Intervention - Rebekka Kricheldorf - E-Book

Intervention E-Book

Rebekka Kricheldorf

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Beschreibung

Annika, Frans und Marlene sind in großer Sorge: Lily trinkt zu viel. Das behauptet jedenfalls Annika, berufstätige Ehefrau und Mutter, weshalb sie Frans, Lilys Jugendfreundin und Marlene, die Schwester von Lilys verstorbener Mutter zu einer "Intervention" eingeladen hat. Der Plan ist, nach Lilys Ankunft die Tür zu verriegeln, Statements zum Gesundheitszustand der Freundin vorzutragen und gleich einen Platz im Entzug anzusteuern, den Annika natürlich längst besorgt hat. Doch alles kommt anders, denn Lily weiß sich zu wehren. Ihr genügt ein Besinnen auf die Sucht- und Lebensgewohnheiten der besorgten Damenschar, um den Spieß kurzerhand umzudrehen. Denn wer versorgt sein Kind mit Ritalin, damit es still ist? Wer hat sich mit Psychopharmaka vollgepumpt? Und wer braucht zum Besprechen eines jeden Problems das Plopp-Geräusch der Rotweinflasche? Bei so vielen unterschiedlichen Drogen nimmt es nicht Wunder, dass in Rebekka Kricheldorfs "Intervention" die Droge selbst zur Person gerät und hier und da den Vorhang öffnet oder schließt: "Ich bin die Droge. Ich bin gut und schlecht und hart und weich, lindere und erzeuge Schmerz, mache klug, mache dumm, bin und bin nicht zur gleichen Zeit." Die Droge – alterslos – ist der Zeremonienmeister dieses bitterkomischen Schauspiels und sie wird darin auch das letzte Wort oder sagen wir: den letzten Seufzer behalten.

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Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Theatertexte finden Sie auf unserer Website www.kiepenheuer-medien.de

© 2019 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Sämtliche Rechte der öffentlichen Wiedergabe (u. a. Aufführungsrecht, Vortragsrecht, Recht der öffentlichen Zugänglichmachung und Senderecht) können ausschließlich von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH erworben werden und bedürfen der ausdrücklichen vorherigen schriftlichen Zustimmung. Nicht genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.

Dieses Werk ist eine Auftragsarbeit des Staatstheaters Kassel.

PERSONEN

LILY, ungefähr Anfang dreißig

ANNIKA, ungefähr Anfang dreißig

FRANS, ungefähr Anfang dreißig

MARLENE, ungefähr Mitte sechzig

DIE DROGE, alterslos

ORTE

Bei Annika

Vor dem Vorhang

PROLOGUS

DIE DROGEsteht vor einem schweren Samtvorhang mit goldenen Troddeln. Guten Abend. Wenn ich mich vorstellen dürfte? Ich bin die Droge. Ich weiß, eine recht verwaschene Persona. Ich bin gut und schlecht und hart und weich, lindere und erzeuge Schmerz, mache klug, mache dumm, bin und bin nicht zur gleichen Zeit. Manchen mache ich frei, bin jedoch selbst nicht frei. Ich befinde mich in einem wenig ergötzlichen Zustande der Abhängigkeit vom Geschmack der Zeit, diesem unberechenbaren Lumpenhund. Für den einen bin ich ein kleines Pläsir am Feiertage, für seinen Bruder bereits der Tod. Der einen weite ich den Geist, der anderen vernicht ich ihn. Gab es mich gestern aus der Hand unbescholtener Bürger in weißen Kitteln auf Rezept, werde ich heute in sinistren Parkecken von Burschen in schwarzen Kutten verscherbelt. Mal wird mir gehuldigt wie einem Gott, mal werd ich verteufelt, gejagt und im Klosett versenkt. Dabei blieb ich im Grunde immer ich selbst. Es ist meine untreue Freundin, die Wahrnehmung, die mich unentwegt zu einer Anderen macht. Einst begann ich, fünftausend Jahre vor Christus, als Hopfen. Als man mich dann Achtzehnhundertdreiundfünfzig als Heroin erfand, hatte ich keine Ahnung, was aus mir mal werden sollte. Ich fühlte mich so integer. Ich war eine Arznei! Man sagt von mir, ich begegnete mir selbst frei von Vorurteil. Das stimmt und stimmt nicht. Auch mein Gefühl für mich ist schwankender Natur. An manchen Tagen erwache ich und denke, Tirili! Ich bin die Königin der Welt! Dann tret ich auf mit stolzgeschwellter Brust und blicke froh auf meine Taten. Der Soldat marschiert im Takt seines von meinem Amphetamin beschleunigten Herzen. Die Alte im Sanatorium schlummert selig in meinen morphingetränkten Armen. Der Muselmane tanzt nach meiner Haschisch-Pfeife. Doch dann befällt mich wieder Scham. All die Verelendung, die auf meine Kappe geht. All die zerrütteten Familien, all die verwirrten Geister! In solch dunklen Stunden hätt ich nicht übel Lust, mich mit dem Konsum meiner selbst in ein gnädiges Vergessen zu befördern. Doch sogleich denk ich in die andere Richtung und sprech mich wieder frei von jeder Schuld. Ich habe eine reine Seele. Es sind stets andere, die mich beschmutzen. Armut. Verzweiflung. Unwissenheit. Gier. Und man bedenke: Die gesamte Weltliteratur hat mir fast so viel zu verdanken wie der Liebe! Drüben, am anderen Vorhang, steht sie und buhlt um die Gunst der Menge für ihre Fabeln. Denkt, sie habe leichtes Spiel. Ach, dass ich auf ewig gefangen sein muss im Wettstreit mit ihr um das Wohlwollen der Hörerschar! Doch letzten Endes bin ich es, die viel mehr zu erzählen hat. Sie springt in Ballettsprüngen begeistert hin und her. Sedativa! Dissoziativa! Euphorika! Stimulantia! Hypnotika! Psychedelika! Alles meine Verkörperungen! Meine süßen, kleinen Verkörperungen! Bleibt stehen. Nun, ich bin recht vielseitig. Dennoch gibt es Verkörperungen, in denen ich mir besser, und Verkörperungen, in denen ich mir schlechter gefalle. Als aufgekochter Sud aus unreinen Substanzen zeig ich mich nicht gern. Das ist so räudig! Als Fässchen Rotwein hingegen gefall ich mir recht gut. Womit wir bei unserer heutigen Geschichte wären. Da geht's um mich als Alkohol. Schon wieder, ich weiß! Ein Mann der hohen Politik sagte mir einst, man müsse die Menschen dort abholen, wo sie stünden. Säßen. Nun, seh ich mich um, so scheint mir hier ein kleiner Schwank vom Wein höchst angebracht. Wird es am Ende dennoch Tote geben? Schaun wir mal. Möge das Spektakel beginnen! Sie zieht an der Vorhang-Strippe. Der Vorhang klemmt. Mon Dieu! Quel Malheur! Sie hängt sich an die Strippe. Der Vorhang klemmt immer noch. Zapperlot! Irgendwann geht der Vorhang dann doch auf. Man sieht Annika im kleinen Schwarzen in ihrer Wohnung hektisch auf und ab laufen.

DIE DROGEflüstert Das ist das Fräulein Annika. Es ist in höchstem Maße besorgt. Warum, das werden wir gleich sehen. Geht.

I. DIE INTERVENTION VORBEREITEN

Bilde ein Interventionsteam / Wende dich an einen Experten / Finde den richtigen Behandlungsplan / Entscheide, welche Konsequenzen du ziehen willst / Wähle Ort und Zeitpunkt aus / Probe das Ganze

Marlene kommt in buntem Gewand. Annikas Blick: Vernichtend.

MARLENE Was ist?

ANNIKA Ich hatte gesagt: Festlich.

MARLENE Das ist festlich.

ANNIKA Das ist karnevalesk.

MARLENE Sag das den Hindus, die darin ihre heiligsten Feste feiern.

ANNIKA Wir sind aber keine Hind –

MARLENE Schau dich mal an. Sie ist nicht gestorben.

ANNIKA Noch nicht.

MARLENE Können wir den Pathos-Regler bitte etwas runter drehen?

ANNIKA Marlene, bitte nimm die Situation so ernst, wie sie ist.

MARLENE Mach ich, mach ich. Aber warum überhaupt festlich? Das wirkt doch abschreckend.

ANNIKA Ich wollte nicht, dass wir ihr in Jogginghosen gegenüber sitzen. Wollte hierfür eine Form finden. Schweigen. Mensch, ich mach das doch auch zum ersten Mal!

Marlene knufft Annika in die Wangen.

MARLENE Die kleine Annika! Annika entwindet sich. Wie lang ich sie nicht geseh –

ANNIKA Seit Jonas Taufe nicht.

MARLENE Hä, welcher Jonas?

ANNIKA Mein Sohn.

MARLENE Ach, der! Na klar. Wie alt ist er jetzt, der kleine Scheißer?

ANNIKA Fünf.

MARLENE Fünf! Gutes Alter. Schöne Grüße, sage ihm, fünf sei ein sehr, sehr gutes Alter.

ANNIKA Für was?

MARLENE Für alles. Man ist alt genug, um am Zerstören anderer Kinder Besitztümer Spaß zu haben, aber noch zu jung, um die Verantwortung dafür übernehmen zu müssen. Toll. Wie ich dieses Alter vermisse!

ANNIKA Kann ich mir denken.

MARLENE Und sonst so? Der Mann?

ANNIKA Wir sind sehr glücklich, danke.

Schweigen.

ANNIKA Und wie geht's dir so?

MARLENE Ich bin gesund und hab mein Hirn beieinander. Mit dem Laden läuft es mal besser, mal schlechter, es reicht aber immer noch für die schmalen Bedürfnisse eines verblühenden Blumenkinds. Tataa! Wenig brauchen ist besser als viel –

Frans kommt. Sie sieht auf exzentrische Weise verwahrlost aus.

FRANS Hallo. Ich bin Frans.

ANNIKA Ich hatte gesagt: Festlich.

FRANS So geh ich halt feiern.

Schweigen.

MARLENE Ihr habt mich mal besucht. Weißt du noch?

FRANS Ja, klar. Lily nannte dich das bunte Schaf der Familie.

MARLENE Das bunte Schaf, das bunte Schaf! That's me! Also, wie ziehen wir das Ganze auf?

FRANS Ja, what's the fucking plan?

ANNIKA Also: Wenn sie reinkommt –

FRANS Kein Banner?

ANNIKA Was?

FRANS Auf Netflix haben die immer so Banner.

ANNIKA Wir sind aber nicht auf Netflix, sondern in der Wirklichkeit.

FRANS INTERVENTION steht da groß drauf.

ANNIKA Du schaust die falschen Serien. Wir machen keine Comedy hier. Die Lage ist verdammt ernst.

FRANS Ist sie das?

ANNIKA Ich hab euch die Lage doch geschildert.

FRANS Darüber würde ich gern noch mal reden.

ANNIKA Wir hatten das doch schon besprochen.

FRANS Ich weiß. Können wir uns kurz setzen? Ich saß sieben Stunden im ICE und –

ANNIKA Ich fang jetzt nicht wieder von vorne an.

FRANS Nein. Aber das, was wir da machen, ist ganz schön krass. Wir tragen eine Verantwortung für unser Handeln.

ANNIKA Wir tragen auch die Verantwortung für unser Nichthandeln.

FRANS Klar. Ich will ja nur ganz sicher sein, dass wir das Richtige tun.

MARLENE Ich verstehe deine Zweifel. Ich hatte sie auch. Aber nach dem, was Annika uns erzählt hat, ist es doch offensichtlich, dass Lily unsere Hilfe braucht.

FRANS Können wir uns da absolut sicher sein? Können wir sicher sein, dass wir mit dieser Aktion nicht eher Schaden anrichten? Wie ich Lily so kenne –

ANNIKA Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?

FRANS Keine Ahnung. Ist das wichtig jetzt?

ANNIKA Na ja, wie DU Lily so kennst –

FRANS Was soll das?

MARLENE Nu lass die Franse doch mal ausreden! Sprich, Kind, sprich.

FRANS Ich saß sieben Stunden im ICE und dachte nach. Über die Worte, die wir benutzen.

Annika stöhnt.

MARLENE Na, lass sie mal.

FRANS Sucht. Krankheit. Lebenskrise. Entzugsklinik. Rettung. Was, wenn diese Worte falsch sind? Was, wenn es um ganz andere Worte geht? Spaß. Befreiung. Revolte. Genuss. Freiheit.

ANNIKA Freiheit? Freiheit wozu? Alles kaputtzumachen, was ihr in den letzten Jahren wichtig war?

FRANS Ok, sie hat mal wieder einen Schwanz abgewählt. So what?

ANNIKA Sie hat nicht irgendeinen Schwanz abgewählt, sondern ihren Freund verlassen.

FRANS Wenn du jedes Mal, wenn Lily einen Typen in die Wüste schickt, den Krankenwagen rufst –

ANNIKA Benjamin war der beste, den sie je hatte. Klug, süß, lustig. Total verlässlich. Ein ganz und gar positiver Mensch.

FRANS Igitt.

ANNIKA Endlich mal was Ernstes. Was, mit dem man eine Zukunft planen, Kinder in die Welt setzen –