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Schon in jungen Jahren muss Jochen in Rente gehen. Dem Martyrium durch seine Familie ist er vermeintlich entkommen, doch die Krankheit "Morbus Crohn" hält ihn fest in ihrem Griff. Nach mehreren schweren Operationen, bei denen ihm der Magen entfernt und ein künstlicher Darmausgang angelegt wird, erlebt Jochen eine Reise durch den Wahnsinn, als er nach multiplem Organversagen im Koma liegt. Die Streitigkeiten mit seiner Familie nehmen ebenfalls kein Ende. Nach dem rätselhaften Suizid seines Vaters kommt es zum endgültigen Bruch. Brutal offen und gnadenlos erzählt Jochen weitere Episoden seines Lebens.
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Seitenzahl: 193
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Liebe Leserinnen, liebe Leser, all jenen, die den ersten Teil dieses Buches (Jochen – Bastardkind) noch nicht gelesen haben, möchte ich hier einen kleinen Rückblick geben.
Jochen wurde 1960 in der ehemaligen DDR geboren. Seine Eltern flüchteten kurz vor dem Mauerbau mit ihrem Sohn in den Westen. Nach der Scheidung der Eltern lebte Jochen ein paar Jahre bei verschiedenen Pflegefamilien, bis sein Vater wieder heiratete. Jochens Halbbruder Hannes wurde kurz darauf geboren. Jochen wurde von seiner Stiefmutter von da an fast täglich physisch und psychisch misshandelt, auch sein Vater beteiligte sich an der Gewalt, während er die Hilferufe des Jungen ignorierte. Von seinen neuen Großeltern wurde Jochen nur das fremde »Bastardkind« gerufen.
Im Alter von 12 Jahren erkrankte Jochen an Morbus Crohn, einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung (CED). Diese Krankheit äußert sich durch heftige Durchfälle, schmerzhafte Bauchkrämpfe und Darmdurchbrüche, durch die sogenannte Fisteln (unnatürliche Gänge) entstehen. Diese Fisteln förderten den Stuhlgang durch Jochens Muskelfleisch über den Hintern nach draußen. Die Krankheit war in den damaligen Jahren fast vollkommen unbekannt; die Ärzte standen vor einem Rätsel und missbrauchten Jochen als Versuchskaninchen. Etliche Untersuchungen, die heute in dieser Art und Weise nicht mehr durchgeführt werden, musste der Junge über sich ergehen lassen.
Jochen machte eine Ausbildung zum KFZ-Schlosser und legte die Meisterprüfung ab, obwohl er ständig unter heftigen Schmerzen und blutigen Durchfällen litt.
Im Jahr 1980 traf Jochen seine Traumfrau Sabrina, die er 1984 heiratete. Auch sie fand keine Anerkennung bei Jochens Stiefmutter und seinem frauenverachtenden Vater. Von Sabrinas Eltern wurde der junge Mann ebenfalls nicht akzeptiert; er wurde sogar von seiner Stiefmutter mehrfach geschlagen. Doch das Paar überstand diese schlimmen Zeiten.
Jochens Eltern glaubten von Beginn an nicht, dass der Junge schwer erkrankt war und nannten ihn nur faul und dumm. Selbst nach der ersten großen Darmoperation machten sie sich weiterhin über ihn lustig.
Im Jahr 1990, im Alter von gerade mal 30 Jahren, musste der junge Mann in Rente gehen.
In diesem Teil erzählt Ihnen Jochen von seinen fast alltäglichen Problemen mit der Krankheit. In mehreren Operationen wurde ihm unter anderem fast der ganze Magen entfernt und ein künstlicher Darmausgang angelegt, ein sogenanntes Stoma. Sie werden mitgenommen auf eine Reise durch den Wahnsinn, als Jochen nach multiplem Organversagen im Koma lag. Ebenso werden Sie von den eskalierenden Streitigkeiten mit seiner Familie nach dem sonderbaren Suizid seines Vaters erfahren.
Mit seiner leiblichen Mutter hatte Jochen zwischenzeitlich kurzen Kontakt, der aber an seinem 30. Geburtstag, nach einer völlig überzogenen Beschuldigung, abbrach.
Dieses Ereignis bildet den Anfang dieser Erzählung.
Ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung.
Herzlichst, Frank Huhnhäuser
Besuch ist wie Fisch – nach 3 Tagen stinkt er Benjamin Franklin (1706 – 1790)
Das Jahr 1990 brachte viele Veränderungen für uns. Aufgrund meiner immer heftiger werdenden Krankheit musste ich in Rente gehen. Das war finanziell ein großer Rückschlag für uns, da wir nun mit weniger als der Hälfte meines ursprünglichen Arbeitslohns auskommen musste. Meine Frau Sabrina arbeitete in einem großen Musikladen und hatte ein gutes Gehalt. So konnten wir uns neu organisieren.
An meinem 30. Geburtstag kam es zum endgültigen Bruch mit meiner leiblichen Mutter und deren Ehemann. Der Abend verlief von Anfang an in einer seltsam bedrückten Stimmung. Wir wussten, dass es in der Ehe der beiden heftig kriselte. Spät am Abend bemerkte der Ehemann meiner Mutter, dass ihm seine Geldbörse fehlte. Für ihn stand fest, dass wir ihn bestohlen haben mussten. Nach diesem Vorwurf entstand ein lauter Streit, der damit endete, dass wir die beiden baten, unsere Wohnung zu verlassen und nie mehr wieder zu kommen.
Der Verlust der Geldbörse klärte sich noch vor der Abreise auf; sie war ihm schlicht und einfach aus der Hose gefallen und in die Stofffalte unserer Couch gerutscht. Erst später wurde uns bewusst, dass das ganze Szenario meiner Mutter dazu diente, im Ergebnis diesen Bruch zu erreichen. Mein runder Geburtstag bleibt mir bis heute als Negativerlebnis im Gedächtnis.
* * *
Ein Jahr zuvor, im November 1989, war die Mauer gefallen, nachdem der Druck der demonstrierenden Bevölkerung zu groß wurde. Achtundzwanzig Jahre lang hatte die SED die Menschen unterdrückt, ausspioniert und gegeneinander aufgebracht. Systemkritiker wurden mundtot gemacht oder weggesperrt. Eine Mauer und ein Todesstreifen mit Grenzzaun, in dem ein Schießbefehl galt, schotteten die DDR gegen den „bösen“ Westen ab. Den Bürgern wurde die Ausreise untersagt, nur systemtreue Menschen und später auch Rentner, hatten die Chance auf einen Besuch im Westen. Viele Menschen starben bei Fluchtversuchen. Mehr als 75.000 Menschen wurden wegen „ungesetzlichen Grenzübertritts“ inhaftiert. Dieses Regime wurde durch den gewaltlosen Protest hunderttausender Menschen, etwa bei den Montagsdemonstrationen, zur Öffnung gen Westen gezwungen. Der Präsident der damaligen UdSSR, Michail Gorbatschow, und der Bundeskanzler der BRD, Helmut Kohl, hatten entscheidenden Anteil an der Grenzöffnung.
Die Wiedervereinigung wurde von Politikern und Bürgern als Jahrhundertereignis gefeiert und inszeniert. Die Bürger der ehemaligen DDR durften nun überall hinreisen, was viele auch sofort taten. Verwandte, die sich etliche Jahre nicht mehr sehen oder besuchen durften, hatten nun die Möglichkeit, sich ohne Bespitzelung und jahrelangem Warten auf Genehmigungen von Behörden, wiederzusehen. Unter anderem machten auch meine „gefühlten“ Cousins von ihrem neuen Recht Gebrauch.
Der jüngere der beiden Brüder fragte telefonisch nach, ob sie uns besuchen dürften. Sie würden gerne ein paar Tage bei uns wohnen und sich die Gegend anschauen. Wir sagten zu und freuten uns darauf.
Im Sommer kamen Willi und seine Freundin für eine Woche nach Baden-Württemberg. Wir zeigten ihnen die Schwäbische Alb und gingen mit ihnen nach Stuttgart zum Shoppen. Die beiden hatten viel Spaß und staunten über die freie und offene westliche Lebensart und unsere Supermärkte. In der DDR gab es fast nur kleine Läden mit einem sehr begrenzten Sortiment. Die Bürger hatten zwar die Möglichkeit, das KDW in Berlin zu besuchen, konnten sich aber meist die angebotenen Artikel nicht leisten. Wir hatten schöne Tage zusammen und die beiden luden uns ein, sie auch einmal in ihrer neuen Wohnung in Berlin zu besuchen.
Nachdem sie wieder zurück nach Berlin gefahren waren, meldeten sie sich nie wieder. Briefe blieben unbeantwortet, Anrufe kamen nicht durch, da die Telefonnummer anscheinend nicht mehr existierte. Eine Enttäuschung, die noch nicht das Ende unserer Erfahrungen mit der Ost-Verwandtschaft darstellte.
Auch der ältere Bruder Albert hatte im Frühjahr angekündigt, uns vielleicht zu besuchen. Wir wussten, dass er Urlaub in Österreich geplant hatte, aber er meldete sich vorher nicht mehr bei uns. Mit der Zeit vergaßen wir die Sache.
* * *
Im Hochsommer ging ich jeden Abend mit Sabrina angeln. In einem Hafen in der Nähe hatte ich ein Boot liegen und wir genossen die Sonnenuntergänge auf dem Wasser. In diesem Jahr fing ich sehr viele Zander, wohlschmeckende Speisefische, die oft erst in der Dämmerung anbissen. So wurde es oft sehr spät, bis wir nach Hause kamen. Eines Abends, wir kamen gerade zur Wohnungstür herein, klingelte unser Telefon. Es war gegen 23:30 Uhr. Ich nahm den Hörer ab, zu meiner Überraschung war meine leibliche Mutter in der Leitung.
»Verdammt nochmal, wo seid ihr denn? Warum geht ihr nicht ans Telefon?«, schrie sie mich an.
Ich war verblüfft, hatten wir doch seit meinem Geburtstag keinen Kontakt mehr.
»Was willst du denn von mir?«, fragte ich nicht gerade freundlich.
»Albert ist plötzlich hier aufgetaucht. Die wollen bei euch Urlaub machen, ihr wart aber nicht da! Was soll das? Ihr wisst doch, dass die heute zu euch kommen. Ich schicke sie jetzt los, hier können die mit ihren Kindern nicht bleiben!«
Jetzt? Kinder? Ich wusste von all dem nichts. Nachdem ich tief durchgeatmet hatte sagte ich ihr das, was mir natürlich nicht geglaubt wurde.
»So ein Quatsch, die haben sich doch bei euch angemeldet.«
Hatten sie definitiv nicht. Ich hielt das Gespräch so kurz wie möglich und informierte danach Sabrina. Auch sie war überrascht von der Situation und nicht gerade erfreut. So schnell wie möglich verarbeitete ich die gefangenen Fische, Sabrina richtete unser Büro als Gästezimmer her.
Eine Stunde später traf Albert ein. Im Schlepptau hatte er seine Freundin und zwei kleine Mädchen. Von all diesen Personen hatten wir bis dahin keine Ahnung. Die Stimmung war gereizt und uns wurde zum Vorwurf gemacht, dass wir sie nicht erwartet hätten. Im Laufe der Gespräche gestaltete sich das Geschehen allerdings vollkommen anders als dargestellt.
Albert hatte mit seiner neuen Familie, die Kinder waren die seiner Freundin, tatsächlich Urlaub in Österreich gemacht. Mit seinem nagelneuen Auto, das er sich gleich nach der Wende auf Kredit gekauft hatte, waren sie losgefahren. In Österreich angekommen, waren sie von den unglaublich hohen Preisen überrascht. Sie hatten nur sehr wenig Geld dabei, da Albert gerade arbeitslos geworden war und nach nicht einmal einer Woche der ursprünglich geplanten drei Wochen Urlaub hatten sie kein Geld mehr. So beschloss die kleine Familie zu uns zu fahren und hier den Urlaub fortzusetzen. Natürlich wurde vergessen, uns davon zu informieren. Nachdem dies endlich geklärt war, fragte Alberts Freundin Wendy, ob wir keine Cola im Haus hätten. Sie hatte im Kühlschrank für ihre Mädchen, die etwa 4 und 5 Jahre alt waren, nach Getränken gesucht. Die Kinder waren immer noch hellwach und unruhig.
»Cola für die Kinder?«, fragte ich erstaunt.
»Um diese Uhrzeit? Es ist weit nach Mitternacht. Eure Kinder schlafen da sicher nicht mehr ein. Wir selbst trinken keine Cola, gib doch den Kleinen etwas anderes. Wir haben Wasser, Sirup und Saft, irgendetwas werden sie wohl trinken.«
»Na super! Das wird eine Quengelei geben. Seit wir an echtes Coca-Cola kommen, trinken die Kleinen nichts anderes mehr. Ich hoffe, ihr kauft uns das gleich morgen!«
Naja, die Hoffnung stirbt zuletzt, dachte ich für mich, aber antwortete: »Nein, das werden wir nicht kaufen. Wenn ihr das unbedingt haben wollt, dann bitte, zwei Straßen weiter befindet sich ein Supermarkt.«
Diese Dreistigkeiten meiner Verwandtschaft sollten noch mehrere Steigerungen erfahren.
Schon vor dem Frühstück am nächsten Morgen hatte Albert das von den Kindern gewünschte Getränk besorgt. Natürlich beschwerte er sich bei mir, dass auch in unseren Supermärkten alles so teuer sei.
Willkommen in der freien Marktwirtschaft.
Während des Frühstücks besprachen wir die weiteren Tage. Ich sagte meinem Cousin, dass er mit seiner Familie eine Woche hierbleiben könnte, in der Woche darauf müsste ich wieder zu einer Untersuchung ins Krankenhaus. Sabrinas Urlaub war vorbei und sie arbeitete in der jetzigen Woche schon wieder. Dadurch kam meine Frau üblicherweise erst gegen siebzehn Uhr nach Hause. Wir fragten, ob Wendy mittags eventuell selbst kochen wolle, da die Kinder sicher geregelte Essenszeiten hatten. Wir sorgten uns, dass sonst die Kleinen den ganzen Tag Hunger litten. Die Antwort überraschte uns etwas.
»Nein, nein, das ist nicht nötig. Kocht ihr ruhig abends, wenn Sabrina da ist. Die Kinder sind das gewohnt«, erwiderte Wendy.
Diese Aussage kam uns zwar sehr ungewöhnlich vor, aber die Kinder bekamen ja auch den ganzen Tag Cola zu trinken. Da passte das späte Essen perfekt dazu.
In den folgenden Tagen fuhr Albert mit seiner Familie regelmäßig morgens weg und kam gegen Abend zurück. Wo sie die Tage verbrachten erzählten sie uns nicht. Die Stimmung war weiterhin leicht gereizt. Eines Abends wollte Albert unbedingt mit mir angeln gehen. Ich fragte ihn, ob er einen Angelschein habe, um eine Tageskarte für das Gewässer zu lösen. Diese musste vorher in einem Angelgeschäft gekauft werden. Albert sah nicht ein, dass er Geld fürs Angeln ausgeben sollte. Er würde sowieso nur zuschauen.
Ich fuhr mit ihm ans Wasser, während seine Familie bei Sabrina blieb. Als wir am Gewässer angekommen waren, bestiegen wir das Boot und ich ruderte hinaus. Am Angelplatz angekommen packte ich meine Sachen aus und begann zu angeln. Plötzlich fragte Albert: »Und wo sind die Angeln für mich? Ich will ja schließlich zu Hause sagen können, dass ich hier Zander gefangen habe.«
»Du wolltest doch keine Karte kaufen, dann kann ich dich auch nicht angeln lassen. Damit würde ich mich strafbar machen.«
Albert brachte dafür kein Verständnis auf. Im Osten wäre das nicht nötig, da angelt jeder wie und wo er will.
»Dann wirst du dich in nächster Zeit daran gewöhnen müssen, dass sich das auch bei euch ändern wird. Ich werde mich jedenfalls nicht der Beihilfe zur Fischwilderei strafbar machen. Ich gebe dir keine Angel.«
Für mich war die Diskussion damit beendet, meine Geduld erstrecht. Albert murmelte noch etwas von „scheiß´ Westen“ vor sich hin und redete den ganzen Abend kein Wort mehr mit mir. Ich brach die Angelei relativ schnell ab und wir fuhren nach Hause.
Am nächsten Morgen verschwand er wieder mit seiner Familie, was mir ganz recht war. Ich hatte mich den Abend zuvor dermaßen aufgeregt, dass der Morbus Crohn wieder aktiv wurde. Andauernd musste ich zur Toilette, ich schluckte etliche Tabletten und nahm Tramal, um die Fistelschmerzen zu unterdrücken. Eine innere Unruhe hatte mich erfasst, ein normales Phänomen, wenn ich mich aufrege. Da ich weder sitzen noch liegen konnte, ging ich mehrmals spazieren. Die Ruhe der Natur bringt mich immer wieder schnell auf den Boden zurück. Noch heute spaziere ich bei Ärger am Wasser entlang, beobachte Vögel und Fische. Damit beruhige ich mich und bin danach ausgeglichener.
Sabrina kam etwas früher von der Arbeit. Kurz darauf erschien auch Albert mit seiner Familie. Die Kinder wurden von den beiden sofort ins Gästezimmer geschickt. Mein Cousin fragte daraufhin, ob wir uns zum Reden zusammensetzen können. Konnten wir, hätten allerdings nicht erwartet, was uns nun vorgeworfen wurde. Alberts Freundin begann das Gespräch.
»So geht das nicht mehr weiter!«
Das hatten wir auch schon gedacht.
»Wir sind den ganzen Tag herumgefahren, um etwas für die Kinder zu essen zu bekommen. Erst abends zu Mittag essen ist für die Kleinen definitiv zu spät. Die Kleinen sind es gewohnt, mittags etwas Warmes zu essen, aber bei euch bekommen sie ja nichts. Wir haben keine einzige geöffnete Gaststätte gefunden und selbst an einer versifften Grillbude wird man abgezockt! Meine Kinder hungern den ganzen Tag! Ihr müsst ab morgen mittags etwas kochen, wenigstens für meine Kinder, damit die satt werden.«
Diese Dreistigkeit machte uns sprachlos. Hatten wir doch alles angeboten, was nun gefordert wurde. Nach kurzem Überlegen sagte ich zu Albert: »Wenn ihr das so seht, dann bleibt euch wohl nichts anderes übrig, als uns zu verlassen und zwar so schnell wie möglich. Ansonsten könnte es sein, dass ich mich bald nicht mehr im Griff habe.«
Die beiden starrten mich erstaunt an. Dann begriffen sie wohl endlich, dass sie einen Schritt zu weit gegangen waren. Wortlos erhoben sie sich, packten ihre Sachen und verließen das Haus.
* * *
Auch mein Vater hatte ein solches Erlebnis mit meinem Onkel aus dem Osten. Dieser kam immer zu Besuch, wenn die Äpfel im Garten reif waren. Er hatte die Erlaubnis, Äpfel mitzunehmen. Alle, bis auf diejenigen vom Lieblingsbaum meines Vaters, denn diese Äpfel wollte er selbst essen. Das wurde jahrelang befolgt.
Bei einem der Besuche stand mein Onkel sehr früh auf, erntete heimlich den ganzen Baum ab und fuhr nach Hause. Mein Vater war sehr erbost, sagte aber nichts davon zu seinem Bruder, um den Frieden zu bewahren. Er lud ihn im darauffolgenden Jahr wieder ein.
Natürlich haben oder hatten nicht alle unsere „Brüder und Schwestern“ aus den neuen Bundesländern eine solche Einstellung. Unsere „Verwandten“ waren aber so und zwar alle. Ständig forderten sie. Widersprach man, wurde der Kontakt abgebrochen.
***
In diesem Jahr hatten wir mehrfach für längere Zeit Besuch. Hannes kam eines Tages und fragte, ob er mit seiner Freundin ein paar Tage bei uns bleiben dürfe. Er hatte große Probleme im Elternhaus, was mich nicht gerade wunderte. Nach meinem damaligen Auszug jammerte er mir des Öfteren vor, dass er nun all die Arbeiten machen müsse, die früher zu meinen Aufgaben gehörten. Auch er wurde zu diesem Zeitpunkt von seiner Mutter, meiner Stiefmutter, ständig geschlagen. Anscheinend konnte sie nicht anders und da ich nicht mehr verfügbar war, traf es nun ihren Liebling. Ich hatte mich getäuscht, es ging ihr nicht um meine Person, sie brauchte einfach irgendjemanden, an dem sie ihre Aggressionen auslassen konnte. Natürlich war das ein Schock für Hannes, aber zu dem Zeitpunkt dachte ich, es geschieht ihm recht. Hatte er doch oft dafür gesorgt, dass ich fast täglich geschlagen wurde. Wenn er das erreicht hatte, war er immer sehr zufrieden und grinste mich hinterhältig an.
Nun hatte es also auch ihn getroffen. Ich wusste, was er durchmachte und gewährte ihm trotz meiner inneren Widerstände Unterschlupf. Er richtete sich zusammen mit seiner Freundin auf eine Art bei uns ein, als wolle er nie mehr zurück nach Hause gehen. Nach einigen Tagen wurde mir klar, dass Sabrina und ich erneut ausgenutzt wurden. Wir mussten einkaufen, kochen und die beiden auch noch unterhalten. Wenigstens ihre Betten machten sie ab und zu selbst. Irgendeinen sonstigen Beitrag zum Zusammenleben leisteten sie nicht.
Allerdings bekamen wir in dieser Zeit einige sehr interessante Fakten präsentiert und zogen daraus neue Erkenntnisse.
Hannes´ Freundin war ein sehr gesprächiges junges Mädchen und stellte sich gerne in den Vordergrund. Sie fühlte sich ständig im Recht; ließ kaum Widerrede oder gar eine Diskussion zu. Eines Tages, wir saßen beim Abendessen am Tisch, begann sie zu erzählen:
»Letztes Jahr waren eure Eltern für zwei Wochen im Osten bei eurem Onkel. Wir hatten das ganze Haus für uns alleine. Das ist ja richtig schön und groß, ich habe mich da sehr wohl gefühlt. Wir gehen ja davon aus, dass Hannes das alles mal erben wird und wenn wir verheiratet sind, dann ziehen wir eh´ gleich ein.«
Ich wartete gespannt, was noch von ihr kommen würde.
»Ich habe mir schon überlegt, was wir dann alles verändern und neu machen können. Da ist einiges zu renovieren, euer Vater kann das ja für uns machen. Als ich das Haus genauer unter die Lupe nahm, fand ich hinter einem Schrank sogar das Testament eurer Eltern. Das hat mich doch etwas schockiert.«
Ich selbst war nur davon schockiert, dass sie die Frechheit besaß, überhaupt im ganzen Haus herum zu schnüffeln. Es gehörte schon viel dazu, in einem fremden Haus alles zu durchsuchen und zudem noch hinter die Schränke zu schauen.
»In dem Testament steht doch tatsächlich, dass du, Jochen, auch erbberechtigt bist. Das kann ja nur ein Fehler sein, das passt uns überhaupt nicht in den Kram. Ich hoffe, dass sie das noch ändern. Ihr seid ja mit ihnen schon lange verkracht. Die werden dich doch sicher noch enterben.«
Rumms. Soviel Dreistigkeit aus dem Mund einer gerade mal 20-jährigen Göre. Man verzeihe mir diesen Ausdruck, zu diesem Zeitpunkt fielen mir noch ganz andere Worte ein.
»Es liegt wohl ganz allein an unseren Eltern, was sie für die Zeit nach ihrem Ableben entscheiden und zum Glück nicht an dir oder Hannes. Es ist ganz schön unverschämt, was du uns hier auftischst. Was meinst du, wie unsere Eltern reagieren, wenn ich ihnen irgendwann erzähle, was du hier gerade vorgebracht hast?«
Das Mädchen schaute mich pikiert an und meinte, man müsse sich doch rechtzeitig informieren, was in Zukunft auf einen zukäme. Da war ihre Suche doch ein ganz normales Mittel zum Zweck. Sie sehe das halt so und sagte das auch.
»Ich sehe das nicht so und möchte dich dringend bitten, solche Dreistigkeiten zu unterlassen. Hast du bei uns auch schon alles durchsucht?«
Auf diese Frage bekam ich keine Antwort. Ich richtete meine nächste Frage an meinen Halbbruder.
»Hannes, was denkst du? Stimmst du deiner Freundin in dieser Sache zu?«
Hannes saß die ganze Zeit neben ihr und äußerte sich nicht, auch nicht auf meine Frage. Deshalb ging ich davon aus, dass er alles für richtig hielt, genauso wie seine Freundin. Am nächsten Tag packten die beiden ihre Sachen und gingen, natürlich ohne sich für drei Wochen Unterkunft und Verpflegung zu bedanken.
»Danke« ist ein Wort, das Hannes nicht zu kennen scheint. Das habe ich auch aus Gesprächen mit mehreren seiner ehemaligen Freunde erfahren. Diese erzählten mir, dass Hannes immer gerne Hilfe annahm, sich aber nie bedankte oder selbst einmal half. Wenn die Gelegenheit oder die Bitte zu helfen bestand, fand er immer eine Ausrede, um der Arbeit zu entgehen. Genau deshalb waren sie auch seine „ehemaligen“ Freunde.
Erfahrung ist die beste Wünschelrute. Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Das Jahr 1990 bleibt mir auch als Jahr in Erinnerung, in dem sich der Zustand meines Darms deutlich verschlechterte. Ständige Toilettengänge, dreißigmal am Tag waren Standard, bereiteten mir unglaubliche Schmerzen am Hintern. Dazu kamen die Schmerzen im Bauchraum, ausgelöst von der immerwährenden Entzündung. Oft lag ich in der Klinik, bekam Infusionen, doch wirklich helfen konnte mir niemand. Ich schluckte Schmerztabletten wie Bonbons, was ich Jahre später noch büßen sollte.
Ich machte mich natürlich ständig über meine Krankheit schlau, suchte im Internet nach neuen Behandlungsmethoden oder Ansätzen, um vielleicht eines Tages die für mich beste Behandlung zu finden. Es wäre ja fahrlässig, wenn man nicht nach einer individuellen Lösung zur Linderung der Schmerzen suchen würde. Zwei der vielen Möglichkeiten kamen mir erfolgversprechend vor, also probierte ich sie aus.
Die erste Therapie machte ich nach dem Buch eines Schweizer Professors. Darin wurde bei Morbus Crohn ein Leben ohne Brot als „Heilmethode“ angepriesen. Mit dem Professor stand ich während meines Versuchs in Kontakt. Nach zwei Monaten war ich komplett abgemagert, obwohl ich sehr viel aß, nur Brot und Gebäck ließ ich außen vor. Auf Rückfrage sagte mir der Professor, dass ich mindestens ein halbes Jahr diese Diät durchhalten solle, sonst könne sie keinen Erfolg bringen. Nach einer weiteren Woche brach ich den Versuch ab.
Die zweite Therapie lässt mich heute noch nicht ganz los.
Ich vereinbarte einen Termin bei einem Heilpraktiker. Bei dem Telefonat zur Terminvereinbarung gab ich nicht an, welche Probleme ich hatte. Als ich alleine im Wartezimmer saß, kam plötzlich ein Mann mit weißem Rauschebart aus dem Behandlungszimmer. In den Händen hielt er eine Wünschelrute. Ich wollte schon lachen, da ging der Mann mit ausgestreckter Wünschelrute auf mich zu.
»Sie haben eine Wasserader unter Ihrem Schlafzimmer, deswegen schlafen Sie schlecht.«
Er hatte recht. Ich schlief seit Jahren schlecht; habe die Schuld dafür allerdings immer auf den Crohn geschoben.
»Ich spüre, dass Sie nicht im Gleichgewicht sind, Sie haben eine schwere Darmkrankheit.«
Nun war ich erstaunt. Woher konnte dieser Mann das wissen? Ich hatte ihn noch nie gesehen und er sah mich sicher auch das erste Mal.
Nach diesen einleitenden Sätzen begrüßte er mich und bat mich ins Behandlungszimmer.
»Welche Krankheit haben Sie?«, fragte er mich dort.
»Morbus Crohn, seit 18 Jahren.«
Ich schilderte ihm den gesamten Krankheitsverlauf.
»Welche Medikamente nehmen Sie ein?«
»Kortison und Azulfidine, dazu noch Schmerztabletten.«
»Das ist nicht gut. Dann schauen wir mal, ob ich Ihnen helfen kann. Zuerst schleichen Sie das Kortison aus, die Azulfidine werden Sie spätestens in drei Monaten nicht mehr brauchen.«
Wenn man zu einem Heilpraktiker geht, muss man an deren Vorgehensweisen glauben, um Erfolg zu haben. Es kostete mich etwas Überwindung, aber nachdem ich mein Bett umgestellt hatte und wieder schlafen konnte, glaubte ich dem Mann alles.
»Wir beginnen mit biologischen Mitteln, Tabletten und Tropfen, die sie regelmäßig nehmen müssen. Das ver