Immer kam was dazwischen - Lutz Gutgesell - E-Book

Immer kam was dazwischen E-Book

Lutz Gutgesell

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Beschreibung

"Wenn wir schon über Geschichte reden, dann doch bitte über die ganze." Als die Wende kam und die DDR 1990 aufhörte zu existieren, entflammte sie in den Menschen die Hoffnung auf Freiheit und ein besseres Leben. Dabei wird allzu häufig übersehen, dass es auch in der DDR ein lebenswertes Leben gab. Im Nachhinein wurde viel geschrieben, viel diskutiert. Die DDR wurde entweder auf Helden- oder auf Stasigeschichten reduziert. Entweder dafür oder dagegen. Dazwischen nichts. Und das ist falsch. Lutz Gutgesell gehört zu den Menschen, die ein Leben in zwei Ländern führten und führen. Eggesin in Mecklenburg-Vorpommern, seine Heimat seit 1977, wurde voll erfasst vom Umbruch. Von einer Staatsform in die nächste, ohne Vorbereitung. Hineingeworfen in ein Leben, das die alten Lebensentwürfe wegfegte, in dem neue erst gefunden werden mussten. Dieses Buch ist alles andere als ein wehmütiger Rückblick. Es sind Geschichten, die das Leben bereithielt, in dem nicht immer alles glatt lief und in dem immer mal wieder etwas dazwischenkam. Es macht Mut, es gibt zu denken, aber vor allem zeigt es, dass es auch nach Rückschlägen immer weitergeht.

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Für

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„Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen,

die ich nicht ändern kann;

gib mir den Mut, die Dinge zu ändern,

die ich ändern kann;

gib mir die Weisheit,

beides voneinander zu unterscheiden.“

Reinhold Niebuhr

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Vorwort

Mein Name ist Lutz Gutgesell. Wohlbehütet aufgewachsen im sozialistischen Teil einer gespaltenen Nation. Somit bin ich das Produkt meines Landes und meiner Zeit und trug in den Lebensphasen für die Gestaltung meiner persönlichen Zukunft den Wertvorstellungen meiner Eltern Rechnung.

Heute gibt es dieses Land nicht mehr, aber deren Menschen. Mein gesamtes Wirken und Schaffen hat seinen Ursprung in meiner Erziehung, in meiner Bildung, in meinen Überzeugungen und all dem, was ich über das Leben und die unterschiedlichen Gesellschaften gelernt habe. Ich stellte mich bewusst den Anforderungen der Zeit. Seit Längerem versuche ich, dies aufzuschreiben, um in Form eines Buches Einblicke in eine außergewöhnliche Zeit meines Lebens zu gewähren. Das ist schwierig, da ich auf der Ebene der persönlichen Erinnerungen nicht die Geschichte abbilden kann. Es ist eine Annäherung, eine Reflexion erlebter Augenblicke. Mein Leben spielt in zwei Ländern. In einem begann es, in einem anderen wird es enden. In keinem Kapitel hatte ich genug Raum, um über all das zu sprechen, was mir am Herzen lag. Wenn ich also meine „gelebte(n) Geschichte(n)“ erzähle, ist es notwendig, mein Leben ganzheitlich zu betrachten. Mein Leben „davor“ ließ mich hohe Hürden überspringen, in dem Leben „danach“ – in einem völlig anderen Gesellschaftssystem – wurden meine politischen Ideen, meine Grundhaltungen und meine Ehe auf harte Proben gestellt. Ich schlug Schlachten, die ich gewann, und Schlachten, die ich verlor.

Dieses Buch erzählt somit Geschichten, in denen ich Glück und Unglück zu gleichen Teilen erleben durfte. Diese Geschichten habe ich nun niedergeschrieben. Warum?

Es gibt vier Gründe.

Erstens: Niemals führte ich ein Tagebuch, teils aus Zeitmangel, aber gewiss auch, weil die Einsicht zu spät kam, dass es wichtig ist – vor allem für spätere Generationen–, normale und ungewöhnliche Erlebnisse in der Form eines Buches festzuhalten. Nicht wenige Bücher der Gegenwart haben die Handschrift von Opfern, denen in der ehemaligen DDR Unrecht widerfahren ist. Das empfinde ich als schlimm und durch nichts zu entschuldigen. Viele schreiben Dinge nieder, die ihnen passiert sind, um ihre Vergangenheit zu bewältigen, um nichts zu beschönigen, wenn es Unrecht war, und um nichts in Vergessenheit geraten zu lassen. Das ist gut so. Dennoch gab es damals auch positive Erlebnisse und Ereignisse, Lebenssituationen und Lebensumstände, derer man sich auch besinnen sollte – gehörten diese doch ebenso zu unserem Leben. Und davon haben wir alle nur eins, und zu kurz ist es obendrein.

Schnell wurde mir beim Schreiben klar, dass in der Rückschau auf mein Leben eine Ordnung des Erlebten herzustellen unmöglich ist. Dennoch stelle ich mich der mir selbst aufgebürdeten Last, auch wenn ich kein Schriftsteller bin.

Zweitens: Ich habe das Glück, eine Familie zu haben. Eine Familie, die genauso wenig vollkommen ist wie die anderer. Aber nur durch diese Familie war es möglich, dieses Leben so erleben zu dürfen. Das ist wichtig. Bis zum heutigen Tag haben wir als Familie allen Stürmen getrotzt und unzählige Widrigkeiten gemeinsam gemeistert. Wir haben gefeiert, gelacht, Konflikte bewältigt – vieles war schön, anderes war mit einem Fluch überzogen. Aber ein Leben der drückenden Enge war es trotz der Mauer nicht. Unser Leben war so reich und so vielfältig, so interessant und abenteuerlich – mehr, als es später in einer bestimmten Art der Geschichtsschreibung gewesen sein soll. Aber wer schreibt denn hier Geschichte?

Die später entstandenen Risse und Brüche sind überwiegend mir zuzuschreiben. Aus diesem Grund bin ich meiner Frau und meinen Kindern dankbar, dass sie mit ihrer Liebe den Zusammenhalt ermöglichten und weiter ermöglichen. Ohne Familie kommt man auf den Schlachtfeldern des Lebens nur schwerlich zum Sieg. Dennoch, es war meine feste Überzeugung, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Reifer wurde ich später.

Drittens: Unsere Vorfahren haben ein grausames Verbrechen zu verantworten, welches am 8. Mai 1945 mit der Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg beendet wurde. Die Siegermächte haben nunmehr festgelegt, dass ein Teil der Deutschen unter kommunistisch-sowjetischer Herrschaft lebt und der andere unter westlicher. Das heißt, die Verlierer des Krieges haben sich das nicht ausgesucht. Und so lebte der eine hier, der andere da. Zur Wendezeit 1989 rief dann das Volk im Osten: „Wir sind das Volk“, später, „Wir sind ein Volk“. Das empfand ich nicht. Seit 1987 wollte ich einen Wandel, keinen Wechsel des Systems. Die „Wir sind ein Volk“-Rufer haben ihre Schuldigkeit getan. Im Westen lacht man sich ins Fäustchen. Die Währungsunion am 1. Juli 1990 setzte den Endpunkt hinter eine Hoffnung auf eine bessere DDR. Es ging nicht nach mir, und somit ist mein Leben geprägt durch die Wahrheit, dass ich einer von denen bin, die bewusst in zwei völlig unterschiedlichen, sich feindlich gegenüberstehenden Gesellschaftssystemen gelebt haben und noch leben. Weit mehr als 60 von 80 Millionen Deutschen haben diese Erfahrung wahrlich nicht.

Mein Leben in diesen beiden Systemen verlief demnach völlig anders als das Leben derjenigen, die das, was wir „Sozialismus“ nannten, nie erlebten. Und gerade deshalb steht in solchen historischen Umbruchzeiten eines Systemwechsels Erfahrung gegen Erfahrung. Wer seinen Job verlor, wer aussichtslos ins Abseits gedrängt wurde, wer zu den Ängstlichen und Bescheidenen gehörte, der hat sich kaum an der neuen Freiheit erfreuen können. Und so wuchs auch bei nicht wenigen über viele Jahre das Gefühl der Demütigung, weil ein Leben in der DDR entweder auf Helden- oder Stasigeschichten reduziert wurde. Entweder dafür oder dagegen. Dazwischen nichts. Und das ist falsch.

Über Nacht war ich ein Deutscher in einem fremden Land. Viele Westdeutsche haben sich für alles Mögliche interessiert, aber nicht für den Osten. Bis heute nicht. Wir werden also mit den Folgen der Teilung zu leben haben, solange es Menschen gibt, die sie erlebt haben. Somit ist unser Land bis heute nicht geeint, es ist nur anders geteilt. In Arm und Reich. In Dumm und Klug. In Oben und Unten. In Drinnen und Draußen.

Viertens: Ich habe nie zu denen gehört, die gegen das SED-Regime gearbeitet haben, sondern ich habe versucht, einen besseren Sozialismus zu schaffen, der unseren Idealen näherkam als das, was wir erlebt haben. Auch ich und viele andere haben nicht vermocht, die Entwicklung zu einem Besseren zu lenken. Davon kann uns niemand freisprechen. Dennoch gehe ich das Risiko des Rückblicks ein und stehe zu meinem bisherigen Lebensweg, ermöglichte er mir doch immer wieder, einen neuen Abschnitt zu beginnen. Ich hatte etwas Wissen, etwas Können und etwas Glück. Nicht wenige sind mit ihrem Können versackt, nicht mehr da und zerbrochen.

Mir persönlich geht es gut. Ich habe keinen Grund, zu sagen, früher war alles besser und jetzt ist alles schlechter. Und auch umgekehrt kann ich nicht sagen: Früher war alles schlecht, jetzt ist alles gut. Was mir wehtut, ist, dass viele auf ihre Vergangenheit gespuckt haben. Nichts hätte mich bewegen können, mein Vaterland zu verlassen, einen Ausreiseantrag zu stellen oder Sonstiges. Mit vielem war auch ich nicht einverstanden, habe mit Vater gestritten. Aber: Ich habe in den Jahren in der DDR gut gelebt, nicht gehungert, hatte Arbeit, habe politisch diskutiert und wollte einen demokratischeren Sozialismus. Wären der Runde Tisch und seine Vorschläge ernst genommen worden – der Entwurf einer neuen Verfassung lag vor –, dann hätten unsere Erfahrungen und die gesellschaftlichen Fakten gleichberechtigt mit den westdeutschen zusammenfließen können. Es begrenzte sich jedoch auf das Ampel- und das Sandmännchen. Mich beschäftigt dies heute noch. Das Ende der Geschichte und die Entwicklung einer Zukunft sind noch lange nicht erreicht.

1

Als mein Vater am 3. August des Jahres 1999 starb, fing ich an, über das Leben und den Tod und den Sinn des Lebens nachzudenken. Ich hatte eigentlich noch viele Fragen an ihn, aber es war zu spät. Meine Mutter war zu dieser Zeit bereits schwer krank. Sie litt an Krebs und folgte ihrem Geliebten im darauffolgenden Jahr am 2. Juni.

Wie die meisten Menschen der Erde liebte ich meine Eltern mit zunehmendem Alter immer bewusster, hatte ich ihnen schließlich mein Dasein zu verdanken und bekam ihre Liebe und Fürsorge in guten wie in schlechten Zeiten. Ja, ich vermisse meine Eltern. Und seltsamerweise vermisse ich sie immer mehr, je älter ich werde. Vor allem dann, wenn ich vor wichtigen Entscheidungen stehe, würde ich gern mal um Rat fragen, wissen, was Vater über bestimmte Dinge denkt. Ich glaube, Eltern sind die besten Ratgeber; sie sind die Einzigen, die einfach so helfen – ohne Kalkül, ohne Bedingungen.

Damals war ich 45 Jahre alt. Gedanken um den Tod bewegten mich schon. Aber hatte ich jemals wirklich gründlich darüber nachgedacht? War er doch immer weit weg. Nun verlor ich innerhalb eines Jahres Vater und Mutter. Unsere Kinder ihren Opa und die Oma. Meine Frau ihre Schwiegereltern, die sie sehr mochte. Es ist Wirklichkeit – die Wichtigsten sind nicht mehr. Kein Reden. Kein Lachen oder Weinen. Keine Frage. Keine Antwort. Was tun? Leere.

Die ersten Jahre des neuen Jahrtausends sollten die bisher schwierigsten meines gesamten Lebens werden. Es geht ab jetzt um mein künftiges Selbst. Wir schreiben das Jahr 2000.

*

Als eines von vier Kindern kam auch mir nach dem Tod meiner Eltern die Aufgabe zu, deren Wohnung an den Eigentümer „besenrein“ zu übergeben.

Nachdem der Hausrat aufgeteilt war, nur noch Unscheinbares auf dem Fußboden lag und einer meiner beiden Brüder den Heimweg angetreten hatte, saß ich allein auf einem Bücherstapel und heulte vor mich hin. Ich dachte zurück an die wenigen, aber schönen gemeinsamen Erlebnisse mit meinen Eltern.

Beim Sortieren der wichtigen persönlichen Dokumente und Ordner fiel mir ein Schnellhefter in die Hand mit der Aufschrift „Krankenblatt Mutti“. Ich schlug ihn auf und las: „19.01.1999 – Einweisung ins Krankenhaus Strausberg – Operation – Eierstockkrebs.“ Ich las Zeile um Zeile, Blatt um Blatt. Über Monate führte Vater detailliert auf, wie es meiner Mutter ging, wie sie sich fühlte und was sie besprachen. Plötzlich und unerwartet hatte ich das für mich Wertvollste in der Hand: Gedanken und Gefühle meines Vaters in den letzten Monaten seines Lebens, niedergeschrieben auf weißem Papier, gezeichnet durch Tränen, durch Leid und sehr viel Liebe zu seiner Frau. Mir wurde bewusst, dass das Leben eines jeden Einzelnen ein großes Werk ist, welches es wert ist, in irgendeiner Form festgehalten zu werden. Es war eine große Liebe. In nur zwanzig Tagen hätten sie ihre goldene Hochzeit gefeiert. Es zählten nicht die Gabelungen und Verzweigungen, die Irren oder Wirren mancher Zeiten. Ihr gemeinsamer Weg war das gemeinsame Ziel. Ich bin sehr stolz auf meine Eltern.

Bei allem, was ich jetzt beginne zu schreiben, führen Herz und Verstand meine Hand zu gleichen Teilen. Ich wünsche mir, dass die Leser dieses Buches im Anschluss für sich werten und beurteilen: Wie gehen wir mit diesem unseren Leben um? Es soll anregen, über das eigene Ich nachzudenken, soll helfen, den eigenen Weg zu gehen. Denn eines wird dieser wahrlich: spannend.

*

Am späten Abend des 5. Dezember 1955 kam ich nach einem heftigen Schneetreiben im Gothaer Krankenhaus zur Welt. Ich wog immerhin 3.550 g – ein stattlicher Bursche also. Meine Mutter nannte mich Lutz. Mein Vater wollte einen Rolf. Durch diplomatisches Geschick meines Vaters einerseits und der Kompromissbereitschaft meiner Mutter andererseits einigten sie sich auf den Namen Lutz Rolf. (Im Laufe der Jahre setzte sich das stärkere Geschlecht durch, und alle riefen Lutz.)

Somit hatte die thüringische Stadt Gotha einen Erdenbürger mehr – ich war Nummer 58.001.

Meine Geburtsstadt liegt nördlich des Thüringer Waldes am Fuße der Seeberge, auf der Karte zu finden zwischen Erfurt und Eisenach. Bekannt wurde Gotha vor allem ab 1785. In jenem Jahr wurde von Johann Georg Justus Perthes ein Verlag mit kartographischer Anstalt gegründet, in dem u. a. Kalender und Kartenmaterial aller Art bis heute erstellt werden. Als politisch herausragendes Ereignis ist das Jahr 1875 für meine Geburtsstadt zu erwähnen. Hier vereinigten sich die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (Bebel/Liebknecht) und der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (Lasalle) zur Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands.

Das Gothaer Schloss Friedenstein und die Augustiner- und die Margarethenkirche sind genauso sehenswert wie das Rathaus. Kurz: Ein hübsches Städtchen, in dem ich sieben Jahre meiner Kindheit in der Leinastraße 9 verbrachte. Mein Erdendasein hatte ich der Liebe zweier Menschen aus Sachsen-Anhalt zu verdanken, die sich in der Gaststätte „Neue Welt“ in Schönburg bei Naumburg beim Tanz kennengelernt hatten.

Meine Mutter, Lucie Erika Gutgesell, geb. Delitzscher, wurde am 26.07.1929 in Quesnitz geboren. (Übrigens: Der Name Delitzscher stand für eine in der DDR berühmte Schokoladenfabrik. Aber meine Großmutter hatte leider nichts mit der zarten Versuchung gemeinsam – so sehr ich es mir auch wünschte.)

Lucie Erika war die Tochter eines Jägers. Aus Erzählungen weiß ich, dass ihre Kindheit nicht einfach war. Ihr Vater verprügelte oft seine Frau, was eine für die Ewigkeit dauernde Trennung nach sich zog. Meinen Großvater, dessen Name ich nicht kenne, habe ich niemals gesehen, obwohl ich den heimlichen Wunsch hatte, ihn kennenzulernen. Meine Mutter muss sehr unter diesen Verhältnissen gelitten haben, denn sie erzählte nicht viel von ihrem Vater.

Ich erinnere mich an gemeinsame Spaziergänge mit Oma und Mutti zur immer gleichen Stelle. Dort stand ein kleines Apfelbäumchen, von hohem Unkraut umgeben. Mutter fing an zu weinen, und Oma umarmte sie. Meinen Kopf drückte sie an ihren Oberschenkel. Ihre Hände streichelten mein Haar. Ich weinte dann meistens mit. Erst Jahre später sollte ich erfahren, warum: Die Narben des vergangenen, grausamsten Krieges aller Zeiten waren noch lange nicht geheilt. Der deutsche Vernichtungsfeldzug führte zu einem immer härter werdenden Widerstand der Roten Armee gegen die Wehrmacht. Nach der Wende des Krieges schlugen die Russen erbarmungslos zurück – hatte allein ihr Volk bisher 15 Millionen Menschenleben zu beklagen. Grausam waren die Rache, ihre Wut und ihr Hass auf die Deutschen. Auch in Schönburg wurde geplündert, wurden Häuser niedergebrannt, Frauen vergewaltigt. Oma und Mutter versteckten sich damals tagelang im Wald. Erst als Stille war, verließen sie das Dickicht im Unterholz. Sie schlichen sich zum Haus. Es stand nicht mehr. Rauch stieg auf. Schreie. Nur noch Schreie. Später stand dort das Apfelbäumchen – Oma, Mutter und ich. Als kleiner Bub hatte ich viele Fragen, aber es gab wenige Antworten. Es war einfach zu grausam, darüber zu sprechen. Man wollte vergessen. Wir Kinder sollten nicht besorgt, sondern umsorgt sein. Das ist ihnen wahrlich gelungen.

Mit meinem Heranwachsen wurde mir dann immer bewusster, dass meine Eltern ihre Kindheit – im Vergleich zu mir – in der Kriegszeit verbrachten. Beide hatten den bis dahin barbarischsten Krieg, den es seit Menschengedenken gegeben hat, überlebt. Zehn Jahre nach Kriegsende war ich bereits das dritte Kind meiner Eltern. Das dritte. Damals lag noch viel in Trümmern. Die letzten zehntausend Kriegsgefangenen kamen erst in meinem Geburtsjahr aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurück nach Deutschland. Es gab Hoffnung auf einen heimkehrenden Vater und Opa. Die Heimkommenden auf den Bahnhöfen murmelten immer wieder dieselben Worte: Endlich frei, endlich frei. Tränen flossen über ausgehungerte Gesichter. Es war immer noch viel Leid, Not und Elend unter den Menschen. Noch gab es nicht genug zu essen, Brennholz und Kohle waren knapp. Die Russen bauten das zweite Gleis des Eisenbahnschienennetzes ab und schleppten es in ihre – von den Deutschen zerstörte – Heimat.

Mein Vater, Kurt Gerhard Gutgesell, kam in der Stadt zur Welt, wo der berühmte Dom St. Peter und Paul steht – in Naumburg. Die beiden Stifterfiguren im Naumburger Dom, Ekkehard und Uta, wirkten auf mich seit frühester Kindheit wie ein Märchen. Mein Vater erzählte tolle Geschichten – recht abenteuerlich, fast schaurig und immer spannend. Wir glaubten ihm alles.

Er selbst wuchs als Einzelkind einer Arbeiterfamilie auf. Durch spätere Recherchen im Internet erfuhr ich vom Schicksal seines Vaters. Im Naumburger Tageblatt vom 13. Juni 1935 ist zu lesen, dass mit dem Tage der Machtergreifung durch die NSDAP eine große Verhaftungswelle einsetzte. In den großen Kommunistenprozessen wurden 1935 viele Naumburger Arbeiter, die illegal für die KPD gearbeitet hatten, wegen Hochverrats zu harten Zuchthausstrafen verurteilt.

Einer von ihnen war Kurt Gutgesell – mein Großvater.

In seine Anklageschrift habe ich gelesen:

In der Wohnung des Angeklagten in Naumburg a. S., Moritzstraße 25, wurde am 17.11.1933 eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Dabei wurden unter einer Haustürdiele … 3 Pakete mit kommunistischen Büchern und Schriften gefunden. Es handelt sich um 11 Broschüren: Kunst und Wissenschaft im neuen Deutschland.

Weiter fand man eine Zeitung: Der Bolschewist …

Der Angeklagte ist als Kommunist der Polizei bekannt.

Sein Auftreten in der Hauptverhandlung und die Art seiner Verteidigung, die im herausfordernden und höhnischen Ton vor sich ging, lässt keinen Zweifel zu, dass der Angeklagte ein unbelehrbarer fanatischer Kommunist ist.[1]

Kurt Gutgesell wurde zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sieben Monaten mit Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. 1942 wurde er als Soldat zum neu gebildeten Strafbataillon 999 – dem berüchtigten Himmelfahrtskommando – eingezogen. Ein Strafbataillon war eine Einheit, die zu 98 Prozent aus Todeskandidaten bestand. „Kanonenfutter“, welches die „Ehre“ hat, sterben zu dürfen. Großvater wurde 1943 als vermisst gemeldet und 1950 für tot erklärt.[2]

Mein Vater erlernte den Beruf eines Maurers und trat in die Volkspolizei – später die Kasernierte Volkspolizei (KVP) – ein. Aus der KVP heraus wurde 1956 die NVA gegründet, deren Mitglied Vater bis zu seinem Ausscheiden im Jahre 1990 war. Er studierte die Militärwissenschaften an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden mit dem Diplomabschluss eines Militärwissenschaftlers. Über viele Jahre diente er in verantwortungsvollen Dienststellungen in unterschiedlichen Regimentern der ehemaligen NVA. Später wechselte er in das Ministerium für Nationale Verteidigung nach Strausberg. Mehr als zwanzig Dienstjahre hatte er den Dienstgrad eines Oberst der NVA inne. Seine Entlassung aus dem aktiven Wehrdienst erfolgte im November 1990.

Seit Beginn seiner militärischen Laufbahn im November 1949 in Naumburg trieben ihn zwei Dinge um:

Erstens: Nie wieder darf von deutschem Boden ein Krieg ausgehen. Zweitens: Lasst uns ein besseres Deutschland aufbauen.

Auf diesen zwei nachvollziehbaren Lebensmaxima beruhte all sein Handeln und Tun, dem ordnete sich über Jahrzehnte alles unter, dies setzte er um mit Herz und Verstand. Ich bewunderte seine Geradlinigkeit, seinen Ehrgeiz, seinen Mut, seine Willensstärke – all das machte meinen Vater zu dem, was er für mich war: Vorbild, Ratgeber, Freund. Später wollte ich werden wie er – und wie Opa. Kommunist. Demokratischer Sozialist.

Erika und Gerhard gaben sich am 23. August 1949 das Ja-Wort. Die Hochzeit muss toll gewesen sein. Immer wieder wurden Episoden dieser Feier und der sich anschließenden Nacht unter Tränen vom Lachen der Zuhörer zum Besten gegeben.

Es waren meine Eltern, die mich erzogen und großgezogen haben. Sie lebten bescheiden, ehrlich, fleißig, immer helfend. Habgier, Raffsucht, Machtstreben waren ihnen fremd. „Mein“ und „dein“ gab es nicht. Es ging immer um die Familie. Es sollte besser werden – besser für alle. Es war ein machbares Ding. Damals.

2

Wie bereits erwähnt, war ich das dritte Kind in der Ehe meiner Eltern. Zwei Brüder älteren Jahrganges hatte ich das Abtragen ihrer Kleidung zu verdanken. Was meinem größeren Bruder Gerd nicht mehr passte, trug Uwe, danach war ich an der Reihe. Anfangs war dies kein Problem – später, als ich größer wurde, schon.

Gerd erblickte am 23. August 1947 das Licht einer nicht besonders heilen Welt, drei Jahre nach Kriegsende. Es war zwei Jahre vor der Heirat meiner Eltern. Mein Vater zeugte seinen ersten Sohn mit stolzen 16 Lenzen.

Uwe kam ein Jahr vor meiner Geburt, am 31. August 1954 zur Welt. Er war immer stärker als ich – was mich nicht gerade erfreute, schließlich teilten wir uns immer das Kinderzimmer. Brüderliche Kämpfe waren absehbar, richtig ernst wurde es jedoch nie. Somit waren die drei „Musketiere“ der Gutgesells auf dem Erdball. Kissenschlachten, bei denen Lampen und Fenster zu Bruch gingen, fanden ihr Ende in ein paar deftigen Hieben auf den Allerwertesten. Ausgeführt von Mama oder Papa – wobei es beim Zweitgenannten unangenehmer war. Richtige Prügel jedoch hat keiner von uns erfahren. Es waren mehr symbolische Gesten der Eltern, um uns begreiflich zu machen, wie man sich zu verhalten hat. Die ersten Jahre meines Daseins waren eine glückliche Kindheit. Wir spielten oft – zur Beängstigung meiner Mutter – an einem Flüsschen unweit unserer Straße. Mehr als einmal rutschte ich am Ufer mit beiden Beinen ins Wasser oder verlor das Gleichgewicht. Zum Glück war es nicht tief, dafür aber nass und kalt. Oma half beim Vertuschen meiner unerwünschten Badeausflüge, wechselte meine Kleidung und legte kurz entschlossen einen Waschtag ein. Sie war übrigens oft bei uns in Gotha, um ihrer Tochter zu helfen.

Waschtag hieß jedoch nicht: Wäsche in die Waschmaschine, Waschpulver, Knopfdruck und los. Waschtag hieß: Wasser in einem großen Wäschetopf auf dem Holzkohleherd erhitzen, dann umfüllen in einen Waschbottich, Waschbrett rein, und per Hand ging es ans Werk. Meist täglich – für drei aufgeweckte Burschen! Erst später wurde mir klar, warum ich beim Schreiben meines Lebenslaufs unter der Rubrik „Beruf der Eltern“ bei meiner Mutter schreiben musste: Hausfrau. Andere schrieben: Stenotypistin, Sekretärin, Kranfahrerin usw.

Ich schämte mich anfangs ein bisschen, weil ich als Kind nicht erkannte, dass meine Mutter die schwerste Arbeit machte, die es eigentlich gab. Es sollte Jahre dauern, um zu verstehen, warum sie nicht selten allein in der Küche saß und Tränen in den Augen hatte. Ich umschlang mit meinen Armen ihr Knie und weinte auch – wusste aber nicht so recht, warum. Weshalb Vater so selten zu Hause war, erschloss sich mir erst später. Sein Studium an der Militärakademie „Friedrich Engels“ in Dresden von 1959–1962 erlaubte es nur, an den Wochenenden knapp bemessene Zeit für die Familie zu haben. Deshalb gibt es auch nur wenige gemeinsame Kindheitserlebnisse, an die ich mich bewusst erinnern kann. Eines jedoch blieb für immer haften. Es waren die Spaziergänge in dem herrlichen Schlosspark von Gotha. Wir sammelten Bucheckern und aßen diese, wir fütterten Karpfen in einem Gondelteich und marschierten im Gänsemarsch, die Hände auf dem Rücken, Handfläche auf Handfläche, und sangen lustige Lieder. Vater voran, Lutz als Letzter. Parkbesucher amüsierten sich – kam ich doch oft nicht hinterher. Zum Abschluss gab es dann bei schönstem Sonnenschein eine Gondelfahrt auf dem Wasser. Der Kleinste durfte in der Spitze des Ruderbootes sitzen, Blick natürlich nach vorn. Dies war mein Glück. Es sollte noch lange dauern, bis ich mir meinen Kindheitstraum – ein eigenes Boot zu fahren – erfüllen konnte. Das Plätschern des Wassers an den Planken des Bootes und die Bugwelle vorn an der Spitze versetzten mich stets in Träumereien. Und eines habe ich sehr früh begriffen: Wenn ich meine Hand in das Wassers eines Flusses eintauchte, war ich mit der gesamten Welt verbunden. Viele kleine Schiffchen bastelte ich und schickte sie auf die Reise in eine fremde Welt. Wenn ich groß bin, dann reise ich auch mit einem Schiff, dachte ich mir.

Und wie es in der Kindheit so ist, gibt es Dinge, die man mag, und Dinge, die man nicht mag. Deshalb muss ich meinen anhaltenden und uneingeschränkten Respekt vor Pferden erläutern, damit zu verstehen ist, warum ich bis zum heutigen Tag Angst vor Pferden habe, obwohl meine gesamte Familie sich Jahre später dem Pferdesport zuwandte. Selten habe ich darüber gesprochen – es war mir einfach peinlich. Was war geschehen?

Zur damaligen Zeit, Ende der Fünfzigerjahre, waren Kühlschränke tatsächlich Eisschränke, die durch das Einlegen von Eisblöcken gekühlt wurden, deren Größe wiederum von der des Kühlgerätes abhing. Ein Kutscher mit seinem Pferdefuhrwerk belieferte täglich unsere Straße mit Eisblöcken. Mit einem großen Stück Leder schützte er seine Schulter und den Rücken vor der Eiseskälte. Mit zwei langen Haken zog er die Blöcke von der Ladefläche, schulterte sie auf und hievte sie in die Wohnungen bis in die Küche. Meist wurden diese in eine Zinkwanne gelegt. Es war für uns Kinder ein alltäglicher Vorgang. Wir streichelten die Pferde, durften den Pferdemist von der Straße sammeln und brachten diesen zur Oma, Dünger für die Blumenerde. An heißen Tagen gab uns der Kutscher kleine Eisstückchen zum Lutschen.

An einem dieser schönen Sommertage kniete ich mit meiner Lederhose am Straßenbord und bemalte diesen mit Sonnen und Bäumen. Wenn Mutter vom Einkauf kam, zeigte ich ihr immer mit Stolz mein Kunstwerk – meist erntete ich Lob. Dies brauchte ich immer. An diesem Tag hörte ich plötzlich ein für mich bis dahin nicht gekanntes Geräusch. Es hörte sich an wie ein schnell aufeinanderfolgendes Donnern. Ich blickte zu beiden Straßenseiten, konnte jedoch nichts sehen. Es war unheimlich. Was war das? Es dröhnte und bebte förmlich unter meinen Füßen. An der Kuppe des Berges erschien plötzlich das mir bekannte Pferdefuhrwerk in rasendem Galopp. Die Mähnen der großen Tiere wehten in der Luft. Die Mäuler weit aufgerissen – ein Kutscher nicht zu sehen. Mich überkam panische Angst. Die Kreide fiel mir aus den Händen, die Pferde rannten auf mich zu. Wohin?, dachte ich. Ich schrie aus Leibeskräften um Hilfe und rannte zu einer Laterne, um mich hinter ihr zu verstecken. Dann krachte es höllisch. Das Gespann rannte am Mast vorbei. Die mit Schaum vor dem Maul vorbeirasenden Ungeheuer hatten nicht die Breite des Pritschenwagens berechnet. Eisblöcke flogen durch die Luft, zwei Räder lösten sich durch den Aufprall und rollten den Tieren hinterher. Ich nahm beide Hände über den Kopf und schmiegte mich ganz eng an das Straßenpflaster. Dann Ruhe. Endlich Ruhe. Ich blickte mich ganz langsam um. Stille. Ich hob den Kopf, stützte mich mit den Handflächen auf und stand auf. Da kamen die ersten Menschen aus den Häusern. Was sie sagten, weiß ich nicht mehr. Ich wusste nur – meine Lederhose war nass. Ich erhob mich langsam, versuchte, die Nässe zu verbergen, und schlich nach Hause.

An diesem Tag lernte ich, dass es Ereignisse gibt, die unvorhersehbar sind. Vor allem vor dem, was man nicht kennt, was einem fremd ist, sollte man Respekt haben. Die Erfahrung, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen – unabhängig davon, ob etwas passiert oder nicht –, war eine Lehre für das weitere Leben. Meine Ehrfurcht vor solch großen Tieren hält unvermindert an. Bis zum heutigen Tag.

*

An den Weihnachtsabend des Jahres 1961 in unserem Zuhause denke ich heute noch sehr gern zurück.

Vater schmückte hinter verschlossenen Türen den Tannenbaum. Mit echten Wachslichtern, Weihnachtskugeln, Wunderkerzen, Schokoladenkringeln und silbernem Lametta erschuf er das Kunstwerk. Natürlich allein.

Der andere Teil der Familie – der größere – saß ungeduldig in der Küche. Die Omas bemühten sich aufopferungsvoll, dass die Zeit verging. Mutter passte auf, dass keiner der drei Schlawiner an das Schlüsselloch des Wohnzimmers kam. Es war spannend. Das Warten war unerträglich, aber vor Einbruch der Dunkelheit hatten wir keine Chance, in das Zimmer zu geraten. Also drückte ich mir am Fenster – es war mit Eisblumen geschmückt – die Nase platt. Um die Flocken tanzen zu sehen, hauchte ich die Scheibe des Fensters so lange an, bis ich durch sie hindurchschauen konnte. Heute gibt es an den Fenstern keine Eisblumen mehr. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstrahlte Zimmer für Zimmer im Lichterglanz. Ungeduldig fragte ich: Wann ist es denn bei uns endlich so weit? Bei den anderen war der Weihnachtsmann schon.

Ich war kaum noch zu halten, als es an die Tür klopfte. Die Gefahr sofort ahnend kroch ich unter die Küchenschürze einer der Omas. Schließlich hatte ich jetzt Respekt vor ungeahnten Gefahren. Die Stimme des Weihnachtsmannes kam mir nach einiger Zeit irgendwie bekannt vor – einordnen konnte ich sie jedoch nicht. Es stellte sich heraus, dass er kein so schlechter Mann war, eben nur einen langen weißen Bart trug und Stiefel anhatte, die aussahen wie die meines Vaters. Er sprach mit tiefer Stimme und brachte Geschenke mit. Das rote Holzboot war für mich, schließlich war ich ein artiger Junge – redete ich mir ein. Das Beste war der bunte Teller. Nüsse, eine Apfelsine, zwei Äpfel, Süßigkeiten und lange Strümpfe mit Strumpfhaltern zum Tragen unter der Lederhose. Aus dem kleinen Radio tönte fröhliche Weihnachtsmusik, alle drückten sich. Mutter rollten die Tränen über die Wangen, was mich sofort zu ihr zog, um sie zu streicheln. Vaters Mutter hielt ein Bild eines Mannes in Uniform in der Hand und murmelte etwas vor sich hin, von Weihnachten im Krieg. Sie erzählte von ihrem Kurt, der seit Weihnachten 1943 nicht mehr zu Hause war. Seinen Tod akzeptierte sie nicht. Sie wartete noch immer. Vergebens.

Doch der Höhepunkt des Abends sollte erst kommen. Vater ging zum Lichterbaum, tauschte die bereits abgebrannten Kerzen und Wunderkerzen gegen neue. Er und Mutter standen vor dem strahlenden Baum im flackernden Kerzenlicht. Vater legte den Arm um ihre Schulter und verkündete all den auf dem Sofa Sitzenden, dass wir in wenigen Monaten nicht mehr nur fünf in der Familie, sondern sechs sind. Alle jubelten – ich nicht. Ich verstand es nicht. Omi flüsterte mir ins Ohr, dass ich noch ein Geschwisterchen bekomme. Nach ein paar Sekunden freute ich mich auch. Warum es jedoch erst in ein paar Monaten kommt und der Weihnachtsmann es nicht gleich mitgebracht hat, das verstand ich nicht. Und wo kommt es eigentlich her? Fragen über Fragen. Mutter winkte mich zu sich, nahm mein Köpfchen, legte es auf ihren Bauch. Ich sollte horchen. Ich horchte und horchte. Ich hörte nichts. Sie erklärte mir, dass es aus ihrem Bauch kommt, dass es noch wachsen muss bis zum Sommer, wenn die Sonne scheint. Das war zu viel für den Kleinsten der Familie. Wie soll es denn da raus? Mir war klar: Das geht so nicht.

Im Frühjahr des Jahres 1962 veränderte meine Mutter ihr Aussehen merklich. Sie wurde am Bauch immer runder – bald sollte es so weit sein. Nach wenigen Tagen ihrer Abwesenheit im Sommer – jetzt kümmerte sich Oma um uns –, stand ein aus Korb geflochtener Kinderwagen vor der Haustür. Mutter und Vater strahlten und winkten uns zu, wir sollten nach unten kommen. Ich rannte wie besessen die Treppen hinab, stand dann vor dem Korbwagen, konnte aber nichts sehen. Vater hob mich hoch und Mutter drückte mit der linken Hand eine riesige Zudecke beiseite. Ich war sprachlos. Gott, ist das klein. Kann das schon sprechen? Ein Schwesterchen. Iris – geboren am 29. August 1962 – war ab sofort die Kleinste. Ich drehte mich um und schüttelte verneinend den Kopf. Das gibt’s doch nicht. So klein?

Ich lernte, dass es Dinge gibt, von denen man glaubt, es gibt sie nicht. Zu einer bestimmten Zeit versteht man eben noch nicht alles. Später schon.

*

Die Ereignisse überschlugen sich förmlich. Der 1. September war der Tag meiner Schuleinführung. Meine Eltern, meine Geschwister und beide Omas nahmen an diesem denkwürdigen Ereignis teil. Meine Zuckertüte war etwas größer als ich – mein damals bereits ausgeprägter Ehrgeiz ließ es aber nicht zu, dass Vater mir beim Tragen helfen durfte. Die sich in der Schäferstraße 10 befindende Polytechnische Oberschule I – gleich um die Ecke von unserem Haus – war ein großes rotes, ehrfurchtsvoll anzuschauendes Backsteingebäude. Es gab die klassischen Schulbänke, wie man sie heute nur noch aus Filmen wie die „Feuerzangenbowle“ mit Heinz Rühmann kennt. Der Platz in der zweiten Reihe an der Wandseite des Klassenzimmers zwang mich, meinen Kopf ständig nach links gedreht zu halten. Einer Bitte nach einem anderen Platz konnte nicht Rechnung getragen werden. Alle 38 Plätze waren mit ABC-Schützen besetzt. Pech. Dennoch machte mir das Lernen Spaß. An jeweils einem Nachmittag in der Woche gab es einen „Pioniernachmittag“. Bei Spiel und Spaß machten wir uns vertraut mit den Geboten der Jungpioniere und fieberten der Aufnahme in die Pionierorganisation entgegen. Mit dem Ablegen des „Pionierversprechens“ vor der Pionierleiterin wurden wir zu Jungpionieren erklärt. Wir banden uns das dreieckige blaue Halstuch um und trugen zu festlichen Anlässen die weiße Pionierbluse, die am linken Ärmel das Emblem der Pionierorganisation trug. Wir erhielten den Pionierausweis, in dem die Gebote der Pioniere standen:

Wir Jungpioniere

lieben die Deutsche Demokratische Republik

lieben unsere Eltern

lieben den Frieden

halten Frieden mit den Kindern der Sowjetunion und aller Länder

lernen fleißig, sind ordentlich und diszipliniert

achten alle arbeitenden Menschen und helfen überall tüchtig mit

sind gute Freunde und helfen einander

singen und tanzen, spielen und basteln gern

treiben Sport und halten unseren Körper sauber und gesund

tragen mit Stolz das blaue Halstuch

Wir bereiteten uns darauf vor, gute Thälmann-Pioniere zu werden. Der Gruß der Pioniere auf den Ruf „Seid bereit“ der Pionierleiterin oder der Klassenlehrerin lautete „Immer bereit“. Zum Gruß legten wir die innere Kante der rechten Hand entlang eines gedachten Mittelscheitels. In der 4. Klasse wurde ich Thälmannpionier.

Nach dem ersten halben Unterrichtsjahr gab es das erste Zeugnis: Zwölfmal die Note Eins, zweimal die Note Zwei. Der Text der Gesamteinschätzung war nur ein einziger Satz: „Lutz ist ein vorbildlicher Schüler!“ Im Laufe der noch folgenden Jahre sollte sich dies ändern.

Die Freude über meine guten Noten dauerte nicht lange. Wie so oft im weiteren Verlauf meines Lebens tagte der Familienrat. Einberufen wurde dieser immer durch das Familienoberhaupt, meinen Vater. Der Rat setzte sich aus allen Familienmitgliedern zusammen, ob groß oder klein. Vater erklärte, dass es seine Arbeit erforderlich macht, in eine große Stadt zu ziehen, damit die Familie dort ist, wo auch er ist. Für mich war damals Gotha schon groß – warum also noch größer? Mir war schnell klar, dass meine Freunde da nicht hinziehen. Warum sollte ich diese zurücklassen? Ich hatte Angst, in der neuen großen Stadt keine neuen zu finden. Die Schule hatte ja begonnen, und die Freunde waren sicher alle schon vergeben. Mutter und Vater gaben sich alle Mühe, mich von der Notwendigkeit zu überzeugen – verstehen konnte ich es damals nicht. Ich lernte, Dinge zu akzeptieren, auch wenn sie mir widersprachen. Es half nichts. Auch ich musste mit. Im Februar hieß es Sachen packen. Jeder hatte Kartons zu füllen. Soldaten waren in der Wohnung und halfen beim Tragen der Möbel. Mir wurde es unheimlich, begriff ich nun doch, es war Wirklichkeit. Zuletzt nahm ich meinen mittlerweile leicht zerfledderten Teddy, lief zur Schule, um mich von meiner Klassenlehrerin zu verabschieden. Die Schule war gespenstisch leer – es waren Winterferien. Ich schritt die großen Stufen empor und klopfte an die Tür. Zum Glück war sie allein im Lehrerzimmer. Ich verabschiedete mich und fing an zu weinen. Sie nahm mich auf ihren Schoß, streichelte mir liebevoll über mein Haar und erklärte mir, dass ich neue Freunde finden werde. „Du bist doch ein netter Bursche und hilfsbereit bist du auch. Da findet man immer Freunde. Und deinen Teddy hast du ja auch.“

Später begriff ich, dass sie recht hatte. Noch oft sollte ich mich an ihre Worte erinnern. Noch viele Male sollte ich mich in einer neuen Welt zurechtfinden müssen.

3

Winterferien im Jahr 1963. Familie Gutgesell zieht um. Halle an der Saale hieß die große Stadt. Mehr als 300.000 Menschen hatten hier ihr Zuhause. Ab heute gehörte auch ich dazu. Wir bezogen eine Wohnung direkt am Marktplatz. Berühmt ist dieser wegen seiner fünf Türme, die über ihm in den Himmel ragen. Vier Türme hat die jahrhundertealte, aus zwei Vorgängerbauten hervorgegangene Marktkirche „Unser Lieben Frauen“. Es ist eine phantastische dreischiffige spätgotische, die Renaissance schon ahnende Hallenkirche, deren Bau 1554 vollendet wurde. Zur reichen Ausstattung der Kirche gehören ein sechsteiliger Flügelaltar und die Reichelorgel von 1663/64, auf der schon Händel und Bach spielten. Unter den Helmen der beiden „Hausmannstürme“ wohnte ein Türmer. An Feiertagen spielten Bläser den Gruß zur Nacht. Ich musste den Kopf weit in den Nacken kippen, um am Ende der Turmspitzen die Kugeln sehen zu können. Wie Stacheln eines Igels leuchten diese vor den Wolken und funkeln durch die Strahlen der Sonne.

Der fünfte Turm ist der 1418/1506 als Machtsymbol der halleschen Bürgerschaft errichtete „Rote Turm“. Ein „Roland*“[3], Symbol städtischer Gerichtsbarkeit, steht seit dem 12. Jahrhundert davor.

Unmittelbar vor der Kirche ist ein riesiges Areal, zirka fünf Meter höher gelegen als die vorbeiführende Straße. Später sollte ich erkennen, dass dies ein hervorragender Ort ist, um Reden an das Volk zu halten. Er ist direkt am Untermarkt gelegen, ein riesiger Platz, wo jährlich ein Volksfest mit vielen Fahrgeschäften, der Weihnachtsmarkt und Großkundgebungen stattfanden. Unser neues Zuhause war direkt an der Ecke des Hallmarktes, so der richtige Name des Platzes – Oleariusstraße 10, 1. Etage – mit herrlichem Blick auf diesen riesigen Platz, auf die Kirche und auf den Busbahnhof direkt unter unseren Fenstern. Was dies bedeutete, merkte ich aber erst in den Morgenstunden der ersten Nacht.

Die Wohnung war mehr als doppelt so groß wie die in Gotha. Gut, dachte ich. Größere Stadt, größere Wohnung. Außerdem waren wir ja jetzt immerhin sechs Personen in unserer Familie. Da stand ich nun mit meinem Teddy im Arm. Mit offenem Mund, den Kopf im Nacken, stierte ich auf die Zimmerdecke. Alles war verschnörkelt, so unheimlich hoch die Wände. Wie in einem Palast. Fast alle Zimmer hatten drei Türen, Flügeltüren, beidseitig zu öffnen, an deren Klinken ich kaum gelangte. Es war fast unheimlich. Ich öffnete – auf Zehenspitzen stehend – eine Tür, um zu schauen, was sich dahinter verbarg. Aha, noch mal dieselbe Tür? Warum das? Also doch ein Palast. Fehlten nur noch die Diener und die Türsteher.

Von einem sehr langen Flur ging in jedes Zimmer eine solche, mit herrlichen Ornamenten versehene Flügeltür ab. Betrat man einen Raum, dann konnte dieser entweder nach rechts oder links in den daneben liegenden Raum verlassen werden. Hervorragend zum Verstecken spielen. Vater machte mit uns gemeinsam einen Rundgang. Er begann im vorderen Teil der Wohnung. Das erste Zimmer – übrigens das einzige mit Balkon Richtung Marktplatz, über dessen Bedeutung ich später noch erzählen werde – war an der Außenseite halbrund gearbeitet. Seit wann gibt es halbrunde Zimmer? Das war das Esszimmer. In der Mitte stand ein großer runder Tisch mit sechs Stühlen. Phantastisch. Durch die erste Flügeltür schreitend sahen wir das riesige Wohnzimmer, es folgten das Herrenzimmer, das Schlafzimmer mit erotischer Deckenmalerei, das Kinderzimmer, die Küche und das Bad. Alle Decken waren mit Stuckarbeiten versehen.

In der Wohnung war somit alles klar, und es konnte mit der Erforschung der großen Stadt begonnen werden. Vor der Tür war ein ohrenbetäubender Lärm. Die laufenden Motoren der Ikarus-Busse dröhnten erbärmlich und verpesteten zudem die Luft. Straßenbahnen polterten und quietschten, wenn sie um die Ecke fuhren. Leute bewegten sich hastig die Straßen entlang, die Treppenstufen zum oberen Markt hinauf, in die Geschäfte und sonst wohin. Kurzum: Es schien interessant zu werden in dieser wirklich großen Stadt.

Und es wurde interessant, denn nach meiner Erkundung wusste ich den Weg zurück nicht mehr. Jetzt bloß nicht heulen! Es gab vier Straßenrichtungen, in die ich laufen konnte. Welche war die richtige? Ich wusste es nicht. Aber einfach stehen bleiben konnte ich auch nicht. Ein Polizist war nicht zu sehen. Ich musste handeln. Fragen konnte ich niemanden, denn ich wusste weder den Namen der Straße noch die Hausnummer, wo ich jetzt wohne. Was sollte ich denn sagen? Dass wir eine große Wohnung haben und im Schlafzimmer nackte Engel an der Decke umherfliegen? Ich entschied mich kurz entschlossen, den Weg nach links einzuschlagen. Es ging vorbei an einem Friseur, dem Polizeirevier, einem Schreibwarenladen und an vielen anderen Geschäften. Jetzt wieder links. Und noch mal links. Ich sah die beiden Kirchturmspitzen mit der Brücke. Ein Aufatmen. Noch einmal links und ich stand vor meiner Haustür. Toll. Ein richtiges Wohn- und Geschäftsviertel mitten in der großen Stadt. Ich lernte: Entscheide dich und habe den Mut, loszugehen. Ab jetzt war mir klar: Ich treffe nun öfter mal eine Entscheidung. Meine Entscheidung.