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Christoph Daum hat den deutschen Fußball geprägt wie kein Zweiter. Er kam aus dem Nichts. Aber als er da war, fiel er schnell auf. Mit dem Dauerflackern in seinen weit aufgerissenen Augen. Mit seiner großen Klappe. Mit den Glasscherben, über die er seine Spieler laufen ließ. Oder durch seinen Dauerstreit mit seinem Lieblingsfeind Uli Hoeneß. Er war schon immer ein Grenzgänger und Provokateur. Aber er ist auch immer ein leidenschaftlicher Trainer und Mensch geblieben. Christoph Daum war ein Wahnsinniger, was seine Arbeit angeht. Er entwickelte sich zu einem der Besten seines Fachs, er gewann Meisterschaften und Pokale, er sollte Bundestrainer werden – und stürzte dann auf beispiellose Weise ab. Der größte Fehler seines Lebens verfolgte ihn bis zuletzt. Doch kaum jemand weiß, wie es dazu kommen konnte. Und kaum jemand weiß, woher er die Kraft nahm, wieder aufzustehen.
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Seitenzahl: 444
Veröffentlichungsjahr: 2020
Schwarz-weißes Porträt eines Mannes mit Schnurrbart, der ein weißes Hemd trägt. Deutscher Text: ‚DAUM IMMER AM LIMIT‘ und ‚MEIN AUFSTIEG, MEIN FALL - DIE GANZE GESCHICHTE MEINES LEBENS‘.
CHRISTOPH DAUM, geboren 1953 in Zwickau, gilt als eine der schillerndsten und streitbarsten Figuren im Fußballgeschäft. Als Trainer war er u.a. für den 1. FC Köln, den VfB Stuttgart, Bayer 04 Leverkusen, Beşiktaş Istanbul und Fenerbahçe SK sowie FK Austria Wien tätig, ehemalige Weltklasse-Spieler wie Michael Ballack oder Matthias Sammer bezeichnen ihn bis heute als wichtigsten Lehrer. Aber er machte sich nicht nur Freunde. Auf dem vorläufigen Höhepunkt seiner Karriere stürzte er im Jahr 2000 über die Kokain-Affäre, bis heute einer der größten Skandale im deutschen Fußball.Der Journalist NILS BASTEK, geboren 1987, hat Christoph Daums Geschichte aufgeschrieben. Er arbeitet seit 2015 für das Sport-Ressort der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Daum lernte er im Frühjahr 2016 kennen.
Er kam aus dem Nichts. Aber als er da war, fiel er schnell auf. Mit dem Dauerflackern in seinen weit aufgerissenen Augen. Mit seiner großen Klappe. Mit den Glasscherben, über die er seine Spieler laufen ließ. Oder durch seinen Dauerstreit mit seinem Lieblingsfeind Uli Hoeneß. Er war schon immer ein Grenzgänger und Provokateur. Aber er ist auch immer ein leidenschaftlicher Trainer und Mensch geblieben. Christoph Daum ist ein Wahnsinniger, was seine Arbeit angeht. Er entwickelte sich zu einem der Besten seines Fachs, er gewann Meisterschaften und Pokale, er sollte Bundestrainer werden – und stürzte dann auf beispiellose Weise ab. Der größte Fehler seines Lebens verfolgt ihn bis heute. Doch kaum jemand weiß, wie es dazu kommen konnte. Und kaum jemand weiß, woher er die Kraft nahm, wieder aufzustehen.
Christoph Daum
Mein Aufstieg, mein Fall - die ganze Geschichte meines Lebens
Ullstein
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ISBN 978-3-8437-2442-5© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlagfoto: imago images / Jan HübnerUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinAlle Rechte vorbehaltenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com
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Titelei
Der Autor / Das Buch
Titelseite
Impressum
Zitate
PROLOG
Am Ziel aller Träume
Villa Himmelseher, 2. Juli 2000
TEIL EINS: Aufstieg und Fall
Lizenz Nr. 1398
Der Weg in die Bundesliga
Ein Goldfisch unter Haien
1. FC Köln, 1986/87
Vom Däumling zum Daum
1. FC Köln, 1987/88
Auf dem Radar des FC Bayern München
1. FC Köln, 1988–90
Moët, MV und Meisterschale
VfB Stuttgart, 1990–92
Die Manege ist eröffnet
Beşiktaş Istanbul, 1994–96
Als Reiner Calmund (fast) auf meinem Schoß saß
Bayer 04 Leverkusen, 1996–98
Mein schwerstes Kapitel
Bayer 04 Leverkusen, 1998/99
Am Ende aller Träume
Wohnung von Roland Koch, Leverkusen, 21. Oktober 2000
TEIL ZWEI: Zurück ans Limit
Shit happens, Chris – so what?
Florida, 2000/01
Die Koblenzer Skandal-Show
Beşiktaş Istanbul, 2001/02
Kalaschnikows im Kofferraum
Austria Wien, 2002/03
Superstars und Dauerdruck
Fenerbahçe Istanbul, 2003–06
Habemus Daum
1. FC Köln, 2006–09
Heikle Angelegenheiten
Fenerbahçe Istanbul, Eintracht Frankfurt, 2009–11
Niemals am Limit
Was es bedeutet, Trainer zu sein
BILDTEIL
EPILOG
Ein unerwarteter Anruf
Köln, Anfang 2015
Danksagung
Zitate
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Zitate
»Christoph Daum vor einem Spiel zu treffen war immer eine Bereicherung: fachlich und emotional. Spätestens nach dem Gespräch war ich jedes Mal genauso Feuer und Flamme für das, was kommen sollte, wie er.«
Marcel Reif
»Dieses Buch beschreibt klug, kompetent und konsequent das faszinierende Leben von Christoph Daum. Um es ausnahmsweise kurz zu machen: Es ist alles drin.«
Reiner Calmund
»Man würde ihn als überzogen selbstbewussten Menschen wahrnehmen. Wenn man ihn nicht kennt.«
Michael Meier
»Er war sicher der wichtigste Trainer für mich.«
Michael Ballack
»Christoph Daum ernährt sich fast ausschließlich von Makkaroni – weil er so beim Essen durch die Löcher weiterreden kann.«
Max Merkel
»Es stört mich, dass im Zusammenhang mit Daum immer nur vom großen Motivator gesprochen wird. Wenn er nicht über außergewöhnliche Fähigkeiten auf anderen Gebieten verfügen würde, hätte er keine Chance gehabt.«
Matthias Sammer
»Bei Christoph war schon früh klar: In ihm lodert ein Vulkan, der ausbrechen musste.«
Michael Reschke
»Wenn du nur 1,50 Meter groß bist, sagt er dir, dass du in Wahrheit 1,80 Meter groß bist. Und du gehst raus und legst dich mit jedem an, weil du es einfach glaubst.«
Ulf Kirsten
»Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben.«
Max Frisch, Stiller
»Es hat mich schon immer gereizt, das Unmögliche zu wagen.«
.
Warum starren mich alle so fordernd an? Vor allem Uli Hoeneß, nicht gerade mein bester Freund, sieht gereizt aus. Ich blicke an diesem riesigen Tisch nur in furchtbar ernste Gesichter: Gerhard Mayer-Vorfelder, Wolfgang Niersbach, Horst R. Schmidt, Rudi Völler, Reiner Calmund, Karl-Heinz Rummenigge und eben Uli. Mir gefallen ihre Blicke nicht. Sie sehen aus, als hätte ich ihnen gerade erzählt, dass ich schwer krank bin. Ich merke, wie Uli seine Augen immer weiter zusammenkneift.
Dabei haben wir uns in der letzten Zeit nicht mehr öffentlich gefetzt. Er zieht sein Ding als Manager bei den Bayern durch, ich mache meinen Job als Trainer von Bayer 04 Leverkusen. Ohne großes Palaver. Natürlich hat Uli gemerkt, dass wir den Bayern gefährlich nahe gekommen sind, aber ich hielt meine Klappe. Ich gab in diesen Jahren nur wenige Sprüche ab, ich ließ Taten für mich sprechen. Trotzdem haben sie erneut die Schale gewonnen. Das tut immer noch verdammt weh, wenn ich daran denke, weil wir so nah dran waren wie nie zuvor. Wir hatten drei Punkte Vorsprung, und schon ein Unentschieden hätte für den Titel gereicht. Dann schoss Michael Ballack am letzten Spieltag in Unterhaching ein Eigentor, und das Unheil nahm seinen Lauf. Doch was zwischen Uli und mir war oder ist, spielt im Moment keine Rolle. Die deutsche Nationalmannschaft liegt am Boden. Jetzt geht es um ihre Zukunft. Die Bayern haben das gemeinsam mit dem DFB zur Chefsache gemacht. Und Uli ist wütend.
»Was soll das denn jetzt?!«, fragt er mit ernstem Blick in die Runde. Seine Laune wird immer schlechter. »Wir fahren von München den weiten Weg hierhin, und dann verliest der hier seine Absage?«
Der hier – das bin ich.
Auch Rummenigge ist irritiert. Er schaut mich an: »Was heißt das denn? Ist das endgültig?«
Die ganze Situation schmeckt mir überhaupt nicht. Was soll ich denn antworten? Ich habe noch ein Jahr Vertrag bei Bayer Leverkusen, und der Verein will mich nicht ziehen lassen. Warum sagt Reiner nicht endlich mal was? Er ist doch schließlich als Bayer-Manager hier, er ist doch derjenige, der mich nicht freigeben will! Ich fühle mich beschissen und würde den Raum am liebsten verlassen.
Wir sitzen alle um diesen riesigen Tisch. Ich weiß nicht, die wievielte Zigarette ich rauche, der Qualm zieht bereits in dünnen Schwaden an den holzvertäfelten Wänden entlang, obwohl Mayer-Vorfelder neben mir der Einzige am Tisch ist, der sich ebenfalls eine angesteckt hat. Ich fühle mich beobachtet. Von allen Seiten schauen sie auf mich. Nicht die anderen, die gerade wild miteinander diskutieren. Es sind die ausgestopften Tierköpfe: Hirsche, Widder und sonstige Jagdtrophäen, die an den Wänden hängen. Ihre toten Augen unter den teils gewaltigen Hörnern starren mich aus dem ganzen Raum an. Egal, wo ich hinschaue: Fast überall sind diese Schädel! Mein Blick wandert nervös durch den Raum. Glas gibt es nur in meinem Rücken, wo eine Fensterfront den Blick auf einen Garten und ein angrenzendes Waldgebiet freigibt. Mayer-Vorfelder hat diesen Ort in der Nähe von Köln ausgesucht, ich war noch nie vorher hier gewesen. Auf der Fahrt hatte Reiner von einer dicken Villa gesprochen. Das trifft es ziemlich gut. Der nächste Nachbar wohnt ein paar Hundert Meter entfernt, der gigantische Garten und der Wald schirmen das Anwesen von anderen Häusern ab. Offensichtlich hatten sogar einige Journalisten Schwierigkeiten, diesen abgeschiedenen Ort zu finden. Als Reiner und ich mit dem Auto das Schmiedeeisentor vor der Villa passierten, spürten uns nicht mal zehn von ihnen mit ihren Kameras und Fotoapparaten auf.
Das Haus nennt sich Villa Himmelseher, benannt nach dem Besitzer Erwin Himmelseher. Himmelseher kümmert sich seit etlichen Jahren bei großen Sportverbänden wie der FIFA oder dem DFB um die Versicherungen. Jetzt benötigt der DFB keine neue Hausrat- oder Unfallversicherung. Er braucht eine Überlebensversicherung: einen neuen Bundestrainer. Und eigentlich glaubten alle, dass ich es mache. Sogar Uli hat sich trotz unserer ganzen Vorgeschichte in den letzten Tagen für mich starkgemacht.
Er nimmt erst mal einen großen Schluck von seinem Wasser. Gerade eben habe ich die vorgefertigte Mitteilung von Bayer Leverkusen verlesen, später soll sie an die Presse gehen. Normalerweise brauche ich kein Blatt Papier mit vorgeschriebenem Text, um irgendetwas vorzutragen. Diesmal klammerten sich meine Finger daran. Die vom DFB und mir »gewünschte sofortige Freigabe für das Amt des Bundestrainers« werde »definitiv abgelehnt«, steht dort. Das ist natürlich ein Hammer.
Mittlerweile glaube ich selbst, dass es so am besten ist. Es ist völlig verrückt. Ich hatte mir nie etwas Größeres vorstellen können, als Bundestrainer zu werden. Ich war mir sicher, dass das die Chance meines Lebens ist, ein Traum, der in Erfüllung gehen sollte. Nicht mal zwei Wochen ist es her, dass sich die Nationalmannschaft mit einem 0:3 gegen eine portugiesische B-Elf aus der Europameisterschaft in den Niederlanden und Belgien verabschiedet hat – ohne einen einzigen Sieg in der Vorrunde. Ein solches Debakel hatte es bis dahin noch nie gegeben. Einen Tag nach der Pleite trat Erich Ribbeck als Bundestrainer zurück. Und ich bin als sein Nachfolger ausgewählt worden. Beckenbauer, Rummenigge, Hoeneß – alle sind für mich. Der ganze FC Bayern steht hinter Christoph Daum: Wenn mir das vor wenigen Wochen jemand so gesagt hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich an die nächste Klapsmühle verwiesen. Gefühlt gibt es seit Tagen in den Zeitungen kein anderes Thema mehr.
Trotzdem steht mein Entschluss fest: Ich werde es nicht machen. Und das fühlt sich alles in allem vernünftig an, glaube ich, wobei, tue ich das wirklich? Zumindest versuche ich mir das immer und immer wieder einzureden. Ist doch halb so wild, Christoph, du hast doch bereits einen tollen Job, oder? Mit Leverkusen spielen wir nächste Saison wieder in der Champions League, vielleicht klappt es endlich mal mit dem ersten Meistertitel. Ballack bleibt, Kirsten bleibt, Zé Roberto bleibt, und vielleicht bleibt sogar Emerson. Bundestrainer kann ich ja irgendwann später immer noch werden. Oder etwa nicht?
»Ha, ha, ha«, das typische Lachen von Mayer-Vorfelder bricht das Schweigen im Raum. »Das ist ja mal wieder ein klassischer Daum. Wenn eine sofortige Freigabe nicht möglich ist, dann sprechen wir jetzt also über den Zeitpunkt des Amtsantritts?«
Ich hasse es, nicht die Kontrolle zu haben. Als Trainer musst du sie immer haben, sonst ist das der Anfang deines Endes. Hier entgleitet sie mir. Ich habe das Gefühl, dass ich hin und her gezerrt werde. Ich habe doch gerade eine klare Absage verlesen, »definitiv« stand da, oder etwa nicht? Und jetzt soll ich trotzdem Bundestrainer werden, nur zu einem späteren Zeitpunkt? Ich komme mir wie der einsamste Rufer im Wald vor. Eigentlich geht das seit Tagen so.
Es fing bereits an, bevor die EM für die deutsche Mannschaft vorbei war. Schon nach dem zweiten Gruppenspiel lief es auf ein Desaster hinaus. Erst ein mageres 1:1 gegen Rumänien, dann ein 0:1 gegen England. Die Zeitungen schrieben, dass die Mannschaft zu alt, zu langsam und ohne jede Perspektive sei. Kurz vor dem Portugal-Spiel lud Mayer-Vorfelder mich ins deutsche EM-Quartier im holländischen Vaals in der Nähe von Aachen ein. Natürlich imponierte mir sein Interesse. Seit unserer gemeinsamen Zeit beim VfB Stuttgart ist MV, wie man ihn nennt, ein väterlicher Freund für mich. Und jetzt hatte er also mich dazu auserkoren, die Nationalmannschaft aus der größten Krise ihrer Geschichte zu führen. Ohne Risiko war der Job nicht, da konnte man sich als Trainer ganz schön die Finger verbrennen. Dennoch war ich in meinem Innersten der festen Überzeugung, dass ich es schaffen könnte. Gedanklich machte ich bereits die ersten Pläne, wie ich die Mannschaft umkrempeln würde, wie sich das Training ändern müsste, und so weiter. Irgendwann drehte sich alles immer schneller: Jeden Tag sprach sich ein neuer sogenannter Experte für mich aus. Doch es gab ein Problem: Bayer hatte von Anfang an klargemacht, dass sie mich nicht freigeben würden. Darum wurde dann über eine Doppelfunktion geredet, zumindest für ein Jahr, bis ich frei wäre. Ich fand die Idee gar nicht so schlecht.
»Alles Denkbare ist machbar«, habe ich gesagt. Ein typischer Daum-Spruch. Warum auch nicht? Mal ganz ehrlich: Wer würde sich für solch eine Chance nicht verbiegen? So was kommt nur einmal im Leben, redete ich mir ein. Außerdem wäre es ja nur für ein paar Monate. Aber je länger sich das alles hinzog, desto unwohler fühlte ich mich damit. Obwohl die Stimmen meiner prominenten Unterstützer immer lauter wurden. Die Bayern-Fraktion forderte mich immer deutlicher als Bundestrainer – und genauso deutlich lehnte Bayer meine Freigabe weiterhin kategorisch ab. Reiner wollte mich unbedingt für eine weitere Saison als Cheftrainer in Leverkusen halten.
Es herrschten chaotische Zustände. Erst sagte Beckenbauer, den Job in Doppelfunktion auszuführen, wäre totaler Schwachsinn, dann konnte er sich es auf einmal doch wieder vorstellen. Es war typisch Beckenbauer: Der Franz wechselte manchmal seine Meinung wie seine Socken.
Für die Medien waren das natürlich Festtage. Meine eigenen Zweifel wurden immer größer. Sollte ich wirklich beides gleichzeitig machen? Würde ich dann nicht zwischen den Stühlen sitzen? Du bist nicht richtig bei Bayer und nicht richtig beim DFB, dachte ich. Das konnte nur ungut ausgehen. Selbst ein Jahr auf den Job zu warten, also so lange, bis mein Vertrag in Leverkusen auslief, konnte gefährlich sein. Ich würde die ganze Zeit unter Beobachtung stehen, jeder noch so kleine Fehler würde mit der Lupe untersucht werden. Und wo keine Fehler wären, würden trotzdem welche gefunden werden. Da war ich mir sicher. Außerdem redete Reiner immer wieder auf mich ein. Das ist eigentlich nichts Besonderes, weil Reiner fast immer redet, wenn er nicht gerade isst. Anstatt mich zum DFB ziehen zu lassen, riet er mir mehr und mehr von der angedachten Doppelfunktion ab. Er wollte sogar meinen Vertrag in Leverkusen verlängern. Also fand ich mich irgendwann damit ab, Trainer bei Bayer zu bleiben. Besser, als ein Jahr lang auf der Herdplatte zu sitzen. So hatten Reiner und ich das alles kurz vor diesem Treffen hier besprochen. Du liest die Mitteilung vor, und dann wird sich das erledigt haben, meinte er.
Jetzt merke ich, wie sich alles dreht. Nichts hat sich erledigt. Alle reden immer lauter durcheinander. Plötzlich quatscht Reiner ohne Punkt und Komma davon, dass er mich schon immer für den besten Bundestrainer gehalten habe. Habe ich einen Hörfehler? Knickt er jetzt ein, weil plötzlich MV, Hoeneß und Rummenigge mit am Tisch sitzen? Alles, was Reiner und ich vorher geklärt haben, bricht gerade zusammen. Mir fehlen die Worte, und das kommt seltener vor als eine Sonnenfinsternis. Meine Augen wandern zwischen den einzelnen Köpfen hin und her: Reiner erzählt ein Anekdötchen, Uli grätscht dazwischen, dann sehe ich wieder diesen riesigen Widderschädel an der Wand – es ist Wahnsinn. Am liebsten würde ich aus dem Raum rennen: Vielen Dank für das Interesse an mir, vielleicht sieht man sich ja noch mal, tschüss! Aber ich scheine am Stuhl festzukleben. Niersbach schlägt jetzt vor, dass Bernd Schuster für das eine Jahr den Übergangstrainer machen könnte, also so lange, bis ich frei wäre. Das findet keinen Konsens. Schuster ist zwar gerade ohne Job, hat bisher aber kaum Erfahrungen als Trainer gesammelt. »Nicht nah genug am deutschen Fußball dran« … »keine Unterstützung in der Öffentlichkeit« … »zu jung«: Ich nehme nur noch einzelne Fetzen der Diskussion wahr. Das Ganze nimmt eine völlig unerwartete Wendung. Es ist gerade mal ein paar Minuten her, dass ich den Zettel mit der eindeutigen Absage verlesen habe. Habe ich etwa Finnisch geredet? Denn jetzt scheint allen plötzlich klar zu sein, dass ich im nächsten Jahr neuer Bundestrainer werde. Es geht inzwischen nur noch darum, jemanden für die Monate dazwischen zu finden.
»Was haltet ihr von Herbert Neumann?«, fragt nun Horst R. Schmidt. Er ist der Generalsekretär des DFB, Niersbach der Pressesprecher. Ihre Karrieren sind gewissermaßen ähnlich zu meiner verlaufen: Beide haben nicht besonders gut Fußball gespielt, trotzdem schafften sie es in den Spitzenbereich. Aber Herbert Neumann? Der hat als Spieler zwar immerhin ein Länderspiel vorzuweisen, seine Vita als Trainer liest sich jedoch alles andere als glorreich.
»Nein, der kommt nicht infrage«, wehrt Uli ab.
Das Seltsame ist, dass ich wirklich keinen Ton rausbringe. Ich erkenne alles, ihre aufgeregten Diskussionen, Ulis Grübelmiene, Reiners aufgeblasene Backen, Rudis wachsamen Blick und Rummenigge, der alles aufmerksam verfolgt. Und ich? Ich sage nicht, was ich gerade denke, und frage mich gleichzeitig, ob sich das überhaupt in Worte fassen ließe. Ich hatte mich doch eigentlich damit abgefunden, dass ich nicht Bundestrainer werde. Und eins ist klar: Es war alles andere als leicht, sich damit abzufinden. Aber so war es nun mal, und es geht mir ja nicht schlecht in Leverkusen. Reiner und ich hatten doch extra verabredet, dass er mich bei meiner Absage unterstützen würde! Jetzt erkenne ich ihn nicht wieder – und mich selbst noch viel weniger. Ich sitze stumm da und sage fast nichts, dabei bin ich alles andere als ein sprachloser Typ. Ich spüre ein Gefühl der Machtlosigkeit in mir aufsteigen. Man muss sich das mal vorstellen: Da sitzen die wichtigsten Leute des deutschen Fußballs und setzen alle Hoffnungen in dich als Bundestrainer. So groß sind diese Hoffnungen, dass sie bereit sind, ein Jahr lang auf dich zu warten. Wer hätte da widersprochen?
Also sitze ich hier und schweige. Ich komme mir vor wie ein Umfaller, und das bin ich eigentlich nicht. Ich versuche, so klar wie möglich zu denken. Du wolltest den Job doch von Anfang an haben, Christoph. Du bist genau der Richtige dafür. Alle stehen hinter dir und trauen es dir zu. Was willst du mehr? Trotzdem würde ich ein Jahr in der Warteschleife hängen. Verliere ich mal zwei Spiele nacheinander mit Leverkusen, würde es direkt Diskussionen geben: Ist Christoph Daum wirklich der richtige Bundestrainer? Sollte man nicht doch noch mal über Alternativen nachdenken? Und außerdem … ist das wirklich ein so großes Problem? Klar, Reiner und ich hatten vor diesem Treffen genau diese Bedenken. Aber nicht mal Reiner selbst redet jetzt noch davon. Was sind schon elf Monate unter dem Brennglas, wenn du die Unterstützung von Beckenbauer, Hoeneß, Rummenigge und MV hast?
»Du bist der Beste«, meint Reiner.
»Wir sind nur wegen dir hier«, sagt Rummenigge.
MV ist sowieso auf meiner Seite.
Und Rudi findet: »Es gibt keine bessere Lösung als dich.«
Es wären wirklich nur ein paar mickrige Monate, dann könnte ich die Nationalmannschaft in eine neue Ära führen. In meinem Kopf rast eine Achterbahn. All die Bedenken, dass das mit einem Jahr Überbrückung nur schlecht für mich ausgehen konnte, werden plötzlich von den Perspektiven überlagert, die sich mir eröffnen: Vielleicht könnten wir schon bei der Weltmeisterschaft 2002 wieder um den Titel mitspielen. Ich würde alles umkrempeln, junge Spieler einladen, mein eigenes Trainerteam aufbauen. Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir diese Perspektive. Jetzt braucht es nur noch jemanden, der ein Jahr lang den Posten für mich übernimmt. Noch immer diskutiert die Runde über alle möglichen Namen, ohne dass ein Konsens gefunden wird. Bis mir auf einmal ein Geistesblitz kommt.
»Rudi, was ist denn mit dir?«, sage ich. Alle schauen mich überrascht an. Ich habe schließlich eine gefühlte Ewigkeit nichts mehr gesagt. »Du bist Sportdirektor in Leverkusen, und wir hätten kurze Wege und könnten alles besprechen, was die Nationalmannschaft angeht. Es wären nur sechs Spiele, dann übernehme ich.«
Rudi sieht mich entgeistert an, so als hätte ich ihm gerade erzählt, dass er sich den Schnauzer abrasieren soll.
»Auf gar keinen Fall! Wenn ich das meiner Frau erzähle, dann schmeißt die mich raus!«
»Okay«, sagt Reiner. »Dann rufen wir die Sabrina einfach mal an und fragen nach.«
Tatsächlich wäre Rudi die Ideallösung. Nicht nur, weil ich ein absolutes Vertrauensverhältnis zu ihm habe. Er war einer der besten Stürmer, die Deutschland je hatte, Weltmeister 1990, Champions-League-Sieger mit Olympique Marseille 1993. Wegen seiner Dauerwelle wurde ihm während seiner aktiven Karriere der Spitzname Tante Käthe verpasst. Ganz Fußball-Deutschland kennt und liebt Rudi. Es hätte wohl kaum jemand etwas dagegen, wenn er das für ein Jahr machen würde. Rudi hat zwar noch nie als Trainer gearbeitet, er besitzt noch nicht mal einen Trainerschein, aber dann würde man ihm halt ein Jahr lang jemanden mit der Lizenz an die Seite stellen.
Mayer-Vorfelder unterstützt meinen Vorschlag vehement, die anderen scheinen auch einverstanden zu sein. Reiner, Rudi und ich verziehen uns für das Telefonat in den Garten. Reiner wählt schon Sabrinas Nummer. Er erklärt ihr die brisante Situation, in der sich der deutsche Fußball befindet. Nur ein Jahr müsse der Rudi das machen, er sei der Tollste, der Schönste und sowieso die beste Lösung für alle Beteiligten. Ohne Punkt und Komma überrollt er Sabrina mit seinen Argumenten, typisch Reiner, er redet und redet, Sabrina kommt kaum zu Wort.
»In Gottes Namen«, unterbricht sie ihn schließlich so laut, dass wir fast jedes Wort hören können. »Wenn das so ist, dann soll er es eben für ein Jahr machen. Aber länger nicht!«
Ich sehe ein paar Schweißperlen auf Rudis Stirn, und ich kann mir verdammt gut vorstellen, wie er sich gerade fühlt. So sieht man offenbar aus, wenn andere in deinem Namen entscheiden. Die Sache ist eingetütet.
Als wir schließlich die Villa verlassen, kommen wir an einem Eisbären vorbei. Zum Teufel, steht da wirklich ein Eisbär?! Ich zucke kurz zusammen, tatsächlich, das riesige Vieh steht im Flur – noch so eine Trophäe von Himmelseher, der wohl gerne auf Großwildjagd geht, um von seinem Job als Versicherungskaufmann abzuschalten. Der gewaltige Eisbär sieht aus, als würde er mich gleich auffressen wollen. Er steht nur auf seinen Hinterbeinen und hat die Vorderpfoten zum Angriff bereit in die Luft gestreckt, das Maul weit aufgerissen. Er ist über zwei Meter groß. Ich mache einen Bogen um das mächtige Tier und schaue es fast schon ehrfürchtig an. Dass er da wirklich steht, ist so sicher wie der Entschluss, den wir an diesem seltsamen Ort gefasst haben. Die Stimmung auf dem kurzen Weg zu unseren Autos ist gelöst, sogar Uli sieht entspannt aus, vielleicht ist es einfach die Erleichterung, dass eine Entscheidung getroffen wurde. Gleich soll die Öffentlichkeit erfahren, worauf wir uns hier geeinigt haben: Rudi Völler wird bis zum 31. Mai 2001 Interims-Bundestrainer, danach übernehme ich. Im Müngersdorfer Stadion in Köln ist eine Pressekonferenz angesetzt, und schon auf dem Gang zum Medienraum werden wir von mehreren Kamerateams empfangen. Der Raum platzt aus allen Nähten. Die Journalisten, die keinen Sitzplatz mehr bekommen haben, hocken einfach auf dem Boden.
Ich muss innerlich schmunzeln, als Rudi sagt: »Ja, ich gebe zu, dass ich vor dem Gespräch nicht damit gerechnet habe.«
Geht dir nicht alleine so, denke ich. Rudi sitzt auf dem Podium rechts neben mir, links von mir sind MV, Rummenigge und Niersbach, der die Veranstaltung moderiert. Wir blicken in etliche Kameras und aufgeregte Journalistengesichter. Ich kann mir vorstellen, was die meisten denken: Der Daum ist am Ziel seiner Träume, bald wird er Bundestrainer sein, er wollte doch nie was anderes. Natürlich ist das auf eine Art und Weise richtig. Andererseits ahnt hier niemand, dass ich erst vor ein paar Stunden auf unserem Geheimtreffen meine unmissverständliche Absage verlesen habe …
Die Zweifel bleiben noch immer. Ich will diesen Job, das ist klar. Ich bin genau der Richtige, davon bin ich überzeugt. Aber was passiert in diesem einen Jahr, in dem ich darauf warten muss, das Ruder zu übernehmen? Was ist, wenn Rudi außergewöhnlich erfolgreich ist? Oder wenn der Erfolg in Leverkusen ausbleibt? Will man mich dann überhaupt noch? Und kann ich mir der Unterstützung der Bayern wirklich sicher sein? Die Auslöser der Kameras klackern wie verrückt, als ich den Raum wieder verlasse. Elf Monate sind eine lange Zeit, um auf die Erfüllung eines Traums zu warten.
Auszug aus dem DFB-Protokoll über das Treffen in der Villa Himmelseher.
Mutter weckte mich mitten in der Nacht. Sie hielt den Zeigefinger vor ihren Mund, ich durfte keinen Ton sagen. Im Bett gegenüber schlief mein Bruder Eberhard, vor allem aber durfte Vater nicht aufwachen. In etwas mehr als zwei Stunden würde seine Schicht als Umwalzer im Kabelwerk beginnen, ein knallharter Job, für den er seinen Schlaf benötigte. Mutter und ich schlichen auf Zehenspitzen in unser Wohnzimmer. Trotz der ungewöhnlichen Uhrzeit war ich hellwach. Ich fragte mich, ob er wirklich so gut war, wie es seine große Klappe vermuten ließ? Immer wieder hatte ich von seinen Sprüchen in den Zeitungen gelesen, dass er sich für den Größten hielt und so weiter, jetzt würde ich ihn das erste Mal live erleben. Während ich voller Spannung in meinem Schlafanzug auf dem Sofa wartete, ging Mutter in die Küche und brachte mir einen heißen Kakao und ein Butterbrot mit etwas Salz, mein Lieblingsfrühstück. Dann stellte sie endlich den Fernseher an. Ganz leise, damit niemand etwas hörte. Anschließend tappte sie im Halbdunklen zurück ins Bett.
Nur das Schwarz-Weiß-Bild des Fernsehers spendete etwas Licht, draußen war es noch stockfinster. Als er das erste Mal im Bild auftauchte, war ich total überrascht: Das sollte Muhammad Ali sein? Das war der Kerl, der sich selbst als »der Größte der Welt«, »der Größte aller Zeiten« bezeichnete? So sah ein Großmaul aus? Ich hatte mir Ali größer, breiter und gröber vorgestellt, so wie Großmäuler in meinen Augen halt aussahen. Stattdessen sah ich einen grazilen Boxer – und wie er tänzelte! Es war Alis zweiter Kampf gegen Sonny Liston, ein Ex-Knacki mit brutalem Schlag, und Ali tanzte einfach die ganze Zeit um Liston herum. Anstatt zuzuschlagen, wich er aus, anstatt draufzugehen, wartete er ab. Ich schaute mit offenem Mund zu. Und dann, wie aus dem Nichts, erwischte Ali Liston mit der rechten Faust an der Schläfe. Ich wollte gerade den ersten Schluck vom Kakao nehmen, als Liston zu Boden ging. Er wirkte völlig benommen. Nach nicht mal zwei Minuten war der Kampf vorbei. Ich konnte es nicht glauben: Das war’s jetzt? Ich war mitten in der Nacht aufgestanden, um einen Boxkampf zu sehen, stattdessen zeigte das Fernsehen eine Machtdemonstration. Ich war fasziniert, und vor allem war ich sauer. Was sollte ich denn jetzt mit der restlichen Zeit anfangen, bis ich in die Schule musste? Was für ein Scheiß. Es war Mai 1965, ich war elf Jahre alt.
Auf der Straße tänzelte niemand wie Ali.
Wir wohnten damals in einer 60-Quadratmeter-Wohnung in Duisburg-Beeck, direkt gegenüber vom Friedhof: Vater, Mutter, mein Bruder Eberhard, unser Stiefbruder Ralf und ich. Kurz darauf zogen wir ein paar Kilometer weiter in eine Doppelhaushälfte nach Beeckerwerth, Koblenzer Ring 6. Es gab dort mehr Platz und sogar einen kleinen Garten, die Umgebung blieb die gleiche. Um uns herum dampften die Hochöfen der Stahlkocher, wo die Väter meiner Freunde arbeiteten. Es herrschte ein raues Klima. Wer nicht aufpasste, hatte eine sitzen. Unsere größten Rivalen nannten wir Barackis, weil sie in hölzernen Behelfswohnungen direkt an der Emscher wohnten. Die Barackis waren hauptsächlich Flüchtlinge aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Unter ihnen waren auch Nachfahren der sogenannten Ruhrpolen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts in den Pott gekommen waren, um als Bergleute oder Hüttenknechte zu arbeiten. Niemand hier achtete sie, man erzählte sich keine guten Geschichten über die Barackis. In Duisburg wimmelte es von ihnen, und wenn wir uns draußen begegneten, ging es zur Sache. Das waren grobe Jungs, mehr Liston als Ali. Genau wie Eberhard, er ist nur knapp eineinhalb Jahre älter als ich, aber schon damals war er ein echter Schrank. Ich dagegen war ein schmächtiger Kerl mit dünnen Armen, keiner, der mit erhobener Faust in die Schlacht stürmte. Den Respekt meiner Freunde verdiente ich mir, als ich anfing, mich um die Strategie zu kümmern. Manchmal brüllte ich die Barackis aus der Ferne an, um sie zu provozieren. Wenn sie dann auf mich zustürmten, konnten meine Kumpels von der Seite über sie herfallen. Ich bin nicht stolz darauf, doch so lief es damals, und die Barackis waren auch nicht gerade zimperlich. Die Lage auszuspähen oder die Fluchtwege zu erarbeiten für den Fall, dass wir den Kürzeren zogen, gehörte zu meinen Stärken. Schneller als die anderen war ich ohnehin. Probleme bekam ich nur, wenn ich den Barackis alleine begegnete.
Einmal schickte mich Vater nach einer seiner langen Schichten zum Bierholen. Als ich wieder auf dem Heimweg war, klapperten die Pullen in meinem kleinen Beutel. Plötzlich standen zwei Barackis vor mir. Von den drei Flaschen ließen sie mir eine, die anderen beiden kippten sie sich vor meinen Augen rein. Hätte ich nur ein Wort gesagt, ich wäre verdroschen worden. Doch Mitleid brauchte ich zu Hause nicht zu erwarten. Es machte keinen Sinn, herumzuheulen, wenn mein Vater nach zehn Stunden Arbeit nur ein Pils bekam. Er schuftete jeden Tag für die Familie, und wenn er zurückkam, arbeitete er am Haus oder an seinem Auto weiter. Meistens halfen Eberhard und ich dann mit. Ich lernte zu hämmern, zu schrauben, zu mauern und zu schweißen, und es war erst Feierabend, wenn die Dinge fertig waren oder die Sonne unterging. Ich vermute, dass der Grundstein für meine spätere Arbeitswut hier gelegt wurde. Wir wuchsen mit Sprüchen auf wie »Ohne Fleiß kein Preis«, fast jeden Tag bekamen wir sie zu hören. Nur Mitgefühl bekamen wir selten. Wenn ich mit einem blauen Auge, einer schlechten Note oder eben nur einer Flasche Bier nach Hause kam, gab es Ärger oder Prügel, und nicht etwa die Frage: Oh Gott, wie konnte das denn passieren, mein Kleiner?
Vater konnte auch ganz anders. Sonntagmorgens fuhren wir manchmal auf einen Minigolfplatz in Homberg. Dann fühlte ich mich wohl an seiner Seite. Später kam er gerne mit zu meinen Fußballspielen und klatschte sogar kurz, wenn ich ein Tor schoss. Ab und an tauchte mein Name in den kleinen Spalten im Sportteil der Lokalzeitungen auf. Es gab für mich nichts Größeres, als ihn dort zu entdecken. »Vatter, schau mal, ich steh schon wieder drin!«, sagte ich dann. Manchmal nickte er anerkennend. Einige Artikel habe ich bis heute aufbewahrt.
Mein Büro in Köln ist voll mit Aktenordnern. Während meiner gesamten Trainerkarriere habe ich fast jede Besprechung mit meinen Mitarbeitern, Spielern, die Aufstellungen bei unseren Spielen und alle möglichen Trainingspläne notiert und aufbewahrt. Ich habe sogar mal einen Rentner beauftragt, Presseartikel und TV-Berichte über mich seit 1986 zusammenzutragen. Ich schreibe heute noch immer alles auf, selbst wenn es nur Inhalte banaler Gespräche sind. Das Aufschreiben gibt mir Sicherheit und lässt mich reflektieren. Außerdem kann ich damit später überprüfen, was wirklich gesagt wurde. Eins steht jedenfalls fest: Im Fußballgeschäft wird viel erzählt, wenn der Tag lang ist. Darum hat mir diese Schriftlichkeit schon häufig den Arsch gerettet.
Ich glaube, diese Akribie hat mit meiner Kindheit zu tun. In den Ferien fuhren Eberhard und ich oft zu unseren Großeltern in den Osten. Tante Hilde, die Schwester meiner Großmutter, hatte dort in dem Örtchen Lichtenstein ein Haushaltswarengeschäft, in dem ich ab und zu aushelfen durfte. Ich weiß nicht warum, aber es hat mich begeistert, dort mit zu bedienen oder im Lager zu stöbern. Für mich war das wie ein Spielparadies. Außerdem bewahrte Hilde immer alles auf, jeden Bon, jede Rechnung, und alles, was sie bestellte oder plante, schrieb sie in ein großes Buch. »Sonst verliere ich doch den Überblick«, meinte sie. Vor Weihnachten gab es immer die große Inventur. Jede Schraube wurde einzeln notiert, und das imponierte mir, so konnte man ja nichts mehr vergessen!
Mein Vater hieß Günter, und eigentlich war er gar nicht mein Vater. Meinen leiblichen Vater hatte ich nur kurz erlebt. Ich wurde in Zwickau geboren, und als ich drei Jahre alt war, zog er in die Nähe meines Onkels ins Ruhrgebiet, wo er anfing, unter Tage zu arbeiten. Kurz darauf ging meine Mutter mit Eberhard hinterher, ich dagegen blieb zunächst bei meinen Großeltern im Osten im beschaulichen Erzgebirge. Eines Tages erzählte mir Großmutter, dass mein Vater gestorben sei. Ein einstürzendes Flöz hatte ihm bei der Arbeit das Rückgrat zertrümmert. Ich weiß nicht mehr, was genau ich in diesem Moment fühlte, ich hatte ihn ja kaum gekannt. Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter mich zu Eberhard und sich ins Ruhrgebiet holte. Kurz darauf lernte sie Günter kennen, dann dauerte es nicht lange, bis mein Halbbruder Ralf geboren wurde.
Ich musste lernen, mich zu behaupten. Mutter und Vater hatten nicht groß Zeit, sich mit meinen Problemen zu beschäftigen. In der Schule kam ich gut zurecht, obwohl die anderen Kinder mich am Anfang auslachten, als sie meinen Ossi-Akzent hörten. Ich war nicht der Typ, der sie daraufhin anschrie, aber es brodelte in mir, und ich reagierte auf meine Art: Ich hockte mich stundenlang auf mein Zimmer und versuchte, mir den Klang des Potts anzueignen. Zum Glück hatte ich Eberhard, der mir half. Er war mein Bruder, mein bester Freund und mein Beschützer. Wenn die Barackis oder Vater es wagten, zu grob zu werden, stellte er sich mit seiner mächtigen Statur dazwischen. In seiner Umgebung fühlte ich mich trotz meiner mickrigen Erscheinung stark und sicher.
Eberhard war mein ganzes Leben lang immer für mich da, besonders wenn es mir dreckig ging. Er hat nie an mir gezweifelt. In seinem Schatten konnte ich wachsen. Obwohl er eigentlich das genaue Gegenteil von mir ist. Er ist nicht so impulsiv und schlagfertig, eher ein zurückhaltender Familienmensch. Er hat seine Kinder ziemlich streng erzogen, sie sollten nicht mal Werbung für Süßigkeiten gucken. Eberhard ist Pädagoge, vermutlich hat er solche Sachen im Studium gelernt, heute lachen wir darüber. Auf Eberhard war immer Verlass.
Er half mir besonders bei einer anderen Angelegenheit. Ich war mittlerweile auf dem Gymnasium und kam dort ganz gut zurecht. Nur mit den Mädchen lief nichts. Ich hatte kurz vor dem Abitur immer noch keine feste Freundin, machte mir deswegen aber keine großen Gedanken. Ich war eher ein schüchterner Typ, was Mädchen anging. Natürlich schaute ich ihnen hinterher, zu mehr reichte es erst mal nicht. An einem Abend im Sommer 1970 sollte es dann so weit sein, wie Eberhard meinte. Er schleppte mich in die Diskothek Hawaii 2000 in Duisburg-Homberg. Der Laden galt damals als der Renner. »Da sind genügend Mädchen«, meinte Eberhard. »Du musst nur mit ihnen tanzen.«
Die Tanzfläche war bereits voll, als wir ankamen, es liefen immer drei, vier Lieder, dann wurde eine Pause gemacht, damit die Leute was tranken. Ich selbst war nie ein großer Trinker. Selbst bei meiner ersten Meisterschaft mit dem VfB Stuttgart 1992 schoss ich mich nicht völlig ab. Eberhard wurde schon ungeduldig, als ich nach der zweiten Pause immer noch kein Mädchen zum Tanz aufgefordert hatte. Ich weiß nicht mehr, ob ich es schließlich aus eigenem Antrieb tat oder nur, weil er mich nervte. Jedenfalls entdeckte ich Ursula, und ich weiß heute noch, wie sie mir in der Masse auffiel. Es waren ihre großen Augen. Solche Augen hatte ich noch nie gesehen, und sie zogen mich an. Aber was sollte ich sie denn fragen? Mit wackligen Beinen ging ich auf sie zu. Was, wenn sie Nein sagen würde? Sie war mit einer Freundin da, eine Absage könnte ganz schön peinlich werden. Außerdem sah ich aus wie ein Volltrottel: Ich trug Anzug und Krawatte, und das in einer Disco! Niemand außer mir rannte hier so herum, was wusste ich denn schon über Discos. Trotzdem sagte sie Ja, und wir tanzten ein paar Lieder zusammen. Später brachten wir Ursula und ihre Freundin noch mit Eberhards Auto nach Hause. »Sehen wir uns wieder?«, fragte Ursula zum Abschied.
Ich werde oft gefragt, wieso ich Trainer geworden bin. Das war nie mein Ziel. Eigentlich wollte ich Fußballprofi werden. Nach dem Abitur hatte ich begonnen, an der Sporthochschule in Köln zu studieren. Ich wohnte gemeinsam mit Ursula in einem riesigen Studentenwohnheim im Carl-Diem-Weg. Sie nannten diesen Betonklotz den Turm, weil er fünfundzwanzig Stockwerke hatte. Von dort hatte man einen perfekten Blick auf die Müngersdorfer Radrennbahn. Da unten auf dem Rasen spielte damals die Bundesligamannschaft vom 1. FC Köln, weil sich das Müngersdorfer Stadion im Umbau befand. Von meinem Balkon in der 17. Etage sah ich Wolfgang Overath, und während ich seine elegante Spielweise verfolgte, stellte ich mir vor, wie das wohl wäre: mit ihm da unten zu spielen.
Es war Eberhard, der mich zum Fußball gebracht hatte. Ich war ungefähr zehn, als er mich zum Training bei DJK Viktoria Beeck mitnahm. Wie fast überall im Ruhrgebiet wurde dort auf Asche trainiert, die jedoch nicht rot, sondern schwarz war. Wir spielten auf Hochofenschlacke, und die kleinen Schlackestücke waren so scharf, dass sie sich wie Glassplitter in die Haut bohrten. Erst als ich ein paar Jahre später zum VfvB Ruhrort-Laar wechselte, spielte ich auf roter Asche. Sie galt als Luxus und fühlte sich so weich an, dass wir sie roter Rasen nannten. Ich merkte schnell, dass ich Talent hatte. Ich sah es an den Blicken der anderen. Ich führte den Ball schneller als meine Mitspieler, und wenn sie im Training gerade zum Zweikampf ansetzen wollten, war ich längst vorbei. Der Fußball verschaffte mir Anerkennung, ich fühlte mich glücklich, wenn ich den Ball am Fuß hatte. Bis zur C-Jugend war ich Mittelstürmer, in einem Meisterschaftsspiel schoss ich sogar mal neun Tore. Dies weckte das Interesse von Hamborn 07, ein Club mit großer Geschichte im deutschen Fußball.
Später schulte man mich zum Verteidiger um, und es dauerte nicht lange, bis sich rumgesprochen hatte, dass auf den Sportplätzen des Ruhrgebiets ein Terrier namens Christoph Daum unterwegs war. Ich spielte für Eintracht Duisburg in der Verbandsliga. Zwar galt ich nicht als filigranes Jahrhunderttalent, dafür hing ich wie eine Klette an meinen Gegenspielern. Ich muss ihnen ziemlich auf den Geist gegangen sein. Mein Name tauchte immer öfter in den Zeitungen auf, und im Sommer 1975 meldete sich tatsächlich Bayer 04 Leverkusen und wollte mich verpflichten. Ich war sofort überzeugt, dass das mein Durchbruch in den Profifußball werden würde. Der Club war gerade in die Zweite Bundesliga aufgestiegen, und ein bissiger Verteidiger fehlte ihnen noch. Sie luden mich zum Probetraining ein, und ich war so euphorisch, dass ich mich bei der Eintracht direkt abmeldete. Ich schlug mich gut und stellte ihren besten Stürmer kalt, trotzdem sagten sie mir kurze Zeit später ab und verpflichteten Walter Posner von Borussia Mönchengladbach. Mich wollten sie nur noch für ihre Zweite Mannschaft haben, und da kochte ich vor Wut, weil Bayers Ersatzteam noch eine Klasse tiefer als die Eintracht spielte. Diese krumme Tour traf mich mitten ins Herz! Was für Idioten! Mit diesem Club wollte ich nie wieder etwas zu tun haben.
Ich fühlte mich hintergangen, und in meiner Verzweiflung wandte ich mich an Gero Bisanz. Er war an der Sporthochschule mein Dozent im Sonderfach Fußball, und da er mich dort oft hatte spielen sehen, wusste er, was ich konnte. Ich mochte ihn. Er strahlte etwas aus, was ich heute natürliche Autorität nennen würde. Außerdem trainierte er die Amateure des 1. FC Köln, die in der Verbandsliga spielten. Sie waren mein letzter Ausweg. Ich sagte ihm nicht, dass ich heimlich hoffte, den Sprung zu Overath ins Bundesligateam zu schaffen, das spielte in diesem Moment keine Rolle. Gero überlegte nicht lange und verpflichtete mich. Ich fühlte mich erleichtert, und gleichzeitig träumte ich von Tschik Cajkovski, dem Trainer der Bundesligamannschaft. Ob er wohl auf mich aufmerksam werden würde?
Herr Bisanz, wie ich ihn damals noch nannte, war nicht besonders groß, was er durch seine Souveränität jedoch ausglich. Wenn Gero einen Raum betrat, wurde es sofort still. Nicht weil man Angst, sondern weil man Respekt vor ihm hatte. Niemand muckte ihm gegenüber auf. Wenn Gero redete, vergaß ich alles andere, ich hing an seinen Lippen. Was der alles über Fußball wusste! Und er wurde nie unfreundlich. Selbst wenn ich ein grottenschlechtes Spiel bei den Amateuren des FC machte, drehte er nicht durch. Wenn er mich doch mal kritisierte, hörte sich das in etwa so an: »Christoph, du hast ein gutes Spiel gemacht. Aber musste es sein, dass dein Gegenspieler vier Tore schießt?« Ich selbst tobte innerlich nach solchen Spielen, Gero blieb immer gelassen. Nach ein paar Monaten ließ er mich mal ein paar Übungen bei den Amateuren leiten. Ich hielt es zunächst für keine gute Idee, plötzlich auf Trainer zu machen. Was würden meine Mitspieler denken? Gero sah, dass ich mich unwohl fühlte, doch sein Vertrauen gab mir Sicherheit. Es machte mir eine diebische Freude, wenn eine Übung funktionierte, und von meinen Mitspielern gab es keine dummen Bemerkungen. Sie begriffen schnell, dass ich trotz allem keine Sonderrolle bekam. In den Spielen setzte Gero mich hin und wieder auf die Bank, um seine Objektivität zu unterstreichen. Von Cajkovski oder seinem Nachfolger Hennes Weisweiler habe ich nie etwas gehört.
Stattdessen empfahl Gero mich dem FC als E-Jugendtrainer, damit ich erste Trainererfahrungen sammeln konnte. Ich musste nicht lange überlegen, schließlich gab es für den Job eine Traumgage von 150 Mark pro Monat. Ich hielt das für ziemlich viel Geld, auch wenn es schnell wieder weg war, wenn ich meine Kleinsten nach einem Spiel auf ein Eis einlud.
Bei einer meiner ersten Trainingseinheiten schickte ich die Kinder auf eine Schnitzeljagd in den Wald am Trainingsgelände. Ich hatte eine Schatztruhe versteckt, und die Kleinen strahlten vor Freude, als ich ihnen davon erzählte. Sie waren begeistert und fingen sofort an zu suchen. Aber es gab einige Eltern, die Stunk machten. Der Vater eines Spielers baute sich mit verschränkten Armen vor mir auf. »Mein Kind soll Fußballer werden, nicht Förster!«, meinte er. Im Nachwuchsbereich brachten die Eltern ihre Jungs zum FC, damit sie eineinhalb Stunden fußballerisch gedrillt werden. Entsprechend war die Haltung. Einige Eltern beobachteten regelmäßig das Training. Bei den Spielen schrien sie wie die Irren und kommentierten fast alles. Andere beschwerten sich sogar mal beim Jugendleiter über mein Training. Das stachelte mich nur weiter an. Ich ging neue Wege und stellte mir früh die Frage, wie sich aus diesen kleinen Energiebündeln eine Einheit formen ließe. Ich bereitete jede Übung akribisch vor und erzählte den Kindern, wie sie sich auf die Spiele vorzubereiten hätten: Sie sollten trockenen Kuchen essen. »Da haben Sie meinem Jungen vielleicht einen Floh ins Ohr gesetzt«, sagte eine Mutter. »Ich muss jetzt jeden Samstag backen!« Kohlenhydrate waren im Fußball wichtig, so hatte ich es gelernt.
Ich beobachtete, wie sich die Spielweise der Kinder veränderte, und wenn einer der Jungs kurz vor dem gegnerischen Tor den Ball zum besser postierten Mitspieler passte, anstatt selbst zu schießen, waren das große Momente für mich. Ich steigerte mich in die Aufgabe immer mehr hinein. In gewisser Hinsicht rebellierte ich, wenn auch nur in meinem Inneren. Ich wollte mich als Trainer von den anderen Übungsleitern unterscheiden, doch wie sollte das funktionieren, wenn wir an der Hochschule alle das Gleiche lernten? Ich fing an, mich in Psychologie-Vorlesungen zu setzen und Bücher zum menschlichen Verhalten zu lesen. Ich fragte mich, wie der Mensch auf seiner emotionalen Ebene tickt, weil ich daran glaubte, dass dieser Bereich im Fußball eine unheimlich wichtige Rolle spielt. Vielleicht hätte ich es ja sogar zum Profi geschafft, wenn meine Trainer mich richtig motiviert hätten? Je mehr ich las, desto mehr verglich ich den Fußball mit einem Hochleistungsmotor. Da kannst du den Motorblock erweitern, kannst einen anderen Vergaser einbauen oder die beste Hochleistungszündspule, du kannst so viele Dinge einbauen, um danach eine super Maschine zu haben. Aber wenn es dir nicht gelingt, dass der Zündfunke zum richtigen Zeitpunkt überspringt, kannst du alles vergessen.