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Jette: Alzheimer für Einsteiger - ist die bewegende Biografie einer rebellischen und intelligenten Frau und gestattet einen tiefen Einblick in den herausfordernden Alltag von Menschen mit Alzheimer und besonders von deren Angehörigen. Der Autor, Christian Ludwig Konschewski, erzählt nicht nur die persönliche Geschichte seiner Tante Jette, sondern beleuchtet auch die historischen und familiären Hintergründe, die ihr Leben prägten. Von Jettes Geburt in Ostpreußen, über ihre dramatischen Erlebnisse des Zweiten Weltkriegs, zu der mehrfachen Flucht ihrer Familie und dem Kampf ums Überleben nach dem Krieg. Er erzählt von ihrem beruflichen und persönlichen Werdegang, ihrer Liebe zu zwei Männern und besonders eindrucksvoll Jettes Leben mit Alzheimer. Als ihr Neffe und Betreuer schildert er seine langjährigen persönlichen Erfahrungen im Umgang und der Kommunikation mit Alzheimer-Patienten und gibt viele wertvolle Praxistipps rund um die Themen Pflegedienst, Pflegeheim und Heimunterbringung. Das Buch beantwortet Fragen zu notwendigen Vollmachten, rechtlichen Hürden, entstehenden Kosten und Anträgen bei Behörden, aber auch zum medizinischen Hintergrund der Krankheit, deren Diagnostik, zu auftretenden Alltagsproblemen und zu organisatorischen sowie persönlichen Herausforderungen mit dieser Krankheit. Jette: Alzheimer für Einsteiger - ist nicht nur eine Hommage an eine bemerkenswerte Frau, sondern auch ein wertvoller Beitrag zum Verständnis dieser komplexen Krankheit. Es ist ein Buch, das berührt, informiert und inspiriert. Inklusive Test zum ersten Überprüfen demenzieller Einschränkungen.
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Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Christian Ludwig Konschewski wurde 1964 geboren, studierte Nachrichtentechnik mit Informatik und arbeitete erfolgreich als Manager, bevor er sich entschied seiner inneren Stimme zu folgen und als freier Fotograf und Autor Geschichten aus dem realen Leben in Bild und Wort zu erzählen. Sein literarisches Erstlingswerk, Jette: Alzheimer für Einsteiger, entstand, weil er selbst keinen praxisorientierten Ratgeber zum Thema Alzheimer fand, der ihn, neben vielen organisatorischen und administrativen, auch speziell bei seinen persönlichen Herausforderungen unterstütze, als seine Tante an daran erkrankte.
„Weißt du noch wohin wir fahren Thomas?“ – „Neee.“
(aus dem Film “Dear Memories – Eine Reise mit dem Magnum-Fotografen Thomas Höpker“)
Dass ich in diesem Buch Jettes intime und persönliche Lebens-und Krankheitsgeschichte erzähle und damit leider so oft indiskret werde, ist ganz im Sinne dieser großzügigen und hilfsbereiten Frau.
Auch wenn ich beim Schreiben ab und an unterm Schreibtisch ihre Tritte am Schienbein spüre, und sie dabei sagen höre „Das kannst du doch nicht von deiner ol´schen Tante schreiben!“, bin ich doch absolut sicher, sie wäre sehr froh, ihren kleinen Beitrag zum Verstehen ihrer komplexen Krankheit Alzheimer zu leisten.
Waldsolms im Frühjahr 2025
Christian Ludwig Konschewski
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Ostpreußenlied
Kapitel 8
Kapitel 9
Teil 1 - Anzeichen für eine Dementielle Veränderung
Teil 2 - Anzeichen für eine Dementielle Veränderung
Kapitel 10
Beispiel Mini-Mental-Status-Test (MMST)
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Übersicht Pflegegeld, Pflegegrad und Kosten
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Stephen King soll einmal gesagt haben, dass Anfänger unter den Autoren lange überlegen, zu welchem Zeitpunkt des Handlungsstrangs ihre Geschichte beginnen soll und sich dann auf den für sie einschneidenden Moment festlegen. Ertappt. Zunächst wählte ich als Einstieg in diese Geschichte jenen Tag im Frühling 2022, als Jette und ich in ihrer Küche saßen, ihre Hand zum Schlüsselbund auf dem Küchentisch ging, ihn nahm und wieder dorthin legte, wo er eine Minute zuvor schon lag. Dann stellte ich Kings Theorie entsprechend fest, dass einem möglichen Leser zu viele Informationen fehlen, um Jettes Geschichte ab diesem Moment verstehen zu können. Also fügte ich Rückblicke ein. Und in diese wiederum erklärende Rückblicke oder Fußnoten. Was ein Nonsens. Eine Geschichte erzählt man von Anfang an. Und besonders dann, wenn das Thema der Geschichte für sich allein schon verwirrend genug ist.
Diese Geschichte beginnt daher am 25. Dezember 1939 in Erlenfließ in Ostpreußen, denn an diesem Tag wurde meine Tante Jette geboren. Ein paar Monate zuvor, am 01. September, begann der zweite Weltkrieg, als Deutschland Polen angriff, um den Versorgungskorridor von Deutschland, durch Polen hindurch nach Ostpreußen, wieder zu öffnen.
„In einem vom Wald umgebenen Dorf in Ostpreußen, stand das Haus, in dem ich geboren wurde. Es war nicht besonders groß oder schön, aber es gefiel gerade so wie es war“, schrieb sie in einem Schulaufsatz im Jahr 1956. Das Dorf hieß bis zum 3. Juni 1938 Groß Elxnupönen, dann Erlenfließ und gehörte zur Kreisstadt Labiau mit damals knapp über 6.500 Einwohnern.
Das Haus wurde von Jettes Großeltern mütterlicherseits, Karl und Ida Pitt, erbaut, die sie nie kennenlernte und deren Vorfahren aus England stammen sollen. Auch die Großeltern väterlicherseits starben früh.
Die Großmutter war eine geborene Beutler, deren Vorfahren zu den 20.000 Salzburger Protestanten gehörten, die aufgrund eines Ausweisungserlasses von 1731 ihre Heimat verlassen mussten und im damaligen Preußen aufgenommen wurden.
Ihr Vorname ist unbekannt und sie starb bei der Geburt der Schwester meines Großvaters, die wahrscheinlich Maria hieß. Als kurze Zeit später auch der ebenfalls namentlich unbekannte Vater starb, wurden Otto und Maria Waisen und voneinander getrennt. Nach 1945 muss noch ein letztes Treffen der Geschwister stattgefunden haben, bei dem sie sich im Streit trennten, und mein Großvater Otto weigerte sich bis zu seinem Tod im Jahre 1987, über seine Familie oder Vorfahren zu sprechen.
Mein Familienname Konschewski taucht im deutschen Adelsnamen-Katalog bei einem mittelalterlichen Ritter im Bereich der polnischen Stadt Posen auf und verliert sich dann in der Geschichte, bis er im dritten Reich wieder auf Listen deportierter und ermordeter Juden auftaucht. Alle diese Konschewskis waren jüdischen Glaubens, stammten häufig aus West- und Ostpreußen und starben auf der Flucht ins Ausland, in verschiedenen Konzentrationslagern und auch im Warschauer Ghetto. Wie das alles mit mir und meiner evangelischen Familie zusammenhängt, konnte ich bis heute nicht herausfinden.
Doch zurück zu meiner Tante. Wir nannten sie stets Jette und wie sie diesen Namen bekam, erfuhr ich erst als sie schon sehr krank war. Ihre Mutter, also meine Großmutter, zwang sie stets, sich bei Fremden immer mit einem Knicks vorzustellen und ihren Namen zu sagen. Aus Protest knickste sie artig und sagte dabei aber: „Ich bin die Henriette Pompelmann.“ Seither nannte sie nur noch die Mutter bei ihrem richtigen Namen, die übrige Familie nannte sie Henriette und später kurz Jette.
Die Kindheit in Ostpreußen war für Jette wunderschön und noch im hohen Alter erzählte sie von dem weiten Blick über die Wiesen und vor allem von ihren geliebten Wäldern.
Im Schulaufsatz schrieb sie weiter „[…] unvergesslich sind für mich die Sonntagsspaziergänge mit meinen Eltern. Wir wanderten an Wiesen und Weiden entlang, auf denen Kühe und Pferde grasten, gingen über kleine wacklige Brücken, die über klare, plätschernde Bäche führten, an Kornfeldern vorbei, aus denen das klare Blau der Kornblumen leuchtete. Und dann ging es weiter in den Wald. Alles war so still. Unendliche Stille lag über dem Wald und mir schien es, als könne nichts in der Welt diesen Frieden zerstören.“
Ihr Vater arbeite im Forstamt, war als junger Mann während eines Praktikums bei der Schichauer Werft in Königsberg verunglückt und konnte daher nicht gut laufen. Ich erinnere mich, dass er mit zunehmendem Alter immer schlechter und irgendwann nur ganz langsam und unsicher mit zwei Krücken gehen konnte.
Über das, was meiner Familie in den letzten Kriegsjahren und auf der Flucht widerfuhr, kann ich teils nur spekulieren, weil sowohl Jette als auch mein Vater mir gegenüber immer wieder nur Andeutungen machten.
Die Wochen vor der Flucht aus Ostpreußen waren wohl von Angst geprägt. In den Wäldern waren die russischen Flintenweiber und schossen aus dem Hinterhalt auf die Deutschen. Daher entwickelte sich bei Jette, bei aller Liebe zum Wald, die Angst, allein in diesen zu gehen.
Mein Vater erzählte mir von seinem Klassenkameraden, der vor seinen Augen und in der offenen Haustür des Elternhauses stehend, von einem dieser Flintenweiber mit einem Schuss direkt zwischen die Augen erschossen wurde. Seine Mutter hatte den bettelnden russischen Frauen am Tag zuvor an jener Haustür Essen verweigert. Das Verhältnis meines Vaters zu den russischen Zwangsarbeitern, die in den umliegenden Bauernhöfen einquartiert wurden, war gut.
Seiner Meinung nach waren die deutsche und russische Seele eng miteinander verwandt, während seine Sicht auf die Amerikaner sehr kritisch war.
Er erzählte mir von seinen Kindheitserinnerungen, in denen er mit den Russen am Lagerfeuer saß, deren traurigen Liedern lauschte und von den makellosen Zähnen dieser Männer, die keine Zahnbürsten kannten aber auch keinen Zucker aßen und statt Süßigkeiten stets Getreidekörner aus ihren Hosentaschen naschten.
Mein technikbegeisterter Großvater war nicht nur einer der ersten Automobilisten in Ostpreußen, er baute auch Radios und hörte heimlich Feindsender. So dokumentierte er den immer näher rückenden Frontverlauf voller Sorge auf einer Landkarte und baute im Wald hinter dem Haus aus einem Stolperdraht, einem Staubsauger und einem Signalhorn eine Art Alarmanlage, für den Fall der Fälle. Es muss heftige Streitereien zwischen ihm und seiner Schwägerin Elisabeth, die nach wie vor an den Endsieg glaubte, gegeben haben. Fliehen durften die Ostpreußen, selbst als die Stalinorgeln schon zu hören waren, nicht.
Sie flohen sehr spät, da der nationalsozialistische Gauleiter Erich Koch die Flucht verbot und im Rundfunk „Wer den Hof verlässt, verliert den Besitz!“ propagierte. Auch jegliche Fluchtvorbereitung war streng verboten und wurde als Zersetzung des Verteidigungswiderstandes geahndet. Ein prägendes Ereignis für Jette, denn noch als alte Frau sprach sie voller Zorn und Abscheu über diesen Mann.
Jette berichtete in einem späteren Brief von den letzten Wochen in Ostpreußen, als ihre Mutter weinend am Küchenschrank gelehnt stand und ihr Vater versuchte sie zu trösten. Die Eltern hätten sich oft gegenseitig ängstlich und besorgt angeschaut, wenn sie das immer näherkommende dumpfe Dröhnen der Kanonen hörten. Die Front konnte man, laut den Berichten anderer ostpreußischer Landsleute, bereits seit September 1944 hören.
Der offizielle Befehl zur Flucht erfolgte Mitte Januar 1945 durch die Kreisleitungen der NSDAP.
Am Abend des 15. Januar flohen meine Großeltern Otto und Emmi Konschewski mit ihren Kindern, bei eisiger Kälte von minus 20 Grad Celsius und hohem Schnee, vor der heranrückenden Roten Armee. Meine Großmutter legte noch den Haustürschlüssel unter die Fußmatte, damit beim Zutritt ins Haus die Haustür nicht beschädigt werden musste, und Jette zerriss es das Kinderherz, weil sie ihr geliebtes Kätzchen „Mohrchen“, schwarz mit weißen Pfötchen, zurücklassen musste.
„Wir fuhren in einem offenen Viehwagen in Richtung Labiau. Jetzt waren wir auch Flüchtlinge. Ununterbrochen schluchzte neben uns eine alte Frau. Schaurig klang das Lied ,Nun ade, du mein lieb’ Heimatland‘, angestimmt von der Tochter des Bürgermeisters Schöhoff, auf einer alten Mundharmonika gespielt und von zitternden Stimmen gesungen, aus denen all die Not und das Elend drang, durch die sternklare Nacht. Unaufhörlich sausten die Tiefflieger über unsere Köpfe dahin. Langsam fuhr der Zug an dunklen Wäldern und leeren Dörfern vorbei. Kinder schrien vor Kälte und Hunger, Mütter weinten, weil sie nicht helfen konnten. Oft blieb der Zug auf freier Strecke stehen, manchmal stundenlang. Als er endlich langsam in unserer Kreisstadt einlief, sahen wir, wie sich der Himmel hinter uns blutrot färbte. Dort brannte es. Das war meine Heimat.“
In Labiau übernachtete die Familie zunächst bei der anderen Schwester meiner Großmutter, Auguste Preuß und deren Ehemann. Im Gepäck hatte meine Großmutter unter anderem Würfelzucker und Baldrian, die sie später, bei einem heftigen Angriff von Tieffliegern, an alle Beteiligten verteilte. Mein Großvater schleppte einen Koffer, gefüllt mit Akten der Forstkasse, deren Leiter er in Liebenfelde (später Mehlaucken) war, mit sich. Darunter waren auch Aufzeichnungen zu den Sparbüchern aller Bewohner der Gemeinde.
Er war nach dem Krieg entsetzt, welche Falschangaben diese Menschen hinsichtlich ihres Vermögensverlustes machten und deckte einige Betrugsfälle auf.
Die Rettung weniger Familienfotos ist dem Umstand zu verdanken, dass vor der Flucht ein Herr Müller und ein Herr Gottner aus Rosenheim bei meinen Großeltern einquartiert waren. Die Herren beschworen meine Großeltern, zur Umgehung der Vorschriften zur Fluchtvorbereitung, ihre Wertgegenstände nach Bayern zu schicken, aber Bayern lag aus ostpreußischer Sicht auf der anderen Seite der Weltkugel. Um die freundlichen Herren nicht zu beleidigen, schickten sie Fotoalben und Bücher dorthin, die somit gerettet wurden. Die Freundschaft zwischen meinen Großeltern und Herrn Gottner hielt übrigens bis zu deren Tod.
Dann floh die Familie nach Berlin und wurde dort, laut einer Notiz von Jette, kurzzeitig getrennt, da mein Großvater „[…] getrieben von der Forstverwaltung, nach Letzlingen unterwegs war […].“
Wieder in Berlin vereint, überlebten sie viele Bombenangriffe der Alliierten und fanden nach drei weiteren Monaten auf der Flucht, über Stationen in Reithallen, Schulen und einer privaten Unterkunft in Magdeburg, dann in Letzlingen in der Altmark eine erste dauerhafte Unterkunft.
Die vierköpfige Familie lebte in einem winzigen Zimmer in einem Pfarrhaus, in dem insgesamt schon drei Pastorenfamilien und weitere Menschen auf dem Dachboden untergebracht waren. Die Flüchtlinge wurden nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen und kritisch beäugt, trugen sie doch noch immer die Kleidung vom Aufbruch in Ostpreußen und hatten seither kaum eine Gelegenheit zum Waschen gehabt.
Die Flucht überstanden sie zwar lebend, aber viele Ängste und Schrecken haben Jette noch bis ins hohe Alter verfolgt. So blieb die Angst mit der Eisenbahn über Flussbrücken zu fahren, weil damals die Flüchtlingszüge oft von Tieffliegern auf Brücken angriffen wurden. Schon tieffliegende Flugzeuge lösten bei ihr Panik aus. Da mir auch mein Vater von einer Situation mit einem Tiefflieger berichtete, in der er sich, als er schon in die Augen des Piloten sehen konnte, mit einem Sprung in den Graben eines Feldweges retten konnte, bin ich sicher, dass beide Geschwister hierdurch eine schwere Posttraumatische Belastungsstörung hatten. Mein Vater war damals 10 und meine Tante 5 Jahre alt.
Wie überall in Deutschland, war jeder Tag ein Kampf ums Überleben. Meine Großmutter molk täglich für eine Kanne Milch mit anderen Frauen Kühe für die russischen Besatzer und stopfte für einen Teller Graupen Bettlaken für das im Jagdschloss Letzlingen untergebrachte Krankenhaus. Graupensuppe aßen weder Jette noch mein Vater ihr ganzes Leben noch einmal, aber Jette sprach immer davon in Letzlingen eine schöne Kindheit voller Freiheit gehabt zu haben.
1946 wurde sie zusammen mit ihrer besten Freundin Hannelore eingeschult und die Freundschaft der zwei hielt ein Leben lang.
So auch Jettes Interesse an Flora und Fauna, das von einem älteren Herrn, einem jener Dachbodenbewohner, geweckt wurde, der sie mit in den Wald und in die Pilze nahm.
„Ich hatte eine schöne Kindheit, wir wohnten dicht am Wald und wir hatten so viel Freiheit. Gut, wir mussten Gänse hüten und Kaninchenfutter suchen, aber was war das schon! Die Gänse fraßen einmal ein Mohnfeld leer und torkelten dann über Mamichens Beete [...]“, schrieb Jette viel später in einem Brief.
Familiär gab es zunehmend Reibereien und Streitigkeiten, sowohl zwischen Jette und ihrer Mutter als auch zwischen Vater und Mutter, die typisch ostpreußisch „Väterchen“ und „Mamichen“ genannt wurden. Jette erzählte oft, dass ihr Mamichen sehr streng war und Väterchen „Lass uns spazieren gehen“ zu ihr sagte, wenn die Mutter wieder einmal unerträglich wurde. Anlass für deren schlechte Laune waren wohl oft Bagatellen. Es gab Ärger, wenn Jette nicht fleißig genug Klavier übte oder eines der Kinder seinen Teller nicht leer aß.
Mein Vater erzählte mir, dass er als Kind auf dem Dachboden eingesperrt wurde, bis er seinen Teller mit der verhassten Graupensuppe leer gegessen hatte. Aber er aß sie nicht selbst, sondern verfütterte sie an eine Katze.
Doch der Teller war zu sauber abgeleckt, der Schwindel flog auf und so erfolgte die nächste Strafe.
Jette erinnerte sich im hohen Alter daran, dass eine der Auseinandersetzungen mit ihrer Mutter wegen der Note 2 im Rechnen ausgelöst wurde, denn ihre Freundin Hannelore hatte die Note 1.
Der Verlust des Elternhauses belastete meine Großmutter wohl sehr.
Sie war die Tochter eines angesehenen Fleischers, genoss vor dem Krieg einen bescheideneren Wohlstand und berichtete oft von dem eigenen Garten, der achtspännigen Kutsche, mit der man zur Hochzeit gefahren sei, und von dem abgehangenen, vorzüglichen Fleisch in der Metzgerei ihres Vaters. In Letzlingen züchtete mein Großvater Kaninchen und sie waren das einzige Fleisch was auf den Teller kam.
Die Wertsachen, die Ende 1944 in Ostpreußen offiziell verpackt, abgeholt und gen Westen transportiert wurden, kamen irgendwann im Lager Ludwigslust an.
„Ich weiß nicht, ob die Eltern wussten, wohin die Sachen kamen oder ob sie darüber benachrichtigt wurden.
Jedenfalls machte sich Väterchen irgendwann von Letzlingen aus auf nach Ludwigslust. Per Rad, mit großem Rucksack; die Eltern wollten ein paar Sachen gegen Lebensmittel tauschen. Wir freuten uns schon und sahen uns die schönsten Dinge ertauschen. Und dann kam Väterchen müde und kaputt zurück – der Rucksack war leer – alles geplündert.“
Ihr Vater muss viel mit dem Rad unterwegs gewesen sein, denn er fuhr nicht nur die 100 km zum Lager in Ludwigslust, er besuchte auch per Rad jene Familie Preuß, die nun im 240 km entfernten Herford lebte.
Bei einem dieser Besuche wurde er auf dem Rückweg, beim Grenzübertritt, von den Russen verhaftet, für zwei Tage inhaftiert und streng verhört. Fortan beobachtete man die Familie mit den „Westkontakten“ genau. Väterchen hatte inzwischen eine Anstellung als Leiter der Forstkasse gefunden, sie durften eine Wohnung in dem Forsthaus beziehen und der Familie ging es finanziell etwas besser, auch wenn man damals kaum etwas kaufen konnte.
Als er Meldung erstattete, dass einer seiner Mitarbeiter, ein Parteibonze, Gelder unterschlagen hatte, wurde er, anstelle des Diebes, zusammen mit seiner Frau vorgeladen. Man warf den beiden ihre Westkontakte vor und sprach von ihrer Inhaftierung und einer Heimunterbringung der Kinder.
Noch am Abend wurde zusammen mit dem Pastor, Herrn Dell, der Plan zu einer erneuten Flucht geschmiedet, die am nächsten Tag stattfinden sollte. So fuhr mein Vater, wie jeden Morgen, aber mit Wäsche statt Schulbüchern im Ranzen, zur Oberschule nach Gardelegen.
Dorthin fuhr, mit dem Rad, auch mein Großvater zu seinem Amt, in seiner Aktentasche Wäsche statt Akten. Jette machte mit ihrer Mutter offiziell einen Ausflug nach Haldensleben, um sich einen schönen Tag zu machen. Auch ihre Taschen waren voller Wäsche. Und so verließen sie das Haus. Vom Treffpunkt am Bahnhof in Haldensleben aus wanderte die Familie los und machte am 04. Dezember 1949 „rüber nach Westen“.
Der bestochene Russischlehrer meines Vaters lenkte bei Nacht und Nebel noch eine plötzlich aufgetauchte russische Grenzpatrouille ab.
Jette erinnerte sich in den 80er Jahren noch daran, ein sehr matschiges Feld überquert zu haben und abends völlig verdreckt in der Bahnhofsmission in Helmstedt angekommen zu sein. Ihr machte es jahrelang zu schaffen, sich damals nicht von ihrer Freundin Hannelore verabschiedet zu haben.
Über das Auffanglager Friedland kam die Familie nach Herford, eine Kleinstadt in Ostwestfalen mit damals ca. 50.000 Einwohnern, wo sie eng zusammengepfercht, mit insgesamt sieben Personen, in der kleinen Wohnung der Familie Preuß wohnten.
Mein Großvater liebte immer noch das Radfahren, unternahm mit meinem Vater viele Radtouren zum Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald und arbeite zunächst als Nachtwächter, für monatlich 80 DM, bei den Engländern. Herford lag in der britischen Besatzungszone. Später verdiente er als Lohnbuchhalter bei einem Bettenhersteller etwas besser. Alle anderen Familienmitglieder mussten auch mit anpacken: Mein Vater jobbte in einer Konditorei und bekam, neben seinem kleinen Verdienst, auch sämtliche Kuchenränder mit nach Hause. Jette half in einem Krankenhaus und ließ nicht gegessene Brote für zu Hause in ihre Kitteltaschen rutschen. Meine Großmutter half in einer Schneiderei, nähte dort Kleider mit Puffärmeln und sorgte so nebenbei für Jettes lebenslange Abneigung gegen genau diese Kleidungsstücke.