Fräulein Agnes - Rebekka Kricheldorf - E-Book

Fräulein Agnes E-Book

Rebekka Kricheldorf

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Beschreibung

"Ich habe diese Männer satt. Ich habe diese Frauen satt. Ich habe diese Kinder satt. Ich habe die ganze Menschheit satt." Insbesondere aber hat Agnes, einst erfolgreiche Romandebütantin, diese Gesättigten der intellektuellen Kuschelzone satt, deren kulturfondgeförderte Flüchtlingsprojekte immersiv und transmedial, performativ und radikal verstörend die bürgerliche Lebenslüge entlarven wollen. Dabei leben die Agnes Umgebenden, die mehr oder minder Kunstschaffenden zweier Generationen, genau diese Lebenslüge. Und Agnes enttarnt sie schonungslos auf ihrem Blog. Denn: "Für den Künstler existiert das Private nicht." Selbst die Mutterliebe zu ihrem Sohn Orlando steht als "Spezialbeziehung" unter Korruptionsverdacht und darf keine Gnade walten lassen. Doch wer bleibt Agnes, wenn sie mit der vermeintlichen, vom Schneckenschleim der urbanen Gemeinschaft befreiten Wahrheit um sich schlägt? Zum Schluss eigentlich nur der junge Elias, ein freiwillig arbeitsloser, nicht-sesshafter Philosoph, dessen schonungslos-erhellende Sprachkritik alle und alles in Frage stellt – und der Agnes' Sofa ob seiner wirtschaftlichen Situation auch gar nicht verlassen will. Kann also nur noch der rurale Rückzug, den Agnes sich als Befreiung aus der Gesellschaft wünscht, glücklich machen?

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Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Theatertexte finden Sie auf unserer Websitewww.kiepenheuer-medien.de

© 2017 Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH

Schweinfurthstraße 60, 14195 Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Sämtliche Rechte der öffentlichen Wiedergabe (u. a. Aufführungsrecht, Vortragsrecht, Recht der öffentlichen Zugänglichmachung und Senderecht) können ausschließlich von der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertriebs-GmbH erworben werden und bedürfen der ausdrücklichen vorherigen schriftlichen Zustimmung. Nicht genehmigte Verwertungen verletzen das Urheberrecht und können zivilrechtliche und ggf. auch strafrechtliche Folgen nach sich ziehen.

AGNES, zwischen 40 und 45

FANNY, zwischen 45 und 50

ORLANDO, zwischen 20 und 25

SASCHA, zwischen 25 und 30

ANNABELLE, zwischen 20 und 25

CORDULA, zwischen 20 und 25

ADRIAN, zwischen 45 und 50

ELIAS, zwischen 20 und 25

ORT

Eine Altbauwohnung

ZEIT

Ein Wochenende

Dieses Werk ist eine Auftragsarbeit des Deutschen Theaters Göttingen.

„Mes yeux sont trop blessés; et la cour, et la ville,

Ne m'offrent rien qu'objets à m'échauffer la bile:

J'entre en un humeur noire, en un chagrin profond,

Quand je vois vivre entre eux, les hommes comme ils font;

Je ne trouve, partout, que lâche flatterie,

Qu'injustice, intérêt, trahison, fourberie;

Je n'y puis plus tenir, j'enrage, et mon dessein

Est de rompre en visière à tout le genre humain.“

Molière, „Le Misanthrope“

„Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“

Ingeborg Bachmann

FREITAG

Neunzehn Uhr

Agnes in einem Sitzsack aus den Achtzigern. Fanny, bester Laune, macht sich im Hintergrund ausgehfertig. In einer Ecke liegt Elias und liest.

AGNES Ich habe diese Paare satt. Diese Paare, die sich ständig an einen ranschmeißen, weil sie ihre Zweisamkeit nicht aushalten. Ich habe diese Singles satt. Diese Singles mit ihrem verlogenen Geschwätz von Freiheit. Ich hab diese Künstler satt. Diese Stipendien-Parasiten, die ihre müden kleinen Affären mit anderen Parasiten aufblasen zu welthaltigen Seelendramen und damit die Atmosphäre zumüllen. Ich hab diese Kosmopoliten satt. Diese dreitagebärtigen Besserwisser, die sich weißgottwie weltgewandt fühlen, bloß weil sie ein paar Monate durch Südamerika gelatscht sind mit ihrem dämlichen Rucksack. Ich habe diese Geliebten satt, die sich über die Ehefrauen ihrer Lover lustig machen und sich für das Bessere, Intensivere halten. Ich habe diese fremdgehenden, verlogenen, pseudogewissensverbissenen Ehemänner satt. Ich habe diese nichtfremdgehenden, verlogenen, pseudonichtuntervögelten Ehemänner satt. Ich habe diese gemütlichen Rotweintrinker satt mit ihren gemütlichen Rotweinnasen. Ich habe diese uralten Galeristen mit ihren jungen asiatischen Frauen satt. Ich habe diese schicken schwulen Agenten mit ihren hohl grinsenden Begleitern satt. Ich habe diese Sportler satt, diese miesen Kreaturen, die jeden Morgen um Fünf in ihren dämlichen Thermo-Klamotten durch die Pampa rennen und damit angeben, wie fit und ausgeglichen sie sich fühlen. Ich habe diese Raucher satt. Ich habe diese militanten Ex-Raucher satt. Ich habe diese Gelegenheitsraucherschweine satt. Ich habe diese Alkoholiker satt, die bereits um siebzehn Uhr in ihren immer gleichen Denk-und Redeschleifen verschwinden, die stinken, fuchteln und dann umfallen, so dass man sie entweder, schlechten Gewissens, liegenlassen oder, zähneknirschend, schultern und nach Hause schleppen muss. Ich habe diese Kokser satt, diese chemisch aufgeblähten Gockel. Ich habe diese Kiffer satt, diese Teechen trinkenden Sofa-Philosophen mit ihren ewigen Metalldosen voll Hasch. Ich habe diese Abstinenzler satt. Ich habe diese fettgefressenen, selbstgefälligen, ihren eigenen Mythos in Zement gießenden Großschriftsteller in ihren schäbigen Großschriftsteller-Jacken satt. Ich habe diese Großschriftsteller-Gattinnen satt, die hinter ihren Männern herrennen und ihnen die Schuppen von den Schultern bürsten. Ich habe diese in Würde alternden Musiker satt. Ich habe diese Schauspielerinnen mit ihren leeren Hirnen und ihren piepsenden Stimmchen satt. Ich habe diese Wenderoman-Autoren satt mit ihren Tausendseiten-Schwarten voll lähmend öder Kindheitserinnerungen. Ich hab diese Kulturverwaltungstussen satt, diese fleißigen Bienchen mit Einsnullerabi und Haifischgebiss. Ich habe diese redeschwingenden Regional-Politiker satt, die glauben, sie hätten irgendeine Ahnung von Kunst, nur weil ihre Mama sie mal mit zwölf in eine Dali-Ausstellung geschleppt hat. Ich habe diese Hundefreunde satt. Diese vom Mitmensch enttäuschten Schrullen, die als letzte anzapfbare Zuneigungsquelle das Tier missbrauchen, das Tier, das sich an jedem schabt, der ihm zu fressen gibt und das dafür seine animalische Ehre an den Nagel hängt. Ich habe diese auf Lolita gestylten, überreifen Frauen satt, die kreischend in den Großstadt-Bars rumhängen und ihre verdorrten Eierstöcke mit ihren teenierosa Mäntelchen bemänteln. Ich habe diese internationalen Netzwerker satt mit ihren blöden überteuerten Laptops auf ihren blöden internationalen Schößen. Ich habe diese Witzereißer satt, die in jeder Gesprächsrunde mit ihrem verbalen Elan punkten müssen. Ich habe diese schleimigen Laudatoren satt. Ich habe diese Schönen satt, die so tun, als hätten sie die Gunst der Welt durch irgendeinen edlen Charakterzug verdient, obwohl sie nur rumstehen und dumm wie Wurst sind und sich von den notgeilen Trotteln aus der Hand fressen lassen. Ich habe diese kapitalismuskritischen Künstler satt, die steuergeldfinanziert herumgrölen und wie Welpen in die sie fütternde Hand beißen, ohne die sie längst verreckt wären in einem muffigen Büro mit Gummibaum. Ich habe diese Kunstsammler satt. Ich habe die Komiker satt, diese lebensunfähigen Lemuren. Ich habe diese therapiegeschädigten Narzissten mit ihren Vater-Komplexen und Mutter-Phobien satt. Ich habe die Poeten satt, diese emotionsdiarrhoetischen Liebesbriefschreiber und Blätterbetrachter, diese Edleseelengewächshausgezüchte mit ihren staats-subventionierten Gedichtbändchen in Kleinstauflagen. Ich habe diese Installationskünstler satt. Ich habe die dummschwätzenden Filmstudenten satt, diese schamhaarlosen Godard-Versteher und Brillenfuchtler. Ich habe diese Männer satt. Ich habe diese Frauen satt. Ich habe diese Kinder satt. Ich hab die ganze Menschheit satt.

FANNY Tschüss. Ich geh dann mal.

AGNES Ja. Geh. Geh zu deiner Ver-an-stal-tung. Amüsier dich. Versuch es. Ich sage dir, wer von uns beiden den intellektuell anregenderen Abend verbringen wird. Ich. Weil ich mich in der besseren Gesellschaft befinde. Nämlich der meinigen.

FANNY Du meinst das auch noch ernst.

AGNES Geh und sammle verlogene Komplimente in dein Sammelkörbchen. Kleb dich den wichtigen, wichtigen Menschen an die Hacken. Und vor allem: Vergiss nicht, zu saufen. Saufen macht jedes verpfuschte Leben bunt. Sogar deins.

FANNY Kann doch ich nichts dafür, dass du dieses Jahr nicht eingeladen wurdest.

AGNES Ich wurd nicht eingeladen, weil man wusste, dass ich eh nicht kommen würde. Ich wurd nicht eingeladen, weil man mir in einem Restbewusstsein von Feingefühl die Peinlichkeit, mir eine Ausrede für mein Nichtkommen zu überlegen, ersparen wollte. Weil man ja weiß, dass ich nicht lügen kann.

FANNY Klar.

AGNES Du glaubst doch nicht, dass ich mir diesen schönen Freitagabend mit einer solchen Ver-an-stal-tung versaut hätte?

FANNY Natürlich nicht.

AGNES Dir blüht viel Lächeln und viel Lügen.

FANNY Ich lächle gern. Und ob so eine kleine Übertreibung an der rechten Stelle gleich eine Lüge ist –

AGNES Du wirst, ab dem Moment, in dem du die Schwelle der Ver-an-stal-tung überschreitest, lügen. Lügen über deine Laune. Lügen über den Grad der Freude angesichts des Wiedersehens mit einer bestimmten Person. Lügen über die Schmackhaftigkeit der Häppchen. Lügen über die Schönheit von Blusen, die Qualität von Kunstwerken, das Witzniveau von Witzen.

FANNY Humanes Lügen. Erfand der Mensch, um sich nicht zu zerfleischen.

AGNES Und weil das viele Lügen so anstrengend ist, wirst du dich besaufen. Und der Suff wird dir ein Fenster öffnen, durch das du die Wahrheit locker aus der Hüfte ins Haus der Heuchelei schmeißen könntest wie einen Molotowcocktail, aber du wirst vorher in ein Taxi hechten, nach Hause fahren und all das schöne Pulver sinnlos in diesem Wohnzimmer verschießen.

FANNY Mit trunkenen Beleidigungen hat noch keiner je die Welt verändert. Das führt nur zu inneren Verletzungen. Und Hausverboten.

Pause

AGNES Ich hatte Recht.

FANNY Du hattest Recht. Es war so klug, den Chefredakteur der BILD UND TON als Mini-Goebbels zu bezeichnen.

AGNES Wenn er ein Mini-Goebbels IST?

FANNY Das will nicht dringend öffentlich gesagt sein.

AGNES Ach. Begegnet man also Goebbels, sagt man nicht, hallo, Goebbels, sondern hallo, Sonnenblume? Oder was? Und außerdem, was willst du: Er misst eins achtundsechzig. Ist das nun Mini oder nicht?

FANNY Und ist mit Leib und Seele Linker.

AGNES Der sich sprachlich sehr weit rechts bedient.

FANNY Sein Opa wurde in Auschwitz ermordet.

AGNES Ein Grund mehr für das Abstandhalten von der faschistoiden Sprachfigur.

FANNY Dein Satz war taktlos.

AGNES Aber wahr.

FANNY Wahrheit und Takt sind nicht die besten Freunde.

AGNES So ist es, liebe Fanny, so ist es.

FANNY Es gibt gute Gründe, warum die Gesellschaft die Höflichkeit erfand.

AGNES Wenn deine liebe Höflichkeit nicht eine solche Schlampe wär! Und am liebsten macht sie für die Ignoranz, die Falschheit und das Mimosentum die Beine breit.

FANNY Du forderst absolute Ehrlichkeit? Dann sag ich dir ganz ehrlich: Ich mach mir Sorgen.

AGNES Um mich?

FANNY Wenn du so weiter machst, dann endest du an einem sehr, sehr finsteren Ort.

AGNES Was mag das für ein Ort sein?