Martin Schulz – vom Buchhändler zum Mann für Europa - Margaretha Kopeinig - E-Book

Martin Schulz – vom Buchhändler zum Mann für Europa E-Book

Margaretha Kopeinig

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Beschreibung

Martin Schulz ist Politiker aus Überzeugung und Leidenschaft. Wie kaum ein anderer Politiker vereint er Integrität und Courage – Werte, die sowohl in Europa als auch in Deutschland dringend vonnöten sind. Doch wer ist dieser Mensch Martin Schulz? Welchen Weg ist er gegangen, um vom engagierten Lokalpolitiker und begeisterten Buchhändler zum Präsidenten des Europäischen Parlaments aufzusteigen? Und wie wird er sich künftig in der deutschen Bundespolitik bewähren? Martin Schulz erzählt der renommierten Journalistin Margaretha Kopeinig von seiner Kindheit in einem "politisierten Haushalt", den schwierigen Zeiten in jüngeren Jahren und seinem weiteren – teils ungewöhnlichen – Lebensweg. Das Buch zeichnet die Geschichte eines Menschen, der sich manchmal unkonventionell und immer mit viel Rückgrat für demokratische Werte eingesetzt hat und einsetzt. Mit einem Vorwort von Jean-Claude Juncker

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Seitenzahl: 301

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Margaretha Kopeinig

MARTIN SCHULZ –VOM BUCHHÄNDLER ZUMMANN FÜR EUROPA

Die Biografie

Mit einem Vorwort von Jean-Claude Juncker

Margaretha Kopeinig

MARTIN SCHULZ –VOM BUCHHÄNDLER ZUMMANN FÜR EUROPA

Die Biografie

Mit einem Vorwort von Jean-Claude Juncker

Czernin Verlag, Wien

Produziert mit Unterstützung der Stadt Wien, MA 7/ Kultur – Wissenschafts- und Forschungsförderung

Kopeinig, Margaretha: Martin Schulz – vom Buchhändlerzum Mann für Europa. Die Biografie / Margaretha KopeinigWien: Czernin Verlag 2016ISBN: 978-3-7076-0585-3

© 2016 Czernin Verlags GmbH, WienCoverfoto: © Europäisches ParlamentAutorinnenfoto: Karharina Roßboth-FröschlUmschlaggestaltung: sensomaticLektorat: Senta WagnerSatz: Burghard ListProduktion: www.nakadake.atISBN E-Book: 978-3-7076-0585-3ISBN Print: 978-3-7076-0584-6

Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien

INHALT

Vorwort von Jean-Claude Juncker

Einleitung

Teil I:Vom Buchhändler …

Kindheit und Familie, Schule und Lehre,Bürgermeister von Würselen

Teil II:… zum Mann für Europa

Politische Karriere, Präsident des Europäischen Parlaments

Teil III:Das sagen Freunde und Mitglieder desEuropäischen Parlaments

Sigmar Gabriel

Achim Post

Rebecca Harms

Manfred Weber

Lebenslauf

Danksagung

Über die Autorin

VORWORT VON JEAN-CLAUDE JUNCKER,

Präsident der Europäischen Kommission

Martin Schulz ist ein streitbarer Europäer – und das meine ich im besten Sinne des Wortes. Denn er gibt niemals auf, wenn es um Europa geht. Das ist die logische Konsequenz nicht nur aus seiner Persönlichkeit, sondern auch aus seiner Herkunft. Wenn man wie Martin Schulz und ich in einem Dreiländereck aufgewachsen ist, lernt man früh die Bedeutung von Grenzen kennen. Auch wenn es sich heute wie aus einer längst vergangenen Zeit anfühlen mag, wissen wir noch gut, wie es war, wenn man mit schweren Taschen – weil das Münzgeld in mehreren Währungen darin lastete – an Schlagbäumen warten musste. Wir wissen aber auch, dass es sich immer lohnt, über den eigenen Tellerrand zu blicken. Von Grenzen geht nämlich nicht nur eine teilende, sondern auch eine verbindende Kraft aus.

Wer damit aufwächst, dass die Nachbarn in einem anderen Land leben, entwickelt automatisch einen Sinn dafür, sich der Welt samt anderen Sprachen und Kulturen zuzuwenden und in größeren Zusammenhängen zu denken. Martin Schulz und ich haben uns deswegen nie nur als Würselener oder Luxemburger, als Deutsche oder als Bürger des Großherzogtums begriffen, sondern immer auch als Europäer. Das hat vielleicht damit zu tun, dass wir Grenzbewohner im Vergleich zu vielen Inländern ein besseres Gehör und Gespür für unsere Nachbarn haben. Das hilft auch am europäischen Familientisch, wo es oft vor allem darauf ankommt, die kulturellen und politischen Besonderheiten zu verstehen, um auf dieser Grundlage Kompromisse ausloten zu können, die allen Beteiligten zum Vorteil gereichen.

Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission stehen in besonderem Maße für diese Einladung an den Familientisch und damit für die Kraft des Zusammenhaltens. Als echte Gemeinschaftsinstitutionen müssen wir uns weniger nach Parteipolitik oder nationalen Wahlen richten. Für uns ist ausschließlich das Wohl der 500 Millionen Europäer das Maß der Dinge. Wie es sich für diejenigen gehört, die die Familie auch logistisch zusammenhalten, stehen Martin Schulz und ich deshalb in ständigem Austausch. Nicht selten sind wir dabei unterschiedlicher Meinung, und dann ist es vor allem unserer Gesprächsbereitschaft zu verdanken, dass wir trotzdem den Sprung von einem guten hin zu einem besseren Ergebnis schaffen.

Dass wir auch auf der persönlichen Ebene gut miteinander auskommen – auch wenn wir uns natürlich unserer institutionellen Rollen und Pflichten bewusst sind –, erleichtert sicherlich die ohnehin enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit unserer Institutionen. Das ist jetzt entscheidender denn je. Denn wir haben keine Zeit zu verlieren, wenn es darum geht, Ergebnisse zu liefern und Europa spürbar zu machen.

Das gilt umso mehr nach dem Votum im Vereinigten Königreich. Denn auch wenn dieses von der britischen Innenpolitik bestimmt war und wir das Referendum weder einberufen haben noch dafür verantwortlich sind, können und wollen wir daraus Schlüsse ziehen. Schließlich ist Lernfähigkeit unsere Stärke, und nur deshalb konnte Europa aus vorherigen Krisen gestärkt und besser gewappnet für die Zukunft hervorgehen.

Europa ist von Anfang an eine Geschichte der Lernerfolge gewesen. Es war die Generation unserer Mütter und Väter, die aus den Konzentrationslagern, von den Schlacht- und Minenfeldern zurückkehrte und das Grauen, das sie erlebt hatte, ein für alle Mal hinter sich lassen wollte. So wie mein Vater zwangsrekrutiert die Abgründe des Krieges erfahren musste, hat auch die Familie von Martin Schulz unter dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen gelitten, als unser ganzer Kontinent vor den Trümmern der Gewalt und den Scherben der zu Bruch gegangenen Menschlichkeit stand. Unsere Eltern wurden Europäer, weil sie den Hass hassen gelernt hatten; weil sie sich nach Freundschaft statt Feindschaft sehnten, und weil sie Gemeinsames gemeinsam aufbauen wollten.

Das Europa unserer Eltern war also entgegen allen Mythen kein Eliten-Projekt. Die Politiker haben damals nichts anderes getan, als das Verlangen der Menschen in ein politisches Friedensprojekt zu gießen. Und auch heute noch ist Europa das Versprechen einer besseren Zukunft, das wir für die Generation nach uns einlösen müssen. Europa ist also das Gegenteil einer Eliten-Veranstaltung, weil es uns allen – und nicht nur ein paar Privilegierten – die Türen öffnet, um über Grenzen hinweg zu reisen, zu lernen, zu arbeiten, zu leben und zu lieben. Wenn wir heute mit EU-Strukturfonds die Infrastruktur ausbauen, grenzüberschreitende Bildungs- und Forschungsprojekte wie Erasmus fördern und hohe europäische Standards einführen, die Umwelt und Verbraucher besser schützen, dann dient das allen.

Genau das ist und bleibt unser Auftrag. Und bei aller Kritik, die Europa gerade erfährt, können wir doch objektiv festhalten, dass Europa all seinen Bürgerinnen und Bürgern jahrzehntelang Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand garantiert hat. Darauf können wir uns nicht ausruhen, aber wir können unsere Zukunft auf diesem sehr soliden Fundament aufbauen.

Deshalb haben Martin Schulz und ich, als wir am Morgen nach dem Referendum in Großbritannien telefonierten, beschlossen, jetzt erst recht die Ärmel für Europa hochzukrempeln – nicht für mehr, sondern für ein besseres Europa. Diesen Kurs habe ich schon zu Beginn meiner Amtszeit als Kommissionspräsident eingeschlagen – mit großer Rückendeckung des Europäischen Parlaments. Wissend, dass weniger manchmal mehr ist, haben wir konsequenterweise die Anzahl der Kommissionsvorschläge von durchschnittlich 130 pro Jahr auf 23 reduziert. Wir verschwenden keine Zeit mehr auf Dinge wie Duschköpfe oder Ölkännchen, die die Mitgliedstaaten viel besser selbst regeln können. Stattdessen haben wir uns auf zehn Prioritäten konzentriert – auf Herausforderungen, die wie Flüchtlingspolitik, Klimawandel und Terror nicht an Grenzen haltmachen und die wir daher besser vereint anpacken.

Wir werden diesen Kurs nun umso konsequenter fortsetzen, und dabei zahlt sich die enge Zusammenarbeit mit Martin Schulz und dem Europäischen Parlament bereits aus. Dank dieser konnten wir einige europäische Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. So hat es nur sechs Monate und ein paar Tage gedauert, um die Vorschläge der Kommission für einen europäischen Grenz- und Küstenschutz Wirklichkeit werden zu lassen. Innerhalb von nur zehn Wochen haben wir – mit der Unterstützung des Parlaments – einen Nachtragshaushalt für 2016 verabschiedet, der durch die Umschichtung von Mitteln in unserem EU-Haushalt 10,1 Milliarden Euro zur Bekämpfung der Flüchtlingskrise mobilisiert hat. Außerdem haben wir in Rekordzeit die 315 Milliarden Euro schwere kontinentale Investmentoffensive auf den Weg gebracht, die schon im ersten Jahr in 26 Mitgliedstaaten 107 Milliarden Euro an neuen Investitionen angekurbelt und rund 150.000 Arbeitsplätze geschaffen hat. Davon profitieren Digitalisierungsprojekte, erneuerbare Energien und andere Zukunftstechnologien ebenso wie kleine und mittelständische Unternehmen. Diese Beispiele zeigen nur allzu deutlich, was wir gemeinsam viel schneller erreichen können. Was zuvor unter anderen Vorzeichen Jahre gedauert hätte, ist heute in Rekordgeschwindigkeit möglich, weil Martin Schulz weiß, wie man die notwendigen Mehrheiten im Parlament schnell organisiert. Das macht Europa handlungsfähig.

Martin Schulz und ich haben es zur Priorität der Europäischen Union – und somit von Kommission und Europaparlament – erklärt, Beschäftigung und Wachstum zu schaffen. Obwohl wir beide in verschiedenen Parteien sind, eint uns das Bekenntnis zu einer Politik, die darauf ausgerichtet ist, dass die Wirtschaft den Menschen dient und nicht umgekehrt. Für uns ist Wachstum kein Selbstzweck, sondern nur dann bedeutend, wenn es Beschäftigung hervorbringt. Dieses Bewusstsein hat sicherlich auch etwas mit unserer Herkunft zu tun. Der Großvater von Martin Schulz war Bergarbeiter, mein Vater war Stahlarbeiter. So wie ich in meinem Elternhaus geprägt worden bin, weil die christlichen Gewerkschaftskollegen meines Vaters vorbeikamen, um über Politik zu diskutieren, und die katholische Soziallehre gelebt wurde, ohne dass diese groß benannt worden wäre, wuchs auch Martin Schulz in einem sehr politischen Umfeld auf. Uns verbindet außerdem, dass wir früh eine große Liebe zum geschriebenen Wort und vor allem zu Biografien entwickelt haben. Das hat unser beider politisches Bewusstsein weiterentwickelt, denn wer viel liest, ist stets dazu angehalten, andere Perspektiven zu verstehen und die eigenen Argumente immer wieder aufs Neue zu prüfen.

Der daraus resultierende Sinn für Kompromisse und Solidarität, der uns so gewissermaßen mit der DNA mitgegeben wurde, hat uns auf Anhieb Freunde werden lassen, als wir uns vor vielen Jahren am Rande einer Karlspreis-Verleihung trafen. Damals war Martin Schulz noch ein junger Abgeordneter und ich dachte noch, ich würde meine ganze Kraft für Europa als luxemburgischer Politiker einbringen. Mittlerweile haben wir selbst beide den Karlspreis erhalten und die Europäische Union den Nobelpreis – auch weil uns die Menschen in aller Welt um den Frieden und die soziale Marktwirtschaft beneiden. Wir haben uns an dieses Europa gewöhnt, aber selbstverständlich ist es dafür noch lange nicht. Wir werden unsere Art des Lebens und unsere Werte nur bewahren können, wenn wir zusammenhalten und die Spielregeln in einer globalisierten Welt mitbestimmen.

Welche gewaltige Kraft Europa hat, verdeutlicht ein Blick auf die Wirtschaftszahlen: Selbst mit einer EU der 27 sind wir der zweitgrößte Wirtschaftsraum und der größte Handelsblock der Welt. Wenn wir mit einer Stimme sprechen, haben wir selbstverständlich viel bessere Karten als jedes Land für sich allein, wenn es um die Außenpolitik, Energie-Verhandlungen oder Handelsabkommen geht.

Nur gemeinsam gewinnen wir also echte Souveränität. Darüber sollten vielleicht auch einmal die Europakritiker nachdenken, die so gerne lauthals im Namen der nationalen Souveränität brüllen. Wer wissen will, wie altmodisch der Rückzug ins Nationale ist, muss eigentlich nur Stefan Zweig lesen, der schon 1936 darüber schrieb, wie gefährlich es für die Menschheit ist, sich ausschließlich auf den eigenen Kreis zu beschränken. Wie viel wahrer ist das erst heute – in einer Welt, in der wir mit aufstrebenden und auch demografisch schneller wachsenden Ländern im Wettstreit stehen.

In einer solchen Welt, in der wir viele Herausforderungen, wie etwa die Flüchtlings- oder die Schuldenkrise, nur gemeinsam lösen können, wird es zunehmend wichtig, dass wir Europäer an einem Strang ziehen. Dafür brauchen wir ein gemeinsames Bewusstsein und eine Öffentlichkeit, die nationale Grenzen überwindet. Der vergangene Europa-Wahlkampf hat Entscheidendes dafür geleistet, Europa greifbarer zu machen, weil erstmals Spitzenkandidaten für ganz Europa angetreten sind. Als solche haben Martin Schulz und ich den Wahlkampf in allen Mitgliedstaaten dafür genutzt, nicht nur für ein transparenteres und demokratischeres Europa einzustehen, sondern auch um ein besseres Gespür dafür zu bekommen, was die Menschen sich von Europa wünschen. Es hat Spaß gemacht, miteinander gegeneinander anzutreten: mit unterschiedlichen Meinungen in Sachfragen, aber auf der Grundlage einer gemeinsamen Wertebasis.

Es ist deshalb ganz gut, dass wir in diesem Wahlkampf bei aller Rivalität irgendwie doch als »Team Europa« wahrgenommen wurden – wie eine Anekdote verdeutlicht, mit der ich Martin Schulz immer wieder gerne daran erinnere, dass wir in einer Mannschaft, dem »Team Europa«, spielen. So hörte ich während des Wahlkampfes in einer Fußgängerzone in Deutschland ein Gespräch zwischen zwei älteren Damen mit. Als die eine ihre Freundin fragte, ob sie auch Juncker habe vorbeigehen sehen, und die andere sich meines Namens nicht sicher war, reagierte Erstere entrüstet: »Na, der von Juncker-und-Schulz natürlich!«

Ich bin froh, dass Martin Schulz mein Mitstreiter ist – auch wenn es darum geht, die Menschen für das »Team Europa« zu gewinnen. Ich wünsche mir, dass die Europäer sich ein Herz fassen und sich einmal mehr als Gegenteil derer beweisen, die Aristoteles im Altgriechischen als »Idioten« bezeichnete. Er meinte damit diejenigen, die sich aus öffentlich-politischen Ämtern und Geschicken raushielten. Das können wir uns nicht leisten. Wir können nicht zulassen, dass Europa, das ein Menschenalter gebraucht hat, um zusammenzuwachsen, leichtsinnig zerstört wird. Das Europa der Europäer sollte unser aller Herzensangelegenheit sein.

1994 beginnt die europäische Karriere von Martin Schulz. Er wird Mitglied des Europäischen Parlaments.

Foto: © Europäisches Parlament

EINLEITUNG

Die Tür fliegt auf, Martin Schulz eilt aus seinem Büro. »Tach«, begrüßt er mich in rheinischem Tonfall. »Sie wollen ein Buch über mich schreiben? Was soll das denn werden? Ein Buch über Monsieur Europe. – Na gut, dann beginnen wir.« Langsamkeit ist seine Sache nicht. Martin Schulz ist immer schnell unterwegs, dynamisch im Denken, rasch beim Antworten und rhetorisch brillant.

Wir nehmen Platz in den bequemen Lederfauteuils, kein außergewöhnliches Design, aber sehr funktional. Als luxuriös kann man das Büro des Präsidenten des Europäischen Parlaments im neunten Stock des Paul-Henri-Spaak-Gebäudes im Brüsseler Europaviertel nicht gerade bezeichnen. Auf dem Beistelltisch stehen Blumen und ein Teller mit bunten Macarons. Zwei abstrakte Kunstwerke der britischen Maler John Hubbard und Peter Doig schmücken den Raum. Prächtige Bildbände über Picasso, Ikonen und die bizarre Bergwelt der Dolomiten stehen in Glasregalen über der Sitzgarnitur. Unübersehbar ist die Bronzestatue von Willy Brandt. Martin Schulz legt los.

Der Mann zählt zu den bekanntesten europäischen Politikern. Viele Menschen auf dem Kontinent kennen ihn. Als jüngstes von vier Kindern wächst er in der Kleinstadt Würselen nahe Aachen auf. Die Familie ist sehr politisch, der Vater Sozialdemokrat, die Mutter CDU-Mitglied. Im Hause Schulz wird ununterbrochen diskutiert und gestritten, die Mutter führt Regie. Martin Schulz lernt sehr schnell, sich zu widersetzen, er weiß, wie man argumentiert, sich klar ausdrückt und positioniert. Er verinnerlicht von klein auf einen Widerspruchsgeist und eine Zerrissenheit.

Martin Schulz ist ausgesprochen sprachbegabt, interessiert sich für Geschichte und Philosophie und liest sehr viel. Vor dem Abitur verlässt er das private katholische Gymnasium in seiner Heimatstadt und beginnt eine Lehre als Buchhändler. Dann wird er aus der Bahn geworfen. Mit 24 Jahren, so berichtet Schulz freimütig, sei er »in der Gosse gelandet« – er ist alkoholabhängig, einsam, ohne Wohnung und ohne Job. Aber er rafft sich wieder auf. Sein bester Freund in der SPD, Ralf Großmann, und sein Bruder, der Arzt ist, helfen ihm dabei. Martin Schulz gelingt es, sein Leben neu zu ordnen, er blickt wieder nach vorn und eröffnet eine Buchhandlung im Zentrum seiner Heimatstadt. Gleichzeitig intensiviert er seine politische Tätigkeit in der örtlichen SPD und entwickelt dabei einen großen Ehrgeiz und viel Selbstdisziplin. Er will es der Welt zeigen. Von nun an verläuft seine Karriere stetig nach oben: Als Bürgermeister von Würselen verhilft er der Stadt durch innovative Investitionen und Projekte zu einem neuen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung. 1994 wird er Europa-Abgeordneter, einige Jahre später Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion und als Höhepunkt seiner bisherigen politischen Karriere erfolgt Anfang 2012 die Wahl zum Präsidenten des Europäischen Parlaments.

Es ist eine Lebensgeschichte, die Brüche aufweist, die er aber gerne erzählt. Ehrlich und unprätentiös steht sie für etwas Größeres: »Seht her, ich habe es geschafft.« Hinter diesen Worten steckt seine wichtigste Botschaft: kein entrückter Eurokrat zu sein, sondern einer von uns, der weiß, wie das Leben läuft. Martin Schulz erreicht all seine Ziele auch ohne Studium an einer Universität. Er bildet sich ständig selbst weiter, ist in seiner Sache kompetent und begabt. »Er beschäftigt sich mit den großen Fragen, das Klein-Klein ist nicht seine Welt. Seine Welt ist, das Politische so zu verändern, dass es wieder zum Menschen kommt«, erzählt ein Wegbegleiter.

Markus Engels1, der seit vielen Jahren einer seiner engen Mitarbeiter ist, beschreibt ihn so: »Die nachhaltigste Eigenschaft von Martin Schulz ist, dass er das Politische als solches vollkommen verändert. Er ist getrieben von einer Aufrichtigkeit, von dem Verlangen, so zu sprechen, dass die Leute ihn verstehen, er handelt wenig taktisch, ist aber ein feinfühliger Mensch. Es gelingt ihm, auch in Leuten, die sehr politikfern sind, wieder eine Art Urvertrauen in die Politik zu wecken.« Weitere Gesprächspartner, Weggefährten ebenso wie politische Gegner, die bereitwillig und offen in diesem Buch über Martin Schulz Auskunft geben, unterstreichen seine Darstellung. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel bezeichnet ihn als »engen Freund« und kann sich Schulz »gut in der deutschen Innenpolitik vorstellen«. Für Achim Post, Abgeordneter im Deutschen Bundestag und Generalsekretär der Europäischen Sozialdemokraten, profitiere die SPD von Martin Schulz. »Er ist einfach glaubwürdig und vermittelt ein Grundvertrauen. Und er kann etwas, was nicht erlernbar ist: Die Leute spüren, dass er mit jeder Faser seines Körpers ein Europäer ist.«

Aufgewachsen im Dreiländereck Deutschland, Belgien und Nieder­lande, erzählt Martin Schulz, wie ihn Europa aufgrund seiner Herkunft sprachlich und kulturell beeinflusst hat. Auch gibt es Faktoren historischer und politischer Natur, die zu seiner Überzeugung als Sozialdemokrat beigetragen haben. Die Geschichte seiner Familie bedingt die entschiedene Ablehnung von Faschismus und Nazi-Diktatur.

Was Martin Schulz in seinem Elternhaus zunächst als spießig empfindet, nämlich die Aussage »Die Kinder sollen es einmal besser haben«, ist heute sein zentrales Motto: »Wie gelingt es Europa, im globalen Wettbewerb Wohlstand und soziale Sicherheit zu erhalten und den Kindern eine Zukunftsperspektive zu geben?« »Wie gelingt es, politische Ergebnisse zu liefern, die den Menschen etwas bringen?« Diese Fragen treiben ihn bis heute an. Es sind gerade seine regionale Herkunft, die Grenzerfahrung und die Geschichte der Familie, die ihn für die Idee der Völkerverständigung und der Demokratie begeistern. Dafür wird er im Mai 2015 mit dem renommierten Karlspreis ausgezeichnet.

Martin Schulz hat viel mit dem traditionellen Anforderungsprofil eines guten Politikers gemein, das der bekannte deutsche Soziologe Max Weber in seinem Aufsatz Politik als Beruf formuliert hat: sachliche Leidenschaft, Verantwortungsgefühl und Augenmaß. Die Süddeutsche Zeitung schreibt schlicht: »Er ist ein 24-Stunden-Europäer.« Seinen unermüdlichen Einsatz für Europa streichen auch politische Gegner hervor. Mag Martin Schulz für Manfred Weber, Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, gelegentlich zu sprunghaft sein oder Rebecca Harms, Ko-Vorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, seine rheinische Art nicht gefallen, in einem sind sich alle einig: Das größte Verdienst von Martin Schulz ist, dass er dafür gesorgt hat, dass das Europäische Parlament wieder wahrgenommen wird. Er hat die Ebenbürtigkeit von Europäischem Parlament, Rat und Kommission, die im Vertrag von Lissabon vorgesehen ist, wieder­hergestellt. Die Balance zwischen den drei EU-Institutionen war durch die Finanz- und Schuldenkrise gestört worden, weil die Staats- und Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen alle Entscheidungen an sich gezogen hatten. Die Rolle des Europäischen Parlaments wurde dadurch marginalisiert, Martin Schulz wollte diesen Vorgängen nicht tatenlos zusehen.

Mithilfe einiger weitreichender Maßnahmen stellt er die Statik des Gefüges wieder her: Er lädt unter anderem Staats- und Regierungschefs zu Debatten ins Europäische Parlament nach Straßburg ein und macht das Plenum zu einem Ort der europäischen Demokratie. »Martin Schulz hat dem Parlament wieder seine Würde zurückgegeben«, mit diesen oder ähnlichen Worten drücken es mehrere Europa-Abgeordnete aus, die nicht seiner Fraktion angehören.

Martin Schulz verschafft sich das Rederecht und den Zutritt zu den Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs. Er organisiert das Nein des Parlaments zum Datenabkommen SWIFT und veranlasst ein Gesetz zur Begrenzung der Banker-Boni. Aus seinem Demokratiebewusstsein heraus erfindet er das System des Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten bei Europawahlen. 2014 tritt er selbst an, verliert aber gegen den Kandidaten der Europäischen Volkspartei, Jean-Claude Juncker. Noch in der Wahlnacht vereinbaren Schulz und Juncker eine institutionelle Zusammenarbeit, die Große Koalition an der EU-Spitze wird geschaffen. Mit dem Modell Spitzenkandidat kämpft Martin Schulz für mehr Demokratie bei der Wahl des EU-Kommissionspräsidenten. Die Parteienfamilien treten bei der Europawahl mit einem Spitzenkandidaten an, jene Partei, die gewinnt, hat den Anspruch, den künftigen Kommissionspräsidenten zu stellen. Auch wenn viele Staats- und Regierungschefs damit nicht glücklich sind, weil sie an Einfluss und Macht verlieren, eines kann man als sicher annehmen: Auch bei der Europawahl 2019 wird es Spitzenkandidaten geben.

Dass Martin Schulz in den vergangenen Jahren ständig für hochrangige Jobs in Deutschland gehandelt wird – vom Bürgermeister von Berlin, Außenminister, Parteivorsitzenden bis hin zum möglichen Spitzenkandidaten der SPD bei der Bundestagswahl 2017 oder gar als Bundespräsident –, zeigt eines: Es gibt in der Öffentlichkeit eine Sehnsucht nach einem Politiker, wie Martin Schulz einer ist.

Er hat etwas, was ihn von anderen Politikern unterscheidet: Er kann eitel wirken, ist es im Grunde aber nicht. Er ist absolut international ausgerichtet, spricht mehrere Sprachen fließend, er hebt nicht ab, sondern bleibt bodenständig, natürlich und authentisch. Von einem Dinner mit Regierungschefs wechselt er problemlos in ein anderes Milieu: Wenn er Zeit hat, macht er am Samstag den Familieneinkauf und steht Schlange an der Kasse des Supermarktes in Würselen.

Er liebt Auftritte und Ansprachen. Seine Reden sind Plädoyers für inhaltliche Anliegen und immer gegen nationalistische Borniertheit und Populismus gerichtet. »Wenn Politik auf den Bauch von Menschen zielt, ist das in Ordnung. Wer in der Politik nicht in der Lage ist, Emotionen zu wecken, der ist am falschen Platz. In meinem ganzen Leben werde ich aber nicht akzeptieren, wenn Politik systematisch auf die Mobilisierung niederer Instinkte zielt.«2

Martin Schulz ist ein freier und kritischer Geist mit starken politischen Überzeugungen, der sich kaum um Moden und Mainstream schert. Er kümmert sich intensiv um den Dialog mit politisch Andersdenkenden, mit Künstlern und jungen Menschen. Bei den Christdemokraten hat Martin Schulz einige sehr gute Freunde gefunden, neben EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auch den Chef der Europäischen Volkspartei, Joseph Daul.

Sein Jugendtraum, Profi-Fußballer zu werden, geht wegen einer Knieverletzung nicht in Erfüllung, geblieben sind ihm aber Teamgeist und der Wille, das Spiel zu bestimmen.

Nicht nur Selbstdisziplin, sondern auch Selbstreflexion und Selbstkritik sind wichtige Eigenschaften, die Martin Schulz auszeichnen. Dabei hilft ihm sein Tagebuch. Seit 1982 macht er sich täglich Notizen. Auf einer Seite des Kalenders der Sparkasse Aachen schreibt er in gut lesbarer und gestochener Schrift, was ihn bewegt, wie er politische Ereignisse einschätzt und was seine persönlichen Eindrücke sind – Reflexionen, die er spätnachts zu Papier bringt. Aufbewahrt werden die gesammelten Tagebücher in einem verschlossenen Schrank hinter seinem Schreibtisch. »Ich hole die oft raus«, sagt er. »An ganz bestimmten Tagen schaue ich nach, was vor zehn oder fünfzehn Jahren war.« Die Aufzeichnungen sind mehr als Erinnerungen, sie sind gesicherte Fakten und Analysen, die Schulz, wann immer er sie braucht, sofort zur Hand hat.

Das Zustandekommen dieses Buches ist der Bereitschaft von Martin Schulz zu verdanken, der mir in zahlreichen Gesprächen Einblick in sein Leben und sein Verständnis von Europa gegeben hat. Ein Europa, das sich verändern muss, um das verlorene Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger wiederzugewinnen, in dem es »konkrete Ergebnisse« braucht, die den Menschen zugutekommen. Der Beitrag von Martin Schulz für eine demokratische europäische Politik ist Ermutigung und Hoffnung zugleich, den europäischen Einigungsprozess fortzuführen. Darin liegt, meine ich, die Intensität seines politischen Wirkens und seiner Überzeugung. Sie werden bleiben.

Brüssel/Wien, Ende Juli 2016

Teil I:VOM BUCHHÄNDLER …

Kindheit und Familie, Schule und Lehre, Bürgermeister von Würselen

»Bei uns wurde über nichts anderes geredet als nur über Politik«, erzählt Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments gleich beim ersten Gespräch in Brüssel.3 An Streit- und Debattenkultur fehlt es in seiner großen Familie nicht. Mit Politik wächst er auf und sie ist bis heute ein fester Bestandteil seines Lebens. »Ich bin in einem total politisierten Haushalt groß geworden, in einer durch und durch politisierten Familie.« Der Einfluss dieses engsten Kreises wird ihn für immer prägen. Seinem politischen Umfeld konnte er sich nicht entziehen – und er wollte es auch nicht.

Politik treibt Martin Schulz an, seit er denken kann: Politik motiviert ihn zu Höchstleistungen und zu sehr viel Menschlichkeit, der Diskurs ist eine seiner wichtigen Energiequellen. »Er ist ein Mann von hohem Ansehen in unserer Region. Er hat für uns sehr viel gemacht«, sagt ein Unternehmer aus Würselen, der Heimatstadt des über Europas Grenzen hinaus bekannten Politikers. Das ist keine Einzelmeinung. Spricht man mit Menschen im Ort, erfährt man viel Positives über Schulz. Einer erinnert sich noch an den jungen Fußballer im ehemals angesehenen Fußballklub »Rhenania Würselen«. Unvergessen für viele ist seine Zeit als Bürgermeister der Stadt und sind seine Verdienste für die wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region. Eine Dame wünscht sich, er möge ganz Europa regieren und auch die Flüchtlingskrise human lösen. Schüler diskutieren über Martin Schulz, junge Menschen kennen ihn selbstverständlich. »Natürlich wissen wir, wer Martin Schulz ist«, sagt eine Abiturientin und will sein Alter wissen. »Der schaut aber viel jünger aus.«

SPD und CDU – ein Polit-Mix im Elternhaus

Die Eltern vertreten unterschiedliche politische Einstellungen, die seit jeher zu Spannungen in der Familie führten. Der Vater, Albert Schulz, steht der Sozialdemokratie nahe. Er wird als elftes Kind in eine Bergarbeiterfamilie hineingeboren und ist Sohn eines Mitbegründers des SPD-Ortsvereins Elversberg. Die Mutter, Clara Schulz, ist eine überzeugte CDU-Politikerin. Die ideologischen Prägungen der Elternteile reichen weit zurück. Sozial- und Christdemokratie haben in den jeweiligen Familien eine lange Tradition. Clara Schulz wächst in einem Milieu mit hohem politischen und sozialen Bewusstsein auf und bekennt sich zum rheinischen Katholizismus. Verwandte, Freunde und Bekannte sind überzeugte wertkonservative Bürger, einer ihrer Vorfahren ist christdemokratischer Bürgermeister von Aachen. Clara Schulz macht sich besonders verdient um die Partei, sie ist von Anfang an dabei und gehört zu den Mitbegründern der CDU-Ortsgruppe in ihrem Heimatort. Der Zweite Weltkrieg führt Albert und Clara zusammen. »Unter republikanischen Bedingungen hätten sich meine Eltern gar nicht kennengelernt, das wäre unmöglich gewesen«, ist Martin Schulz überzeugt.

Der Einfluss der Mutter auf ihren Sohn ist auf eine paradoxe Art und Weise sehr groß. Sie predigt nicht nur, sondern lebt auch die Inhalte der katholischen Soziallehre: Gerechtigkeit und Teilen. Sie lehnt jede Herr-Knecht-Beziehung zutiefst ab und akzeptiert den anderen, wie er ist. Die Tugenden, zu vergeben und friedlich miteinander zu leben, hat sie verinnerlicht und sie sind Teil ihres Alltags. Diese Eigenschaften lernt Martin Schulz von seiner Mutter. Ein politisches Vorbild ist sie für ihn aber trotzdem nicht, er opponiert gegen sie und entwickelt so sein eigenes Profil. Stärke durch Widerstand lernt er sehr früh. Dieses Prinzip ist ihm geblieben und bestimmt sein Leben.

Der aufgeschlossene und neugierige Sohn behauptet sich, indem er der überaktiven, allwissenden Frau entgegentritt, wann immer er kann. Die Mutter liest die Zeitungen von A bis Z, hört rund um die Uhr Nachrichten, versäumt keine Bundestagsdebatte und kommentiert alles und jeden in der Welt. Das ist anstrengend für ein Kind. »Die Logik dieser Geschichte ist, dass wir alle bei den Sozialdemokraten gelandet sind. Ich behaupte, wir sind wegen meiner Mutter alle in der SPD.« »Wir«, das sind er und seine vier Geschwister, die alle überzeugte Sozialdemokraten sind.

Politik definiert nicht nur das Eltern-Kind-Verhältnis, sondern auch den Umgang der Schulz-Kinder untereinander. »Alle meine älteren Geschwister sind sehr politisch.« Martin Schulz ist der Jüngste und profitiert von seinen Geschwistern. Sein ältester Bruder wird 1944 geboren, der zweite 1947, die älteren Schwestern 1949 und 1951. Martin Schulz kommt am 20. Dezember 1955 zur Welt. Ein ungünstiges Datum – zumindest für Geschenke so kurz vor Weihnachten. »Zum Geburtstag hieß es immer, du kriegst ein bisschen mehr zu Weihnachten. Zu Weihnachten hieß es dann, du bist auch nie zufrieden. Richtig doof«, kommentiert er die zeitliche Nähe von Geburtstag und Weihnachten.

Ausgesprochen zurückhaltend schildert Martin Schulz die Beziehung zu seinem Vater. Bei heftigen Debatten und Auseinandersetzungen hält dieser sich stets zurück und greift nicht ein. Theorie und Praxis, wie die Organisation des Haushalts und die Kindererziehung, überlässt er ganz allein seiner Frau. Der Vater ist Polizeibeamter, der sehr oft in der Nacht Dienst hat, und wenn er müde nach Hause kommt, »hat er keine besondere Lust mehr, sich einzumischen. Er hat diese fünf Kinder herumlaufen und diese aufgeregte Frau«, erinnert sich Martin Schulz. Wann immer es ihm möglich ist, zieht sich der Vater zurück und spielt Geige, und das, wie es in der Familie heißt, »sogar sehr gut«.

Im Nachhinein beschreibt Martin Schulz seinen Vater einerseits als »unpolitisch«, andererseits als jemanden »mit ausgeprägter Meinung«, die dieser nur selten und wohldosiert von sich gibt. Von Willy Brandt und Oskar Lafontaine ist Albert Schulz begeistert, Herbert Wehner findet er spaßig. Aus Kindertagen kennt er den Kommunisten und ehemaligen DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker, weil sie in Nachbardörfern aufwachsen: Schulz in Spiesen-Elversberg an der Saar, Honecker in Wiebelskirchen, beide Orte liegen im Landkreis Neunkirchen.

Vater Schulz sucht also die Abgeschiedenheit in der Musik, während die Mutter ruhelos tätig ist. Immer wieder fragt sie sich, was sie in der Erziehung falsch gemacht hat, weil alle ihre Kinder Sozialdemokraten sind. Der zweitälteste Bruder von Martin Schulz engagiert sich links von der SPD, »ein richtiger Krawall-68er«, erst später tritt er in die Partei ein und macht Kommunalpolitik in Köln.4 Jahre später, als Clara Schulz alle Kinder erfolgreich in ihren Berufen erlebt und sieht, wie sie Karriere machen und selbst Familien gründen, ist ihr die politische Orientierung ihrer Töchter und Söhne nicht mehr so wichtig. Sie ist sehr stolz darauf, was aus ihren Kindern geworden ist, erzählen Weggefährten.

Es gibt kein großes Essen und keine Familienfeier im Hause Schulz, bei denen nicht auch prominente Namen fallen. Schon als Siebenjähriger weiß Martin, wer in der Politik etwas zu sagen hat – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. John F. Kennedy ist in seinen frühen Jahren die dominierende Gestalt im Leben des Jungen. Er erinnert sich an das Attentat auf den amerikanischen Präsidenten, als wäre die Tat gerade erst geschehen. Knapp acht Jahre ist er alt, als Kennedy am 22. November 1963 in Dallas ermordet wird. Er erfährt im Kinderzimmer seiner älteren Schwester, dass der Präsident der Vereinigten Staaten durch zwei Gewehrschüsse tödlich verletzt wurde. Er rennt vom ersten Stock nach unten ins Wohnzimmer, wo die Mutter vor dem neu erstandenen Fernseher sitzt und weint. Der Sohn weiß genau, wer Kennedy ist, der amerikanische Präsident besuchte vom 23. bis 27. Juni 1963 Deutschland. Der berühmte Satz »Ich bin ein Berliner« in seiner Rede vor dem Schöneberger Rathaus begeistert den Jungen aus Würselen, für den der US-Demokrat »Leuchtgestalt« und »Erinnerungsmarke« ist.

Zu den Großen der damaligen Zeit zählt für den früh schon frankophilen Martin Schulz auch Charles de Gaulle, für die Menschen in der Region des Dreiländerecks Aachen ist der französische Staatspräsident ein Held, die deutsch-französische Freundschaft ist in diesem Teil Europas stark verankert. Symbolhaft stehen dafür de Gaulle und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer, als Zeichen der Versöhnung unterzeichnen sie 1963 den Élysée-Vertrag. »Das war schon ein aufwühlendes Jahr«, stellt Martin Schulz rückblickend fest.

»Der Willy«, ein politisches Vorbild

Kennedy, de Gaulle, Adenauer sind große Namen, doch »der Mann, für den ich bereit war, mich in die Schlacht zu werfen, das war der Willy«. Bewegt schildert Martin Schulz in seinem Büro in Brüssel den Kniefall des großen Staatsmannes am Ehrenmal der Helden des Warschauer Gettos. Am 7. Dezember 1970, dem Tag der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags zwischen Polen und der Bundesrepublik Deutschland, legt Bundeskanzler Willy Brandt an der Gedenkstätte des Holocausts einen Kranz nieder. Nach dem Ordnen der Kranzschleife bleibt er nicht stehen, sondern sinkt völlig überraschend in die Knie. Dieses Bekenntnis zu einer Schuld, an der Brandt selbst nicht trägt, nötigt dem 15-jährigen Schulsprecher der katholischen Privatschule »Heilig-Geist-Gymnasium der Missionsgesellschaft der Spiritaner« tiefen Respekt ab.5 »Ich vergesse nie diesen Kniefall«, sagt er. 40 Jahre später wird Martin Schulz gemeinsam mit Sigmar Gabriel an der gleichen Stelle einen Kranz niederlegen. »Für mich war das ein stolzer Moment in meinem Leben.«

Willy Brandt ist für den Jugendlichen das »erste große politische Vorbild«. Neben seinem Kniefall in Warschau, von dem damals nicht alle Deutschen begeistert waren, prägt sich Martin Schulz ein weiteres politisches Ereignis ein: der Misstrauensantrag gegen den Bundeskanzler. Es ist der 27. April 1972, einer der spannendsten Momente in der Geschichte des Deutschen Bundestags. Schulz, gerade einmal 17 Jahre alt, findet das Geschehen rund um das konstruktive Misstrauensvotum aufregend wie einen Krimi. Ursache für den Misstrauensantrag der CDU/CSU-Fraktion ist die von der sozialliberalen Koalition unter Brandt eingeleitete Entspannungspolitik, die in den sogenannten Ostverträgen gipfelt. Die Ostverträge sollten die Grundlage für Zusammenarbeit und Frieden in Europa schaffen, die Entspannung zwischen Ost und West einleiten und vor allem dem Auseinanderleben der beiden deutschen Staaten entgegenwirken. Aber gerade die Ostverträge sind es, die die sozialliberale Koalition im April 1972, etwa ein halbes Jahr, nachdem Bundeskanzler Willy Brandt mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden war, an den Rand einer Regierungskrise bringen. Die Ostpolitik der SPD sollte der Versuch einer Aussöhnung sein, doch die Oppositionspartei CDU spricht vom »Ausverkauf deutscher Interessen«.

Die Initiative zur Absetzung eines Regierungschefs ist ein Novum in der deutschen Geschichte. Die Spannung und die Nervosität erfassen auch die Lehrer und Schüler des Gymnasiums von Schulz. Am 27. April 1972 ist unterrichtsfrei, alle Anwesenden versammeln sich in der Aula der Schule. Hier läuft ein Fernseher, die Abstimmung im Bundestag wird live übertragen. Die Patres hoffen auf den Sieg von Oppositionsführer Rainer Barzel, der die Regierung mit hauchdünner Mehrheit im Parlament stürzen will. Martin Schulz beobachtet alles sehr genau. Als der Bundestagspräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU/CSU) am frühen Nachmittag das Ergebnis des Votums verkündet, herrscht in der Schule »eisige Stille«. Von 260 stimmberechtigten Abgeordneten stimmen 247 für den Antrag, 249 wären notwendig gewesen. Der Misstrauensantrag gegen Willy Brandt scheitert. Zwei sicher geglaubte Stimmen fehlen der Unionsfraktion, um Rainer Barzel zum neuen Regierungschef zu machen. Im konservativen Gymnasium sind Lehrer und Schüler fassungslos. Nur Martin Schulz und sein Klassenkamerad Rainer – »wir beide, die Roten« – springen begeistert auf und klatschen Beifall.

Da die sozialliberale Koalition keine handlungsfähige Mehrheit mehr besitzt, kommt es am 19. November 1972 zur ersten vorgezogenen Bundestagswahl in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.

1972: Wahlkämpfer für Willy Brandt

Martin Schulz wirft sich in die Wahlschlacht für den beliebten SPD-Politiker, seine Begeisterung für ihn ist ungebrochen, er engagiert sich in der »Wählerinitiative Willy«, ein Zusammenschluss von Intellektuellen um Günter Grass, Heinrich Böll und Siegfried Lenz. Erstmals dürfen auch junge Menschen im Alter von 18 Jahren an der Bundestagswahl teilnehmen.

Der Urnengang im Spätherbst 1972 endet mit dem größten Erfolg der SPD in ihrer Geschichte, die Sozialdemokraten bilden mit 45,8 Prozent der abgegebenen Stimmen erstmals die stärkste Bundestagsfraktion. Beachtlich ist die hohe Wahlbeteiligung von 91,1 Prozent. »Das war der Moment meiner großen Politisierung, Willy Brandt war mein Idol«, schwärmt Martin Schulz. Er blickt dabei auf die Bronzeskulptur des großen deutschen Sozialdemokraten, die auf einem Sockel im großzügigen Büro des Parlamentspräsidenten in Brüssel steht. Die gut einen halben Meter hohe Figur ist so platziert, dass sie Besucher sofort wahrnehmen und die ausgestreckte Hand von Willy Brandt jeden willkommen heißt. Die Skulptur zeigt seine verschiedenen Eigenschaften, die auch Martin Schulz verkörpert: Herzlichkeit, Nachdenklichkeit, die Bereitschaft, auf Menschen zuzugehen und ihnen zuzuhören. Das Modell ist eine kleine Version der übergroßen Bronzestatue, die im Atrium des Willy-Brandt-Hauses in Berlin steht.

Was ist das Faszinierende an Willy Brandt? »Brandt repräsentierte den Wechsel in Deutschland. Es sind die ersten Jahre nach 1968, Willy Brandt steht für diese Zeit nach der legendären Revolte. Das war ja ein Aufstand gegen die Herrschaft der alten Männer, gegen Konrad Adenauer, gegen Ludwig Erhard, gegen Charles de Gaulle, gegen Leute, die eine Kultur des frühen 20. Jahrhunderts pflegten. Diese Leute waren ja deshalb an der Macht, weil die Generation nach ihnen durch den Zweiten Weltkrieg so dezimiert worden war, dass es nach Kriegsende keine jungen Männer gab, die in die Politik gingen.«

Dabei findet Schulz, dass diese alte Garde ihren Job gar nicht so schlecht gemacht hat. Dennoch regt sich bereits in den frühen 1960er-Jahren der Widerstand der »Wilden« in allen Parteien, der Aufbruch schlägt sich bald in der ganzen Gesellschaft nieder. Der Slogan »Wir wollen mehr Demokratie wagen« markiert diesen Wechsel. Er findet sich in der Regierungserklärung von Willy Brandt 1969 und ist programmatisch für diese Zeit. Viel bedeutungsvoller ist für Martin Schulz allerdings ein anderer Satz der Regierungserklärung, der signifikant den Stimmungswandel in Deutschland charakterisiert: »Die Schule der Nation ist die Schule.« Und nicht, wie es früher hieß, die Bundeswehr, die Armee. Er ist »die programmatische Ansage der Sozialdemokratie an das konservative Deutschland«.

Lieblingsautor John Steinbeck

Nicht nur Politiker wie Willy Brandt oder die alten Herren der Nachkriegszeit beeinflussen Martin Schulz, der damals schon leidenschaftliche Leser findet schnell Autoren, von denen er ebenfalls begeistert ist. Schriftsteller, die seine Fantasie und sein Denken anregen, will er aber nicht unbedingt als Vorbilder bezeichnen – das ist politischen Größen vorbehalten –, aber er zählt einige Autoren auf, die ihn »in besonderer Weise« ansprechen oder für ihn »von entscheidender Bedeutung« sind. Dazu gehört als Favorit der bekannteste und einflussreichste US-amerikanische Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Literaturnobelpreisträger John Steinbeck.6 Schulz fasst Steinbecks Wirkung auf seine Person in wenigen Worten zusammen: »Er war ein mein Leben beeinflussender Mann.«

Als Jugendlicher liest er den Klassiker der Weltliteratur Früchte des Zorns