DIE KUNST DER SELBSTABSCHAFFUNG - Rebekka Kricheldorf - E-Book

DIE KUNST DER SELBSTABSCHAFFUNG E-Book

Rebekka Kricheldorf

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Beschreibung

Eine Endlichkeits-Clowneske lautet das Stück im Untertitel, weshalb neben roten Nasen auch Schrumpfköpfe eine Rolle darin spielen. Ein solchen bringt Julian nach langer Abwesenheit seinem Vater Richard als Geschenk mit, um dessen Memento-mori-Sammlung, bestehend aus blinkenden Totenschädeln, Sanduhren und ausgestopften Tieren, zu vervollständigen. Mag Richards Interieur noch unverändert sei, die Hausgemeinschaft ist es nicht: Während Bader und Meinhof, die zurück gelassenen Zebrafinken, verstorben und im Kühlschrank konserviert sind, begegnet der Sohn neuen Mitbewohner, die ihm unbekannt und auf morbide Art lebendig sind. Bis auf den alten Freund Valentin, der zum Dichter mutierte ("Guten Tag. Ich schreibe gerade einen Roman über mein Liebesleben. Möchten Sie drin vorkommen?"), lebt sein Vater mit neuen Menschen unter einem Dach: Da ist Ines, die neue Lebensgefährtin, die im Hospiz sterbende Kinder im Clownskostüm heimsucht, Fleur, deren Mund eine Katastrophengeschichte nach der anderen entweicht, und Marcel, der beim Film ein viel gefragter Toten-Darsteller ist. Und was ist mit Vanessa, Julians Freundin, derentwegen er nach Venezuela ging, um darüber nachzudenken, ob er sie wirkliche liebe? Ein Anruf mit dem Büchsentelefon verschafft ihm Klarheit: Sie ist inzwischen Ehefrau und Mutter geworden. Dafür, dass in dieser Endlichkeit-Clowneske bei aller Todessymbolik weder physischer, noch mentaler Stillstand herrscht, sorgen Dialoge, die mit der gewohnten Schärfe und Kricheldorfschen Ironie eine Gesellschaft sezieren, die sich jeden Tag die Frage nach einem richtigen Leben stellt. Und – wie im richtigen Leben – macht auch hier der Letzte das Licht aus.

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Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Theatertexte finden Sie auf unserer Websitewww.kiepenheuer-medien.de

© 2014Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Sämtliche Rechte der öffentlichen Wiedergabe (u. a. Aufführungsrecht, Vortragsrecht, Recht der öffentlichen Zugänglichmachung und Senderecht) können ausschließlich von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH erworben werden und bedürfen der ausdrücklichen vorherigen schriftlichen Zustimmung. Nicht genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.

ISBN978-3-7375-0058-6

Personen

Fleur, jünger

Marcel, jünger

Julian, älter

Vanessa, älter

Valentin, älter

Richard, noch älter

Ines, noch älter

"Der Tod geht uns nichts an. Denn wo er ist, sind wir nicht, und wo wir sind, ist er nicht." Epikur

In Richards Wohnzimmer. Ein Raum voller Mementomori: Schädel, Stundengläser, Kuckucksuhren, ausgestopfte Tiere, blinkende Totenköpfe, vergoldete Turboschnecken. Ein Kühlschrank. Richard, Ines, Fleur, Marcel und Valentin tief ins Dekor eingearbeitet. Fleur und Marcel knutschen. Julian kommt mit Rucksack. Er hat einen Bart.Richard steht auf.

RICHARD Julian.

JULIAN Ich bin wieder da.

RICHARD Du bist wieder da.

Julian und Richard umarmen sich lange.Juliankramt in seinem Rucksack, holt einen Schrumpfkopf hervor und drückt ihn Richard in die Hand.

JULIAN Hier. Ein Schrumpfkopf. Für deine Sammlung.

RICHARD Danke. stelltden Schrumpfkopf zu den anderen Dingen

JULIAN Ich weiß jetzt, dass ich sie liebe. Schweigen Gibst du mir den Schlüssel?

Schweigen

RICHARD Deine Wohnung. Die gibts nicht mehr. Schweigen Es gibt sie noch, aber sie hat gewisse Transformationen erlitten.

INES Wurde luxussaniert.

RICHARD Da wohnen jetzt so schwule italienische Social Media Manager.

INES Die haben auch so Bärte.

JULIAN Was? Ich war doch nur mal kurz in Venezuela.

Schweigen

JULIAN Wer ist diese Frau?

RICHARD Ines. Meine Freundin.

INESwinkt Hallo.

JULIAN Seit wann hast du eine Freundin?

RICHARD Schon länger.

Schweigen

JULIAN Wie geht es Baader und Meinhof?

Schweigen

RICHARDgeht sehr langsam zum Kühlschrank und holt zwei Zigarettenschachteln aus dem Eisfach. Drückt Julian die erste Schachtel in die Hand Baader danndie zweite Schachtel Meinhof. Julian schaut in die Schachteln und findet je einen gefrorenen toten Zebrafinken.

JULIAN Du hast sie ermordet.

RICHARD Die sind komplett von selbst gestorben.

INES An Altersschwäche.

MARCEL Hatten ein gutes Leben.

FLEUR Waren immer fröhlich.

MARCEL Echt jetzt.

FLEUR Man lehnt sich durchaus nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man hier von einer rundum geglückten Zebrafinken-Existenz spricht.

JULIAN Wer sind die?

RICHARD Fleur und Marcel.

FLEUR / MARCELwinken Hallo.

JULIAN Was machen die hier?

RICHARD Die wohnen hier.

JULIAN Und der da?

VALENTIN Ich bins doch. Der Valentin.

JULIAN Valentin? Du hast dich aber. Du siehst so. Umarmung Seriös aus.

VALENTIN Ich habe fünf Romane geschrieben. Ich bin seriös.

JULIAN In der kurzen Zeit?

Schweigen

VALENTIN Meine Frau und ich -

JULIAN Du hast eine Frau? Du?

VALENTIN Ja. Die Elisabeth. Die Elisabeth arbeitet in der Kreativbranche.

JULIAN Krea - what?

RICHARD Die beiden ziehen gerade ein.

VALENTIN Die Elisabeth und ich brechen die Zweiersymbiose der Neuen Bürgerlichkeit auf und experimentieren mit alternativen Wohnformen.

Julian fixiert Valentins Polo-Shirt.

JULIAN Ich seh da doch ein Krokodil.

VALENTIN Ich bin alt genug fürs Krokodil.

JULIANzu Richard Vor meiner Abreise warst du ein grantiger Menschenhasser und jetzt hast du eine Kommune gegründet?

RICHARD Du warst lange weg.

JULIAN Nur mal kurz in Venezuela.

Schweigen

JULIAN Ich war nur kurz weg, um nachzudenken. Um herauszufinden, ob ich sie liebe oder nicht. Jetzt weiß ich es. Ich rufe sie gleich an und sag es ihr.

Schweigen. Julian greift zum Büchsentelefon.

RICHARD Was machst du da?

JULIAN Telefonieren?

RICHARD Oh je.

JULIAN Ich bin ein altmodischer Mensch. indie Büchse Hallo? Vanessa? Richard schüttelt den Kopf. Sie nimmt nicht ab. Vanessa?

VANESSAam anderen Ende des Büchsentelefons Julian?

JULIAN Ich bin wieder da.

VANESSA Schön.

JULIAN Ja.

VANESSA Ja.

Schweigen

JULIAN Ja.

Schweigen

JULIAN Die Antwort. Ja.

VANESSA Ja?

JULIAN Ja. Ich liebe dich.

VANESSA Das ist interessant.

JULIAN Interessant?

VANESSA Ja, Julian. Pause Ich habe jetzt einen Mann und ein Kind und mit dem Rauchen aufgehört. zündetsich eine Zigarette an Das ist eine Kräuterzigarette.

JULIAN Ein Kind? In der kurzen Zeit? Das ist anatomisch nicht möglich. Schweigen.Julianschnüffelt. Das ist keine Kräuterzigarette.

VANESSA Ich muss los. Aber komm dich mal besuchen. Wohnst du bei deinem Vater?

JULIAN Nein.

VANESSA Wo dann?

Schweigen. Richard verständigt sich durch Zeichensprache mit den anderen, geht dann zu Julian und legt ihm eine Hand auf die Schulter.

RICHARD Sohn. Das Plenum hat soeben einstimmig beschlossen, dass du bei uns wohnen darfst.

JULIANin die Büchse Ich glaub, ich wohn bei meinem Vater.

VANESSA Bis dann. Tschüss. Ab. Julian lässt die Büchse sinken.

JULIAN Wann habt ihr alle die Zeit gefunden, so lange und viel zu leben? Schweigen.Die Gruppe guckt ihn mitleidig an. Als ich abreiste, war ihre Liebe für mich noch da. Und jetzt ist sie weg.

RICHARD Tja, mein Junge.

JULIAN Sie war da, und jetzt ist sie weg. Das akzeptiere ich nicht.

RICHARD Leg beim Universum Beschwerde ein.

INES Besser einen Korb kriegen als gar nichts Selbstgebasteltes.

MARCEL Das kann passieren, wenn man zu lange durch Venezuela latscht.

FLEUR Also, ich kann dir helfen, wenn du -

MARCEL / INES / RICHARD / VALENTIN Pscht.

Schweigen

VALENTIN Als er seinen Jugendfreund so verzweifelt vor sich stehen sah, legte sich Ratlosigkeit auf sein Hirn wie ein toter Hammel. Aber er vernahm auch aus den Tiefen seines Selbst, von dort, wo die Seele am sumpfigsten ist, eine dünne Stimme, die schrie: Selbst Schuld, Julian, selbst Schuld.

JULIAN Macht der das jetzt immer?

RICHARD Dein Freund Valentin hat sich leider eine déformation professionelle -

INES Chronische.

RICHARD Chronische déformation professionelle eingefangen.

JULIAN Oh Mann.

VALENTIN Besser als Malaria. Er schlug das Buch seines Lebens auf und blätterte in dem Kapitel über die bittersüßen Stunden des fernen Früher, genannt Kindheit. Den beiden Jungen, die er dort antraf, sah man ihre Zukunft noch nicht an. Wen würden die Ratten des Scheiterns zuerst zernagen?

JULIAN Hätte ich je geahnt, in einer Biografie zu landen, in der so etwas vorkommt, hätte ich mich an gewissen Knotenpunkten anders entschieden.

VALENTIN Darf ich den Satz haben?

JULIAN Oh Mann.

Schweigen

JULIANzum Publikum Mir gefällt dieses Stück hier gar nicht.

VALENTIN Und mir gefällt die Ebene gar nicht, die du hier aufmachst.

JULIANzum Publikum Findet ihr das gut?

VALENTIN Sprichst du etwa mit dem Publikum? Wie peinlich.

JULIAN Du, ich red mit wem ich will.

Schweigen

FLEUR Wir haben ein Loch. Sie dreht alle Uhren nach vorn.

RICHARD Fleur, bitte nicht!

FLEUR Vierundzwanzig Stunden später.

RICHARD Scheiße.

Valentin und Ines verlassen hektisch den Raum, Richard setzt sich in den Krempel, Fleur und Marcel knutschen. Julian wartet. Vanessa kommt. Umarmung, dann Abstand. Im Zuge dieses Gesprächs wird sehr viel geraucht.

VANESSA Wie wars in Venezuela?

JULIAN Anders.

Pause

VANESSA Ich habe jetzt ein Leben.

JULIAN In das ich nicht mehr reinpasse.

VANESSA Aber natürlich passt du noch in mein Leben, Julian.

JULIAN Aber in welcher Funktion?

VANESSA In einer ganz wunderbaren Funktion.

JULIAN Ich ahne Schlimmes.

VANESSA In der Funktion als Freund.

JULIANAufschrei. Schweigen Freundschaft ist zielgehemmter Trieb.

VANESSA Wer sagt denn so einen Blödsinn?

JULIAN Sigmund Freud.

VANESSA Der Sack hat ja wohl gar nichts kapiert. Schweigen Du rauchst wieder?

JULIAN Nein. Ich hab schon lange aufgehört. Aber du hast also wieder angefangen. Schade.

VANESSA Nein. Ich rauch schon lang nicht mehr. Nur heute.

JULIAN Wer heute raucht, raucht.

VANESSA Es ist ein Unterschied, ob ich jeden Tag eine Schachtel oder ein Mal in der Woche drei Kippen rauche.

JULIAN Du rauchst.

VANESSA Du brauchst nur einen Komplizen für deinen Rückfall.

JULIAN Ich? Ich rauche nicht. Schon lang nicht mehr.

VANESSA Wie leer ist die Schachtel?

JULIAN Welche Schachtel?

VANESSA Die, die neben dir liegt.

JULIANhebt die Schachtel hoch und guckt rein