prächtiger Tag.

Der Muttertag ist keine Erfindung der Nazis, sondern wurde 1914 in den USA zum nationalen Feiertag erklärt. 1923 wurde er in Deutschland vom Verband Deutscher Blumengeschäftsinhaber ins Leben gerufen. 1933 von den Nationalsozialisten in „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ umbenannt, wurde der Tag propagandistisch missbraucht und mit dem Begriff der „arischen Herrenrasse“ verbunden. Kinderreiche Mütter wurden zu Heldinnen des Volkes erklärt. Religiös aufgemachte „Mütterweihen“ fanden vielerorts in Konkurrenz zum Gottesdienst am Sonntagmorgen statt,373 nicht jedoch im Dorf Nehren.

25. Mai 1935

Am 19. und 20. Mai war ich im Jungvolk-Zeltlager auf dem Einsiedel. Es regnete die ganze Nacht und war ziemlich kalt. Ich bin am Samstag abend um 8 Uhr in Tübingen wegmarschiert, allein, durch Lustnau, Pfrondorf, Pfrondorfer Wald, Einsiedel. Es war aber trotzdem schön, wenn auch etwas rauh. Seit 17. Mai bin ich zum Jungzugführer befördert und mit der Führung des Fähnleins „Pulvermühle“ beauftragt.

1. Juni 1935

Heute hatte ich Staatsjugendtag mit dem Fähnlein. Mittags ging ich zur Hochzeit von Wilhelm. Das war pfundig. Ich bin am Sonntag morgen um 6 Uhr heimgekommen. Es war eine braune Hochzeit. Wir vom „Stoßtrupp“ haben einen Schlager gemacht. Im Hochzeitshaus war ein volles Faß Bier im Keller und ein leeres in der Scheuer. Das volle Faß haben wir herausgeschmuggelt und zu uns in den Keller getan und das leere haben wir mit Wasser gefüllt, schön zugekorkt und an den Platz vom vollen gestellt. Als nun das Fäßchen angestochen wurde und Wasser kam - diese langen Gesichter!

Von Juni 1934 an musste der Samstag für die Angehörigen der HJ unterrichtsfrei gehalten werden, um ihnen die Teilnahme an den Veranstaltungen von HJ und BDM zu ermöglichen. Mit der Verpflichtung zur Mitgliedschaft aller Jugendlichen in der HJ per Gesetz vom 1. 12. 1936 wurde dieser Staatsjugendtag wieder abgeschafft. Dort heißt es in §2: „Die gesamte deutsche Jugend ist außer in Elternhaus und Schule in der Hitlerjugend körperlich, geistig und sittlich im Geiste des Nationalsozialismus zum Dienst am Volk und zur Volksgemeinschaft zu erziehen“.310 Das kam einer staatlichen Entmündigung des Elternhauses gleich. Die Wochenendveranstaltungen der Jugendorganisationen führten zudem fern von elterlichem oder erzieherischem Zugriff zu manch fragwürdigem Freizeitverhalten, waren aber gerade deshalb sehr beliebt.342 900 BDM-Mitglieder, die 1936 zum Reichsparteitag nach Nürnberg mitfuhren, waren nachher schwanger. Teilweise konnte der Vater des Kindes nicht einmal benannt werden.156

Das stand in krassem Gegensatz zu Hitlers theoretischen Ausführungen in „Mein Kampf“ zum Thema Sexualität bei Jugendlichen: „Die übermäßige Betonung des rein geistigen Unterrichtes und die Vernachlässigung der körperlichen Ausbildung fördern aber auch in viel zu früher Jugend die Entstehung sexueller Vorstellungen. Der Junge, der in Sport und Turnen zu einer eisernen Abhärtung gebracht wird, unterliegt dem Bedürfnis sinnlicher Befriedigungen weniger als der ausschließlich mit geistiger Kost gefütterte Stubenhocker.“ Im gleichen Kapitel geißelte Hitler „den Speisezettel“ der Kinos und Theater sowie die Auslagen und Anschlagsäulen, die mit „niedrigsten Mitteln“ die Aufmerksamkeit auf sich zögen. Das Ergebnis könne man an der Jugend studieren: „Sie ist frühreif und vorzeitig alt geworden“ schrieb Hitler, um dann gleich auf die Syphilis zu kommen, an der schon 14- und 15-Jährige erkrankten.135a So sollte also die Phase der Pubertät ohne geschlechtlichen Kontakt, dafür in HJ und BDM ausschließlich auf der Ebene der „Kameradschaft“ stattfinden. Da diese Moralvorstellung beim Reichsparteitag 1936 von der Realität überrollt worden war, wurde den Mädchen beim Reichsparteitag 1937 das Kampieren im Freien verboten.157

8. -13. Juni 1935

Über Pfingsten war ich mit 16 Jungvolklern auf Fahrt bei Haselwangen. Es waren 3 herrliche Tage, das Wetter war pfundig. Sonnenverbrannt sind wir alle nach Hause zurückgekehrt.

22. Juni 1935

Heute fanden die Sportwettkämpfe des Jungvolks und der Jungmädel in Dußlingen statt. Ich erlebte eine große Freude, denn meine

3 Jungenschaften siegten alle. Wir werden eine Ehrenurkunde mit der Unterschrift des Führers erhalten.

23. Juni 1935

Heute kämpften BdM und HJ um den Lorbeer. Ich marschierte schon morgens mit dem Nehrener BdM nach Dusslingen. Hier sah man teilweise Prachtsmädel. Meine allerliebste Ruthi war auch dabei und eine der Besten. Nachmittags gegen 2 Uhr bin ich nach Hause gekommen. Abends war dann die Sonnwendfeier.

Führer des Fähnlein 9/125

Die Sonnwendfeiern gehörten zur sakralisierten Politik der Nazis mit ihren Ritualen. Unter staatlicher Leitung fanden im Reich ca. 25 000 Sonnwendfeiern statt. Eine führende Rolle spielte dabei die SS, deren Führer Heinrich Himmler von vermeintlich germanischen Bräuchen begeistert war. Die Feier begann mit dem Fanfarenruf, gefolgt von der feierlichen Entzündung des Feuers, Weihesprüchen, Ansprachen und Liedern. Höhepunkt war das Totengedenken. Dazu wurden Kränze ins Feuer geworfen. Dann „Sieg-Heil“ für den Führer, Nationalhymne und Horst-Wessel-Lied.364 Letzteres war ein politisches Lied der SA, das nach der ersten Strophe des Deutschlandliedes nahtlos gesungen wurde und während der Nazi-Zeit praktisch eine zweite Nationalhymne darstellte. Es ist bis heute in Deutschland und Österreich verboten.286

Am 28. 6. 1935 fand der Ausdruck „gesundes Volksempfinden“ Eingang in einen durch Gesetz neu eingeführten Rechtsgrundsatz. Danach stand das freie richterliche Ermessen und das gesunde Volksempfinden im Mittelpunkt des nationalsozialistischen Strafrechts. Dieses wurde höher bewertet als das formale Recht. Ob das Empfinden gesund war, bestimmte allein der Führer. Das bedeutete die Aufhebung der Gewaltenteilung im Strafrecht.278

6. - 7. Juli 1935

Heute und morgen bin ich im Zeltlager des Jungbanners in Tübingen, denn es werden zugleich die Ausscheidungswettkämpfe innerhalb der besten Jungenschaften des Fähnleins ausgetragen. Meine Jungenschaft aus meinem Fähnlein ging als 4. Sieger von 25 Mannschaften hervor. Vom Samstag auf Sonntag haben uns einige Berliner Pimpfe ein Zelt zusammengeschmissen. Wir gingen hinter ihnen her, konnten sie aber nicht mehr erwischen, denn sie hatten schon 2 Kähne am Neckar bereitgestellt, mit welchen sie losfuhren. Hätten wir sie erwischt, wären sie nicht zu knapp geklopft worden.

Vom 13. bis 14. Juli war ich im Fähnleinzeltlager in Dußlingen.

Vom 9. - 16. Juli hatte ich Ferien im Geschäft. Das waren herrliche Tage. Ich war jeden Tag bei meiner allerliebsten Ruth. Ich habe sie jetzt einen Tag nicht mehr gesehen und meine, es sei schon eine Ewigkeit lang. Wie wird es erst bei einer längeren Trennung sein?

3. August 1935

Heute war Musterung der Jahrgänge 1914 und 1915. Wir fuhren heute früh mit unserem schön bekränzten Wagen nach Mössingen. Um 12 Uhr waren wir dann endlich fertig. Dann häuften wir unsere bunten Bänder und Sträuße. Nun wurde zuerst im „Ochsen“ zu Mittag gegessen. Von da gingen wir auf Bierreise und zwar zuerst ins Café. Dort waren auch die Landjäger, Offiziere und Unteroffiziere, welche bei der Musterung zugegen waren. Ehe wir ins Café gingen, wollte ich meinen Kameraden noch „präsentiert das Gewehr!“ zeigen, denn die Landjäger hatten ihre Gewehre alle an der Wand hängen. Ich nehme also so ein Gewehr, mache die Übung und bums! habe ich schon von einer Marmorplatte ein Eck weggehauen, denn ich hatte schon einen leichten Schwips. Da sind wir aber schleunigst verschwunden. Dann gings in den „Löwen“. Dort haben wir auch ein Faß Bier ausgehöhlt.

Musterung der Jahrgänge 1914 und 1915 in Mössingen am 3. August 1935

Nun war es Zeit zum nachhause fahren. Unter großem Geschrei und Gesang gings durch Nehren zum „Grünen Baum“. Hier ereilte uns ein Mißgeschick. Die Pferde nahmen die Kurve zu stark und der Wagen stürzte um. Da lagen wir alle auf dem Boden. 3 Mann waren leider bewußtlos. Wir trugen sie in den Saal, wo sie wieder zu sich kamen. Karl N. trug eine leichte Gehirnerschütterung davon, an der er noch tagelang litt. Abends machten wir einen Umzug durch den Ort und in jeder Wirtschaft tranken wir eins. Im Gänsemarsch wurde marschiert, ich führte das Kommando. Eine Musik hatten wir auch zusammengestellt. Damit ich es nicht vergesse:

Tauglich I, ½ Jahr Arbeitsdienst ab 1. 4. 36, sodann habe ich mich zu der Fliegertruppe gemeldet.

4. August (Sonntag)

Heute haben wir Rekruten nochmals gefeiert. Abends sangen wir beim Bürgermeister, welcher dann 20 Liter Bier stiftete. Dann gings zum Tanz in den „Grünen Baum“! Mein Rekrutenband und Strauß habe ich meinem Mädel gegeben zum Andenken. So endete die Musterung 1935 der Jahrgänge 1914 - 1915. Schön ists gewesen.

Es handelte sich um den Nehrener Bürgermeister Heyd, dessen Amtszeit von 1923 bis zu seinem Tod 1944 dauerte. Seit Inkrafttreten der neuen Deutschen Gemeindeordnung vom 30. 1. 1935 wurden Bürgermeister und Gemeinderäte nicht mehr gewählt, sondern berufen. Im Sinne der Einheit zwischen Partei und Staat war für die Berufung oder Abberufung der Kreisleiter der NSDAP zuständig. Die Gemeinderäte waren nun nicht mehr Gegenspieler der Gemeindeverwaltung, sondern gleichgeschaltet. Das bedeutete das Ende der Demokratie auf kommunaler Ebene. Im Protokoll der Gemeinderatssitzung vom 2. August 1935, in der die alten Gemeinderäte verabschiedet und die neuen, linientreuen vereidigt worden waren, heißt es am Schluss: „Nach Worten des dankbaren Gedenkens für den heute vor einem Jahr verstorbenen Reichspräsidenten und Generalfeldmarschall von Hindenburg und einem Dank des Vorsitzenden an die ausgeschiedenen Gemeinderatsmitglieder (…) schließt der Bürgermeister die Sitzung mit dem Gelöbnis unverbrüchlicher Treue und unbeirrbarer Pflichterfüllung gegenüber dem Führer und Reichskanzler Adolf Hitler und unserem lieben deutschen Volk und Vaterland.“

Die Kommunalverwaltungen im Reich waren also Teil des NS-Herrschaftssystems, zu dem neben den NSDAP-Kreisleitungen und staatlichen Behörden auch der Verfolgungsapparat gehörte. Um nicht von der Macht ausgeschlossen zu sein, hatten sich die Verwaltungsbeamten vielerorts durch den enormen Anpassungsdruck praktisch schon 1933 selbst gleichgeschaltet und die Politik als richtungweisend akzeptiert. Auf der Ebene der Kommunalverwaltungen wurden die Vorgaben der mittleren Reichsinstanzen und des „Führers“ an der Spitze in konkretes Handeln umgesetzt. Je nach Auffassung der persönlichen Verantwortung konnten die lokalen Akteure durch Initiativen „von unten“ durchaus zur Radikalisierung der NS-Politik beitragen.242 Ansonsten achteten sie schon im eigenen Interesse darauf, dass die im Reichsgesetzblatt verkündeten Gesetze „im richtigen Geist“, d.h. in Übereinstimmung mit der Auffassung der NSDAP lokal umgesetzt wurden. „Dem Führer entgegen arbeiten“ hieß die Devise und Schaffung einer „Volksgemeinschaft“ unter Ausschluss der „Volksschädlinge“ war das Ziel.241

18. August 1935

Heute war SA-Dienst. Reichswettkampf. Wir machten 2 Einsatzübungen und den weltanschaulichen Teil. Es klappte alles gut.

Am 1. September 1935 trat der verschärfte §175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte, in Kraft. Diese Fassung blieb bis 1969 bestehen.

14. September 1935

Heute ist Fähnleintreffen des Jungvolks. Wir waren auf dem Farrenberg. Es ist eine schöne Aufgabe, mit den Jungens Dienst zu machen, obschon einige Energie dazugehört sowie ein großes Maß an Geduld.

Am 15. September 1935 wurden im Reichstag die menschenverachtenden Nürnberger Rassengesetze verabschiedet und am 16. September beim „Reichsparteitag der Freiheit“ (!) von Hitler verkündet.

Es handelte sich um das „Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“, das Eheschließungen und außerehelichen Geschlechtsverkehr zwischen Juden und Nichtjuden zur „Reinhaltung des deutschen Blutes“ verbot. Auf Verstöße stand Gefängnis oder Zuchthaus, wobei nur der Mann bestraft wurde. Letzteres entsprach dem Hitlerschen Frauenbild, wonach die Frau sexuell unmündig sei.

Dieses Verbot der „Rassenschande“ wurde später auf „Zigeuner, Neger und ihre Bastarde“ ausgeweitet. Im Gesetz wurde die „Treue zum deutschen Blut“ zum Rechtsgut erklärt. Das „Reichsbürgergesetz“ legte fest, dass nur „Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes“ Bür ger des Deutschen Reiches sein konnten. Folge: Kein Jude durfte mehr ein öffentliches Amt bekleiden, jüdische Beamte mussten zum 31. 12. 1935 aus dem Amt scheiden, Juden durften nicht mehr an politischen Wahlen teilnehmen.

Durch diese Gesetze wurde der Begriff „Jude“ zum ersten Mal gesetzlich definiert und es wurden legale Grundlagen für die Verfolgung der Juden geschaffen. Eine höherwertige arisch-germanische Rasse und eine völkische Wehrkraft, die nicht durch “artfremdes“ Blut verwässert war, konnte nur durch Bekämpfung des jüdischen Einflusses schon in Friedenszeit erreicht werden. Im Krieg sollte dann die Judenfrage endgültig gelöst werden.47 Das war Hitlers Ideologie.

21. + 22. September 1935

Gestern und heute war ich beim Gebietssporttreffen in Stuttgart, verbunden mit einem großen Zeltlager.

6. Oktober 1935

Heute ist Erntedankfest. Der Festplatz war diesmal im Schulhof. Führer-Rede war sehr gut. Sonst ist’s mir ein wenig langweilig vorgekommen. Eben ist es 7 Uhr abends. Es regnet.

Das Erntedankfest gehörte zu den wichtigen Daten des „nationalsozialistischen Festkalenders“. Die Ausgestaltung war aufwendig, das Hakenkreuz allgegenwärtig. Traditionelles verband sich mit Neuem. Von der Landesbauernschaft Württemberg wurden 1935 Elemente des Erntedankfestes erarbeitet, bei denen ein religiöser Bezug wegfiel. Die nationalsozialistisch-ideologische Einschwörung der Festteilnehmer trat immer mehr in Erscheinung. Die Bauern sollten so in die „Volksgemeinschaft“ integriert und an das Regime gebunden werden.145

20. Oktober 1935

Heute ist mein schönster Tag: 20. Geburtstag! Welch eine Fülle von Freude durfte ich diesmal erleben. Es war köstlich. Als ich morgens um 8 Uhr von Mutter geweckt wurde und in die Küche kam, war an meinem Platz in der Veranda ein wunderschöner Geburtstagstisch aufgestellt. Wie herrlich war doch der Strauß und der ganze Tisch war bekränzt mit Winterastern. Ich sah, daß Ruth und meine Mutter hier mit viel Liebe gewaltet haben. Von Mutter bekam ich einen Kuchen, ein Hemd und 3 Taschentücher. Von Anneliese ein Paar Sockenhalter. Und von meinem Schatz erst! Kam da ein Nachthemd, ganz mollig, und ein Taschentuch, beide mit Monogramm nebst einem herzigen Kärtchen zum Vorschein. Diese Sachen hat sie selber genäht. Wie viel Liebe steckt darin. Ich war ganz benommen.

Erntedankfest in Nehren

Am 12. Oktober 1935 wurde für den ganzen deutschen Rundfunk das Senden des „Nigger-Jazz“ verboten. Diese Art von Musik sei „eine Angelegenheit von Halbwilden“.387 Seit April 1934 hießen sämtliche Rundfunkanstalten „Reichssender“, die regionalen Rundfunkgesellschaften waren als selbständige Körperschaft aufgelöst. „Ein Volk, ein Reich, ein Rundfunk“ als Erfüllung der nationalen Revolution, wie der Reichssendeleiter betonte.314 Schon 1933 gab es eine rassistische Anti-Jazz-Kampagne mit der Forderung nach „Beseitigung des Neger-Jazz“. Die neu gegründete Reichsmusikkammer verweigerte „nicht-arischen“ Künstlern die Arbeitserlaubnis. 1935 kam aus den USA der Swing nach Deutschland und wurde auch von deutschen Bands gespielt. Wurden Nazi-Kontrolleure gesichtet, schalteten die Musiker blitzartig auf deutsche Schlager um. Zum „Nigger-Jazz“ zählten auch Spirituals und Gospels. Besonders der Evergreen „When Israel was in Egypts Land“ war mit dem Bezug auf Israel und schwarzen Interpreten der absolute Antihit der Nazis. Jazz wurde allerdings da geduldet, wo er nützlich war: Über die Wehrmachtsender in den besetzten Gebieten wurden die Soldaten ab 1939 mit ihrem vorrangigen Musikgeschmack erfreut. Auch in den Konzentrationslagern wurde Jazz gespielt - „und die Nazis waren ganz närrisch“, wie von einem Überlebenden des KZ Birkenau überliefert ist.387

26. /27. Oktober 1935

Gestern und heute war ich bei einem Schulungstreffen des Jungbannes 1/125 auf dem Einsiedel bei Tübingen, wo wir Richtlinien für die Winterarbeit bekamen.

9. November 1935

Heute ist Gedenktag der Gefallenen bei der Feldherrnhalle.* Heute morgen war Fähnleindienst in Dusslingen. Um 9 Uhr ging ich ins Geschäft zum Betriebs-Appell.

*Gemeint ist die Feldherrnhalle in München.

23. / 24. November 1935

Gestern und heute war in Tübingen auf dem Schloß ein Schulungslager der Stämme I und II/1/125. Es war eine pfundige Sache. Hier wurden wir weltanschaulich und körperlich wieder gestärkt.

Die weltanschauliche Schulung betraf einen ideologisch aufgearbeiteten Geschichtsunterricht, der der Legitimation und Stabilisierung des Regimes diente. Dazu kam die „Volkskunde“ mit Rassenlehre. Auch die Vermittlung von Parolen gehörte dazu.

3. - 6. Dezember 1935

Es gibt doch noch ganz schlechte Menschen auf dieser Welt. Das mußte ich dieser Tage wieder erfahren. Heute hatte ich Dienst mit dem Führerzug meines Fähnleins im H.J.-Heim. Am gleichen Abend war auch Bibelstunde. Nachdem ich die Jungen entlassen hatte, hatte ich noch eine Besprechung mit den älteren Führern. In dieser Zeit sind anscheinend die Jungen, welche von Gönningen und Dusslingen waren, an den Fenstern hinaufgeklettert und ziemlich laut gewesen, sodaß die Bibelstundenbesucher ganz erregt wurden. Ich hatte am Dienstag, als ich nach Hause ging, von dem Vorfall nicht die geringste Ahnung. Am andern Tag nun erfahre ich, daß die Leute der Meinung seien, ich sei absichtlich mit dem Jungvolk ins Rathaus, um die Bibelstunde zu stören und unmöglich zu machen. Auf dieses hin bin ich am Freitag zum Pfarrer und habe ihm die Sache auseinandergesetzt. Es hätte mich schließlich ja nicht einmal so angefochten, aber wenn man meiner Ehre zu nahe kommt, kenne ich nichts.

Es handelte sich um Pfarrer Steinestel, der von 1930 bis 1950 Seelsorger in Nehren war, meine Eltern getraut, mich getauft und mit der Gemeinde die Nazizeit überstanden hat. 1932 gründete er den Evangelischen Mädchenkreis und 1935 einen Verein für männliche Jugendliche. 1937 wurde ihm verboten, Religionsunterricht zu halten. Er genoss über zwanzig Jahre lang im Dorf hohes Ansehen und großes Vertrauen.41

24. Dezember, Heiliger Abend

Das war wohl der schönste Heilige Abend, den ich bisher erlebt habe. Zuerst war bei uns zu Hause Bescherung, wo es lauter freudige und überraschte Gesichter gab. Dann ging ich zu Ruth, denn ihre Eltern hatten mich eingeladen, mit ihnen den Heiligen Abend zu feiern.

31. Dezember - Silvester - Jahreswende!

Das ist doch der wichtigste und zugleich seltsamste Tag des Jahres, denn er mahnt die Menschen zu innerer Einkehr.

Diesmal feierte ich Silvester bei meiner Ruth - ich könnte es mir eigentlich garnicht anders mehr vorstellen. O möge es doch jedes Jahr so sein!

Das Jahr 1935 hatte einschneidende Neuerungen gebracht:

Das Saarland war ins Deutsche Reich zurückgekommen. Die Luftwaffe wurde gegründet, die allgemeine Wehrpflicht wieder eingeführt, aus der Reichswehr wurde die Wehrmacht. Die Deutsche Gemeindeordnung zentralisierte das Gemeindeverfassungsrecht. Die Rassenideologie der Nationalsozialisten wurde Gesetz.

Vor 1933 betrachteten sich die ca. 500 000 in Deutschland lebenden Juden als loyale Patrioten. Erst 1871 hatten Juden mit der Verfassung volle Bürgerrechte bekommen, aber gleichgestellt waren sie im Kaiserreich nicht. Der Staatsdienst und die höheren Positionen in der Armee blieben ihnen versagt, ebenso das Richteramt. Im Ersten Weltkrieg bewiesen ca. 17% der Juden (gegenüber 18,7% der Nichtjuden) als Soldaten ihren Patriotismus für Deutschland. 77% kämpften an der Front. Trotzdem wurden sie als Drückeberger diffamiert und der völkische Antisemitismus nahm ab 1916 enorm zu. Juden wurden nicht mehr zu Offizieren ernannt. Nach dem verlorenen Krieg kam die „Dolchstoßlegende“ auf, die besagte, dass die Armee inneren Feinden zum Opfer gefallen sei, voran Sozialdemokraten und Juden. Juden und die linksliberalen „jüdischen“ Zeitungen (Frankfurter Zeitung, Berliner Tageblatt) waren Anhänger eines Verständigungsfriedens. Der Vertrag von Versailles wurde daher auch als „Judenfrieden“ bezeichnet und die Demokratie als „jüdisch“ bekämpft.293

Trotz ihrer mangelhaften Stabilität hatte die Weimarer Republik für die jüdischen Bürger zum ersten Mal das Prinzip der Gleichberechtigung geschaffen. Sie wurden z.B. in den öffentlichen Dienst und an Universitäten berufen. In den Bereichen der Kultur, Kunst und Philosophie erreichten sie in Deutschland und Österreich eine Renaissance. Auf der anderen Seite gab es jedoch weiter Zeichen eines erstarkenden Antisemitismus. Die Ernennung des Juden Walther Rathenau zum deutschen Außenminister 1922 und seine Ermordung durch antisemitische Nationalisten war ein Hinweis darauf.

Die durch den nationalsozialistischen Judenhass nach 1933 erzwungene Emigration vieler jüdischer Wissenschaftler und Künstler zeigte, welches Potential an geistiger Elite die deutschen Juden dargestellt hatten. Als Forscher und Hochschullehrer nahmen sie aber auch ihre nichtjüdischen Schüler und Kollegen aus Deutschland mit.

Die Universität Tübingen meldete sich im Wintersemester 1935/36 „judenfrei“.1 Anfeindungen von jüdischen Wissenschaftlern und Studenten gab es an der Uni bereits während der Weimarer Republik. 1922 wurden schon rassistische Kriterien für die Zulassung aufgestellt: „Das akademische Rektorat nimmt insofern Einfluss auf die Zusammensetzung der Studentenschaft, als es, wenn irgend möglich, rassefremde Ausländer (namentlich Ostjuden) nicht zulässt und deren Deutschstämmigkeit, wenn sie behauptet wird, verneint.“ Man hatte also den Nazis vorauseilend zugearbeitet. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme gab es daher nur noch wenige jüdische Professoren und Studenten an der Uni. Ab Sommersemester 1933 wurden Stipendien für jüdische Studenten gesperrt. Vom Mensabesuch waren sie ausgeschlossen. Am 3. 1. 1935 war eine neue Habilitationsordnung in Kraft getreten, nach der für Habilitanden und ihre Ehefrauen der „Ariernachweis“ verlangt wurde. Die Nazis schufen neue Lehrstühle: Rassenbiologie, Eugenik, Volkskunde, Urgeschichte der Arier. Die lange Tradition christlich motivierter Judenfeindschaft fand in der sog. „Judenforschung“ ihr Betätigungsfeld. Der evangelische Neutestamentler Gerhard Knittel schlug vor, alle Juden umzubringen, falls die Rassentrennung nicht gelingen sollte. Der katholische Dogmatiker Karl Adam fand eine Übereinstimmung der Ziele des Christentums und des nationalsozialistischen Antisemitismus. Der Professor für Praktische Theologie, Karl Fezer, sagte: „Wer nicht erkennt, dass der Führer uns von Gott gegeben ist, ist entweder töricht oder bösen Willens“. Auch verbrecherische Forschung wurde in Tübingen betrieben. Konzentrationslager dienten als Versuchsquellen. Die geistige Elite der Universität hatte die Rassepolitik der Nazis mehrheitlich wissenschaftlich legitimiert.374

s. StwV. „Anatomie“

Der nach Schweden emigrierte jüdische Schriftsteller und Demokrat Kurt Tucholsky nannte im Sommer 1935 das Verhalten des Nobelpreisträgers Thomas Mann „skandalös“, weil dieser sich bisher öffentlich nicht eindeutig gegen das nationalsozialistische Regime ausgesprochen habe, das seine Bücher aus Schulen und Bibliotheken verbannt und als „undeutsch“ bezeichnet hatte. Tucholsky rechnete damit, dass Deutschland innerhalb weniger Jahre einen Krieg führen würde. In seinem letzten Brief an den nach Palästina ausgewanderten österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig schrieb er am 15. Dezember 1935: „Ich habe mit diesem Land (…) nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Russland erobern – ich bin damit fertig.“357 Am 20. Dezember 1935 nahm er sich das Leben.

Thomas Mann war 1933, gewarnt von seinen Kindern und seinem jüdischen Verleger Samuel Fischer, von einer Vortragsreise nicht mehr nach München zurückgekehrt. Ein Schutzhaftbefehl (s.u.) hätte ihn sonst „als Gegner der nationalen Bewegung und Anhänger der marxistischen Idee“ bei der Rückkehr ins KZ Dachau gebracht. Im Züricher Vorort Küsnacht fand die Familie ein neues Zuhause. Um niemand zu reizen, stellte Thomas Mann zunächst seine politischen und besonders die antifaschistischen Aktivitäten ein und vermied Interviews. Er wollte das schweizerische Gastland weder materiell noch politisch belasten, er wollte seine Ausbürgerung aus dem Deutschen Reich nicht provozieren und er wollte seinen Verleger nicht sitzen lassen. Das brachte sein Ansehen in eine Schieflage, denn vielen Emigranten - wie Kurt Tucholsky - war das Fernbleiben des Nobelpreisträgers als einziger Ausdruck des Protests gegen die Nazis zu wenig. Auch 1934 schaffte es Thomas Mann nicht, sich von Nazi-Deutschland und seinem Verleger zu lösen. Er hatte vergeblich gehofft, im Schnellverfahren die Schweizerische Staatsbürgerschaft zu bekommen.

In der NS-Zeit wurde nicht der Inhaftierte vor der Willkür des Staates geschützt, sondern der Staat sollte vor angeblichen Staatsfeinden geschützt werden. Die „Schutzhaft“ war eines der berüchtigsten Repressionsmittel des NS-Regimes. Missliebige oder durch Denunziation „auffällig“ gewordene Personen konnten durch die Geheime Staatspolizei (Gestapo) inhaftiert werden. Vollstreckt wurde die „Schutzhaft“ in Konzentrationslagern. Sie gilt als Sinnbild des zerstörten Rechtsstaates.

Der „Sicherheitsdienst“ der SS (SD) war der Nachrichtendienst der NSDAP und wurde zur Unterbindung der innerparteilichen Opposition geschaffen. Er stützte sich auf ein reichsweites Netz von Informanten und Denunzianten. Leiter war seit 1931 Reinhard Heydrich.

1936Reichsarbeitsdienst, Reichsparteitag, Militär

Zum 1. Januar 1936 veranlasste Hitler, dass nur noch Mitglieder der Hitlerjugend für die Beamten- Laufbahn zugelassen werden durften. Der Reichsjugendführer der NSDAP von Schirach proklamierte das Jahr 1936 zum „Jahr des Jungvolkes“ und forderte den Eintritt aller 10-bis 14-Jährigen in die Jugendorganisation der Partei.

Die Olympischen Spiele in Deutschland warfen ihre Schatten voraus: In Garmisch-Partenkirchen wurde am Neujahrstag 1936 die neue große Olympia-Schanze trotz des Schneemangels mit einem internationalen Skispringen eingeweiht. Die Spiele sollten der Welt ein fremdenfreundliches Deutschland demonstrieren.

2. Februar 1936

Wie schnell vergeht doch die Zeit! Neben allem vergesse ich ganz mein mir lieb gewordenes Tagebuch. Es ist jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, Sonntagabend ¾ 9 Uhr.

Gegenwärtig bin ich viel bei Mutter Luise und meinem heißgeliebten Schatz. Bei ihnen fühle ich mich geborgen und wohl und bei ihnen kann ich die Kraft schöpfen für den täglichen Lebenskampf. Was für ein wohliges Gefühl durchzieht mich, wenn Ruthle mir so sanft und weich meine Wangen streichelt. Ja sie ist noch jung, aber sie hat mir schon über viele schwere Stunden hinweggeholfen und ein Blick in ihre reinen, klaren Augen machen mich schon überglücklich.

Am 3. Februar 1936 erschien in der „Neuen Züricher Zeitung“ ein Brief von Thomas Mann, in dem u.a. der Satz stand: „Man ist nicht deutsch, indem man völkisch ist.“ Thomas Mann hatte sich mit seiner öffentlichen Absage an das Nazi-Regime und seiner Solidarisierung mit den Emigranten endgültig entschieden, nicht mehr nach München zurück zu kehren. Das schon erwartete Verfahren zur Aberkennung der Staatsbürgerschaft wurde eingeleitet, befürwortet vom deutschen Botschafter in Bern, Ernst von Weizsäcker. Begründung: Thomas Mann habe den Tatbestand „der feindseligen Propaganda gegen das Reich im Ausland“ erfüllt. Das Propagandaministerium bat aber darum, die Sache bis Ende August ruhen zu lassen – man wollte wohl keine negativen Schlagzeilen vor Ende der Olympischen Sommerspiele riskieren.5