In Deutschland angekommen - Charlotte Knobloch - E-Book

In Deutschland angekommen E-Book

Charlotte Knobloch

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Beschreibung

Die Lebensgeschichte einer mutigen Frau

Charlotte Knobloch, ehemals Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, zieht Bilanz ihres bisherigen Lebens: Das sind acht Jahrzehnte wechselvoller deutsch-jüdischer Geschichte und Gegenwart. Nicht stehen bleiben! – schärfte der Vater seiner sechsjährigen Tochter Charlotte ein, als sie am Abend der Reichspogromnacht durch ihre Heimatstadt München irren. Das Mädchen überlebt die Nazi-Zeit im Versteck bei fränkischen Bauern. 1945 kommt sie nach München zurück. Mit nur einem Wunsch: möglichst rasch der Stadt und Deutschland den Rücken zu kehren.
Sechzig Jahre später ist Charlotte Knobloch angekommen, kann sie ihr Lebenswerk einweihen: das neue Jüdische Gemeindezentrum und die Synagoge im Herzen Münchens. Nach Jahren des Zweifels, der Hoffnung und Annäherung hat sie nahezu im Alleingang diesen Traum verwirklicht: die Jüdische Gemeinschaft in die Mitte der Stadt und der Gesellschaft zurückzubringen.

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Charlotte Knobloch

MIT RAFAEL SELIGMANN

In Deutschland angekommen

ERINNERUNGEN

Deutsche Verlags-Anstalt

1. Auflage

Copyright © 2012 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Typografie und Satz: DVA /Brigitte Müller

Gesetzt aus der Meridien

ISBN 978-3-641-09454-6

www.dva.de

NACHTGEDANKEN

Gott hat mich mit einer stabilen Gesundheit und festem Schlaf gesegnet. Wenn ich mich ins Bett lege und das Licht der Nachttischlampe lösche, gleite ich sogleich in einen tiefen Schlummer. Diese Gabe begleitet mich seit meiner Kindheit. Auch nach aufregenden, arbeitsreichen Tagen, die Energie und Nervenkraft beanspruchen, finde ich rasch meine Harmonie wieder, und spätestens mit dem Ausschalten des Lichts weicht auch meine innere Spannung – die Dunkelheit verschafft mir, soweit ich zurückdenken kann, ein Gefühl der Geborgenheit, das in die Ruhe eines ungestörten Schlafs mündet. Wenn am folgenden Morgen der Wecker läutet, wache ich ausgeruht auf und freue mich auf die Herausforderungen des neuen Tages, den der Ewige mir schenkt.

In der Nacht vom 8. auf den 9. November 2006 aber will, anders als gewöhnlich, meine innere Anspannung nicht weichen. Auch in der Dunkelheit meines Schlafzimmers vermag ich keine Ruhe zu finden. Trotz Müdigkeit, die vergangenen Tage waren voller Termine und Belastungen gewesen, will der Schlaf nicht kommen. Mir nahestehende Menschen und Erlebnisse gleiten durch mein Bewusstsein. Mein Vater, meine Großmutter, mein Mann Samuel tauchen auf. Meine geliebten Kinder Bernd, Sonja und Iris erscheinen mir. Doch ich sehe auch, wie die Flammen aus der Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße schlagen, wie ich es als Kind erleben musste. Dann wieder sehe ich mich bei der Beerdigung meines Vaters und meines Mannes. Ich muss an unzählige Sitzungen in der Israelitischen Kultusgemeinde und Verhandlungen mit Vertretern des Freistaats Bayern und der Stadt München denken – und an meine morgige Rede. Ich schalte die Nachttischlampe an, gehe in mein Arbeitszimmer. Zum wiederholten Mal lese ich meine Begrüßungsansprache – den Text kenne ich nahezu auswendig. Spontan kommt mir eine Idee: An den Rand des Redemanuskriptes notiere ich die Stichpunkte: bauen – bleiben – dazugehören. Herz Münchens. Nach einem Glas Mineralwasser gehe ich wieder zu Bett.

Doch erneut will sich der Schlaf nicht einstellen. Wieder suchen mich meine Nächsten und Stationen meines Lebens heim und halten mich wach. Da kommen mir unwillkürlich mein Lieblingsdichter Heinrich Heine und dessen Gedicht »Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht« in den Sinn. Heine sehnte sich nach seinem Mütterlein. Zu seinen Lebzeiten (1797–1856) war Deutschland ein zersplittertes Land, dessen Bürger unterdrückt wurden. Ironisch sprach Heine von einem »gesunden Land«.

War Deutschland nach der verbrecherischen Krankheit des Nationalsozialismus genesen? Wir leben in einem freien, demokratischen Staat. Dürfen wir Deutschland wieder vertrauen? Konnte ich die Worte, die ich mir gerade notiert hatte, morgen auch öffentlich aussprechen?

Als um 6:30 Uhr mein Wecker wie an jedem Werktag klingelt, erlöst er mich aus unruhigem Dämmern. Doch mit der Wachheit spüre ich meine gewohnte Energie und Lebensfreude zurückkehren. Der wichtigste Tag meines Lebens und ein bedeutender Tag für die Israelitische Kultusgemeinde Münchens ist angebrochen.

Als ich die anwesenden Gäste, die jüdische Gemeinde, die wesentlichen Repräsentanten der deutschen Politik und des öffentlichen Lebens dieses Landes begrüße und in ihren Gesichtern ungeteilte Freude und Genugtuung aufleuchten sehe, treten Tränen in meine Augen. Mein großes Ziel ist erreicht. Die jüdische Gemeinschaft ist wieder im Herzen meiner Heimatstadt München angelangt.

Unwillkürlich schweifen meine Gedanken zu den Momenten hin, als diese Gemeinde ausgelöscht wurde – für immer, wie es schien.

Ich bin sechs Jahre alt. An der Hand meines Vaters irre ich durch die Straßen. Ich muss mich anstrengen, um mit Vater Schritt zu halten. Er hastet, bemüht sich aber, nicht zu rennen. Ich muss achtgeben, nicht zu stolpern. Ich darf nicht stürzen. Wir dürfen nicht auffallen.

Wir sind auf der Flucht. Mitten in unserer Stadt, in München.

Um uns herum herrschen Lärm und Geschrei. Das Geräusch von Glas, das auf Bürgersteigen in unzählige Scherben birst. Das Krachen prasselnder Flammen, herabstürzender Balken. Und Menschen, die johlen: »Juda verrecke!« Das Grölen schmerzt mich. In meinem ganzen Körper. Manche Leute klatschen und lachen. Der beißende Geruch von Feuer durchdringt die Luft des Novemberabends.

Nicht stehen bleiben, Charlotte! Wir dürfen nicht stehenbleiben!, hat Vater mir eingeschärft, als wir zu ungewohnter Stunde unser Heim am Bavariaring verließen. Denn, so sagt er mir, in unseren eigenen vier Wänden sind wir nicht mehr sicher. Er hatte eine Warnung erhalten. So sei es besser, sich mitten ins Geschehen zu mischen, als zu Hause auf das Schicksal zu warten, wusste Vater. Wir wollen uns zu Freunden nach Gauting durchschlagen.

Auf den Straßen Münchens entlädt sich der von den Nazis angefachte »Volkszorn«. Jüdische Geschäfte sind mit Davidsternen beschmiert, Hassparolen leuchten in heller Farbe durch das Dunkel. Schaufensterscheiben sind zertrümmert, Auslagen verwüstet. Das Innere der Geschäfte, das ich im Vorüberlaufen erkennen kann, ist zerstört. Regale sind umgestoßen, Ladeneinrichtung und Waren liegen auf dem Boden.

Vater und ich hasten ohne Unterlass weiter. Nicht stehen bleiben! Jemand könnte uns erkennen. Daher dürfen wir uns auch nicht unter den Schaulustigen verbergen, die zugucken, wie jüdische Geschäfte demoliert und ausgeraubt werden. Ich sehe es genau: Habgierige treten mit Armen voller Gegenständen aus den Läden. Lachend schleppen sie ihre Beute davon. Das sind Diebe. Sie kümmern sich nicht um Ehrlichkeit und Rücksicht auf andere, die mir in meinem Elternhaus immer gelehrt wurden.

An einer Straßenecke unweit des Sendlinger Tors sehe ich, wie zwei SA-ler einen alten Mann aus seinem Haus zerren. Es ist Onkel Rothschild! Justizrat Hugo Rothschild, den Vater so verehrt. Ich habe Onkel Rothschild, wie ich ihn nenne, besonders gern. Er hatte immer ein gütiges Lächeln auf seinem Gesicht. Er spricht in seiner warmen, tiefen Stimme mit mir, als sei ich eine Erwachsene. Nun ist sein Gesicht starr vor Entsetzen. Aus einer Wunde an seiner Stirn rinnt Blut über sein Gesicht. Die SA-Männer stoßen ihn auf einen Lastwagen. Warum tun sie ihm das an?

Es würgt mich vor Angst, dass die SA auch meinen Vater mitnimmt. Ich klammere mich noch stärker an seine Hand. Wenn ich ihn ganz fest halte, kann ich ihn vielleicht schützen.

Dreh dich nicht um, Charlotte!, hatte Vater mich noch gemahnt. Wir laufen weiter den Oberanger hinunter, Richtung Marienplatz. Die Strecke kenne ich gut. Sie ist mein Schulweg. Endlich gelangen wir in die Herzog-Rudolf-Straße. Hier steht meine Schule, die Jüdische Grundschule. Aus den Fenstern der benachbarten Synagoge züngeln hohe Flammen. SA-Leute in braunen Uniformen mit ihren komischen Hüten werfen Gebetbücher und Thorarollen auf die Scheiterhaufen vor dem Gebäude. Darum herum stehen Menschen und schauen zu. Warum ist keine Feuerwehr hier? Sonst kommt sie doch immer, wenn es brennt. Hat sie keiner von denen, die hier gucken, gerufen? Kümmert es niemanden, was mit den Juden, ihren Synagogen und Geschäften mitten in München geschieht? Vater zieht mich weiter.

Nun, 68 Jahre später, stehe ich im Zentrum dieser Stadt. München. Ich will die Bilder, die ich damals sah, als ich an meines Vaters Hand durch die Straßen flüchtete, nicht wegdrängen. Sie gehören zu meinem Leben. Doch ich habe die Angst überwunden. Wer diese seelische Not erlebt und sie verarbeitet hat, hat den Mut der Freiheit gewonnen. Und den Mut, immer wieder aufzustehen und neu zu beginnen.

Heute beginnen wir hier am St.-Jakobs-Platz ein neues Kapitel. Wir haben eine Synagoge, ein Gemeindezentrum und ein Museum errichtet. Ich sammele meine Gefühle und Gedanken und erhebe meine Stimme.

EIN MÜNCHNER KINDL

Ich weiß, dass alle Augen auf mich gerichtet sind.Heute Morgen hat mir Großmutter mein dunkelrotes Samtkleid angezogen. Auf meinem Rücken hat sie die beiden Bänder zu einer großen Schleife geschlungen. Und mir einen weißen Spitzenkragen um den Hals gelegt. Darauf bin ich besonders stolz. Denn diesen trägt Großmutter sonst selber an Festtagen.

Vater postiert mich auf der obersten der drei Stufen der Bibliothekstreppe. Im Salon wird es still. Mit fester Stimme, laut und deutlich, trage ich ein Gedicht vor. Reime zu Ehren meines Großvaters Salomon Neuland, der heute einen runden Geburtstag begeht. Zwei Strophen. Ich schaffe sie ohne Versprecher, ohne Steckenbleiben. Die zahlreiche Gesellschaft, die sich zum festlichen Empfang bei meinen Großeltern versammelt hat, klatscht laut und freut sich.

Bayreuther Honoratioren, Kaufleute, elegante Damen, ehrwürdige Bürger – alle lächeln mich an. Die Erwachsenen sind sich einig: Unerschrocken ist sie, die kleine Charlotte. »Aufgeweckt« für ihre drei Jahre und keine Spur von schüchtern. »Aufgeweckt« hat also nicht nur mit dem Aufwachen nach dem Schlaf zu tun. Es gilt auch für den ganzen Tag. Später lerne ich, es muss für das ganze Dasein gelten. Und ich habe Freude daran, »aufgeweckt« zu sein, mich nicht steuerlos im Fluss des Lebens treiben zu lassen – sondern selbst den Kurs zu bestimmen.

Untrennbar mit meiner frühesten Erinnerung ist auch verbunden, dass meine über alles geliebte Großmutter zu mir tritt. Sie schließt mich in ihre Arme, gibt mir einen warmen, festen Kuss auf die Wange und hilft mir, sicher von dem Treppchen auf den Boden zurückzusteigen.

Die Welt, in die ich am 29. Oktober 1932 im Rotkreuzkrankenhaus in München-Neuhausen hineingeboren werde, befindet sich im Umbruch. Noch ist unser Familienleben geprägt von großbürgerlicher Sicherheit. Doch die politischen Verhältnisse sind prekär. Die Weimarer Republik liegt in Agonie. Zwei Jahre zuvor ging die NSDAP bei den Reichstagswahlen als zweitstärkste Partei hervor. Ich bin gerade ein Vierteljahr alt, als in Berlin Adolf Hitler am 30. Januar 1933, dem Tag der sogenannten Machtergreifung, zum Reichskanzler ernannt wird und von den Nazis nicht nur in der Reichshauptstadt, sondern im ganzen Land in martialischen Fackelzügen als ihr Führer gefeiert wird.

Viele seiner jüdischen Freunde und Bekannten, so erzählte Vater mir später, wollten die Bedeutung dieses Tages nicht erkennen. Sie trösteten einander und redeten sich ein, dass Hitler eine vorübergehende Erscheinung, ein Phänomen sei: Ebenso rasch, wie er aufgetreten sei, werde er auch wieder verschwinden. Es werde alles nicht so schlimm kommen, wie es die allseits prangenden antijüdischen Parolen – und nun die Bilder von Fackelmärschen – vermuten ließen. Sie wollten nicht wahrhaben, dass in der Geschichte nichts von selbst verschwindet; schon gar nicht, wenn es von Millionen Menschen getragen wird. Die deutsche Kultur und Gesellschaft, die in den vergangenen Jahrhunderten die größten Genies in Dichtung, Musik, Wissenschaft und Technik hervorgebracht hatte, so mutmaßten die Freunde meiner Eltern und mit ihnen viele andere, werde mit dem ungehobelten Hitler leicht fertig werden.

Die deutschen Juden fühlten sich fest in ihrer Heimat verankert. Oft lebten sie seit Jahrhunderten hier, seit 1871 genossen sie Bürgerrechte. Und Gesetz war Gesetz. Was konnte ihnen geschehen? Man vertraute auf Reichspräsident Paul von Hindenburg. Dieser habe schließlich versichert, er sei allen Deutschen gleichermaßen verbunden. Auch der halben Million jüdischer Menschen, die damals Bürger des Deutschen Reiches waren. Jeder Fünfte von ihnen, auch mein Vater, hatte im Ersten Weltkrieg für das Reich gekämpft. Mehr als 11000 jüdische Soldaten hatten für Deutschland ihr Leben gegeben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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