Innenansichten eines Artgenossen - Hoimar v. Ditfurth - E-Book

Innenansichten eines Artgenossen E-Book

Hoimar v. Ditfurth

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Beschreibung

„Der Platz zwischen allen Stühlen ist einer der honorigsten, die man heutzutage einnehmen kann.“ In seinem letzten Buch, seinem Vermächtnis, schreibt Hoimar v. Ditfurth über die Themen und Fragen, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigt haben: von der Naturwissenschaft bis zur Politik, vom Selbstverständnis des Menschen bis zu seinem Platz im Universum. Die Innenansichten dieses die Wissenschaften überspannenden Denkers fördern erstaunliche, ungewöhnliche und zuweilen erschreckende Erkenntnisse zu Tage – aber auch den tröstlichen Gedanken, dass unser Leben nicht ohne Sinn sein kann. Die Autobiographie eines außergewöhnlichen Denkers. Jetzt als eBook: „Innenansichten eines Artgenossen“ von Hoimar v. Ditfurth. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

In seinem letzten Buch, seinem Vermächtnis, schreibt Hoimar v. Ditfurth über die Themen und Fragen, die ihn Zeit seines Lebens beschäftigt haben: von der Naturwissenschaft bis zur Politik, vom Selbstverständnis des Menschen bis zu seinem Platz im Universum. Die Innenansichten dieses die Wissenschaften überspannenden Denkers fördern erstaunliche, ungewöhnliche und zuweilen erschreckende Erkenntnisse zu Tage – aber auch den tröstlichen Gedanken, dass unser Leben nicht ohne Sinn sein kann.

Die Autobiographie eines außergewöhnlichen Denkers.

Über den Autor:

Hoimar v. Ditfurth, 1921–1989, gilt als wohl bedeutendster Wissenschaftsjournalist der deutschen Nachkriegszeit. Seine Bücher haben Bestsellerauflagen erreicht.

***

Neuausgabe April 2013

Die Originalausgabe erschien 1989 im Claassen Verlag

Copyright © 2013 Heilwig v. Ditfurth, Staufen (Brsg.)

Copyright © der eBook-Ausgabe 2013 dotbooks GmbH, München

Alle eBook-Rechte vorbehalten.

Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München

Titelbildabbildung: © privat

ISBN 978-3-95520-209-5

***

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Hoimar v. Ditfurth

Innenansichten eines Artgenossen

Meine Bilanz

dotbooks.

Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Einleitung: Der Appell an den Neandertaler
Weimar - Hirnentwicklung - Ankunft aus dem »Nichts«
Die große Pause
Hirn und Wirklichkeit
Die Welt der Eltern
Jahre der Geborgenheit
»Schwarz-Rot-Mostrich«
Schwere Zeiten
Welten hinter der Wirklichkeit
Post von Adolf Hitler
Naziregime - Weltbilder - Neandertaler
Das Debüt der neuen Herren
Wie ich zu einem Paddelboot kam
Die »Deutschen« und die »Nazis«
Was Weltbilder vermögen
Vom »Recht des Stärkeren«:
Darwin und der »Darwinismus«
Neuer Glanz und erste Kratzer
Das letzte Schuljahr - und Wilhelm Stumpf
Das Ende der Illusionen
Die Paläontologie des Gehirns
Der Neandertaler und der Demagoge
Die siegreichen Jahre
Das »Feld der Ehre«
»Was du nicht willst, das man dir tu ...«
Das Blatt wendet sich
Der »Zusammenbruch«
Restauration - Wissenschaft - Ökonomie
Der Rausch der Freiheit und der große Hunger
Gespräche über Bäume
Endlich am Anfang
Das Universum als Geschichte
Kopf und Kosmos
Die Welt ist nach oben »offen«
Zufall und Notwendigkeit
Leben und Zeit
»... wenn die Kosaken kommen«
Goethe auf der Couch
Menschliches, Allzumenschliches
Im Reich des Kommerzes
Rechtshändigkeit und linke Politik
Der große Basar
Der kosmische Hintergrund - Bilanz
Vor der letzten Grenze
Tanz auf dem Vulkan
Sub specie aeternitatis
Epilog
Lesetipps

Einleitung: Der Appell an den Neandertaler

Er wollte dieses Buch nicht schreiben, und es wurde sein erfolgreichstes. Die ersten Zeilen eines anderen Buches standen schon auf dem Papier, als Hoimar v. Ditfurth sich eingestand, dass ihm die Kraft fehlte, sich der Herausforderung zu stellen. Es sollte wieder um den Kosmos gehen, seinen Beginn und sein Ende, und den Stellenwert des Menschen in der Evolution des Weltalls. Und wieder mit der Absicht, neue Fragen zu finden. Vor dieser Einsicht in das Unbewältigbare stand der Krebs, nicht zuletzt aber die enttäuschten Hoffnungen, die jeder Operation folgten. Dazu kamen Querelen mit einem Verlag, der sein Vertrauen krass missbraucht hatte.

Ich war damals Lektor beim Claassen Verlag. Als Hoimar v. Ditfurths Bindung an seinen Hamburger Verlag zerbrach, wäre es dumm gewesen, den eigenen Vater nicht als Autor zu gewinnen. Bis dahin hatte ich es abgelehnt, seine Bücher zu lektorieren. Lektorat heißt Distanz, und die fehlte in diesem Fall zwangsläufig. Nun blieb mir aber keine Wahl. Nach anfänglicher Verunsicherung – vielleicht auf beiden Seiten – erwies sich das Lektorat als leichte Übung. Dieser Autor liebte den Widerspruch (was sich nicht von allen Schriftstellern sagen lässt).

Und er liebte die Überraschung: Was Hoimar v. Ditfurth als Autobiografie angekündigt hatte, entpuppte sich im Manuskript als Gesamtschau seines Denkens, als ein Werk von enzyklopädischer Qualität, wie es ein vergleichbares in der Nachkriegszeit nicht gibt. Die eigene Biografie fand er "herzlich uninteressant", von Belang nur als Gerüst, um seine Gedanken (einigermaßen chronologisch) zu ordnen. Diese einzigartige Konstruktion, aus der Not geboren, vereinte Erlebnisse, Ideen, Anekdoten, Fragen, politische, historische, philosophische und theologische Auslassungen in einem Buch aus einem Guss.

Natürlich taugen einige Aussagen mittlerweile nur noch als Zeugnisse der Begrenztheit unseres Wissens. Hoimar v. Ditfurth hätte dies freudig eingestanden. Niemand begeisterte sich mehr für Ideen und Entdeckungen, die ja immer gegenwärtiges und oft bewährtes Wissen entwerten. Aber solche Details sind hier ohne Bedeutung.

Es bleibt Hoimar v. Ditfurths Synthese: dass der Mensch keineswegs ein reines Geisteswesen ist, das unbefleckt auf die Welt kommt. Er ist vielmehr ein Wesen des Übergangs, welches das Erbe seiner Geschichte in sich trägt. Er ist Nachfahre des Neandertalers und noch viel früherer Lebensformen in der Kette der biologischen Evolution. Und er ist Vorfahre zukünftiger Lebensformen in einem Universum, das den weitaus größten Teil seiner Zeit noch vor sich hat. Das Erbe des Neandertalers siedelt im Stammhirn, das sich im Lauf der menschlichen Entwicklung kaum verändert hat. In ihm arbeiten Überlebensprogramme aus einer Zeit, als es zum guten Ton gehörte, Angehörige eines anderen Stamms mit der Keule zu erschlagen.

Erst die Beschreibung des heutigen Menschen als Übergangswesen gibt dessen Leben einen Sinn. Welchen Sinn, kann der Mensch nicht erkennen. Sicher erschien Hoimar v. Ditfurth nur, dass es hinter der Evolution, hinter der längst nicht beendeten Entwicklung des Menschen als deren höchster Form, ein Geheimnis geben muss, einen Plan. Dieses Rätsel nicht lösen, von der Wirklichkeit immer nur ein Abbild erahnen zu können erzürnte Hoimar v. Ditfurth mehr als alle anderen Zumutungen, die das Leben für ihn bereithielt.

Hoimar v. Ditfurth hat beklagt, in einer fast nur von den Geisteswissenschaften geprägten Gesellschaft zu leben. Viele glauben ja nach wie vor, dass der Mensch als unbeschriebenes Blatt geboren werde und es allein auf die Erziehung und das soziale Umfeld ankomme, ob er sich vorteilhaft entwickle. Diese Überzeugung mag sich daraus nähren, dass sie den Zeitgenossen sympathischer erscheint als die Idee, mit jedem Säugling komme auch der Neandertaler wieder auf die Welt. So sehen sich die Menschen lieber als Geisteswesen, die sich abgekoppelt haben von der Biologie. Dabei hat diese (und die Medizin) längst bewiesen, dass schon im Embryo Programme ablaufen, ohne die der Säugling keine Sekunde überleben könnte. Über den Vorwurf des "Biologismus" hat sich Hoimar v. Ditfurth amüsiert und manchmal geärgert, weil er ihm gleichbedeutend war mit dem Eingeständnis größtmöglicher Ignoranz, verkleidet als Aufklärung.

Gesellschaftliche Wirklichkeit betrachtete Hoimar v. Ditfurth stets als das Zusammenspiel einer kaum überschaubaren Zahl von biologischen, kulturellen, politischen Faktoren und Einflüssen. Zivilisation war für ihn eine zerbrechliche dünne Schicht über dem biologischen Erbe. Ein Produkt unentwegter Mühen, die Urantriebe des Neandertalers zu zügeln. Es ist nicht "biologistisch", auf der Tatsache ihrer Existenz zu beharren, sondern wirklichkeitsfremd und im Zweifelsfall gefährlich, ihr Wirken zu bestreiten. Zumal nicht allzu viel dazu gehört, um den Neandertaler in uns, um dessen einst überlebensnotwendige Verhaltensprogramme – Territorialität, Fremdenfeindlichkeit usw. – vom Zivilisationsdruck zu befreien. Das gelingt heute noch.

Ein Appell an den Neandertaler fast in Reinform – das war für Hoimar v. Ditfurth die Propaganda des Nationalsozialismus. Die Befreiung von den Zumutungen der Zivilisation empfanden die meisten Deutschen als Erlösung. So hat er es erlebt. Aber nicht als distanzierter, wissender Beobachter, sondern als zeitweise begeisterter Teilhaber. Die Nazis verstanden es besser als jede andere Partei und Bewegung, die Jugend für sich zu gewinnen. Die Historiker finden unter den Jugendlichen dieser Zeit bis heute nur wenige bunte Sprengsel in der braunen Flut (wie etwa die Weiße Rose oder die Edelweißpiraten). So war auch Hoimar v. Ditfurth Nazi "in einer gewissen Verdünnung". Er hat es sich nie verziehen und darauf verzichtet, all die wohlfeilen, ach so plausiblen Rechtfertigungen und Relativierungen anzuführen.

1921 geboren, war er bei der Machtübertragung an die Nazis nicht einmal zwölf Jahre alt. Wie seine Eltern und die gesamte Familie hatte er – als Kind und Jugendlicher eher unbewusst – die Weimarer Zeit als Niedergang erlebt, als Kulmination der Katastrophe, die im Empfinden seines deutschnationalen Umfelds mit dem "Schanddiktat von Versailles" begonnen hatte. (Leider haben meine Großeltern väterlicherseits es – bei wachsender Verachtung für die braunen Machthaber schon vor dem Krieg – auch nach 1945 nicht geschafft, dieses Umfeld zu verlassen, was der tiefste Grund war für das Zerwürfnis zwischen ihnen und ihrem sich skandalöserweise zunächst der Sozialdemokratie, dann den Grünen nähernden Sohn.) Für ihn und seine Schulkameraden war der Nationalsozialismus Aufbruch und Aufschwung. Erst im Krieg, dessen letzte Härten ihm erspart blieben, reifte die Einsicht in den durch und durch verbrecherischen Charakter des Dritten Reichs. Um nach dem Krieg verblüfft erfahren zu müssen, dass Hitlers Soldaten das Vaterland verteidigt hätten. Die Unbelehrbarkeit folgt dem Verbrechen immer gleich auf dem Fuß.

Die "Innenansichten eines Artgenossen" sind vor fast 25 Jahren erschienen, wenige Wochen vor Hoimar v. Ditfurths Tod am 1. November 1989. Er hat sich im Krankenbett noch freuen können über den Erfolg seines ungewollten Buchs. Und darüber, dass er eine Lebensbilanz vorlegen konnte, die so tiefgründig und umfassend Auskunft gibt über sein Denken wie kein anderes seiner Bücher. Für die Leser ist es daher eher tröstlich, dass ihm das Buch, das er eigentlich hatte schreiben wollen, nicht gelungen ist.

Christian v. Ditfurth, Berlin, Juni 2013

Weimar Hirnentwicklung

Ankunft aus dem »Nichts«

Am 15. Oktober 1921 hatte meine Mutter einen schweren Tag: Zu Beginn des Tages gab es mich noch nicht, am Abend des 15. aber war ich vorhanden, ein menschliches Individuum, dessen Existenz urkundlich bestätigt und mit den notwendigen bürgerlichen Identifikationsmerkmalen ausgestattet worden war. In meiner Geburtsurkunde ist als Geburtsort Charlottenburg eingetragen, und behördliche Präzision hat dazu geführt, daß es heute noch in meinem Personalausweis heißt: »Geburtsort Charlottenburg, jetzt Berlin«.

Am 15. Oktober 1921 also traf ich in Charlottenburg ein – aus dem Nichts kommend. Eine banale Feststellung? Die meisten Menschen nehmen das jedenfalls als selbstverständlich hin. Aber so selbstverständlich es sein mag, so seltsam ist es doch auch. Die Tatsache, daß sich so wenige über diesen Umstand wundern, der für jeden einzelnen von uns gilt, erweist sich bei näherer Betrachtung als erstes und sogar besonders markantes Symptom unserer Naturvergessenheit.

Wir verstehen uns als Geistwesen. Und das sind wir unbestreitbar. Aber wir sind es nicht ausschließlich. Es liegt eine eigentümliche Paradoxie in der Unbeirrbarkeit, mit der jene, die nicht müde werden, auf die angeblich absolute Freiheit des menschlichen Geistes zu pochen, die offenkundigen Grenzen übersehen, die dieser Freiheit durch das biologische Fundament unserer Existenz gesetzt sind. Auch sie machen zwar alltäglich die Erfahrung, daß der Mensch von Zeit zu Zeit von Müdigkeit »überwältigt« wird, daß man im Zustand des Hungers oder einer fiebrigen Erkältung nicht konzentriert arbeiten kann, daß Alkohol oder starke Emotionen die geistige Aktivität unverkennbar beeinflussen. Das alles bringt sie aber nicht von der Überzeugung ab, daß es Grenzen für die geistige Freiheit des Menschen nicht gebe.

Wichtiger und in der Praxis bedeutsamer als diese simplen Einschränkungen sind die unbewußt wirkenden Einflüsse, die »angeborenen Vorurteile«, mit deren Hilfe unsere biologische Konstitution den Ablauf unserer geistigen Aktivität steuert. Die evolutionäre Erkenntnistheorie hat den seit Jahrtausenden auf Indizien gestützten Verdacht in den letzten Jahrzehnten Schritt für Schritt bestätigt. Aber selbst diese Befunde hindern manche einseitig orientierte Denker bis heute nicht, etwa zu behaupten, daß der »menschliche Horizont absolut und unbegrenzt« sei oder daß der Mensch »durch seinen Erkenntnisapparat in das Absolute versetzt« werde. [1]

Als eine erste Heilmethode gegen diese Form der Überschätzung unserer Freiheit kann nun empfohlen werden, sich darauf zu besinnen, wie wir uns zu dem »Nichts« verhalten, aus dem heraus wir durch unsere Geburt kommen. Denn woran liegt es, daß der Gedanke, sich mit ihm näher zu beschäftigen, den meisten Menschen nicht in den Sinn kommt? Wie ist es, anders gesagt, zu erklären, daß wir uns zwar häufig und aus eigenem Antrieb mit der Frage herumschlagen, was mit uns nach unserem Tode sein wird, daß wir uns aber nicht dafür zu interessieren scheinen, wo wir vor unserer Geburt waren? Beide Fragen betreffen doch unleugbar den gleichen Sachverhalt. (»Nach deinem Tode wirst du seyn, was du vor deiner Geburt warst«, schreibt Arthur Schopenhauer.) Wie kommt es zu dieser eigentümlichen Asymmetrie unseres Interesses, das in aller Regel allein nach dem Wesen des »Nichts« fragt, das uns nach unserem Tode erwartet?

Der erste, der die Erklärungsbedürftigkeit dieses Sachverhalts entdeckte, ist meines Wissens Erwin Straus gewesen, der ihn in den dreißiger Jahren in einer Publikation über das menschliche Zeiterleben erwähnt. (Eine systematische Suche würde vermutlich noch ältere Kronzeugen zutage fördern.) Erwin Straus war Psychiater. Das ist sicher kein Zufall. Ein Psychiater ist – anders als ein Psychologe oder Psychotherapeut (sofern diese nicht ebenfalls Medizin studiert haben) – aufgrund seiner Ausbildung dazu erzogen, die körperlichen, biologischen Bedingungen und Grundlagen psychischer Abläufe in die Betrachtung einzubeziehen.

Zu den elementarsten der Grundlagen psychischer Abläufe gehört der Umstand, daß wir aus Materie bestehen. Daß eine im Verlauf einer für uns unausdenkbar langen Entwicklungszeit entstandene materielle Struktur von einer uns ebenfalls unausdenkbaren Komplexität die Voraussetzung darstellt für unsere konkrete Existenz. Nicht nur für unsere leibliche, physische, sondern auch für unsere geistige Existenz. Sowenig wir ohne unseren Leib leben könnten, sowenig wären wir ohne unser Gehirn imstande zu denken.

Das alles sind Trivialitäten. Aber auch sie müssen hier bedacht werden, weil schon die unmittelbaren Folgen dieser beiläufig als selbstverständlich akzeptierten Sachverhalte von fast allen Menschen ignoriert werden: Es ist nicht möglich, ein materielles System via biologische Evolution bis auf die Ebene der Denkfähigkeit zu hieven, ohne daß sich in dem ermöglichten Denken bestimmte Eigenheiten der seine Voraussetzung bildenden materiellen Strukturen widerspiegeln.

Hier muß nun ein Einwand betrachtet werden: Wenn man von biologischen Einflüssen auf psychisches Geschehen spricht, sieht man sich im Handumdrehen dem Vorwurf gegenüber, man argumentiere »biologistisch«. Wer den Vorwurf benutzt, geht davon aus, daß sich jedes weitere Argument erübrige, da die so etikettierte Aussage als ideologisch entlarvt sei. Das ist barer Unsinn. Er ist als modische Unsitte allerdings so verbreitet, daß er seinerseits hier kurz »entlarvt« werden muß.

Wer in dem angedeuteten Zusammenhang den Vorwurf des Biologismus erhebt, bezieht sich, obwohl er das offensichtlich nicht weiß, auf ein von dem Philosophen Nicolai Hartmann aus der realen Welt abstrahiertes Ordnungsschema.[2] Nach Hartmann lassen sich in der Welt mehrere einander übergeordnete ontologische (Seins-) Ebenen unterscheiden. Zuunterst existiert die materiell-anorganische Ebene. Auf ihr gründet sich die Schicht des Organisch-Biologischen, diese wiederum bildet das Fundament der über ihr gelegenen Schicht des Geistigen. Die Kategorien der unteren Schichten bilden den Seinsgrund für die darüberliegenden, von dem diese insofern abhängig sind und in ihrer Struktur mitgeprägt werden. Zugleich tauchen von Stufe zu Stufe in zunehmender Reichhaltigkeit auch neue Eigenschaften auf.

Gegen diesen Aufbau der realen Welt verstößt nun nach Hartmann ein Denken, das sich anheischig macht, das Wesen der Realität aus einer einzigen dieser Ebenen ableiten zu wollen. Wer mit den Kategorien der untersten Ebene allein die Wirklichkeit zu erklären versucht, denkt »materialistisch«, wer mit der organisch-biologischen Schicht als einziger Erklärungsgrundlage auskommen zu können glaubt, beschränkt sich auf eine »biologistische« Sicht, und wer sich allein auf die oberste, geistige Seinsebene bezieht, reduziert seinen Ansatz einseitig auf eine »idealistische« Position. Die jeweiligen Ismen sind folglich das Resultat einer ideologischen Blickverengung, bei der die Erklärungsgrundlage verkürzt wird auf eine einzige, aus dem Kontext der Realität willkürlich herausgegriffene Seinsebene.

Wer die Einbeziehung biologischer Rahmenbedingungen in die Diskussion über menschliches Verhalten oder psychische Abläufe als »biologistisch« ablehnen zu können glaubt, bedient sich daher einer Terminologie, die er nicht verstanden hat. Denn eine solche Betrachtungsweise ist weit davon entfernt, die Erklärung nur aus den Gesetzen einer einzigen ontologischen Ebene ableiten zu wollen. Sie versucht ganz im Gegenteil, das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen zuzurechnenden Kategorien in den Blick zu bekommen.

Damit zurück zu den Gründen für die seltsame Asymmetrie unseres Interesses an dem von unserer Lebensspanne unterbrochenen »Nichts«, je nachdem, um welches ihrer Enden – Geburt oder Tod – es sich handelt. Wir können jetzt konkret danach fragen, welche der einer untergeordneten Ebene angehörenden Kategorien sich hier bemerkbar macht. Antwort: Es ist der asymmetrische Charakter des Zeitablaufs selbst, die einseitige Richtung aller zeitlichen Abläufe, die sich in unserer Aufmerksamkeitsrichtung ausdrückt. Dieser »Zeitpfeil« ist ohne jeden Zweifel eine fundamentale Kategorie, wie schon daran erkennbar wird, daß er bereits in der untersten, der materiell-anorganischen Seinsschicht alles Geschehen beherrscht.

Nach allem, was wir wissen, ist »die Zeit« seit dem Beginn des Kosmos immer nur in einer Richtung abgelaufen, auch während der unausdenkbar langen Äonen, in denen es lediglich physikalische und chemische Prozesse gab, von Lebensprozessen oder gar psychischen Phänomenen ganz zu schweigen. [3] Und als diese dann endlich, nach mühsam-langwierigen Evolutionsschritten, in der Welt auftauchten, waren sie ebenfalls von der fundamentalen Asymmetrie des Zeitpfeils gezeichnet, unter dessen Herrschaft sie entstanden waren – wen dürfte das wundern? Schon in der noch toten, anorganischen Zeit des Kosmos gab es die Unumkehrbarkeit von Vergangenheit und Zukunft, und darum geriet diese auch in unseren Kopf. Deshalb können wir nur älter werden und niemals jünger. Und deshalb interessiert uns das, was zeitlich »vor« uns liegt, mehr als das, was wir schon hinter uns haben.

Das alles mag für trivial halten, wer will. Alltäglich und insofern »selbstverständlich« ist es ohne Frage. Aber es ist auch ein unwiderlegbarer Beweis gegen die kühne Annahme – die so viele ebenfalls für selbstverständlich halten –, daß unser Geist, insofern dem Geiste Gottes vergleichbar, souverän über den Wassern schwebe. Das ist nichts als eine weitverbreitete und im Grunde nicht einmal erfreuliche Illusion. Das »Wasser« der Materie, über dem unser, der menschliche Geist schwebt, hat diesen kräftig benetzt und bis in seine feinsten Verästelungen durchtränkt. Es fällt uns nur seiner Alltäglichkeit wegen nicht auf, ebensowenig wie wir etwa den Umstand, daß wir im Unterschied zu vielen niederen Tieren nach hinten nichts sehen können, als das zu erleben pflegen, was er objektiv ist: eine handfeste Lücke in unserem Gesichtsfeld.

Objektiv, vom individuellen Bewußtsein einmal abgesehen, läßt sich dem »Nichts«, aus dem heraus wir alle geboren werden, bekanntlich noch eine gehörige Zeitspanne abgewinnen. Objektiv hat, wie biologische Forschung herausfand, die eigene Individualität schon rund neun Monate vor der Geburt begonnen in dem Augenblick, in dem eine väterliche und eine mütterliche Zelle miteinander verschmolzen. Beide enthielten eine von vorangehenden wiederholten Zufallsschritten willkürlich vorgenommene Teilauswahl mütterlicher und väterlicher Erbanlagen. Die im Akt der Zellverschmelzung erfolgende Kombination potenzierte den Zufallscharakter des Endergebnisses. Wenn sich rund 50 000 einzelne Strukturgene und dazu mindestens 500000 Regulatorgene unter solchen Umständen zu einem Genomzusammenfinden, ist dessen individuelle Zusammensetzung statistisch gesehen von weit überastronomischer Unwahrscheinlichkeit. [4] Das aus der Verschmelzung hervorgehende individuelle Erbmuster stellt ein im wahrsten Wortsinn historisches Ereignis dar: Es ist einmalig, unwiederholbar und von unwiderruflicher Endgültigkeit.

Seit der Entstehung der ersten zur Vermehrung durch Teilung befähigten Urzelle vor drei oder vier Milliarden Jahren hat es noch niemals auch nur eines dieser Muster zweimal gegeben. Solange die Erde sich dreht, wird es nicht dazu kommen. Dafür ist die Zahl der beteiligten Erbmoleküle und der von ihnen ermöglichten Zufallskombinationen um ein unvorstellbares Vielfaches zu groß. Dieser von dem materiell-molekularen Fundament unserer persönlichen Veranlagung verursachte und mathematisch-statistisch beweisbare Sachverhalt begründet die Einzigartigkeit der individuellen Existenz eines jeden von uns. Er berechtigt jeden von uns, sich für einzigartig zu halten, sich als einmaliges, unaustauschbares und in seiner persönlichen Besonderheit unverwechselbares Individuum anzusehen. Er begründet zugleich die – von so vielen unbelehrbar bestrittene – Tatsache, daß sich alle Menschen voneinander unterscheiden. (Das alles gilt, einzige Ausnahme, selbstredend nicht für »echte«, also eineiige Zwillinge, weil diese aus ein und derselben befruchteten Zelle hervorgegangen sind und identische Genome haben.) Auch die Tatsache, daß die Menschen untereinander nicht gleich sind, ergibt sich aus demselben genetisch-statistischen Argument wie ihre Individualität: Das eine ist – und das ist nun wirklich trivial – nichts als die Kehrseite des anderen.

Diese individuelle Einzigartigkeit schließt Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Menschen keineswegs aus. Total beziehungslos, ohne jeglichen wechselseitigen Zusammenhang, werden die Myriaden einzelner Erbmoleküle bei der Entstehung eines neuen Individuums nicht durcheinandergewürfelt. Das Auftreten von Ähnlichkeiten, nicht nur im Körperbau (Gesicht!), sondern auch hinsichtlich typischer Haltungen und Gesten, ja sogar hinsichtlich einzelner Charakterzüge und Begabungen, läßt uns auch ohne Elektronenmikroskop und diffizile molekularbiologische Analysemethoden erkennen, daß bestimmte Gengruppierungen bei der Zufallsgenese des neuen Genoms erhalten bleiben, daß sie gewissermaßen en bloc weitergegeben werden.

Eine kurze Überlegung erinnert daran, daß das sogar für die weitaus meisten Teile des molekularen Bauplans gelten muß. In einer ganz groben Schätzung (lediglich der Anschaulichkeit halber vorgenommen, nicht etwa wissenschaftlich präzise ableitbar) wird man sagen dürfen, daß unsere individuelle Einzigartigkeit sich lediglich auf etwa 5 Prozent unserer genetischen Veranlagung bezieht. Die übrigen 95 Prozent haben wir mit allen übrigen Mitgliedern der Spezies Homo gemeinsam: den Bau und die Funktion unserer Augen, das komplizierte Geflecht unseres Leberstoffwechsels, den zellulären Aufbau unserer Muskulatur, Gestalt und Funktion von Händen und Beinen, überhaupt das ganze anatomische Grundgerüst und die endlose Liste aller für die Lebensfähigkeit unseres Körpers unentbehrlichen physiologischen Funktionen. In diesen (mindestens) 95 Prozent unserer erblichen Anlagen, bei denen nicht individuell variiert wird, zeigt sich die eigentliche, die entscheidende biologische Rolle der Vererbung. Sie besteht darin, es der Natur zu ersparen, mit jeder neuen Generation alle die Strukturen und Funktionen in ihrer unabsehbaren Vielfalt von neuem »erfinden« zu müssen, die für den Betrieb eines biologischen Organismus unentbehrlich sind. Das Leben hätte sich auf dieser Erde nicht bis zur Entstehung von Menschen entwickeln können, wenn der Vorgang der Vererbung dieses Problem nicht erledigt hätte durch die Weitergabe aller einmal gefundenen Lösungen.

Deshalb kam auch ich, wie jeder meiner Mitmenschen, an jenem fernen Oktobertag in Charlottenburg mit zwei Armen und zwei Beinen auf die Welt, ausgestattet mit einer Lunge zum Atmen, mit Herz und Kreislauf und all den anderen Organen, ohne deren Besitz ich den Tag meiner Geburt nicht hätte überleben können. Deshalb brauchte ich auch die Methode des Nahrungserwerbs an seiner natürlichen ersten Quelle nicht erst zu lernen und ebensowenig die Notwendigkeit, zwischen Schlucken und Atmen in zweckmäßigen Abständen zu wechseln. Alle diese Lektionen beherrschte ich vom ersten Augenblick an, weil auch sie, die zu lernen mir keine Zeit geblieben wäre, in mein persönliches Genom Eingang gefunden hatten.

Die Liste der in meinen individuellen Bauplan geratenen Ähnlichkeiten mit anderen Lebewesen ist damit nicht annähernd vollständig skizziert. Die Fakten, um die sie hier zu ergänzen wäre, liegen sichtbar auf der Hand. Dennoch müssen sie wenigstens genannt werden, denn die Zahl der Augen, die das, was offen vor ihnen liegt, nicht sehen können oder wollen, ist überraschend groß. Die nur durch genetische Verwandtschaft, nur durch die Zugehörigkeit zum gleichen Stammbaum zu erklärenden Ähnlichkeiten beschränken sich nicht auf Gemeinsamkeiten zwischen meinem mimischen Ausdruck und dem meines Vaters und anderer Vorfahren auf vergilbten Porträtphotos. Auch nicht auf die unübersehbaren Entsprechungen zwischen meinem Körperbau und dem aller übrigen Mitglieder des menschlichen Geschlechts. Sie reichen vielmehr weit über die Grenzen der eigenen Art hinaus. Wir sollten das, was uns eben noch selbstverständlich schien, nicht sofort wieder vergessen, wenn wir auf ebensolche Ähnlichkeiten stoßen, die wir mit Lebewesen gemein haben, die nicht unserer Art angehören. Wie denn, wenn nicht durch genetische Verwandtschaft, könnte es erklärt werden, daß nicht nur wir Menschen, sondern auch Affen, Hunde und Katzen, ja allem äußeren Anschein zum Trotz selbst der scheinbar halslose Maulwurf und die Giraffe und alle anderen Säugetiere sieben Halswirbel haben, keinen mehr und keinen weniger? Oder daß die anatomische Gliederung der vorderen Extremität eines Säugetiers (also auch die eines menschlichen Arms) bis in die Einzelheiten der eines Vogelflügels gleicht oder der einer Eidechsenpfote? Daß sich diese strukturellen Entsprechungen – oder Homologien, wie der Biologe das Phänomen bezeichnet – selbst am Skelett der Vorderflosse eines Fischs noch nachweisen lassen? Wie sonst als dadurch, daß alle diese Wirbeltiere (und der Mensch) miteinander verwandt sein müssen, daß es, anders gesagt, in einer freilich sehr fernen Vergangenheit ein Lebewesen gegeben haben muß, das ihr gemeinsamer Urahn war?

So kam ich also »zur Welt«, damals in Charlottenburg, als Nachkomme nicht nur meiner Eltern und Großeltern und auch nicht nur der langen, ihnen vorangegangenen Reihe menschlicher Ahnen. Ich kam, wie wir alle, zur Welt auch als später Nachfahre der vormenschlichen Lebewesen unserer Stammeslinie, und diese reicht zurück bis zur ersten lebenden Urzelle. Es gäbe uns nicht, wäre sie ein einziges Mal abgerissen. Die Zeit, die die Natur sich genommen hat, um die Voraussetzungen meiner Existenz zu schaffen, sprengen den Rahmen menschlichen Vorstellungsvermögens. Und der Aufwand, den sie dabei getrieben hat, übersteigt jedes dieser Vorstellung noch vernünftig erscheinende Maß. Schon im Augenblick meiner Geburt stand fest, daß ich nicht die geringste Chance haben würde, ihn zeit meines Lebens auf irgendeine Weise zu rechtfertigen.

Von alldem hatte ich damals so wenig Ahnung wie jeder beliebige andere menschliche Säugling (und daran sollte sich auch in den folgenden Jahrzehnten erst einmal so gut wie nichts ändern). Aber bevor ich zu dem an meine Geburt anschließenden Lebensabschnitt übergehe, muß ich noch etwas zu der Bewußtlosigkeit sagen, in der ich die Monate verbrachte, die zwischen dem Augenblick der Entstehung meines Genoms durch Verschmelzung der elterlichen Zellen und dem 15. Oktober 1921 lagen.

Daß mein Bewußtsein in dieser Zeit »geschlafen« hätte, wie es manchmal heißt, ist eine poetische Metapher, die nicht unbedenklich ist, weil sie irreführende Assoziationen weckt. Schlafen kann nur ein Bewußtsein, das davor wach gewesen ist oder das wenigstens grundsätzlich schon zur Wachheit befähigt ist. Davon aber war für lange Monate keine Rede. Die neuralen Strukturen meines erst allmählich nach Maßgabe des erwähnten genetischen Bauplans entstehenden Zentralnervensystems waren zu einer solchen Leistung noch nicht herangereift. Sie waren es aus guten Gründen – davon im nächsten Kapitel mehr – auch in den auf meine Geburt folgenden Monaten noch nicht.

Aus meiner subjektiven Perspektive gab es mich in dieser meiner menschlichen Existenz vorangehenden – sie quasi vorbereitenden Phase noch nicht. Von außen, aus objektivem Blickwinkel betrachtet, ist das eine Frage der Definition. Daß die am Anfang meiner individuellen Entwicklung stehende befruchtete Zelle sozusagen das Potential meiner Existenz darstellte, ist unbestreitbar. Daß sie selbst schon als menschliches Wesen anzusehen gewesen wäre, dürfte kaum jemandem in den Sinn kommen. Der Hypothese gar, daß sie, aufgrund welcher Konstruktion auch immer, als mit mir identisch zu gelten hätte, würde ich entschieden widersprechen. Irgendwann zwischen diesem Stadium vor dem ersten Teilungsschritt und der Geburt (vor der Geburt, das allerdings ist unstreitig) war das Entwicklungsstadium erreicht, von dem ab die »Menschlichkeit« des selbständig noch immer nicht lebensfähigen Kindes vorauszusetzen war (auch wenn dieses Kind noch kein Bewußtsein, geschweige denn ein Bewußtsein seiner selbst hatte). Eine scharfe, eindeutig bestimmbare Grenze gab es nicht. Der Übergang war fließend.

Man sieht, worauf ich hinauswill: Wenn irgend jemand die Entwicklung an einem Punkt unterbrochen hätte, der eindeutig vor diesem Übergang lag, dann hätte er damit zwar die Möglichkeit meiner personalen Existenz vernichtet, aber nicht diese selbst (die es noch gar nicht gab). Er hätte, noch deutlicher, nicht einen Menschen getötet, sondern die Voraussetzung seiner noch in der Zukunft liegenden Existenz beseitigt. Wohlgemerkt, ich behaupte keineswegs, daß das eine Handlung ohne Belang gewesen wäre. Ich behaupte jedoch, daß es eine unzulässige polemische Aufbauschung ist, die Unterbrechung in dieser frühen Phase allen Ernstes als »Mord« hinzustellen, und ein Beispiel abstoßender Demagogie, ihre unstreitig problematische Verbreitung in unserer Gesellschaft in die Nähe des Grauens von Auschwitz zu rücken.

Die vatikanische Sprachregelung geht inzwischen darüber noch hinaus: Selbst die bloße Verhütung des Eintritts einer Schwangerschaft wird neuerdings schon einer mörderischen Handlung gleichgesetzt. Ende 1988 erklärte der Leiter des päpstlichen »Instituts für Studien über Ehe und Familie«, Monsignore Caffara: »Wer Verhütungsmittel benutzt, will nicht, daß neues Leben entsteht, weil er ein solches Leben als Übel betrachtet. Das ist dieselbe Einstellung wie die eines Mörders, der es als ein Übel ansieht, daß sein Opfer existiert.« Wer sich zu solch maßlosen Begriffskonstruktionen hinreißen läßt, weckt Zweifel an seinen Motiven. Er muß sich fragen lassen, ob es ihm wirklich allein um eine verantwortungsvolle Klärung des Problems geht. Oder ob sich hinter dieser Tendenz zu hemmungsloser Emotionalisierung nicht vielleicht die listige Absicht verbirgt, die Gesellschaft durch die Mobilisierung kollektiver Schuldgefühle dem eigenen Führungsanspruch gegenüber willfähriger zu machen. Den Schwangeren wird auf diese Weise jedenfalls nicht geholfen, und dem Schutz der Ungeborenen (dem die ganze Kampagne angeblich gilt) ist unter den obwaltenden Bedingungen der sozialen Realität auf diese Weise nicht gedient.

Ein letztes Wort noch zu diesem moralischen Problem. Es steht mir nicht zu, und ich bin auch in keiner Weise qualifiziert, Vorschläge zu seiner Lösung zu machen (wenn es denn eine Lösung gibt, die allen Beteiligten gerecht würde, was mir keineswegs sicher zu sein scheint). Ich erlaube mir jedoch, zu dieser Diskussion wiederum aus eigener, durchaus subjektiver Perspektive einen Gedanken beizusteuern, der dem einen oder anderen vielleicht hilfreich erscheinen könnte: Ich versichere mit Nachdruck und aufgrund reiflicher Überlegung, daß ich aus eigener Sicht, auch nachträglich, keinerlei Interesse am Schutz der vorgeburtlichen Voraussetzungen meiner bürgerlichen Existenz zu erkennen vermag. (Daß ich andererseits ohnehin nicht die Möglichkeit gehabt hätte, ein solches Interesse gegebenenfalls geltend zu machen, kann unberücksichtigt bleiben, da es mir hier um das prinzipielle Argument geht.) Ich möchte nicht mißverstanden werden: Selbstverständlich bestreite ich nicht im mindesten die Schutzbedürftigkeit einer jeden embryonalen Existenz (nicht nur einer menschlichen im übrigen, wenn in diesem Falle auch mit dem größeren Nachdruck). Dieser Anspruch auf Schutz hat viele auf keine Weise wegzudiskutierende objektive Gründe. (Einer von vielen als Beispiel: Eine Gesellschaft, die für diesen Schutzanspruch blind wäre, befände sich in einer Bewußtseinsverfassung, vor der wir uns zu fürchten hätten.) Subjektive Gründe jedoch kann ich nicht erkennen. Sosehr mir der Gedanke an eine vorzeitige Beendigung meiner bewußten Existenz zuwider sein mag, sowenig erschrecke ich bei dem Gedanken an die Möglichkeit, nicht geboren zu sein. Das »Nichts« gar nicht erst zu verlassen, in das man ohnehin zurückkehren muß, dieser Gedanke enthält für mich weder Schrecken noch ein Bedauern.

Wem das nicht selbstverständlich vorkommen will, der führe sich in einer ruhigen Stunde vor Augen, wie unendlich viele Möglichkeiten seines Lebens unverwirklicht geblieben sind, wie – relativ – winzig die Auswahl der seine Lebenswirklichkeit ausmachenden Erfahrungen ist, wenn man sie an der Zahl der Möglichkeiten mißt, die unrealisiert geblieben sind. Mit vollem Recht verschwenden wir auf sie in aller Regel keinen Gedanken. Es kommt uns nicht in den Sinn, das Nichtvorhandensein von Freundschaften zu bedauern, die wir niemals geschlossen haben, oder das Fehlen von Erinnerungen an berufliche Tätigkeiten, die wir nie ausgeübt haben, weil wir uns für andere Interessen entschieden haben (oder weil eine bestimmte Lebenssituation uns keine andere Wahl ließ). Grundsätzlich anders kann unsere Einstellung auch nicht ausfallen angesichts des völlig irrealen Konzepts eines »nicht gelebten Lebens«.

Man bedenke nur für einen Augenblick die Konsequenzen, die sich andernfalls ergäben, dann nämlich, wenn wir das legitime Interesse von Nichtgeborenen daran zu unterstellen hätten, »auf die Welt zu kommen«. Für uns alle ergäbe sich daraus die moralische Verpflichtung, so viele Kinder wie irgend möglich in die Welt zu setzen, unaufhörlich, mit allen Mitteln, auch mit denen, die die medizinische Technik neuerdings zu diesem Zweck anbietet. Jede andere Aktivität hätten wir dieser Pflicht zuliebe zurückzustellen. Das wäre das – auch in diesem Falle unerfüllbare – moralische Postulat. Zu den vielen Skrupeln unseres Gewissens würde sich die permanente Sorge, ach was: die quälende Gewißheit gesellen, daß es uns ungeachtet aller noch so großen Anstrengungen niemals möglich wäre, allen Ungeborenen, die danach verlangten und Anspruch darauf hätten, zum Leben zu verhelfen.

Dies wären, unwiderlegbar, die abstrusen Konsequenzen, wenn es sich bei der Annahme eines legitimen Anspruchs Ungeborener auf »Geborenwerden« nicht um ein in jeder – logischen, existentiellen und moralischen – Hinsicht fiktives Konstrukt handelte.[5] Man muß es der Verdeutlichung halber in so zugespitzter Form ausmalen. Der vehementen Polemik mancher, vor allem katholischer, Kreise gegen jegliche Form einer »Familienplanung« scheint dieses irreale und gewaltsame Konstrukt nämlich zugrunde zu liegen. Denn diese streiten gegen die Zulässigkeit der Empfängnisverhütung mit denselben Argumenten, mit der gleichen Unerbittlichkeit wie gegen die Unterbrechung einer Schwangerschaft. Ich kann aber beides nur dann im selben Atemzug, mit denselben Gründen zur Todsünde erklären, wenn ich – ob explizit oder stillschweigend – davon ausgehe, daß es ein Unglück ist, nicht geboren zu werden. Offensichtlich sogar ein durch keine andere Form des Elends überbietbares Unglück. Wie sonst wäre es zu begreifen, daß die aus derselben Ecke zu vernehmenden Bekundungen der Entrüstung soviel leiser ausfallen, wenn es um die Tatsache geht, daß infolge der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Weltordnung, also von uns mitzuverantwortenden, in den Armutsregionen der sogenannten Dritten Welt Tag für Tag 40 000 Kinder elendiglich an Hunger sterben (und vierzig Millionen Menschen jährlich insgesamt)? Ist also das Unglück, nicht geboren zu werden, soviel größer, daß unsere Verantwortung den Nichtgeborenen gegenüber noch schwerer wiegt, als sie es gegenüber den Geborenen ist, die, nicht ohne unsere schuldhafte Mitbeteiligung, millionenfach an Hunger zugrunde gehen?

Es wäre hilfreich – nicht zuletzt auch für sie selbst –, wenn die Gegner einer Empfängnisverhütung oder »Geburtenkontrolle« diese ihre unausgesprochene Hypothese als eine der logisch unvermeidlichen Voraussetzungen ihres Widerstandes einmal aus dem Dämmer des Unbewußten emporholten und kritisch betrachteten. (Sie sollten dabei auch auf keinen Fall versäumen, uns darüber aufzuklären, wie wir uns die Wesenheit eigentlich genauer zu denken haben, die im Falle der Verhütung einer Schwangerschaft von diesem Unglück betroffen ist.) Hier gibt es, scheint mir, wahre Berge an archaischen, magisch-mythischen Vorstellungen, die abzutragen wären, bevor das – ich wiederhole: ohne jeden Zweifel gravierende – Problem sinnvoll durchdacht und diskutiert werden könnte.

Die große Pause

Der Mensch kommt bekanntlich unfertig auf die Welt. Zwar ist er nach der strengen begrifflichen Systematik eines Biologen kein echter Nesthocker (bei diesen sind Augen und Gehörgänge nach der Geburt noch mehr oder weniger lange verschlossen). Aber hilflos und in vieler Hinsicht unreif ist er wie diese. Als »physiologische Frühgeburt« haben manche Biologen den menschlichen Säugling bezeichnet, und der Basler Zoologe Adolf Portmann insbesondere hat die Bedeutung der Tatsache betont, daß der Mensch die letzte Phase seiner embryonalen Entwicklung nicht im Mutterleib, sondern unter vielfältigen Einflüssen der Umwelt zu absolvieren habe.

Wissenschaftliche Forschung hat diese Bedeutung in neuerer Zeit durch eine Fülle eindrucksvoller und meist überraschender Befunde untermauert. Aus der Vielzahl der Beispiele soll hier nur eines der neuesten und wichtigsten zur Sprache kommen. Anknüpfen will ich dabei – dem Charakter dieses Buchs entsprechend – wieder an einem persönlichen Datum: an meinen ersten Erinnerungen.

Weil diese noch in die Berliner Zeit fallen, bevor meine Eltern mit mir und einer 1922 geborenen Schwester nach Holstein zogen, kann ich sie datieren. Ich kann nicht älter als zwei Jahre gewesen sein, als die wenigen Szenen sich abspielten, an die ich mich als erste Augenblicke in meinem Leben bewußt erinnere. Es sind kaum mehr als Momentaufnahmen. Bis auf eine sind sie alle von völliger Belanglosigkeit, was die Frage aufwirft, warum gerade sie sich eingeprägt haben mögen. Das eine sind einige Sekunden eines Ganges über einen Etagenflur zu einem offenstehenden Aufzug, an dessen Türrand genug Platz war, um erkennen zu lassen, daß der Fahrstuhlschacht aus einer gitterartigen Eisenkonstruktion bestand, die von außen an die Hausfassade angesetzt war (nachträglich, wie bei älteren Etagenbauten damals üblich). Dieses Detail, das Jahre später von den Eltern bestätigt wurde, überzeugte sie davon, daß ich tatsächlich so frühe Erinnerungen hatte, was sie zunächst nicht hatten glauben wollen. Dann gibt es noch die Erinnerung an ein Kinderzimmer mit Wickelkommode, dessen partiellen Grundriß ich beweiseshalber später aufzeichnen konnte. An einen Augenblick, in dem ich neben einem Kinderwagen herlief, in dem meine Schwester lag und an den ich mich klammerte, während ich eine den Wagen schiebende Frau (Kinderfrau?) anquengelte, mich auch in den Wagen zu setzen, was diese mit der vorwurfsvollen Bemerkung ablehnte: »Aber so ein großer Junge!«

Das einzige Erlebnis, dessen Existenz in meiner Erinnerung psychologisch begründbar erscheint, ist ein kleiner Unfall: In einem Garten, der übrigens von unserer Wohnung getrennt lag, spielte ich in einem Sandkasten mit blechernen roten und blauen Sandformen. Dabei fiel ich hin und zog mir an dem scharfen Rand einer solchen Form einen leicht blutenden Schnitt am rechten Handgelenk zu, was mich veranlaßte, laut brüllend zu der auf einer Bank sitzenden weiblichen Aufsichtsperson (Kinderfrau?) zu laufen. Daß ich bei ihr anlangte, verrät dieser Erinnerungsfetzen nicht mehr.

In den zwei Jahren, die zwischen meiner Geburt und diesen ersten Erinnerungen liegen, hatte ich, wie das ja als normal gilt, offensichtlich Laufen gelernt. So sagt man, und meine Eltern haben das sicher auch geglaubt. Der Mensch »lernt« aber das Laufen ebensowenig wie ein Vogel das Fliegen. Wer die ersten Flugversuche junger Amseln oder Schwalben beobachtet, kann sich in der Tat nicht dem Eindruck entziehen, daß da die für Vögel charakteristische Fortbewegung Flügelschlag für Flügelschlag »geübt« wird, bis das Jungtier sie endlich nach mehreren Tagen beherrscht. Erst das zoologische Experiment und der ihm vorangehende Verdacht des wissenschaftlich geschulten Tierbeobachters, der auf den Gedanken verfiel, daß das Experiment überhaupt nötig sein könnte – haben gezeigt, wie falsch dieser Eindruck ist.

Wenn man einem Teil der Nestbesatzung junger, noch nicht flugfähiger Schwalben die Möglichkeit zum »Üben« nimmt (zum Beispiel indem man sie in kleine Pappröhren steckt, die ihre Flügel bewegungsunfähig machen) entdeckt man erst, was man wirklich zu Gesicht bekommen hat: nämlich die Wirkungen der Ausreifung jener Partien des Vogelgehirns, deren Nervenzellverdrahtung in der Gestalt eines spezifischen Schaltmusters das Steuerungsprogramm für die komplizierte Abfolge von Muskelinnervationen enthält, die einen Vogel zum Fliegen befähigen. Wenn man die in das Experiment einbezogenen Jungschwalben nämlich an dem Tag von den bewußten Pappröhrchen befreit, an dem ihre unbehindert gebliebenen Geschwister das Fliegen nach tagelangem Herumgeflattere schließlich perfekt beherrschen, stellt man fest, daß es all des – eben nur scheinbaren – Übens nicht bedurft hätte. Sie fliegen vom Augenblick ihrer Befreiung an sofort mit dem gleichen Geschick wie ihre Geschwister. Nicht anders verhält es sich mit dem »Laufenlernen« eines Kleinkindes.

Komplizierter – und trotz vieler Untersuchungen noch immer nicht restlos aufgeklärt – sind die Verhältnisse beim »Sprechenlernen« in derselben Lebensphase. Die vor allem von dem amerikanischen Linguisten Noam Chomsky und seiner Schule durchgeführten vergleichenden Sprachuntersuchungen haben kaum widerlegbare Indizien für angeborene Komponenten der menschlichen Sprachfähigkeit zutage gefördert. So finden sich in allen bisher untersuchten Sprachen bestimmte gemeinsame grammatische Strukturen. Chomsky spricht anschaulich von einer allen Menschen angeborenen »Tiefengrammatik«. [6]

Daß am frühkindlichen Spracherwerb Umwelteinflüsse und Lernvorgänge entscheidend mitbeteiligt sind, liegt ohne alle spezielle Untersuchung auf der Hand: Ich habe seinerzeit Deutsch gelernt und nicht irgendeine beliebige andere Sprache, weil in meiner Umgebung deutsch gesprochen wurde.

Die erst in neuerer Zeit entdeckte eigentümliche Verschränkung angeborener Voraussetzungen mit Lernprozessen beim Spracherwerb (nicht nur für diesen Fall geltend und erstmals wohl in Gestalt des Phänomens der bekannten frühkindlichen »Prägung« entdeckt) gibt sich noch in einer weiteren Erfahrung zu erkennen, die ich mit allen meinen Mitmenschen teile und die zu bedauern aus vielfachen Gründen aller Anlaß besteht. Die Fähigkeit der angeborenen und zunächst abstrakten »Tiefengrammatik«, sich mit den konkreten Wortsymbolen einer ganz bestimmten Sprache zu verknüpfen, nimmt im Laufe des Lebens rasch ab. Vergleichbar – und wohl auch übereinstimmend – mit der für das Phänomen der Prägung kennzeichnenden »sensiblen Phase« ist auch die für das Erlernen einer bestimmten Sprache optimale Lebensphase zeitlich begrenzt. Am leichtesten fällt es bekanntlich in den ersten Jugendjahren. Schon zu Beginn der Pubertät wird die Sache schwieriger. Und mit deren Abschluß sind auch die Chancen, eine bis dahin unbekannte Sprache noch »wie ein Einheimischer« beherrschen zu lernen, für die meisten Menschen so gut wie dahin. Allerdings verrät sich die Rolle der angeborenen Voraussetzungen auch in diesem Alter noch durch offenkundige Unterschiede der individuellen »Sprachbegabung«.

Die in unserer Zeit so reichlich vorliegenden Erfahrungen von und mit Emigrantenschicksalen belegen die Regel: Wen es erst im Alter von zwanzig oder mehr Jahren in einen ihm bis dahin fremden Sprachraum verschlägt, der mag zwar den dort geltenden Wortschatz und die formalen Nuancen seiner Anwendung noch lernen können. In Ausnahmefällen sogar in solchem Maße, daß er sich, wie berühmte Beispiele gezeigt haben, als Schriftsteller zu behaupten vermag. Seinen fremdländischen »Akzent« aber, der ihn sofort als Newcomer verrät, verliert so jemand bis zum Ende seines Lebens nicht mehr.

Ich habe die Auswirkungen dieses Schwundes der angeborenen Fähigkeit zum Erlernen einer Sprache am eigenen Leibe schmerzlich zu spüren bekommen. Da mein Vater wie einem unverrückbaren Dogma der Überzeugung anhing, daß Bildung sowie jedwede geistige Entwicklung von nennenswertem Belang ausschließlich durch eine intensive Beschäftigung mit der griechischen und lateinischen Sprache zu erlangen seien, wurde ich, als es soweit war, in ein humanistisches Gymnasium strengster Observanz geschickt. Das Viktoria-Gymnasium in Potsdam, um das es sich handelte, hatte zwar auch einen »realen« Zweig, für den man sich ab Quarta entscheiden konnte. Der aber wurde bei uns zu Hause zu keiner Zeit ernstlich in Erwägung gezogen, allenfalls in spöttisch-scherzhafter Form, wenn nicht als Drohung in Zeiten, in denen mein Vater von Zweifeln befallen wurde hinsichtlich meines Lerneifers.

Zu diesem Punkt noch eine kleine, die Situation der zwanziger Jahre auf kuriose Weise erhellende Episode. Unter dem beherrschenden Einfluß meines Vaters hatte ich mir dessen Überzeugung von der unbezweifelbaren Überlegenheit einer humanistischen Schulbildung von Anfang an als unbefragbare Wahrheit zu eigen gemacht. Nicht gering war mein Erschrecken daher, als mir – wenige Wochen vor dem Übergang von der Volksschule auf das Gymnasium – ein Klassenkamerad wichtigtuerisch erzählte, daß Hindenburg höchstselbst soeben in der Zeitung Zweifel geäußert habe an der Unverzichtbarkeit einer humanistischen Erziehung. Um die Wirkung dieser Mitteilung auf meinen Seelenzustand ermessen zu können, muß man wissen, daß das Umfeld, in dem ich meine Kindheit verbrachte, weit über das Elternhaus hinaus und seit Generationen bis ins Mark nationalistisch-konservativ geprägt war.

In den Jahren der verhaßten Weimarer Republik trieb diese Haltung die seltsamsten Blüten. Meine Großmutter väterlicherseits war eine ihrer Güte und Bescheidenheit wegen allseits, auch bei den sogenannten »einfachen Leuten«, als »Tante Martha« beliebte, wenn nicht wahrhaft geliebte Frau. In ihrer an Einfalt grenzenden Schlichtheit war sie auch für heutige Ansprüche der Inbegriff einer unpolitischen Existenz, aber sie klebte, vermutlich ohne sich viel dabei zu denken – wenn sie sich überhaupt etwas dabei dachte –, die damals mit dem Porträt des ersten republikanischen Reichspräsidenten gezierten Briefmarken grundsätzlich und mit Sorgfalt verkehrt herum auf ihre Briefe, so daß der arme Friedrich Ebert auf dem Kopf stand. »Man« machte das so, jedenfalls »in unseren Kreisen«. Es war eine jener längst zur gedankenlosen Gewohnheit gewordenen Demonstrationen, mit denen diese Kreise zeigen wollten, daß sie mit dem »ganzen roten Pack, das uns heute regiert«, nichts zu tun haben wollten, schon gar nicht mit dem »Sattlergesellen Ebert«, den eine für das ganze Elend des Vaterlandes verantwortliche sozialistische Revolution groteskerweise auf den Präsidentenstuhl verschlagen hatte. (So, wie man auch davon absah, seine Kinder weiterhin in die zuvor so beliebten »Matrosenanzüge« zu stecken, weil die nationale Schande 1918 ja mit der Meuterei bei der Hochseeflotte angefangen hatte.)

Dieser Geistesverfassung erschien nun der nach dem Tode Eberts 1925 von den vereinigten Rechtsparteien auf den Stuhl des Reichspräsidenten gewählte kaiserliche Feldmarschall Paul von Hindenburg als letzter nationaler Hoffnungsträger. Auf ihn, den »Sieger von Tannenberg«, richtete sich eine geradezu grenzenlose und die wirklichen Fähigkeiten dieses gewiß rechtschaffenen, aber doch auch schlichten Mannes weit überschätzende Verehrung. Er galt in den Kreisen jener, die an der Niederlage wie an ihrer persönlichen Erniedrigung schwer trugen, als einzig gleichgesinnter Repräsentant eines Gemeinwesens, dessen republikanische Strukturen sie nicht verstanden und dessen Werte sie a priori ablehnten. Er war für sie in allen nationalen Belangen der letzte vertrauenswürdige Gewährsmann und für nicht wenige darüber hinaus eine auch in allen übrigen öffentlichen Fragen den Ausschlag gebende Autorität.

Diese menschgewordene Institution hatte nun in einer mich betreffenden Angelegenheit der Auffassung meines Vaters widersprochen! Beklommen nutzte ich die erste sich bietende Gelegenheit, die beunruhigende, unerhörte Information mit allem einem Neunjährigen zu Gebote stehenden diplomatischen Takt meinem Vater zur Kenntnis zu bringen. Er brauchte, wie mir nicht entging und wofür ich größtes Verständnis empfand, einige Sekunden, um die Nachricht zu verdauen. Dann aber teilte er mir in wohlgesetzten, mit Bedacht ausgewählten Worten und in halblaut-diskretem Tonfall mit, daß der »hochzuverehrende Reichspräsident von Hindenburg« zwar unstreitig eine überragende Autorität auf vielen Gebieten sei, daß man es an dem diesem Manne gegenüber angebrachten Respekt andererseits aber nicht fehlen lasse, wenn man die Möglichkeit in Betracht ziehe, daß er sich in der Frage der humanistischen Schulbildung irren könnte. Natürlich kann ich mich an den genauen Wortlaut der väterlichen Lösung des Problems nach so langer Zeit nicht mehr erinnern. Dies aber war ihr Kern, und dies war die Atmosphäre, in der sie mir eröffnet wurde.

An der väterlichen Entscheidung für einen humanistischen Bildungsweg wurden folglich ungeachtet der Bedenken Hindenburgs keine Abstriche vorgenommen. Ich bin meinem Vater zwar heute noch dankbar dafür. Die Geisteswelt der griechischen Antike und des Roms der klassischen Epoche bildet die vielzitierte Wurzel unserer Kultur. Wer in seinem späteren Leben auf den Gedanken kommt, unsere heutige Gesellschaft verstehen zu wollen, ihre Wertvorstellungen und die eigenen Lebensziele, hat es leichter, wenn er von deren historischem Hintergrund etwas weiß, weil man ihm in seiner Schulzeit davon erzählt hat. Wer davon nie etwas hörte, ist ärmer dran.

Nachträglich nehme ich mir allerdings die Frage heraus, ob dieses erstrebenswerte Bildungsziel wirklich vom Schulbeginn an bis zum Abitur sieben Wochenstunden Latein unverzichtbar macht und dazu dann von der Untertertia (viertes Gymnasialschuljahr) ab die gleiche Dosis Griechisch – auf Kosten einer nicht geringen Zahl anderer nicht ganz unnützer Wissensgebiete. Ich hege die Vermutung, daß sich der Verstand eines Heranwachsenden mit Hilfe der Mathematik ganz vorzüglich und sehr sinnvoll trainieren läßt. Auf die Bekanntschaft mit den höheren Stufen dieser geistigen Disziplin mußten wir damals in Potsdam jedoch notgedrungen verzichten. Auf dem humanistischen Zweig reichte die Zahl der zumutbaren Wochenstunden nicht auch noch dafür.

Es läßt sich kaum bestreiten, daß die damals den Gymnasialunterricht bestimmenden Bildungsideale unter dem Einfluß eines tiefsitzenden Winckelmann-Komplexes an einer gewissen Schräglage litten. Griechisch und Latein, das ist gut und sicher richtig. Aber müssen diese zwar klassischen, aber auch toten Sprachen darum gleich mit einem Übergewicht gepflegt werden, das alle anderen Bildungsziele (außer Deutsch und Geschichte) auf den Rang von Nebenfächern verweist? Ich habe an den Folgen dieser Einseitigkeit lebenslang leiden müssen. Während der ganzen Schulzeit gab es für uns keinen Englischunterricht. Sehr viel später erst habe ich mir, genötigt durch meine wissenschaftliche Tätigkeit, diese Sprache im Selbststudium und auf vielen Reisen in englischsprachige Länder angeeignet. Aber ich habe dabei die Erfahrung machen müssen, daß die Fähigkeit zum Spracherwerb in späteren Lebensjahren nicht mehr optimal ausgebildet ist. Zwar kann ich englische Texte heute so mühelos lesen wie deutsche. Mit dem Sprechen und akustischen Verstehen hapert es aber beklagenswerterweise beträchtlich. Als besonders schmerzliches Handicap empfinde ich das Unvermögen, mich bei Diskussionen und als Vortragender im Ausland auf englisch hinreichend differenziert ausdrücken zu können. Auch darin bestehen die Konsequenzen einer humanistischen Erziehung, wenn sie allzu rigoros betrieben wird.

»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« Das alte Sprichwort faßt die Erfahrung knapp und treffend zusammen. Warum Hänschen aber so sehr viel leichter lernt als Hans, davon konnten jene noch nichts wissen, die sich der Regel in der Vergangenheit zum Zwecke pädagogischer Ermahnung bedienten. Was ist das für eine Änderung, die sich in unserem Zentralnervensystem am Anfang unserer irdischen Existenz abspielt, und was ist ihr tieferer Sinn? Oder, transponiert wiederum in das autobiographische Gerüst dieses Buches: Was hat sich in meinem Gehirn abgespielt zwischen meiner Geburt und den ersten Erinnerungen, in der Zeitspanne also, die sich in meinem Bewußtsein im Rückblick nur als schwarzes Loch darstellt? Die neurobiologische Erforschung des Aufbaus und der funktionellen Organisation der Großhirnrinde beim Menschen und bei höheren Tieren hat auf diese Frage in den letzten Jahren Antworten zutage gefördert, die bei aller Unvollständigkeit atemberaubende Einsichten vermitteln: in die Grundlagen unseres Bewußtseins, in die Bedingungen der Art und Weise, wie wir die Welt erleben, und damit in das Wesen dessen, was wir die »Realität« oder die außerhalb unseres Kopfes existierende »Außenwelt« zu nennen pflegen.

Hirn und Wirklichkeit

Die menschliche Großhirnrinde ist die bei weitem am komplexesten organisierte materielle Struktur auf diesem Planeten. Das gilt auch für das räumliche Ordnungsmuster, als das sie sich dem Hirnanatomen unter dem Mikroskop präsentiert. In der durchschnittlich vier Millimeter dicken, eine Fläche von nahezu einem viertel Quadratmeter aufweisenden (und daher stark gefältelt in unserem Schädel untergebrachten) Hirnrinde sind mindestens zehn, nach manchen Schätzungen bis zu fünfzehn Milliarden Nervenzellen (Neuronen) konzentriert. Das wären zwei- bis dreimal so viele in jedem einzelnen Schädel, wie es Menschen auf der Erde gibt. Alle Neuronen sind grundsätzlich miteinander identisch, sie sind so etwas wie die Einheitsbauelemente des ganzen komplizierten Spezialorgans. Nicht nur das: Sie sind in den Einzelheiten ihrer Struktur und ihrer Funktionsweise nicht von den Nervenzellen zu unterscheiden, aus denen das Hirn eines Affen aufgebaut ist oder das eines Hundes oder eines anderen Warmblüters. Beim Kaltblüter sieht die Sache aus gutem Grunde etwas anders aus: Seine Nervenzellen kommunizieren ausschließlich mit Hilfe elektrischer Signale, der einzigen Übertragungsart, deren Zuverlässigkeit von den Schwankungen der Körpertemperatur dieser »wechselwarmen« Organismen nicht spürbar beeinträchtigt wird. Erst der seine Körpertemperatur aktiv regelnde Warmblüter kann sich zur Nachrichtenverarbeitung in seinem Gehirn zusätzlich auch noch chemischer Überträgerstoffe bedienen – Neurotransmitter genannt –, und sie bereichern die funktionelle Vielseitigkeit seiner Nervenzellen um eine ganz neue Dimension. (Einer der Gründe, weshalb ein Karpfen dümmer ist als ein Delphin.)

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