Jean-Claude Juncker - Margaretha Kopeinig - E-Book

Jean-Claude Juncker E-Book

Margaretha Kopeinig

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Beschreibung

Jean-Claude Juncker ist einer der erfahrensten Staatsmänner Europas. Als langjähriger Ministerpräsident Luxemburgs, zuletzt dienstältester Regierungschef in der EU und Eurogruppen-Vorsitzender setzt er sich für ein soziales Europa ein. Sozialpolitik, Beschäftigung, Wachstum und Investitionen erklärt er auch als Kommissionspräsident zu seinen Prioritäten. Austrittsdrohungen, Budgetdefizite, Arbeitslosigkeit, Kriege in der Nachbarschaft, Migrationsfragen, Steuerbetrug und Finanzspekulationen: Die Position des EU-Kommissionspräsidenten wird in den nächsten Jahren immer wichtiger. Jean-Claude Juncker steht vor der Aufgabe, das europäische Staatenbündnis nicht nur zusammenzuhalten, sondern weiterzuentwickeln. Um den Menschen eine Perspektive zu geben, wird er kreative Konzepte gegen die Krise finden müssen. Die Erwartungen an Jean-Claude Juncker sind groß: Wenn er an seinem Baustück Europa weiterarbeitet wie bisher, ist er der richtige Mann für den höchsten Posten der EU.

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Margaretha Kopeinig

JEAN-CLAUDE JUNCKER

Der Europäer

unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun

mit einem Vorwort von Martin Schulz

Margaretha Kopeinig

JEAN-CLAUDE JUNCKER

Der Europäer

unter Mitarbeit von Sabine Edith Braun

mit einem Vorwort von Martin Schulz

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien MA 7/ Kultur – Wissenschafts- undForschungsförderung

Kopeinig, Margaretha: Jean-Claude Juncker. Der Europäer / Margaretha Kopeinig Wien: Czernin Verlag 2014 ISBN: 978-3-7076-0509-9

© 2014 Czernin Verlags GmbH, Wien Coverfoto: Simela Pantzartzi / EPA / picturedesk.com Umschlaggestaltung: sensomatic Produktion: www.nakadake.at ISBN Print: 978-3-7076-0508-2 ISBN E-Book: 978-3-7076-0509-9

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

VORWORT

von MARTIN SCHULZ

Am 15. Juli wählte das Europäische Parlament Jean-Claude Juncker mit großer Mehrheit zum Kommissionspräsidenten – ein historischer Tag, der die Demokratie und den Parlamentarismus in Europa nachhaltig stärken und die EU verändern wird.

Jean-Claude Juncker hat ein starkes Mandat vom Parlament erhalten, dem eine breite Unterstützung im Europäischen Rat vorausgegangen ist. Das kann, muss und wird ihn stärken bei der Bewältigung der großen vor uns liegenden Herausforderungen. Er verfügt über einen Rückhalt, wie ihn in dieser Form noch kein Kommissionspräsident vor ihm hatte.

Seiner Wahl vorausgegangen war ein Prozess, wie ihn Europa bisher nicht kannte. Bei der Europawahl 2014 ging es um nichts Geringeres als um den Aufbau einer echten transnationalen Demokratie. Die Wahl war eine Zeitenwende in der demokratischen Entwicklung Europas. Erstmals waren mehr als 400 Millionen Wähler zur Wahl aufgerufen – um mit ihrer Stimme auch darüber zu entscheiden, wer Präsident der EU-Kommission wird. Ein Experiment, das es in der Geschichte noch nicht gegeben hat.

Was auf der nationalen Ebene als normal und selbstverständlich gilt – nämlich die Exekutive nach einer Wahl einzusetzen, sie in ihrer Arbeit durch die Gesetzgebung zu beauftragen und die Durchführung dieser Arbeit zu überwachen –, fehlte auf europäischer Ebene bislang. Eine überwältigende Mehrheit etwa im Europäischen Parlament hatte dies vor der Europawahl bemängelt und daraus die Konsequenz gezogen, dass nur jemand an die Spitze der nächsten Kommission gelangen soll, der sich zuvor als Kandidat bei den Bürgerinnen und Bürgern vorgestellt und um ein Mandat beworben hat. – Das nennt man „Spitzenkandidat“. Dieses Wort hat Eingang auch in viele andere europäische Sprachen gefunden. Es ist ein europäisches Wort geworden.

Die großen Parteien traten mit gesamteuropäischen Spitzenkandidaten, gesamteuropäischen Programmen und gesamteuropäischen Wahlkampagnen an. Es gab einen echten Wahlkampf mit Köpfen und Konflikten, jeder Kandidat stellte sein Programm vor und verteidigte es in mehreren TV-Duellen, die in ganz Europa ausgestrahlt wurden.

Die verschiedenen Spitzenkandidaten wurden in einem europäischen Verfahren von europäischen Parteien unter Mitwirkung von 27 Regierungschefs nominiert; die Konservativen kürten ihren Kandidaten in Dublin, die Sozialdemokraten in Rom, die Liberalen in Brüssel, die Linken in Madrid, die Grünen per Online-Abstimmung. Die Spitzenkandidaten zogen mit dem Anspruch, Kommissionspräsident zu werden, in den Wahlkampf. Die Menschen hatten damit eine echte Wahl zwischen echten Alternativen, zwischen Spitzenkandidaten und ihren Programmen für die Zukunft der EU. Eine solche Auseinandersetzung kennen wir alle aus nationalen Wahlkämpfen. In Europa gab es sie bislang nicht.

Beendet wurde mit der Europawahl 2014 nicht zuletzt die unselige Praxis, dass die Staats- und Regierungschefs das Amt des Kommissionspräsidenten hinter verschlossenen Türen auskungeln und ihren erstaunten Untertanen nach geheimen Beratungen einen Kommissionspräsidenten vorschlagen, dessen Namen buchstäblich niemand in Europa vorher auf dem Zettel hatte.

Weil es gelang, dass der neue Kommissionspräsident aus einer öffentlichen Wahl hervorging und er seine Legitimation vor allem aus einer Mehrheit im Europaparlament erlangte, ist es gerechtfertigt, von einer demokratischen Zeitenwende in Europa zu sprechen. Denn wir bewegen uns mehr und mehr in Richtung eines europäischen Parlamentarismus und eines transnationalen Gewaltenteilungsmodells.

Das wird Europa stärken – und ich bin sicher, dass wir damit auch ein Stück verloren gegangenes Vertrauen zwischen Europa, seinen Institutionen und den Menschen zurückgewinnen können. In den vergangenen Jahren ist viel Vertrauen in Europa und seine Institutionen verloren gegangen. Viele begegnen Europa mit Desinteresse und Gleichgültigkeit, ja wenden sich von Europa ab. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Unbestritten ist jedoch, dass vielen Menschen Europa als zu abstrakt, als zu weit weg erscheint, als eine Macht, auf die der Einzelne keinen oder nicht ausreichend Einfluss nehmen kann. Die Politik muss dieses Gefühl ernst nehmen und Abhilfe schaffen, denn mangelndes Vertrauen in das Projekt Europa zerstört dessen Fundament und Legitimität. Wenden sich Menschen von einem Projekt, von einer Idee ab, dann geht dieses Projekt seinem Ende entgegen.

Im Vorfeld der Europawahl wurde eine Vielzahl an Einwänden formuliert, die einer genauen Analyse jedoch nicht standhalten; zu sehr waren sie aktuellen institutionellen Strukturen und Verfahren verhaftet: So wurde postuliert, dass die europäischen Spitzenkandidaten nicht „automatisch“ die Anwärter für den nächsten Kommissionspräsidenten seien. Weiterhin wurde behauptet, das Aufstellen gemeinsamer europäischer Spitzenkandidaten sei Wählertäuschung, weil man nur Kandidaten auf den nationalen Listen wählen könne und die europäischen Spitzenkandidaten auf keiner europäischen Wahlliste auftauchten.

Diese Einwände übersahen in ihrer zwanghaften Ablehnung des neuen Verfahrens das Offensichtliche: dass in parlamentarischen Demokratien nicht „automatisch“ die Spitzenkandidaten das Amt des Regierungschefs erhalten, sondern dass dieser Anspruch in einer jahrzehntelangen Praxis eingeübt wurde und sich allein daraus ergibt, dass es ein Hohn für die Demokratie wäre, wenn nicht einer der zur Wahl stehenden Kandidaten das Amt bekäme, für das er nominiert und von den Bürgern gewählt wurde, sondern eine willkürlich bestimmte dritte Person. Gleiches gilt für die europäische Ebene. Wäre keiner der Spitzenkandidaten Kommissionspräsident geworden, hätte die europäische Demokratie nicht wiedergutzumachenden Schaden genommen.

Richtig ist, dass europaweit die Wahlbeteiligung mit 43 Prozent in etwa gleich geblieben ist und dass das Modell Spitzenkandidat nicht überall funktioniert hat. Während in Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Schweden, Finnland und Litauen teilweise deutlich mehr Menschen an die Urne gegangen sind, ist in anderen Ländern die Wahlbeteiligung auf ein erschreckend niedriges Niveau gesunken. Auch wenn diese Tatsache alarmierend ist, darf eine niedrige Wahlbeteiligung nicht als Argument herangezogen werden, um politische Legitimität grundsätzlich zu verneinen. Täte man dies, würde man auch so manchem Ministerpräsidenten, Landrat oder Oberbürgermeister in den Mitgliedstaaten seine Legitimität absprechen.

Eines ist klar: Alle Versuche, das Rad zurückzudrehen und über den Kommissionspräsidenten in Zukunft wieder am Votum der Menschen vorbei zu entscheiden, sind zum Scheitern verurteilt. Die Geschichte lehrt, dass Parlamente sich ihre Rechte und die der Menschen erkämpfen müssen – und dass sie sich einmal erkämpfte Rechte nicht wieder nehmen lassen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass bereits weit vor den nächsten Europawahlen 2019 eine europaweite intensive Debatte einsetzen wird, wer für die unterschiedlichen Parteien als Kandidat und Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten antreten wird, und dass das Kandidatenkarussell voll besetzt sein wird. Und ich bin überzeugt, dass der Wahlkampf 2019 noch europäischer werden und eine noch größere europäische Dimension haben wird.

Mit der Europawahl 2014 und der sich anschließenden Wahl Jean-Claude Junckers zum Kommissionspräsidenten sind wir einen immensen Schritt zu einem demokratischeren Europa gegangen. Natürlich funktionierte dieser neue Prozess nicht ohne Reibung, allein deshalb, weil mit ihm eine Neuordnung verbunden war. Manche haben an Einfluss eingebüßt – aber die Bürger haben erhebliche Macht dazugewonnen.

Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments

EINLEITUNG

„Ich glaube, wir haben irgendwann in Europa den Moment verpasst, wo man die europäische Erzählung ändern muss. Man muss Europa existenziell erklären: als Haus, in dem es keinen Krieg mehr gibt, und in dem man zusammensteht, weil wir immer weniger werden. Anfang des Jahrhunderts machten die Europäer noch 20 Prozent der Weltbevölkerung aus, Ende des Jahrhunderts werden es noch vier Prozent sein.“1

Ist ein Politiker seit Jahrzehnten im Geschäft, kann man seine Erfahrungen würdigen oder ihn als Vertreter des Establishments kritisieren. Auf Jean-Claude Juncker trifft beides zu. Aber: In Europa gibt es nur wenige Politiker, welche die Brüsseler Institutionen, die Mechanik der Macht, so gut kennen wie der langjährige Luxemburger Ministerpräsident und Euro-Gruppen-Vorsitzende. Und es gibt auch nicht viele Persönlichkeiten wie Juncker, die in einer Zeit der verbreiteten Skepsis und Entfremdung vieler Bürger gegenüber der EU dem europäischen Projekt so viel Enthusiasmus, Leidenschaft und Kompetenz widmen wie der neue Kommissionspräsident.

Die Fähigkeit, den Menschen das europäische Projekt und seine Bedeutung näherzubringen, hat mich als Journalistin, die sich seit vielen Jahren mit Fragen der EU beschäftigt, bewogen, Jean-Claude Juncker als europäischen Politiker zu beobachten. Ich begegnete ihm zum ersten Mal Anfang der Neunzigerjahre in Brüssel. Es war eine Sitzung des Wirtschafts- und Währungsausschusses, Juncker war damals luxemburgischer Finanzminister. Nach der Sitzung stellte er sich ohne Politiker-Attitüde den Fragen der Journalisten. Seither habe ich etliche Interviews mit ihm geführt und mich immer wieder gefragt, was ihn veranlasst, europäische Integrationsschritte wie die gemeinsame Währung, die Erweiterung oder den Aufbau einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik so engagiert zu fordern und zu verteidigen – oft gegen den erbitterten Widerstand seiner Kollegen …

Jahre später – Juncker war Ministerpräsident und der Euro als Zahlungsmittel bereits eingeführt – habe ich beschlossen, ein Buch über ihn zu schreiben.2 Einige Karrierestufen weiter ist es nun an der Zeit, das Buch zu aktualisieren.

Was dem Leser hier vorliegt, ist eine überarbeitete Zusammenfassung der ersten Auflage, erweitert um die Politik Junckers als Euro-Gruppen-Vorsitzender, die Entwicklung der EU in den vergangenen Jahren, das Krisenmanagement sowie die Dokumentation des zum Teil mühsamen Weges bis zur Kür des Präsidenten der Europäischen Kommission. Das Buch ist keine Biografie, sondern eine Beschreibung europäischer Politik und Entscheidungsprozesse, an denen Juncker substanziell mitgewirkt hat und die daher von ihm entscheidend geprägt worden sind. Biografische Hinweise dienen als Hintergrund zum besseren Verständnis bestimmter inhaltlicher Positionen. Die aktuellen Ereignisse konnten bis zum 8. September 2014 (Redaktionsschluss des Buches) berücksichtigt werden.

Jean-Claude Junckers Trumpf, die Brüsseler Behörde zu führen, ist seine Überzeugung, dass sich Europa nur durch gemeinsame Projekte, durch Kompromisse und durch eine Allianz gegen Rechtsextreme und populistische Kräfte weiterentwickeln kann. Schon seine Wahl gilt als demokratiepolitscher Fortschritt, auch wenn manche von einem „stillen Coup in der Verfassungswirklichkeit der EU“3 sprechen: Erstmals konnten die Stimmberechtigten bei der EU-Wahl auch über den Spitzenkandidaten für den Kommissionspräsidenten mitbestimmen.

Nun steht Jean-Claude Juncker vor der Aufgabe, das europäische Staatenbündnis nicht nur zusammenzuhalten, sondern weiterzuentwickeln. Die Briten drohen mit Austritt, Nord- und Südstaaten entfernen sich immer weiter voneinander, Regionen wollen unabhängig werden, Frankreich und andere Länder müssen ihre Budgetdefizite reduzieren. Einige wollen die Sparvorschriften, den sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakt, lockern, für andere stellt er generell ein rotes Tuch dar. Trotz leichter wirtschaftlicher Erholung ist die Arbeitslosigkeit immer noch extrem hoch, Kriege in Europas unmittelbarer Nachbarschaft gefährden die Sicherheit und Stabilität, auch für die Flüchtlings- und Migrationsfrage gibt es keine befriedigende Lösung. Juncker muss außerdem gegen Steuerbetrug und Finanzspekulationen vorgehen, die nicht nur der Ökonomie schaden, sondern auch die Moral der Gesellschaft unterminieren.

Nicht nur deshalb wird die Position des Kommissionspräsidenten in den nächsten Jahren wichtiger; er muss auch die Balance zwischen den EU-Institutionen wiederherstellen. Darüber hinaus gilt es das Gleichgewicht zwischen einem selbstbewussten Europäischen Parlament und einem machtbewussten Europäischen Rat zu finden. Um den Menschen eine Perspektive und Hoffnung zu geben, wird Juncker kreative Konzepte gegen die Krise finden müssen. Er wird neue Regulierungen verlangen oder bestehende lockern – die Kommission darf als einzige EU-Institution vorschlagen. Jetzt muss Juncker sein Versprechen wahr machen, eine politische Kommission zu führen.

Die jahrzehntelange nötige Erfahrung im politischen Geschäft hat er: Als Euro-Gruppen-Chef hat er alle wesentlichen Entscheidungen zur Euro-Rettung und zur Krisenpolitik mitentworfen, er hat die Troika geschaffen und die deutsche Austeritätspolitik mitgetragen. Sein Ton den Schuldenländern gegenüber war dabei stets von Respekt getragen.

Will Juncker ein Kommissionspräsident für alle sein, wird er glaubwürdig für europäische Ziele eintreten müssen. Die Zeit, in der er als luxemburgischer Regierungschef knallhart für nationale Interessen – etwa bei den Steuern oder beim Informationsaustausch über Kontodaten von EU-Bürgern – kämpfen konnte, sind vorbei.

Damit der Neustart gelingt, muss der Christdemokrat Zeichen setzen. „Eine Revolution steht nicht auf der Tagesordnung“, skizziert er bei seiner Wahlrede im Europäischen Parlament in Straßburg. Er betont, dass Europa nicht gegen die EU-Staaten gebaut werden könne und dass er die Nationen nicht für eine temporäre Erscheinung der Geschichte halte.4 Juncker will keinen Bruch mit den Mitgliedsländern, als Kommissionschef wird er sich von den Hauptstädten aber emanzipieren müssen, um seine Ziele verfolgen zu können. Sein Vorgänger José Manuel Barroso hat das nicht gemacht, sich immer wieder Handlungsanleitungen vornehmlich in Berlin geholt – und so die Rolle der EU-Institution missachtet.

Die Europäische Union braucht die Kommission wieder als Motor der Entwicklung und des Fortschritts. Juncker setzt gegen das Vorgehen der nationalen Regierungen, die sich alles untereinander ausmachen wollen, die Gemeinschaftsmethode und stützt sich dabei auf das Europäische Parlament. Plenum und Gemeinschaftsmethode sind die Prinzipien der EU-Politik, die Argwohn, Ablehnung und Kritik bei EU-Skeptikern hervorrufen. Europas Zukunft und die Handlungsfähigkeit der Juncker-Kommission werden an den Rändern der EU entschieden; in Großbritannien mit seinem angekündigten Austrittsreferendum und den europaskeptischen und europafeindlichen rechten und linken Rändern des politischen Spektrums.

Wie Junckers Vorbild, Jacques Delors, gefordert hat, müsse Europa die enttäuschten Bürger durch Leistung, durch konkrete Projekte, die ihnen nützen, überzeugen – und nicht durch Personal- oder andere Querelen. „‚Brüsseler Bürokratie‘ ist heute der Begriff, unter den immer wieder generell subsumiert wird, was […] Kritik, Ressentiment oder Wut auslöst“, schreibt der Schriftsteller Robert Menasse in seinem „Europäischen Landboten“. Juncker wird die Kommission modernisieren und menschennäher machen müssen.

Junckers Antreten als Spitzenkandidat beziehungsweise das System der Spitzenkandidaten hat die EU bereits verändert: Das zeigt eine Eurobarometer-Umfrage vom Sommer 2014. Die Menschen vertrauen der EU wieder. Demnach sind 42 Prozen der Befragten der Ansicht, dass „ihre Stimme in der EU zählt“.5 Das ist ein Zuwachs von elf Prozentpunkten binnen sechs Monaten – und der höchste je gemessene Wert. Die Bürger schätzen den Einfluss auf die Entscheidung, wer neuer Chef der EU-Kommission wird. Die Umfrage zeigt auch, dasss sich 65 Prozent der Befragten als „EU-Bürger“ fühlen. Spürbar gewachsen ist auch die Zustimmung zum Euro. 55 Prozent sind der gemeinsamen Währung gegenüber positiv eingestellt. Der seit Anfang 2010 zu beobachtende Trend zu immer niedrigeren Vertrauenswerten ist gestoppt. In den Ländern der Eurozone sind die Werte beachtlich höher.

Die Erwartungen an Juncker sind groß: Wenn er an seinem Baustück Europa weiterarbeitet wie bisher, kann der Kandidat, der am Beginn selbst nicht wollte, und den dann so lange andere nicht wollten, der richtige Mann für den höchsten Posten der EU sein – und von der 13. Etage des Berlaymont-Gebäudes in Brüssel die Europäische Union lenken.

Wien, im September 2014

EU-WAHL 2014: UND DER WAHLSIEGER HEISST: … – JEAN-CLAUDE JUNCKER!

25. Mai 2014: Das Wetter ist prächtig. Die meisten EU-Staaten wählen an diesem Sonntag, einige Länder haben den Urnengang schon hinter sich. Die Resultate aller 28 Mitgliedsländer werden nach dem Schließen der letzten Wahllokale in Italien erst Sonntagnacht bekannt gegeben.

Die Spitzenkandidaten der beiden großen europäischen Parteien, Jean-Claude Juncker und Martin Schulz, wählen in ihren Heimatgemeinden: der Christdemokrat Juncker in Capellen, der Sozialdemokrat Schulz in Würselen bei Aachen. Laut EU-weiten Umfragen liegt die Europäische Volkspartei voran.

Trotz des Spitzenkandidaten-Systems, der Fernsehduelle und einem EU-weiten Wahlkampf gehen nicht mehr Menschen zur Wahl als beim letzten Urnengang 2009. Im Schnitt geben nur 42,54 Prozent der EU-Wähler ihre Stimme ab – damit liegt der Wert leicht unter der Beteiligung von 2009 (43 Prozent).6 Im Laufe des Nachmittags werden erste Trends veröffentlicht: Die EVP liegt – trotz Verlusten – vor den Sozialdemokraten. Noch vor der Veröffentlichung der vorläufigen Wahlergebnisse der einzelnen Staaten gegen 23.00 Uhr am Wahlsonntag beherrschen Begriffe wie „Erdbeben“, „Schock“ und „Vertrauensverlust“ die Gespräche im Europäischen Parlament in Brüssel. Warum? – Ein Rechtsruck erschüttert die EU: In Frankreich, Dänemark und Großbritannien liegen rechtsextreme, rechtspopulistische beziehungsweise EU-feindliche Parteien auf Platz eins. In Griechenland hingegen ist die linkspopulistische Syriza-Partei der Wahlsieger. Das Erstarken der Rechten sowie der Europa-Gegner wird die Christdemokraten und Sozialdemokraten noch enger zusammenschweißen: Eine Große Koalition auf europäischer Ebene zeichnet sich ab.

Jean-Claude Juncker begibt sich noch am Sonntagnachmittag auf den Weg nach Brüssel; mit Kommentaren hält er sich zurück, aber er macht klar, dass die stimmenstärkste Partei im EU-Parlament den Nachfolger von José Manuel Barroso stellen muss. Martin Schulz will sich am Wahlabend noch nicht geschlagen geben, noch hängt er seinem großen Traum nach, Kommissionspräsident zu werden. Eine Parteienvereinbarung vor der Wahl hält allerdings fest, dass die stärkste Fraktion das Vorrecht bei der Suche nach einer Mehrheit für den Kommissions-Chefposten im Parlament hat. „Das ist der Automatismus der Demokratie“, sagt in Berlin der SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Es ist ein Appell an Schulz, der ihn letztendlich zum Umdenken zwingt – aber noch nicht sofort.

Die Stimmung im Europäischen Parlament am Wahlabend gleicht der einer Trauerfeier. Jetzt ist Ursachenforschung für das Erstarken der Rechten und der Europa-Gegner angesagt. Auf einer riesigen Video-Wand am Place du Luxembourg direkt vor dem Parlamentsgebäude werden die Resultate aus allen Ländern übertragen.

Der Vorsprung der Europäischen Volkspartei auf die Sozialdemokraten ist weiter geschrumpft. In der Legislaturperiode 2009 bis 2014 stellte die EVP 265 Abgeordnete, die Sozialdemokraten kamen auf 184. Der EVP-Vorsprung von 81 Mandaten schrumpft nach der Wahl 2014 auf 30.

EU-kritische und EU-feindliche Parteien haben ab 2014 mehr Abgeordnete als je zuvor: Mehr als 200 Parlamentarier stellen die Europa-Gegner aller Lager und Schattierungen in der Legislaturperiode bis 2019. Rund 70 Abgeordnete davon fallen auf weit rechts stehende Parteien, wie eine Zählung des Europäischen Netzwerks gegen Rassismus ergibt. Das ist ein Zuwachs von 40 Prozent im Vergleich zur vorangegangenen Legislaturperiode.

Für die Abgeordneten solcher Parteien bedeutet das mehr Einfluss und auch mehr Redezeit. Eine eigene Rechtsfraktion, angeführt von der Chefin des Front National Marine Le Pen, kommt nach langem Ringen nicht zustande. Zwei Kriterien müssen für die Bildung einer Fraktion im EU-Parlment erfüllt sein: Erstens braucht es 25 Abgeordnete aus sieben verschiedenen Ländern. Die Rechtsfraktion scheitert formal daran, dass die Länderzahl nicht erreicht wird, weil Parteien aus Osteuropa abspringen. Aber auch inhaltlich gibt es Differenzen. Generell ist es für nationale Parteien schwierig, eine europäische übernationale Fraktion zu bilden. – Denn genau das ist der größte Widerspruch zu ihrer Ideologie und ihrem Selbstverständnis.

Am Tag nach der EU-Wahl steht nun zwar Jean-Claude Juncker als Sieger fest, doch zum Feiern ist ihm nicht zumute. Ob er von den Staats- und Regierungschefs bei ihrem Sondergipfel am 27. Mai offiziell zum Kandidaten für den Kommissionspräsidenten vorgeschlagen wird, ist nach wie vor offen. Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel ist zurückhaltend: „Wir brauchen intensive Gespräche, und die haben noch nicht einmal begonnen.“7 Im Hintergrund baut sich eine Abwehrfront gegen Juncker auf. Mehrere Länder – Großbritannien, Ungarn, die Niederlande, Schweden und Finnland – haben Zweifel an dem System zur Wahl des Spitzenkandidaten angemeldet und wollen Juncker nicht unterstützen. Seit dem Vertrag von Lissabon ist Einstimmigkeit im Kreise der 28 Regierungschefs allerdings nicht mehr nötig.

Martin Schulz will seine Niederlage noch nicht eingestehen. Beflügelt durch das gute Wahlergebnis der SPD in Deutschland kündigt er an, in den anderen Fraktionen für sich zu werben. Erst als er merkt, wie sehr sein Beharren an der eigenen Glaubwürdigkeit kratzt, beginnt er konstruktive Gespräche mit Juncker und dessen Partei zu führen.

JUNCKER: SEINE HERKUNFT, SEIN POLITIKVERSTÄNDNIS

Jean-Claude Junckers Politikverständnis ist ganz wesentlich durch seine Herkunft, durch sein soziales Umfeld, durch seine Familie geprägt.

Als Jean-Claude Juncker am 9. Dezember 1954 in der kleinen Gemeinde Redingen in Luxemburg zur Welt kommt, ist der Zweite Weltkrieg seit einem knappen Jahrzehnt vorbei; die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), eine Vorgängerorganisation der Europäischen Union, ist gerade einmal zwei Jahre alt. Den Krieg kennt Juncker nur aus den Erzählungen des Vaters, der als Soldat der deutschen Wehrmacht an der Ostfront im Einsatz war und dabei schwer verwundet wurde.

„Die deutsche Besatzung war eine nationale Zäsur. Krieg, Konzentrationslager und Zwangsrekrutierungen: Die Jahrgänge 1920 bis 1927 wurden in die Wehrmacht eingezogen. Mein Vater wurde gezwungen, in den Krieg zu ziehen. Er kam an die Front nach Russland, wo er sich schwere, heute noch sichtbare Kriegsverletzungen zuzog. Der Krieg war eine Zäsur im Leben meines Vaters. In meiner Jugend hat er kaum etwas erzählt, auch seine Brüder nicht. Das tut er mittlerweile stärker, weil er glaubt, mir das zumuten zu können.“

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