Jedes Leben ist wertvoll - Alexis Fleming - E-Book

Jedes Leben ist wertvoll E-Book

Alexis Fleming

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Beschreibung

Geborgenheit und Liebe im Tierhospiz

Kein todkrankes Tier soll seinen letzten Weg alleine gehen! Das sagt sich die junge Britin Alexis Fleming, als ihre geliebte Hündin Maggie in einer Tierklinik einsam stirbt. Selbst chronisch krank und schon oft von den Ärzten abgeschrieben, gründet Alexis das erste Tierhospiz der Welt. Zu ihren Schützlingen zählen Schafe, Hunde und Hühner. Manche sterben innerhalb weniger Tage, andere erholen sich noch einmal - vermutlich, weil sie erstmals Geborgenheit und Liebe erfahren. Und auch Alexis selbst wächst über sich hinaus und entwickelt durch ihre Aufgabe ungeahnte Kräfte. Eine Geschichte über die Kraft des Mitgefühls und über Liebe, Freundschaft und Respekt angesichts der Vergänglichkeit allen Lebens.

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Seitenzahl: 407

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Über das Buch

Kein todkrankes Tier soll seinen letzten Weg alleine gehen! Das sagt sich die junge Britin Alexis Fleming, als ihre geliebte Hündin Maggie in einer Tierklinik einsam stirbt. Selbst chronisch krank und schon oft von den Ärzten abgeschrieben, gründet Alexis das erste Tierhospiz der Welt. Zu ihren Schützlingen zählen Schafe, Hunde und Hühner. Manche sterben innerhalb weniger Tage, andere erholen sich noch einmal – vermutlich, weil sie erstmals Geborgenheit und Liebe erfahren. Und auch Alexis selbst wächst über sich hinaus und entwickelt durch ihre Aufgabe ungeahnte Kräfte. Eine Geschichte über die Kraft des Mitgefühls und über Liebe, Freundschaft und Respekt angesichts der Vergänglichkeit allen Lebens.

Über die Autorin

Alexis Fleming, geb. 1982 in Schottland, engagiert sich seit vielen Jahren für die Rechte von Tieren und ist überzeugte Veganerin. 2013 gründete die unter der Autoimmunerkrankung Morbus Crohn leidende junge Frau ein Tierhospiz, in dem sie Haus- und Nutztiere in ihrer letzten Lebensphase liebevoll betreut. Die berührende Geschichte von Alexis wurde u. a. von der BBC dokumentiert sowie in »The Sun« und dem »Guardian« beschrieben. Ein kurzer Dokumentarfilm über das Hospiz wurde auf dem Internationalen Filmfestival in Edinburgh gezeigt.

Alexis Fleming

Jedes

Leben ist wertvoll

Wie mir die Gründung eines Tierhospizes meinen Lebensmut zurückgab

Aus dem Englischen von Anja Lerz

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Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel No Life Too Small: Love and loss at the world’s first animal hospice. bei Quercus Editions Ltd., London.

Deutsche Erstausgabe

© 2021 Kailash Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH

Neumarkter Str. 28, 81673 München

©Alexis Fleming 2021

First published by Quercus Editions Ltd., London.

Lektorat: Werner Wahls

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

Umschlaggestaltung: ki 36, Daniela Hofner Editorial Design, München

ISBN 978-3-641-27242-5V001

www.kailash-verlag.de

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Für Maggie, die die größten Stücke gleichzeitig mitnahm und hinterließ.

Inhalt

Kapitel 1»Findest du das witzig, Maggie?«

Kapitel 2Zukünfte

Kapitel 3Zwölf Tage George

Kapitel 4 Ein schöner Ort zum Sterben

Kapitel 5 Sechs Wochen

Kapitel 6 Kommen drei Hunde, ein Huhn und ein Schaf in eine Bar

Kapitel 7 Wir kommen und wir gehen

Kapitel 8 Osha Dosha Do, Osha Dosha Don’t

Kapitel 9Neue Freunde

Kapitel 10Georgia: Mit Verfallsdatum geboren

Kapitel 11Crannog

Kapitel 12Weiterziehen

Kapitel 13Eine zweite zweite Chance

Kapitel 14B-Bop-a-Loo-Bop-a-Woppa-Bamma-Boom

Kapitel 15Der wilde Kackwurst-Chaot

Kapitel 16Ein schöner Ort zum Leben

Kapitel 17Schwarze Katze

Epilog30. Dezember 2020

Dank

Kapitel 1

»Findest du das witzig, Maggie?«

Du wirst eine Menge erklären müssen, wenn du nach Hause kommst …

Ich stand auf einem Parkplatz in einem Teil von York, den ich nicht kannte. Meine kalten, verschwitzten Hände hatte ich in den Jackentaschen vergraben, wo meine Finger immer wieder mit dem Notizzettel spielten. Durch die Automatiktüren entwischten hin und wieder heiße Luft und Weihnachtsmusik der Wärme des Supermarkts. Die winterliche Dunkelheit legte sich ebenso schwer auf mich wie meine wachsenden Befürchtungen.

Wieder rief ich an. Anrufbeantworter, sofort. Ich versuchte es noch einmal. Und noch einmal.

Ich schaute mich in der unbekannten Wohngegend um. Wie lange sollte ich warten? Wie oft anrufen? Wann aufgeben?

Langsam dämmerte mir, dass ich zu spät dran sein könnte. Ich hätte früher Feierabend machen, früher kommen sollen, mehr Geld bieten, mir mehr Gedanken machen. Ich sah auf meinem Handy nach der Zeit: 16:34 Uhr. Ein Versuch noch.

Als ich aufschaute, spannte sich alles in mir an. Im Licht der Straßenlaternen kam schnellen Schrittes ein Mann auf mich zu, ein drahtiger Typ um die dreißig, der den Blick auf sein Handy gerichtet hielt.

Meine Augen und mein Gehirn brauchten einen Moment, um zu begreifen, was sie da im orangenen Dämmerlicht sahen. Aber das war doch … Das war sie doch! Die magere Bullmastiffhündin, die hinter dem Mann hertrottete, war nicht angeleint und trug nicht einmal ein Halsband, folgte ihm jedoch gehorsam bei Fuß. Sie näherten sich mir. Die Hündin duckte sich nervös hinter den Mann. Ganz offensichtlich fürchtete sie sich vor ihm.

»Du bist wegen dem Hund hier?« Er schaute kurz von seinem Handy auf.

Ich nickte nervös. Mein Mund war ganz trocken.

»Hast du die Kohle?«

»Ja. Hundert Pfund. Ich dachte, du hättest sie vielleicht dem anderen gegeben.«

»Was? Ach nein, der ist nicht gekommen. Willst du die Töle noch?«

»Ja. Hier …«

Ich hielt ihm das Geld hin. Er zählte kurz durch und steckte es ein. Ich öffnete die Heckklappe meines ramponierten alten Mazda und forderte sie auf, hineinzuspringen. »Komm, Süße«, drängte ich sie freundlich und klopfte auf die Bettdecke im offenen Kofferraum.

Sie schaute mich mit großen, ängstlichen braunen Augen an, bewegte sich aber keinen Millimeter. Komm schon, Süße, spring rein. Ich wollte das Ganze endlich hinter mich bringen.

»Du hast sie gehört. Rein da.« Er schob sie mit seinem Stiefel Richtung Auto. Sie zuckte zusammen und tat instinktiv, was von ihr gefordert wurde. Schnell schloss ich die Klappe. Für tröstende Worte war später genug Zeit, jetzt kam es erst einmal darauf an, sie in Sicherheit zu bringen.

»Also dann, danke.« Ohne sich zu verabschieden oder einen letzten Blick auf den Hund zu werfen, ging er fort. Ich hätte sonst wer sein, alles mit dem Hund machen können, aber sein Geld hatte er ja bekommen. Ich sah ihm hinterher, wie er mit dem Blick am Handy klebte, wegging und die magere, verängstigte Hündin, die ihm so treu gefolgt war und aufs Wort gehorcht hatte, schon vergessen hatte, als er an der nächsten Straßenecke in der Dunkelheit verschwand.

Ich schaute auf und atmete erleichtert aus. Danke.

Es war zu gefährlich, die Heckklappe zu öffnen, also kletterte ich auf die Rückbank. Im Umgang mit einem neuen Hund musste man vorsichtig sein, besonders bei einem, der so offensichtlich durcheinander und verstört war. Über Bullmastiffs wusste ich nicht viel, meinte mich aber zu erinnern, dass sie als sehr loyal und Fremden gegenüber manchmal misstrauisch galten. Der Anblick dieses armen, verängstigten Hundes, der sich da in meinem Kofferraum zusammenkauerte, weckte allerdings keine größeren Befürchtungen.

»Hallo, meine Liebe.« Ich hielt ihr die Hand hin, um sie schnuppern zu lassen. »Du bist eine ganz Feine, oder? Versuch mal, keine Angst zu haben.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. Ihr Blick war verwirrt und furchtsam. Unsicher schnüffelte sie kurz an meiner Hand.

»Alles wird gut, versprochen. Jetzt geht’s nach Hause.«

Weil im albtraumhaften Straßennetz Yorks Feierabendverkehr herrschte, dauerte die Heimfahrt ewig, aber sie machte die ganze Zeit über keine Bewegung, gab keinen Laut von sich. Während wir durch die verstopften Straßen krochen, schaute ich immer wieder in den Rückspiegel. Ich konnte ihre Silhouette sehen; sie saß kerzengerade da, und ihre Ohren wippten, wenn wir bremsten und wieder anfuhren. Selbst als ich anhielt, um Futter für meinen unerwarteten Gast zu kaufen, fand ich sie beim Einsteigen in genau derselben Position vor. Ihre Apathie beunruhigte mich, doch gleichzeitig war ich froh um die Stille, weil ich so Zeit zum Nachdenken hatte.

Ich bog in den Parkplatz des Mehrfamilienhauses ein, in dem ich lebte, und stellte das Auto in der mit meiner Wohnungsnummer gekennzeichneten Parklücke ab. Dann drehte ich den Schlüssel um und wandte mich dem dunklen Umriss hinter mir zu, dieser unbekannten Größe, die ich aus einem Impuls heraus in mein Leben eingeladen hatte. Ich konnte spüren, dass sie in der Dunkelheit meinen Blick erwiderte. Ich drehte mich wieder um, schloss die Augen und ließ meinen Kopf nach vorne fallen. Oh, shit! Das Adrenalin ließ nach, und die Wirklichkeit machte sich bemerkbar.

Als ich an jenem Morgen das Haus verließ, hatte ich nicht vorgehabt, neun Stunden später mit einem Hund zurückzukommen. Mein Ehemann Chris und ich wohnten in einer Mietwohnung, in der Haustiere nicht erlaubt waren. Ich arbeitete im Lager einer Firma, die optische Bauteile herstellte, und dieser Morgen war wie alle anderen. Wie üblich war ich die Erste dort, drehte die Heizkörper auf, schaltete das Radio ein und stellte den Wasserkocher an. Morgens brauche ich immer eine Weile, um munter zu werden. Ich war immer müde, war beim Aufwachen ebenso müde wie beim Zubettgehen, und es fiel mir zunehmend schwerer, die ungewöhnlichen Schmerzen und die Erschöpfung kleinzureden, die mich immer spürbarer ausbremsten. Es war Mitte Dezember, es würde ein hektischer Arbeitstag werden, weil wir unter Hochdruck daran arbeiteten, die bestellte Ware vor den Weihnachtsferien zu versenden. Wenn ich nur daran dachte, überfiel mich schon tiefe Müdigkeit. Ich setzte mich mit einer Tasse Tee an den Computer, um in die Gänge zu kommen, und begann, den Post- und Bestelleingang durchzugehen.

Ich war noch nie ein besonders großer Fan von Weihnachten, aber dieses Jahr fühlte ich mich beim Gedanken daran besonders niedergeschlagen und wurde schnell zynisch. Angesichts der Flut von Werbung, Lametta und erzwungener Heiterkeit, die die finsterere Wirklichkeit hinter der farbenfroh beworbenen Festlichkeit übertünchte – Schulden, Stress, Einsamkeit, alte Hunde, die für neue Welpen Platz machen müssen –, war ich wirklich nicht in der richtigen Stimmung. Ich fühlte mich leer und rastlos.

Ich bin als Einzelkind aufgewachsen. Meine beste Freundin und Spielkameradin war Trouvee, ein Staffordshire-Bullterrier-Mischling, den meine Eltern abgemagert, vernachlässigt und traumatisiert in den 1970ern in der Nähe einer Brücke im Stadtzentrum von Glasgow ausgesetzt gefunden hatten. Bis zu meiner Geburt hasste Trouvee Kinder, machte dann aber einen Sinneswandel durch und beschloss, dass ich ihr Baby wäre, ihr Kleines. Sie hätte mich mit ihrem Leben verteidigt. Als Trouvee starb, war ich zwölf Jahre alt. Im Gedenken an sie gründete meine Mum, Flora, ein Katzenasyl, das sie von unserem Haus aus leitete. Streunende Katzen waren ein Problem, ein Problem solchen Ausmaßes, dass unser Haus und unser Leben in kürzester Zeit davon bestimmt wurden. Einmal kam ich nach einer Fünf-Stunden-Schicht im örtlichen Kino nach Hause und fand 17 junge Katzenbabys in meinem Zimmer vor.

»Wo – wie – hast du denn in den letzten fünf Stunden 17 Kätzchen gefunden, Mum? Vier, ja! Wenn’s hochkommt, auch fünf, soll’s ja geben. Aber 17 Stück?! Ob die zufällig mal aufhören könnten, Fangen zu spielen, solange ich schlafe? Und kannst du irgendwas tun, damit die sich nicht einbilden, ich wäre so eine Art Luxus-Katzenklo, das du extra für sie angeschafft hast? Eins davon hat auf mein Kopfkissen gepinkelt!«

Ein paar Minuten später kam sie zurück und überreichte mir eine Plastikplane, unter der ich schlafen konnte. Problem gelöst.

Ich kannte also die Hochs und Tiefs, die damit einhergingen, wenn man sein Zuhause und sein Leben mit den heimatlosen vierbeinigen Kindern der Gesellschaft teilte, und wusste um die dafür notwendige Opferbereitschaft, war aber nie sesshaft genug gewesen, um selbst einen tierischen Freund zu besitzen. Chris und ich hatten einander beim Jobben im Kino Odeon in Kilmarnock kennengelernt. Ich war 19 und arbeitete dort neben meinem Studium, er war ein Jahr älter und hatte die Uni gerade abgeschlossen. Als ich 21 war, gingen wir zusammen auf Reisen. Unter anderem verbrachten wir ein Jahr in Australien, wo ich als Aktivistin für eine Tierschutzorganisation tätig war. Dort lernte ich Edgar’s Mission kennen, einen Gnadenhof für gerettete Nutztiere in der Nähe von Melbourne. Von der Sekunde an, in der ich die Leiterin Pam traf, war klar, wie ich meine Wochenenden und freien Tage verbringen würde. Beim Ausmisten von Hühner- und Schweineställen und beim Babysitten von Ferkeln und Hähnen war ich voll in meinem Element; ich liebte diese Zeit. Zurück in England heirateten Chris und ich, aber wir ließen uns nie fest an einem Ort nieder. Chris arbeitete im Hotelfach, weshalb wir häufig umzogen, und aufgrund seiner aktuellen Arbeitsstelle waren wir nun eben in York gelandet.

Ich hatte Freunde, die Tierschutzorganisationen leiteten, und hatte seit meiner Rückkehr selbst als Pflegestelle Hunde aufgenommen und mich einige Wochen um sie gekümmert, bis sie in ein neues Zuhause vermittelt wurden, war aber nie in der Lage gewesen, einen davon dauerhaft zu behalten.

War ich eigentlich immer noch nicht.

Aber an diesem Morgen hatte ich eine Anzeigenseite im Internet angeklickt, ich war wohl gedanklich noch nicht klar genug, um mich davon abzuhalten. Wie immer standen dort seitenweise unerwünschte Hunde zum Verkauf, samt der abgenutzten Ausreden, die immer damit einhergingen. Beim Scrollen blieb mein Blick an einem Foto hängen: ein verloren aussehender gestromter Bullmastiff, der umgeben von ausrangiertem Kinderspielzeug und anderem Müll im Garten auf einem Weidenstuhl saß. Der Hund war klein und mager und wirkte unvergesslich traurig.

In der Hoffnung, ich hätte beim ersten Lesen etwas falsch verstanden, las ich die Anzeige ein zweites Mal:

Habe diese Hündin zur Zucht gekauft. Hatte zwölf Welpen, aber davon sind zehn gestorben, hat also keinen Nutzen mehr für mich. Ist bei meiner Freundin zu Hause, aber die will sie nicht und schlägt sie. 10 Monate alt. 100 £. It.

Sie war viel zu jung für Junge, sie war doch selbst kaum mehr als ein Welpe. Ich las die Worte noch einmal, und die Entscheidung fiel von ganz allein. Mein Mund war trocken, und das Adrenalin hatte angefangen zu fließen und zeigte Wirkung. Das Herz übernahm die Führung, der Kopf hinkte hinterher, und ich griff zum Telefon und wählte die Nummer.

Eine gleichgültige Stimme antwortete. »Der Hund? Ach ja, stimmt. Jemand anders hat mir schon einen goldenen Siegelring und einen Motorradhelm geboten. Bargeld wäre mir lieber, aber Hauptsache, der Hund kommt weg«, teilte er mir mit. »Der andere kann aber schon heute Morgen.«

Ein goldener Siegelring und ein Motorradhelm? Was zum Teufel …? Innerhalb von Sekunden lag mir dieser Hund am Herzen, den ich doch noch gar nicht kennengelernt hatte. Ich war wild entschlossen, ihn von diesem Kerl wegzuholen, der ihn gegen einen Ring und einen Motorradhelm eintauschen wollte. Ich musste ihm irgendeinen Grund geben, noch zu warten, hatte aber so ein Gefühl, dass die Zusicherung, sie würde bei mir ein ganz tolles neues Zuhause bekommen, als Argument nicht ziehen würde. Ich unterdrückte das Zittern in meiner Stimme und gab mein Bestes: »Ich kann erst nach Feierabend, aber ich geb dir die volle Summe, hundert Pfund bar auf die Hand. Das ist mehr, als der andere geboten hat. Ich kann kurz nach vier. Wo soll ich hinkommen?«

Bargeld statt Motorradhelm, das Versprechen gab den Ausschlag. Um 16:15 Uhr auf dem Parkplatz eines Co-op in einem zwielichtigen Teil der Stadt, in dem ich vorher noch nie gewesen war.

Und jetzt saß ich da, um hundert Pfund leichter und einen Bullmastiff reicher und ohne die geringste Ahnung, wie ich sie in mein ganz und gar nicht Bullmastiff-kompatibles Leben noch reinquetschen sollte. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, die Entscheidung zu bedauern, aber so lagen die Dinge nun mal eben, und der hundeförmige Schatten hinter mir sagte mir, dass ich das Richtige getan hatte.

Ich wusste, dass ich die Neuigkeiten erst einmal Chris beibringen musste, der oben in unserer Wohnung war und nichts von meiner neuesten Eskapade wusste. Das machte mir Sorgen. Ich schämte mich und fühlte mich echt schuldig, aber ich hatte ihm vorher nichts davon erzählt, weil ich nicht wollte, dass er mir die Sache ausredete. Ich zog mein Handy aus der Tasche.

»Ein Hund? Alexis … Aber wie das denn? Wo? Du warst doch bloß arbeiten! Außerdem dürfen wir gar keine Haustiere halten.«

»Ich weiß. Entschuldigung. Ich hab sie im Internet gesehen.«

»Sie kann nicht bleiben. Das ist doch lächerlich. Wir hätten vorher drüber reden sollen.«

»Hör mal, es tut mir leid, ehrlich. Ich hab sie gesehen und musste ihr einfach helfen, Chris. Der wollte sie gegen einen Motorradhelm eintauschen! Seine Freundin hat sie geschlagen. Ich weiß, dass ich dich hätte fragen sollen. Es tut mir leid. Aber als ich erst einmal von ihr wusste, musste ich einfach etwas tun. Es tut mir so leid, ehrlich …« Jetzt plapperte ich nur noch. Ich wusste, dass ich im Unrecht war, dass ich mit ihm hätte reden sollen.

»Was machst du jetzt mit ihr?«

»Weiß nicht«, sagte ich leise. Meiner Stimme ging ebenso wie meiner eben noch felsenfesten Überzeugung die Luft aus.

Er war ziemlich sauer auf mich. Chris war nicht gleichgültig, er machte sich durchaus Gedanken, aber wir hatten unterschiedliche Sichtweisen. Es war ja auch eine eigennützige Handlung – ich hatte einen Hund übernommen, ohne über die Wirkung auf Chris nachzudenken – und sie würde eine Menge Ärger mit unserem Vermieter nach sich ziehen. Ja, alles klar. Ich wäre im umgekehrten Fall auch sauer gewesen.

Ein paar Minuten später kam Chris runter auf den Parkplatz.

»Alexis …« Er öffnete die Tür zum Fond und schaute mich an.

Ich kauerte mit ausgestrecktem Arm auf der Rückbank, um den großen, traurigen, stinkenden, unbekannten braunen Hund zu streicheln. Beschämt, aufgeregt, erleichtert, besorgt, sicher und unsicher erwiderte ich Chris’ Blick.

»Wie heißt sie?«, fragte er.

Die Frage war mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. »Weiß ich nicht, das hab ich gar nicht gefragt. Maggie? Ja, warum nicht? Maggie. Sie heißt Maggie.«

Langsam bekam ich Panik und begann, an allem zu zweifeln, aber jetzt blieb mir keine Wahl mehr: Ich hatte uns das Ganze eingebrockt und musste weitermachen. Ich holte tief Luft. »Also dann, Maggie, sollen wir mal hochgehen?«

Ich kannte sie nicht, und sie befand sich in einer sehr verwirrenden und beängstigenden Situation. Sie konnte ausreißen oder sich von der Angst überwältigen lassen und beschließen, erst einmal anzugreifen. Vorsichtig öffnete ich die Heckklappe, und wir schauten einander eine Weile an. Mich überkam das überwältigende Gefühl, dass sie nicht vorhatte, wegzulaufen oder mir wehzutun. Erleichtert legte ich ihr ein Halsband um und befestigte eine Leine.

»Musst du mal Pipi, Süße?«

Chris war schon vorgegangen und hielt Maggie und mir zwei Treppen höher wartend die Tür auf.

»Sie wirkt verängstigt«, sagte er. »Gibt’s eine Geschichte dazu?«

Ich erklärte, was ich wusste.

»Was hast du jetzt vor? Hier kann sie nicht bleiben.«

»Ja, das weiß ich, das weiß ich doch …« Ich hatte noch immer keinen Plan. »Ich weiß noch nicht so recht. Aber ich finde eine Lösung«, versicherte ich ihm und auch mir selbst.

Wir gingen durch die Wohnungstür und den Flur in unsere offene Wohnküche. Jetzt, in der hell erleuchteten Wohnung, konnte ich die Tränensäcke der Erschöpfung unter Maggies Augen erkennen.

»Also dann, meine Liebe, dann wollen wir dich mal unterbringen …« Sie war verwirrt, ließ aber alles resigniert mit sich geschehen. Vermutlich war es nur eine weitere Veränderung in ihrem ohnehin schon chaotischen Leben, und vermutlich hatte sie gelernt, dass es nichts Gutes brachte, wenn sie sich sträubte. Ich klinkte die Leine aus, griff an ihrem Kopf vorbei nach der Tasche mit den Einkäufen, während sie sich auf den Bauch legte und so flach machte, wie sie nur konnte.

Plötzlich fielen mir die Worte des Online-Inserats wieder ein: Die schlägt sie. Noch bis vor einer Stunde war das ihre Lebenswirklichkeit. Schläge, Welpen, Hunger, Angst.

»Ach, Schätzchen, alles ist gut. Jetzt tut dir keiner mehr weh.« Ich versuchte, sie zu beruhigen, doch sie hatte keinen Grund, mir zu glauben.

Ich setzte mich neben sie auf den Boden und fing an, ihr sachte den Kopf zu streicheln. Wir lehnten beide mit dem Rücken am Sofa. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie schmutzig und matt ihr Fell war. Sie hatte ein wunderschön gestromertes Fell – dunkelbraun mit orangenen und goldenen Sprenkeln – und einen langen, geschwungenen weißen Latz, der unter ihrem Kinn begann und bis zur Brust hinunterreichte. Ich legte vorsichtig meinen Arm um sie und spürte, wie sie sich anspannte. Als ich langsam mit der Hand über ihren Rücken fuhr, rieselten Hautschüppchen zu Boden. Mir war schon aufgefallen, dass ihr Gesäuge durchhing. Es war noch voller Milch für die verstorbenen Welpen. Die Zitzen sahen nicht gut aus, und es bestand die Gefahr einer Infektion.

»Darf ich bitte mal da unten anfassen, Liebes?« Ich spürte bereits, dass Maggie eine sanfte Seele war. Doch wenn sie unter einer Entzündung litt und wund war und obendrein nicht an sanfte Hände gewöhnt, konnte es gut sein, dass sie panisch darauf reagierte, wenn ich ihren schmerzenden, geschwollenen Bauch berührte. Misstrauisch beobachtete sie meine Hand, die ich vorsichtig ausstreckte. Ihre Zitzen waren heiß, und ihr ganzer Bauch war von offenen, nässenden, verkrusteten wunden Stellen überzogen, die aussahen wie ganz schlimme Akne.

»Oh, shit, was ist das denn? Chris, schau dir mal ihren Bauch an. Sie ist voller Schorf, da ist alles entzündet.«

Gemeinsam betrachteten wir sie, wie sie erschöpft und besorgt auf der Seite liegend eine Pfote erhoben hatte, bereit, alles mit sich machen zu lassen, was uns einfiel.

»Sie muss unglaubliche Schmerzen haben.« Chris verzog das Gesicht. Der Anblick war schwer auszuhalten.

»Ja, ich muss morgen erst einmal mit ihr zum Tierarzt. Aber vor allem braucht sie etwas Ordentliches zu fressen und Schlaf.«

Ich improvisierte und füllte zwei Nudelteller – einen mit Futter und den anderen mit Wasser. Sie war ausgehungert, aber die Angst hatte sie fest im Griff. Ich zog mich zurück, um ihr etwas Freiraum zu verschaffen, und es dauerte nicht lange, bis der Hunger sie dazu brachte, sich vorsichtig dem Futter zu nähern und zögernd ein paar Maulvoll zu fressen. Bald war die Futterschüssel leer. Speichelfäden hingen ihr aus den Lefzen. Sie schüttelte den Kopf, und ein Spuckefetzen traf den Kühlschrank und glitt langsam die Tür hinunter. »Das wischen wir besser weg, bevor Chris etwas merkt, Maggie! Kein Sabber an den Wänden, okay?«

Das erinnerte mich daran, dass ich unseren Vermieter anrufen und ihm beichten musste, dass ich aus Versehen auf den Hund gekommen war, der sich nun eifrig darum bemühte, unsere haustierfreie Wohnung mit schleimigen Hundefutterspeichelfäden umzudekorieren. Noch am selben Abend, während Maggie vorsichtig am Grünstreifen vor unserem Mietshaus entlangschnüffelte, rang ich mich endlich dazu durch, in den sauren Apfel zu beißen und unseren Vermieter anzurufen. »Sie wurde misshandelt«, erklärte ich. »Es ist nur vorübergehend – nur ein paar Tage, bis Heiligabend, bis ich einen Platz in einer Tierpension für sie gefunden habe. Ich werde schauen, dass ich sie mit zur Arbeit nehmen kann, und ich passe natürlich darauf auf, dass sie nichts kaputt macht und keine Belästigung darstellt. Es tut mir leid, dass ich Sie darum bitten muss, aber ich musste einfach etwas tun.« Nervös wartete ich auf seine Reaktion.

»Ich weiß es zu schätzen, dass Sie ehrlich zu mir sind«, sagte er. »Und danke, dass Sie ihr helfen. Ich habe selbst einen Hund. Gerade jetzt schläft er tief und fest vor dem Kamin – und das verdient doch jeder Hund. Bitte achten Sie darauf, dass sie keinen Schaden verursacht oder die Nachbarn stört. Viel Glück bei der Suche nach einem guten neuen Zuhause.«

Was für eine Erleichterung!

Eine weitere Hürde war genommen. Meinen Chef würde ich gleich frühmorgens anrufen und fragen, ob ich Maggie die nächsten paar Tage bis zu den Betriebsferien über Weihnachten mitbringen dürfte. Sie wirkte wie ein leiser Hund, und ich konnte nur hoffen, dass sie keine heimliche Neigung zur Zerstörung von Büroeinrichtung hegte.

Nach unserem Spaziergang setzten Maggie und ich uns nebeneinander auf den Wohnzimmerboden, um uns aufzuwärmen. Noch kein Jahr alt, und schon forderte das Leben seinen Tribut von ihrem Körper. Noch einmal schaute ich mir ihren angeschwollenen, verkrusteten roten Bauch an. Das Austragen, Füttern und Versorgen ihrer Welpen – und dazu vermutlich schlechte Ernährung und ein laxer Umgang mit den Fütterungen – hatten zu ihrem abgemagerten, mangelernährten Zustand beigetragen. Sollte Ruhe überhaupt je möglich gewesen sein, so war das schon so lange nicht für sie infrage gekommen, dass es ihr sicher nicht leichtfallen würde, sich zu entspannen. Aber sie sah wirklich bis ins Mark erschöpft aus. »Du bist echt am Ende, oder? Na komm, Maggie, es war ein aufregender Tag. Lass uns ins Bett gehen.«

Chris schlief schon, als Maggie und ich ins Schlafzimmer kamen. »Komm, leg dich hin, Schätzchen. Das sollte bequem sein.« Beim Zähneputzen beobachtete ich sie vom Bad aus dabei, wie sie an den Decken schnüffelte, die ich neben meiner Bettseite für sie bereitgelegt hatte. Ein Versuch, sich ein Bild von ihrer neuen Welt zu machen. Sie stupste die Decken vorsichtig mit der Pfote an, drehte sich ein paar Mal um sich selbst und legte sich dann hin.

Ich turnte über den Deckenhaufen ins Bett und bemühte mich, sie dabei nicht zu stören. Dann lag ich im Dunkeln da, atmete tief durch und versuchte, meine Gedanken zu ordnen und mir einen Reim auf die heutigen Ereignisse zu machen. Was für ein Tag!

Ich war zwar erschöpft, erwartete aber eine unruhige Nacht und stellte mich darauf ein. Immerhin ist die erste Nacht an einem unbekannten Ort immer schwierig, und in den letzten Stunden hatte sich Maggies Leben und ihre Welt bis zur Unkenntlichkeit verändert. Doch sie war auch extrem erschöpft, und ich hoffte, dass dies ihre Angst überflügeln würde und sie so die Ruhe bekäme, die sie brauchte.

Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen. Es dauerte nur wenige Minuten, bis sich unsere Atmung verlangsamte und unsere beiden überforderten Körper nebeneinander in den Schlaf fanden.

Von ein paar Pipi-Pfützen abgesehen und davon, dass Maggies Abendessen noch einmal auf dem Teppich erschien, schliefen wir beide gut. Nerven und Ängste machen komische Sachen mit unserem Inneren.

Während unseres frühmorgendlichen Spaziergangs rief ich meinen Chef an. »Also, John, es geht um einen Hund …«

Er kannte mich gut genug, um nicht im Geringsten überrascht zu reagieren. Sein fröhlicher Labrador, Jake, sorgte im Büro bereits für gute Laune, deshalb war die Überlegung, einen Hund mit zur Arbeit zu bringen, nicht ganz abwegig. Er war damit einverstanden, dass Maggie bis Weihnachten mit ins Lager kam. Ich war dankbar für sein Verständnis – und unfassbar erleichtert, einen anderen Plan hatte ich nämlich nicht.

Noch eine Hürde genommen. Dranbleiben …

Seit unserer ersten Begegnung waren erst 24 Stunden vergangen, aber Maggie und ich fanden bereits zu einem gemeinsamen Rhythmus. Wir entwickelten langsam eine Routine. Mit jedem Ausflug vor die Tür zum Schnüffeln und Pinkeln und mit jedem Moment, den wir knuddelnd auf dem Wohnzimmerboden lagen, wuchs unsere Freundschaft. Bei der Arbeit und auch zu Hause kam es zwar zu ein paar Missgeschicken, aber das war nichts, was man nicht mit einer Flasche Desinfektionsspray und ein paar Rollen Küchenpapier hätte beheben können. Bei der Arbeit lag sie auf ihrer Bettdecke unter dem Packtisch, an dem ich meine Arbeitstage verbrachte. Sie gab sich mit der Beschäftigung mit einem großen Kauspielzeug zufrieden und freundete sich schnell mit den Leuten dort an. Sie fraß gut, und die Antibiotika und Schmerzmittel vom Tierarzt zeigten langsam Wirkung gegen die Infektion, die in ihrem Körper tobte. Es war leicht – viel leichter als gedacht. Irgendwie passten wir beide zusammen.

Am Wochenende machten wir entlang eines alten Bahndamms in der Nähe unseren ersten richtigen Spaziergang. Noch traute ich mich nicht, Maggies Freilauffähigkeiten auf die Probe zu stellen, allerdings nahm ich eine etwas längere Leine. Es war ein heller Wintertag, und die tief am Himmel stehende Sonne blendete mich, als eine Mutter mit ihrer Tochter stehen blieb um ein Schwätzchen zu halten.

»Wir haben sie kommen sehen – sie ist so schön!« Lächelnd bückten sie sich, um mit Maggie direkt zu sprechen. »Wie heißt sie denn? Klingt albern, ich weiß, aber als wir sie gesehen haben, haben wir beide gesagt, dass das bestimmt eine ganz sanfte Seele ist. Da mussten wir einfach stehen bleiben und sie begrüßen. Ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus.«

Stolz wärmte mir die Brust, als ich ihnen ihre Geschichte erzählte. Maggies Leben hatte aus Chaos, Angst und Sorgen bestanden, nie hatte sie Güte erfahren oder einen Freund gehabt. Sie hatte keinerlei Veranlassung, uns zu vertrauen. Aber sie tat es. In den letzten paar Tagen hatte ich beobachtet, wie sie neue Menschen wie alte Freunde begrüßte, ganz leise und sanftmütig. Ihr Blick war weicher geworden, und einige Nächte ungestörten Schlafs hatten die Augenringe kuriert. Regelmäßig gutes Futter und die medizinische Behandlung ihrer Beschwerden verhalfen ihr zu frischem Elan. Sie lebte auf.

Mit jedem Spaziergang, jeder Autofahrt und jedem Kuscheln auf der Couch wuchsen Mags und ich zusammen und wurden im Umgang miteinander entspannter und sicherer. Trotzdem lag noch ein weiter Weg vor uns. Weil sie früher ständig wütenden Händen und Füßen ausweichen musste, Fütterungen gelegentlich ausfielen, sie von Pontius zu Pilatus weitergereicht wurde und mittendrin noch ihre Welpen beschützen musste, hatte sich Maggie an ein Leben in ständiger Alarmbereitschaft gewöhnt. Wenn ich eine plötzliche Bewegung machte oder mich in der Küche zu schnell umdrehte, konnte es vorkommen, dass sie sich mit zurückgelegten Ohren, riesigen Augen und gesenktem Kopf an die gegenüberliegende Wand quetschte, um so wenig Angriffsfläche wie nur möglich zu bieten. Alte Erinnerungen und Gewohnheiten wird man nur schwer los, besonders diejenigen, die zum Selbstschutz entwickelt wurden. Hier mussten Liebe und Zeit Wunder vollbringen.

Bald stand Weihnachten vor der Tür und damit ein weiteres Hindernis. Chris und ich würden zwischen Weihnachten und Neujahr eine Hochzeit in den Highlands besuchen, und die Tierpensionen waren über die Feiertage alle ausgebucht. Wohin mit Maggie? Weil ich nicht weiterwusste, tat ich, was jede anständige Tochter tun würde: Ich rief Mum und Dad an. Mein Dad, Archie, half gern – er war kein bisschen überrascht – und erklärte sich bereit, ein paar Tage auf Maggie aufzupassen.

Die Hochzeit war angemessen feierlich, und obwohl ich mich die meiste Zeit mit den anderen Gästen unterhielt und sogar zu einigen Tänzen überreden ließ, konnte ich einfach nicht aufhören, über Maggie nachzudenken – und darüber, wie müde ich war. In wenigen Tagen sollte Maggie in die Tierpension meiner Freundin Heather einziehen, wo sie sterilisiert, gechippt und geimpft werden würde und wo man ein tolles neues Zuhause für sie finden würde. Heather war sehr achtsam, und ich wusste, ich konnte mich darauf verlassen, dass sie Maggie nur zu Menschen geben würde, die sie liebten und gut zu ihr wären. Ich zweifelte nicht daran, dass Heather ein Heim für Maggie finden würde, wo sie glücklich werden und ein wundervolles Leben führen konnte.

Mit gesenktem Kopf rannte ich beschämt aufs Klo. Ich war froh, dass Musik, Gelächter und das Geräusch klirrender Gläser mein Schluchzen in der Kabine übertönten. Mir wurde bewusst, dass ich gar nicht wollte, dass Maggie von jemand anderem geliebt wurde. Sie hatte doch schon jemanden, der sie liebte. Mich. Ich liebte sie.

Ich tupfte meine Augen mit kaltem Wasser ab und wartete, bis die Röte abgeklungen war. Zurück bei der Festgesellschaft brauchte ich mir keine Ausrede auszudenken, um mich früh in unser Chalet zurückzuziehen. Die altbekannte, überwältigende Erschöpfung hatte mich im Griff. Dazu kamen die beinahe unerträglichen Schmerzen, die sich nach dem Essen immer bei mir einstellten und mich jeglicher Energie und Begeisterung beraubten.

In dem Chalet, in ausreichender Entfernung von der Festgesellschaft unter Bäumen gelegen, war es herrlich leise, dunkel und ruhig. Halb angezogen lag ich mit ungeputzten Zähnen und ungewaschenem Gesicht im Bett und weinte. Ich hatte kaum noch genug Kraft, um die Augen offen zu halten, aber meine Gedanken liefen wie üblich auf Hochtouren. Eine Stunde später hatte ich genug darüber nachgedacht. Ich atmete tief ein und lange aus. Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ich liebte Maggie, und sie und ich würden zusammenbleiben. Lächelnd und aufgeregt rief ich Dad an.

»Sie tapst durchs ganze Haus und sucht nach dir«, erzählte er mir.

Ich lächelte.

»Heute bin ich im Wald mit ihr Gassi gegangen. Ich hab versucht, sie mit über den Fluss zu nehmen, aber sie wusste nicht, was Wasser ist.«

»Ich geb sie nicht mehr her, Dad. Sie bleibt bei mir.«

Leicht würde es nicht werden, aber meine Entscheidung stand fest. Ich drehte mich zum Einschlafen um und dachte über die aufregende neue Zukunft nach, die sich da gerade vor mir auftat.

»Ich möchte Maggie behalten, Chris.« Es war der Morgen nach der Hochzeit, und ich versuchte, so leise wie nur möglich zu sprechen, weil sich die anderen im Chalet untergebrachten Gäste gerade fürs Frühstück fertig machten.

»Du weißt aber doch, dass wir in der Wohnung keine Haustiere halten dürfen. Du kannst sie nicht behalten.«

»Hör mir bitte einfach zu. In acht Wochen läuft unser Mietvertrag aus. Ich suche uns eine neue Wohnung, eine, in der Hunde erlaubt sind. Ich weiß, dass du die Wohnung magst, ich mag sie ja auch, aber ich werde mir Häuser in der Nähe von meiner Arbeit anschauen, damit ich über Mittag nach ihr sehen kann. Ich habe Heather schon angerufen und ausgemacht, dass sie bei ihr bleiben kann, bis ich etwas gefunden habe. Sie bleibt bei uns, Chris. Ich kann nicht … Ich will nicht mehr ohne sie sein.«

Er schloss die Augen und seufzte, und mein Herz verkrampfte sich.

Die ersten Januarwochen verbrachte ich mit der Wohnungssuche. Alle paar Tage rief ich Heather an, und wir brachten einander auf den neuesten Stand.

»Sie tobt gerne mit den anderen Hunden. Sie ist so ein feines Mädchen, sie kommt mit allen gut aus.« Heather schloss Mags zunehmend ins Herz.

»Ja, nicht wahr? Also, pass auf. Ich habe ein Haus für uns gefunden! Am 19. Februar bekommen wir den Schlüssel. Wär’s okay, wenn Dad sie bei dir abholt, wenn er kommt, um uns beim Umzug zu helfen?«

Unser neues Heim war eine Doppelhaushälfte in einer Stadtrandsiedlung von York in der Nähe meiner Arbeit, also würde ich in der Mittagspause nach Hause und mit Maggie vor die Tür gehen können.

Am Tag, bevor Maggie eintreffen sollte, las ich bei Facebook ein Posting über einen blinden Husky namens Jack, der am nächsten Tag getötet werden sollte, weil seine Leute ungeplanten Nachwuchs erwarteten. Armer Kerl … Ach, na ja, zwei Hunde machen auch nicht mehr Arbeit als einer.

Jack traf eine Stunde vor Maggie ein. Nachdem er es geschafft hatte, sich im Badezimmer einzuschließen, die Badewanne zu zerstören, ein Loch in die Tür zu schlagen und den Siphon durchzunagen, begriff ich, dass es mit zwei Hunden nicht ganz das Gleiche war wie mit einem, wenn der zweite ein halbverrückter, jaulender, sich um sich selbst drehender blinder Husky war, der Toiletten fraß. Ich hatte von vornherein beabsichtigt, ihm ein neues Zuhause zu suchen, aber komischerweise standen die Leute nicht gerade Schlange. Jack und ich hatten ein sehr angespanntes Verhältnis. Er hasste Niesen, und er brachte mich zum Niesen. Betrat ich ein Zimmer, verschwand er daraus. Er schlief den ganzen Tag auf meinem Bett und ging dann nach unten, damit er mir nicht die ganze Nacht beim Niesen zuhören musste. Aber wir kämpften uns durch, und obwohl es eine ganze Zeit dauerte, fand Jack schließlich zu Matt. Matt hatte bereits ein paar Huskys und war außerdem jeden Tag in den Wäldern von Cumberland unterwegs. Jack würde ihn begleiten können. Es war Liebe auf den ersten Blick, und in weniger als einer halben Stunde lag der undankbare kleine Scheißer schlafend auf Matts Schoß.

Mags und ich machten da weiter, wo wir aufgehört hatten. Wir freuten uns sehr, wieder zusammen zu sein. Ich war müde und hatte Schmerzen, und wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, war ich in der Regel ziemlich fertig. Deshalb verbrachten wir die Abende damit, gemeinsam unter einer Decke auf der Couch zu liegen, während Chris fernsah. Unter der Woche gingen wir um den kleinen Teich in unserer Wohnsiedlung spazieren, und am Wochenende verbrachten wir ganze Nachmittage im Landschaftspark in der Nähe. Alle paar Wochen besuchten wir Mum und Dad in Kilmarnock. Auch dort gehörte Maggie inzwischen fest zum Inventar. Aber am glücklichsten waren wir, wenn wir gemeinsam zu Hause herumhängen konnten.

»Na komm, Mags«, sagte ich und wühlte mich unter der Sofadecke hervor. »Zeit fürs Abendpipi.«

So spät war es noch gar nicht, aber ich konnte nicht mehr und musste ins Bett.

»Maggie … Komm schon, hoch mit dir!«

Nichts.

»Maggie! Ich weiß, dass du nicht schläfst, ich seh doch, dass du ein Auge aufhast. Auf geht’s, runter vom Sofa!«

Nichts.

»Findest du das vielleicht witzig, Maggie?«

Klopf. Ein unwillkürliches Wedeln.

»Erwischt! Wusst ich doch, dass du nur so tust, als ob. Raus jetzt, pieseln.«

Sie seufzte, reckte sich und ging schwanzwedelnd zur Hintertür, voller Vorfreude auf die letzte Schnüffelrunde des Tages, ein Stück Toast und ihr Bett.

Kapitel 2

Zukünfte

Startklar hopste Maggie zum Auto. »Wo wollen wir hin, Mags? Loch Morlich? Oder unsere Rothie-Runde? Nein, Loch Morlich. Heute könnte es sogar schön genug für eine kleine Planscherei sein.« Beim Schließen der Heckklappe durchfuhren mich unterschiedliche Arten von Schmerzwellen. Weil ich das schon kannte, zwang ich mich zur Ruhe, während ich um das Auto herum hinkte und mich auf den Fahrersitz sinken ließ. »Heute wird’s ein bisschen harzig, Mags.«

Chris’ Arbeit im Hotelfach hatte uns einen neuerlichen Umzug beschert. Unser Zuhause war inzwischen ein gemieteter Bungalow gleich außerhalb von Aviemore im hohen Norden Schottlands. Ich war dankbar dafür, wieder in Schottland zu sein, und ganz besonders für diesen Ort. Er lag auch nicht weiter entfernt von meiner Familie und meinen Freunden als York, aber weil wir in meiner Kindheit in dieser Gegend Urlaub im Wohnwagen gemacht hatten, war sie mir vertraut, und ich fühlte mich willkommen. Als Kleinkind hatte ich ganze Sommer damit verbracht, mit Dad und Trouvee die Hügel zu erkunden, Mums Taschen mit Kiefernzapfen zu füllen und Märchen zu erzählen. Stundenlang konnte ich mich mit dem Bächlein beschäftigen, das an dem Campingplatz vorbeifloss und mit seinen unerschöpflichen Möglichkeiten die unerschöpfliche Vorstellungskraft eines einsamen, schlaflosen Kleinkinds stillte.

Wir bogen in die Skistraße Richtung Berge ein. Im Rückspiegel warf ich einen Blick auf Mags, deren Zunge heraushing und deren Ohren wippten, und wünschte mir, sie könnte mir etwas von ihrem Enthusiasmus und ihrer Kraft abgeben. Ein Straßenschild warnte vor Waldbrandgefahr. Ja, klar, Waldbrandgefahr. Schon seit Wochen regnet es … Überschwemmungsgefahr trifft’s besser, vorher schwimmt wahrscheinlich das Schild weg …

Entlang der Straße hielten die vertrauten Landmarken die Stellung – eine Ausweichbucht zur Rechten, das knorrige Skelett eines schon lange abgestorbenen Baums zur Linken. Die Skistraße bringt Winter- und Sommertouristen von Aviemore zu den Wegen und Hängen des Cairngorm Mountain, durchschneidet einige Häuseransammlungen und einen Kiefernwald und setzt hier und da unterwegs Menschen an Lochs und Campingplätzen ab. Sie steigt und windet sich den Berg hinauf und bietet jenseits der Baumgrenze beeindruckende Aussichten auf die Hügel in der Ferne, auf tiefe Lochs und Spielzeugautos, die über die Straßen des faszinierenden, unvergesslichen Nationalparks dort unten kriechen.

Bei der nächsten Kehre kamen wir an einem völlig verbogenen Straßenschild vorbei – ein metallenes Durcheinander, das sich an einem Baum abstützte und dauerhaft daran erinnerte, dass hier jemand einen wirklich schlechten Tag gehabt hatte. Die Straßen um Aviemore sind idyllisch, aber auch berüchtigt. Geschwindigkeit, harte Winter, kurze Konzentrationsaussetzer, tragische Begegnungen zwischen Auto und Wild oder ganz einfach übles Pech in einer scharfen Kurve sind die Hauptfaktoren vieler schlimmer, manchmal so richtig schlimmer Unfälle. Ein dunkler Gedanke schoss mir durch den Kopf. Wie es wohl wäre, einfach die Kontrolle zu verlieren …?

Als hätte eine unsichtbare Hand meine Eingeweide gepackt, wurde ich plötzlich von Krämpfen heimgesucht. Unwillkürlich krümmte sich mein Körper zusammen. Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, gleichmäßig zu atmen und auf die Straße vor mir zu achten. Der Krampf ließ nach, kurze Pause, und nun machte sich Übelkeit breit. Sekunden später baute sich über meiner rechten Hüfte wie in einem anschwellenden Crescendo ein Krampf auf. Stöhnend umklammerte ich das Lenkrad. Bitte mach, dass es weggeht, nur eine Weile …

Dauerschmerz und lähmende Erschöpfung machten inzwischen jeden Moment zu einer Prüfung in Sachen Stehvermögen. Ein nicht enden wollender Kreislauf, bei dem ich über die Ziellinie des einen Marathons wankte, um anschließend sofort über die Startlinie des nächsten zu stolpern. In meinem Verstand hatte sich trostlose Taubheit breitgemacht, die allem, was sie berührte, das Leben raubte. Es fühlte sich an, als würde ich mich im Dunkeln an etwas Steilem, Glitschigem festklammern, vor dem ich mich zwar gruselte, doch ich fürchtete mich auch vor dem Abgrund, in den ich stürzen würden, falls ich losließ.

Ich sah noch einmal nach hinten zu Maggie, die erwartungsvoll unserem Spaziergang entgegenfieberte. Vor uns erhob sich meine alte Freundin, die Kiefer mit dem besonders dicken Stamm, verlässlich solide und unbeweglich. Die Straße machte einen Bogen, wich ihr aus und bestand darauf, dass auch ich das täte. Aber was, wenn ich nicht drum herum fahren möchte? Was dann?

Voller Vorfreude bewegte sich Maggie im Kofferraum. Eine weitere Schmerzwelle durchfuhr mich. Matt schaute ich in den Rückspiegel. Dort sah ich Maggies aufgeregtes Gesicht, sie war ganz heiß auf ihre Schwimmrunde. Ich konnte mir kaum vorstellen, wie ich es bis zum Parkplatz schaffen sollte, geschweige denn, um den Loch herum. »Freust dich schon, was, Mags? Nicht mehr lange. Wir sind schon fast da …« Ich holte tief Luft und folgte brav dem Straßenverlauf um den Baum herum, weiter auf den Loch zu.

In unserem neuen Zuhause inmitten von Bergen, Lochs, Kiefernwäldern und der entlegenen, verlassenen Schönheit des Cairngorms-Nationalparks stand Maggie und mir eine verschwenderische Auswahl an Spazierwegen zur Verfügung: Waldwege, Schnüffelwege, Wege, an denen man planschen konnte, sandige Strandwege. In der Nebensaison sahen wir an den meisten Tagen niemanden, nur wir beide waren da und in alle Richtungen meilenweit nadelübersäte Pfade und Bäume. An guten Tagen, wenn Körper und Seele es mir erlaubten, liebte ich unsere Spaziergänge. Dann schaute ich Mags beim Planschen zu und ließ meine Gedanken ziehen, während ich Steine und Stöcke ins türkisfarbene flache Wasser des An Lochan Uaine, des Grünen Lochs, warf und lachend darüber den Kopf schüttelte, dass sie versuchte, an ein Stöckchen heranzukommen, das gerade … so … außerhalb … ihrer Reichweite war und sich mit den Krallen am sandigen Ufer festklammerte. »Trockenschütteln bringt nicht viel, solange du im Wasser bist, Mags!«

Wenn es im Sommer auf Stränden und Wegen vor Familien nur so wimmelte, trabte sie selbstbewusst neben mir her, wedelte mit dem Schwanz und schlenderte ganz entspannt zu jedem hin, der in ihre Richtung schaute, um sich erst einmal vorzustellen. Für ihr Leben gerne lernte sie neue Hunde kennen, und oft trafen wir einen, der ebenso bekloppt war wie sie selbst. Dann rannten die beiden eine Weile mit ihren Lieblingsstöckchen im Kreis und zeigten einander die besten Schnüffelstellen. In Mags Augen war jeder ein Freund. Sie stupste Fremde mit der Schnauze an, sah zu ihnen mit ihren sanften Augen auf und genoss die Aufmerksamkeit. Mehr als einmal folgte sie oben am Loch Morlich ihrer Nase zu einem Familienpicknick. Weil ich zu spät begriff, was vor sich ging, kam ich außer Atem nach ihr dort an und entschuldigte mich, während sie fröhlich eine Bestandsaufnahme des Angebots vornahm. Irgendwie schaffte sie es fast immer, auch noch mit einer Belohnung für ihre Dreistigkeit davonzukommen.

In der tröstlichen Waldeinsamkeit sprach ich mit ihr und mit mir selbst. An manchen Tagen gaben mir meine Gedanken Auftrieb und spornten mich an, an anderen erschlugen sie mich förmlich. Manchmal weinte ich, manchmal quatschte ich am Telefon mit Mum, und dann gab es Tage, an denen jeder Lebenszweck zu einer vagen Erinnerung verkommen war und ich nur einen Fuß vor den anderen setzte und mich kaum darum scherte, wohin mich meine Schritte führten. An Tagen mit etwas mehr Elan gingen wir weitere Strecken, am Rothie-Campingplatz vorbei hinauf zu Lairig Ghru, einem Bergpass, und Chalamaine Gap, einer Schlucht mit einem Felsenmeer, wo Dad und ich immer gewandert waren. Es gab nichts Aufregenderes, als einen Weg über Felsbrocken von der Größe eines Kleinwagens zu finden, denn nur einen Ausrutscher entfernt taten sich knochenbrecherische Felsspalten auf. An den besten Tagen stiegen Mags und ich den Weg hinauf, bis er hinter den Kiefern hervorkam, setzten uns auf unseren Stein am Wegesrand und blickten über die Bäume auf die Berge und Felsen, die ich mit Dad erkundet hatte. An anderen Tagen, an solchen wie heute, machten Erschöpfung und Schmerzen schon einen kurzen Gang um den Loch zu einer qualvollen Willensanstrengung oder fesselten mich gegen meinen laut protestierenden Verstand ans Bett, und wir gingen gar nicht spazieren.

Aus den Beschwerden, die mich anfangs dazu gebracht hatten, mich bei Hochzeitsfeiern etwas früher zurückzuziehen, wurde ein Zustand, der mich dazu zwang, meinen sehr verständnisvollen Chef im Lagerhaus in York anzurufen, um mich dafür zu entschuldigen, dass ich einmal mehr später kommen würde, weil ich darauf warten musste, dass die Handvoll Schmerzmittel, die ich zum Frühstück nahm, endlich so weit wirkten, dass ich überhaupt aufstehen konnte. Das Essen war eine qualvolle Notwendigkeit, und häufig führten Blockaden dazu, dass meine Eingeweide sich verkrampften und schließlich den Dienst versagten und ich mich stundenlang vor Schmerzen auf dem Badezimmerboden wand. Wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, schaffte ich es an den meisten Tagen gerade noch so, die Tür hinter mir zu schließen, ehe ich neben Maggie, die dringend rausmusste und hungrig war und trotzdem treu an meiner Seite blieb, ohnmächtig vor Erschöpfung im Flur zusammenbrach.

Nachdem ich jahrelang so getan hatte, als wäre da nichts, und nachdem ich monatelang Untersuchungen über mich hatte ergehen lassen, bei denen ich meine Würde mit meiner Jacke an der Garderobe abgab, war die Ursache für die Schmerzen endlich als verbreiteter mittelschwerer bis schwerer Morbus Crohn diagnostiziert worden, also eine Autoimmunerkrankung des Verdauungstrakts. Mein Körper griff sich selbst an, was überall in meinen Eingeweiden zu Entzündungen, Narbenbildung und Geschwüren führte. Gleichzeitig wurde noch eine zweite Autoimmunerkrankung bei mir diagnostiziert, eine Arthritis, was die gnadenlosen Schmerzen in meinen Muskeln, Gelenken, Sehnen und Organen erklärte … Alles war zum Abschuss freigegeben. Entzündungen griffen die Nerven in meinem Rücken an, was beim Stehen, Sitzen und Bewegungen aller Art Schmerzen wie Blitze durch meine Beine zucken ließ, und in der Haut meiner Fußsohlen kribbelte ein unerträglicher Juckreiz, der meine Geduld weit über die Grenzen hinaus strapazierte. In einem Winter stellte ich mich eine Stunde lang barfuß in den Schnee, sah meinen Füßen beim Blauwerden zu und genoss die Taubheit.

Trotz unseres Umzugs nach Aviemore ging unser Leben samt unseren Routinen weiter wie zuvor. Abends saß Chris in seinem Fernsehsessel und schaute irgendwelche Serien, während Maggie und ich unter unserer Decke auf der Couch lagen. Maggie hielt meine Füße warm, ich deckte sie fest zu, um ihren Rücken gegen die Zugluft zu schützen, und wir schliefen beide selig.

»Du hast doch gesagt, du würdest das mit mir anschauen …« Immer öfter musste Chris mit meiner andauernden Müdigkeit und meinem Mangel an Energie fertigwerden.

Ich bewegte mich und setzte den langen, schmerzhaften Prozess des Aufstehens in Gang. »Entschuldigung. Ich versuch, wach zu bleiben. Möchtest du was aus der Küche?«

Ich hatte das Gefühl, als würde meine Krankheit einen Keil zwischen uns treiben, weil wir uns immer mehr auseinanderlebten und uns in unsere jeweils eigene Welt zurückzogen.

Als wir im Dezember 2010 von York nach Aviemore zogen, kamen wir in der Nebensaison an. Auf Chris wartete die Arbeit bereits, doch für mich erwies sich die Stellensuche als aussichtslos. Ich wusste nicht recht weiter und hing in der Luft und war daher sehr glücklich, als eine E-Mail von meiner Freundin Pam von der Edgar’s Mission in Melbourne eintraf, deren Timing nicht besser hätte sein können. Pam brauchte dringend Hilfe für einige Monate, und ich brauchte Edgar’s Mission nicht weniger dringend. Also zog Maggie im Februar für verlängerte Ferien bei Oma und Opa ein. Ich ließ den schottischen Winter hinter mir und verbrachte drei Monate im australischen Sommer mit der Pflege der geretteten Nutztiere, die Edgar’s Mission ihr Zuhause nannten. Ich übernahm wieder lauter Aufgaben, an die ich mich noch von meinem vorigen Aufenthalt erinnerte und die ich nach wie vor liebte. Im März und im April war ich gemeinsam mit Pam Ziehmutter von vier neugeborenen, verwaisten Zicklein – Magpie, Sooty, Richmond und Frankie –, die auf dem Boden des Schlachthauses das Licht der Welt erblickt hatten, während ihre Mütter in der Schlange auf ihre Schlachtung warteten. Ich versuchte, nicht allzu viel darüber nachzudenken, denn wenn ich einmal damit anfing, setzten sich solche Gedanken bei mir fest und ließen mich nicht mehr los. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, ein Klettergerüst für Ziegen und ein zu jeder Tages- und Nachtzeit bereitstehender vollautomatischer Milchspender zu sein. Die verwaisten Zicklein waren entzückend und platzten fast vor Lebensfreude, und ich vergötterte sie.

Ich brauchte zwar immer ein Klo in der Nähe und war an manchen Tagen auf starke Schmerzmittel angewiesen, um auf ein erträgliches Maß zu kommen, doch in Edgar’s Mission fand ich eine Energie wieder, von der ich gar nicht wusste, dass ich sie noch besaß. Jeden Morgen stand ich bei Sonnenaufgang auf und freute mich auf die Überraschungen, die der neue Tag bereithalten würde. Tagsüber merkte ich kaum, wie die Zeit verging. In der ersten Morgensonne trat ich aus meinem alten, maroden Wohnwagen heraus und stolperte achtzehn Stunden später wieder hinein, kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten. Sofort schlief ich ein, vor Erschöpfung tief und fest  – aber es war eine erfüllende, gute Erschöpfung.

Maggie vermisste ich sehr. Aber einmal in der Woche rief ich Mum und Dad an und ließ mir von ihren Abenteuern berichten, und ich bekam auch häufig SMS von ihr, in denen sie mir erzählte, was sie auf ihren Spaziergängen erlebt hatte. Mittwochabends veranstalteten Pam und ich Filmabende in der Küche. Auf jedem Stuhl schlummerte eine Katze, und wir beide saßen auf dem Fußboden. Normalerweise hielt ich gerade mal bis zum Ende des Vorspanns durch, ehe ich langsam einnickte. Dann lachte Pam und deckte mich zu. Es war harte, anstrengende Arbeit, aber es war auch das reinste Glück.