Jukka rennt - Chantal Schreiber - E-Book

Jukka rennt E-Book

Chantal Schreiber

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Beschreibung

Der Neue zu sein ist nicht so einfach für Jukka. Aber mit Leo, dem coolsten Mädchen der Klasse, versteht er sich zum Glück auf Anhieb. Und er ist der schnellste Läufer der Klasse! Beides macht sein eben gleichzeitig schöner – und komplizierter. Und Leo hat eigene Probleme, was man gar nicht vermuten würde. Als etwas völlig Unerwartetes geschieht, muss Jukka so schnell rennen wie noch nie gegen die Zeit und für Leo!

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Seitenzahl: 164

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Chantal Schreiber

Jukka rennt

Für meineLieblingsschwester

Chantal Schreiber wurde in Wien geboren und hat nach vielen Reisen und verschiedenen Jobs schließlich ihren Traumberuf gefunden: Sie schreibt Bücher für Kinder, junge Erwachsene und ältere Erwachsene.

Chantal Schreiber hat eine Tochter, einen Mann, einen Hund und ein Pferd. Sie reist nach wie vor gerne, lebt und arbeitet aber in der Nähe von Wien.

(Foto: Helmut Grünbichler)

Chantal Schreiber

Jukka rennt

Eine Freundschaft bricht alle Rekorde

mit Illustrationenvon Rene van der Vondervoort

Obelisk-Verlag

Neue Rechtschreibung

© 2016 by Obelisk Verlag, Innsbruck Wien

Lektorat: Inge Auböck

Cover: Heike Ossenkop

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-385197-837-7

Auch als E-Book erhältlich

E-Book-ISBN: 978-3-85197-855-1

www.obelisk-verlag.at

1. Die Neue

„Das ist Jukka Laitinnen aus Finnland, euer neuer Mitschüler. Zeigt euch von eurer besten Seite, seid so gut.“

In der letzten Reihe schoss eine Hand in die Höhe. Sie gehörte einem kräftigen, rothaarigen Jungen mit großen Schneidezähnen.

„Ja, bitte, Nico?“, sagte Herr Moser, der Mathelehrer, und wandte sich dem Klassenbuch zu.

„Ich habe Juttas Nachnamen nicht verstanden, Herr Moser.“

Unterdrücktes Lachen kam von den umliegenden Bänken.

Na, das fing ja gut an. Jukka stand immer noch vor der Tafel – der Lehrer schien vergessen zu haben, ihm einen Platz zuzuweisen.

„Laitinnen“, sagte Herr Moser zerstreut, ohne vom Klassenbuch aufzusehen. Offenbar hatte er nicht sehr genau zugehört.

Bei jedem Verwandtenbesuch hatte Jukka gemerkt, dass ein Jungenname, der auf „a“ endete, hier einen seltsamen Klang hatte. Was hatten seine Eltern sich bloß dabei gedacht? Es gab doch genug finnische Namen, die auch hier funktionierten! Elias, Matias, Oliver, Niklas! Sein Vater hieß ‚Anton’, der hatte hier nie Probleme gehabt! Nervös schob Jukka seine Brille zurecht.

„Sie darf gerne bei uns sitzen!“, flötete der rothaarige Junge und mit der Selbstbeherrschung in den hinteren Reihen war es vorbei.

Das bekam nun auch Herr Moser mit. Er legte seine Stirn in Falten und richtete seinen Blick über die dicke schwarze Brille hinweg auf Nico.

„Sie?“, fragte er. „Jukka ist doch ein Junge!“

„Tatsächlich?“, fragte Nico mit großen, verwunderten Augen. „Ich dachte nur, wenn man Jutta heißt und lange blonde Haare hat …“ Er versteckte seinen Kopf hinter dem Mathebuch, damit Herr Moser nicht sehen konnte, wie er vor Lachen fast platzte.

„Jukka, nicht Jutta!“, sagte der nur ärgerlich. „Mit Doppel –K- in der Mitte! Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt!“

Jukka war klein für sein Alter und schmal gebaut, wie seine Mutter. Er hatte auch ihre blonden, welligen Haare, und tatsächlich waren sie nicht „lang“, sondern gingen ihm gerade mal bis zum Kinn. Er strich die Strähnen, die ihm ins Gesicht gefallen waren, mit beiden Händen hinter die Ohren, die sich heiß anfühlten und vermutlich knallrot waren. Nico und seine Freunde lachten nun schon ganz ungeniert.

Ein weiterer Arm hob sich, diesmal aus der zweiten Reihe. Ein Mädchen mit wilder brauner Lockenmähne und weithin sichtbaren Farb – und Tintenflecken auf den Fingern.

„Das ist sicher nett gemeint von Nicoletta“, sagte sie nachdrücklich, als Herr Moser sie erwartungsvoll ansah, und diesmal kam unterdrücktes Lachen aus der gesamten Klasse. Jukka grinste. Eine Verbündete. Der Tag war gerade etwas besser geworden. „Aber wenn Jukka kurzsichtig ist, sieht er von hier vorne sicher besser zur Tafel.“

Tja, das war es nämlich, was er von seinem Vater mitbekommen hatte – nicht etwa den athletischen Körperbau, nein: die Kurzsichtigkeit.

Jukka bemerkte, dass die Blonde neben der Lockigen ihrer Nachbarin einen empörten Blick zuwarf. Allerdings war der freie Platz zwischen den beiden Mädchen der einzige – abgesehen von dem neben Nico dem Spaßvogel.

Herr Moser deutete auf den Platz in der zweiten Reihe und meinte: „Ja, rückt doch mal ein bisschen auseinander, ihr zwei. Dann wird vielleicht hier vorne auch weniger geschwätzt!“

Jukka setzte sich ohne ein weiteres Wort auf den ihm zugewiesenen Platz. Die Blonde schaute stur geradeaus und war sichtlich sauer. Die Lockige hatte sehr blaue Augen und grinste ihm breit entgegen, während sie ihre Schulsachen zur Seite schob.

„Ich bin Leo“, flüsterte sie und deutete dann auf die Blonde, „Und das ist Lissa.“

„Hey“, sagte er. „Ich bin Jutta.“

Das entlockte sogar der Blonden ein ganz kleines Grinsen. Leos Sitzplatz war direkt am Fenster und man hatte von hier einen hervorragenden Blick auf den gut ausgestatteten Sportplatz: Da gab es eine Sandkiste für den Weitsprung, zwei Beachvolleyballplätze und einen Fußballplatz. Ein paar ältere Jungs stellten gerade eine Hochsprunglatte vor einer dicken, blauen Matte auf. Und eingesäumt wurde der Sportplatz von einer Laufbahn. Einer sehr schönen Laufbahn. Hier war die Sechzig-Meter-Marke. Da die Hundert-Meter-Marke. Und wenn man wollte, konnte man Runde um Runde drehen … Jukka schloss die Augen und für einen Moment konnte er den roten Sand unter den Sohlen seiner Sportschuhe knirschen hören.

„Siehst du den Igel?“, weckte Leos Flüsterstimme ihn aus seinem Tagtraum. Jukka riss verblüfft die Augen auf und suchte den Sportplatz nach einem kleinen schwarzen Tier ab.

„Nicht unten“, sagte Leo. „Oben!“

Jukka folgte verblüfft Leos Blick, streckte sich ein wenig, um besser aus dem Fenster sehen zu können, und dann wusste er, was sie meinte. „Das ist kein Igel“, erklärte er. „Das ist ein Auto! Und zwar ein VW-Käfer. Baujahr 1964, glaub ich.“

Leo strahlte ihn an. „Stimmt. Aber gerade eben noch …“

„Nein“, unterbrach Jukka sie. „Das Auto ist weg, es ist jetzt …“

„…eine Schnecke!“ Leos Flüstern war jetzt keines mehr und Herr Moser warf einen warnenden Blick in ihre Richtung, den Jukka zum Glück bemerkte.

„Psst!“, machte er und fing Leos Hand ab, die mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Höhe geschossen war, um auf die sich schnell verändernde Wolke zu zeigen. Dabei schubste er Leos Federschachtel über die Tischkante und die Stifte verteilten sich mit hölzernen Klappergeräuschen auf dem Fußboden.

„Leo!“, stöhnte Herr Moser, „Nicht schon wieder!“

„Entschuldigung“, sagte Jukka sofort, „aber das war ich!“

„Na fantastisch“, meinte der Lehrer. „Dann habe ich also jetzt zwei in der Klasse, die den Unterricht damit verbringen, aus dem Fenster zu schauen und unter der Bank Stifte zu suchen.“ Das sagte er genau in dem Moment, als Leo und Jukka sich beide gebückt hatten, um die Stifte aufzuheben. Natürlich stießen sie mit den Köpfen zusammen. Und natürlich fuhren sie sich beide gleichzeitig mit der Hand an die Stirn und schlugen sich dabei die Ellenbogen an der Unterkante des Tisches an. Und natürlich riefen sie genau zeitgleich dazu zweimal unmittelbar hintereinander „Au!“.

Spätestens jetzt lachten auch die, die sich bis jetzt zurückgehalten hatten und Herr Moser ließ mit allen Anzeichen von Erschöpfung das Gesicht in seine Hände sinken.

„Sorry“, flüsterte Leo mit rotem Kopf unter der Bank. „Es ist dein erster Tag und nun verdankst du mir gleich einen Schlechtpunkt beim Mathelehrer.“

Jukka grinste nur, zuckte mit den Achseln und flüsterte zurück: „Kein Problem. Ich bin gut in Mathe.“ Sein Deutsch war perfekt, immerhin war er zweisprachig aufgewachsen. Nur wenn man genau hinhörte, merkte man einen ganz leichten Akzent – den weicheren Klang, den manche Wörter hatten, das „R“, das ein bisschen anders rollte. Er streckte sich nach einem Kugelschreiber, der ganz nahe an Leos ausgefranstem Stoffschuh lag. Die Säume ihrer Jeans waren über die Knöchel hoch gerutscht und gaben den Blick auf einen orange-pink-geringelten und einen bunt geblümten Socken frei.

„Coole Socken“, fügte er hinzu und zog gleichzeitig an seinen eigenen Hosenbeinen, so dass Leo auch seine Socken sehen konnte: Einen im grün-braunen Military-Tarn-Look und einen blauen mit Superman drauf. Ein Grinsen ging zwischen den beiden hin und her und ihre Freundschaft war beschlossene Sache.

In der Pause stellte Jukkas neue Freundin ihm die restliche Klasse vor. Die meisten kamen, um ihm die Hand zu schütteln und ihm Fragen zu stellen. Warum er so gut Deutsch sprach, obwohl er doch aus Finnland kam, ob Jukka dort ein ganz „normaler“ Name sei oder die Abkürzung für irgendwas.

Nico schenkte Jukka mit hämischem Grinsen ein rosa Haargummi, das er vermutlich seiner kleinen Schwester abgenommen hatte.

Jukka bedankte sich höflich. „Super“, sagte er, band seine Haare damit im Nacken zusammen und lächelte Nico freundlich an. „Für den Sport ist es so viel praktischer.“

„Genau“, gab Nico zurück, „Damit bist du sicher die beste am Schwebebalken!“

Nicos Kumpels brachen in Gelächter aus, aber Jukka lächelte nur weiterhin freundlich.

„Nett von dir, das zu sagen“, meinte er. „Schwebebalken ist ganz schön schwierig.“

Nico fiel darauf nichts mehr ein und er und seine Freunde verzogen sich.

„Ich sehe, du wirst mit Nico ganz gut allein fertig“, hörte Jukka die Stimme von Leo und drehte sich zu ihr um.

„Ja“, antwortete er, „aber trotzdem danke für … vorhin!“

Leo zuckte mit den Schultern und lächelte ihn an. „Für mich ist es leicht“, meinte sie. „Nico mag mich.“

„Sie mag dich auch“, gab Jukka zurück und drehte seinen Kopf ein wenig in Richtung Lissa. „Soll ich den Lehrer fragen, ob ihr wieder nebeneinander sitzen dürft?“

Leo schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Herr Moser droht schon seit Wochen damit, uns auseinanderzusetzen. Du bist ihm als Grund nur gerade recht gekommen.“ Sie senkte ihre Stimme. „Lissa regt sich schon wieder ab. Außerdem gibt es ja noch genug Pausen in denen wir über Mädchenkram reden können.“ Jukka sah zwischen Lissa, die mit trotzigem Gesicht in eine Modezeitschrift starrte und Leo hin und her. Er konnte sich vorstellen, dass die beiden nicht ganz dieselben Interessen hatten.

Leo mit den Locken war jedenfalls schwer in Ordnung. „Danke“, sagte er. „Aber trotzdem. Du solltest wahrscheinlich hingehen und mit ihr reden.“

„Ja, wahrscheinlich.“ Leo zuckte mit den Schultern und ihre braunen Kringellocken hüpften. „Bin schon dabei. Deine Haare finde ich übrigens cool.“

Jukkas Lächeln wurde breiter. „Ich deine auch.“

„Und deine Brille ist auch witzig. Warum hat die so umgebogene Bügel?“

„Ist eine Sportbrille“, erklärte Jukka. „Die verliert man nicht so leicht.“

„Cool“, wiederholte Leo und fügte hinzu: „Ich bin jedenfalls froh, dass du jetzt hier bist.“

Jukka sah ihr nach, wie sie zu Lissa ging, ihre Freundin vom Stuhl hochzog und ihr eine Schokobanane aus der Jausenbox klaute. Dazu sagte sie irgendetwas, was Lissa trotz ihres Missmuts zum Lachen brachte. Jukka seufzte. Kein Wunder, dass Lissa ihre beste Freundin nicht teilen wollte. Leo war mit ziemlicher Sicherheit das netteste Mädchen der Klasse und er hätte eine Freundin wie sie verdammt gut gebrauchen können. Einen Moment lang stieg Selbstmitleid in ihm hoch, bis ihm einfiel, dass er selbst seinem Vater zugeredet hatte, den Job hier anzunehmen. Heute Morgen hatten sie sich noch gegenseitig Glück für den ersten Tag gewünscht.

Jukka beschloss, einfach alles auf sich zukommen zu lassen. Er warf einen Blick auf den Stundenplan. Nur noch Deutsch und Geographie und dann kam endlich Sport.

„Achtung!“

Jukka ging in Startposition.

„Fertig!“

Er hob das Becken und wartete, Anspannung in jeder Faser seines Körpers.

„Los!“

Jukka schoss von der Startlinie wie ein Pfeil. Einen Moment lang dachte er noch, dass der Boden der Laufbahn sich genauso unter seinen Sohlen anfühlte, wie er es sich vorgestellt hatte. Dann dachte er gar nichts mehr. Sein Kopf war völlig leer. Alles was wichtig war, spielte sich für diese paar Sekunden in seinen Beinen und Füßen ab. Die hundert Meter waren viel zu schnell vorbei, aber er musste sich nicht umsehen um zu wissen, dass er den andern Jungen weit hinter sich gelassen hatte. Er kannte den verblüfften Ausdruck, den das Gesicht des Sportlehrers trug, und der sich jetzt auf den Gesichtern seiner Mitschüler spiegelte, als seine Zeit laut verkündet und dann eingetragen wurde. Er war es gewohnt, von allen, die ihn noch nie rennen gesehen hatten, unterschätzt zu werden.

Herr Kraus, der Lehrer, winkte ihn näher. „Verdammt gute Zeit, Jukka! Warst du in Finnland in einem Leichtathletik-Club?“

Jukka schüttelte den Kopf. „Nein. Ich laufe bloß gern.“

Der Lehrer lachte. „Das ist nicht zu übersehen. Was sagst du, Nico?“ Er wandte sich dem rothaarigen Jungen zu. „Jukka hat deinen Unterstufenrekord um eine halbe Sekunde unterboten. Das wird noch span-nend, was?“ Herr Kraus klopfte Nico gut gelaunt auf die Schulter, aber für den war die Sache noch nicht erledigt.

„Ich will noch einmal laufen!“, rief Nico Herrn Kraus nach.

Der Sportlehrer sah sich verblüfft um. „Wie bitte?“

Nico stand breitbeinig da und zeigte mit dem Finger auf Jukka.

„Gegen ihn! Nie hat der meinen Rekord gebrochen!“

Nun verfinsterte sich auch das Gesicht des Lehrers. „Glaub mir, Nico, ich weiß, wie man eine Stoppuhr bedient.“

Nico änderte seinen Tonfall. „Ich meine ja nur, er könnte mir doch noch eine Chance geben, oder? Wenn ich einen besseren Gegner habe, bin ich ja vielleicht auch schneller!“

Der Lehrer überlegte kurz. „Da ist was dran. Jukka, hast du Lust, noch einmal zu laufen? Nico war bis jetzt immer unser Schnellster. Du musst natürlich nicht, wenn du nicht …“

„Klar“, unterbrach Jukka ihn. „Ich renne gern noch mal.“

Die anderen Jungs hatten mitbekommen, dass sich ein Duell ankündigte, und verteilten sich entlang der Laufstrecke, um zuzusehen. Bei den Mädchen war gerade ein Völkerballmatch zu Ende und einige kamen ebenfalls herüber geschlendert, darunter Leo in weiten grauen Shorts und einem T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin kein Cheerleader“. Ihre linke Sportsocke war blau, die rechte pink. Sie lächelte Jukka aufmunternd zu.

Achtung. Fertig. Los!

Nico war wirklich schnell. Er lief mit vor Konzentration gefurchter Stirn, die Hände zu Fäusten geballt, die Lippen zusammengepresst. Als er durchs Ziel ging, hatte er seine persönliche Bestmarke unterboten – allerdings nicht die Zeit von Jukka, der deutlich vor Nico die Ziellinie überquerte.

„Du hast Recht“, sagte er, als er Nico danach die Hand hinstreckte. „Mit einem starken Gegner läuft es sich besser.“

In Nicos Gesicht arbeitete es. Es war klar, dass der rothaarige Junge Jukka lieber den Arm auf den Rücken drehen wollte als ihm die Hand zu schütteln. Aber fast die ganze Klasse sah zu und beide Sportlehrer. Also nahm Nico Jukkas Hand, grinste ihn an und drückte dann zu, als wollte er einhändig eine Zitrone auspressen.

Jukka brauchte seine gesamte Selbstbeherrschung, um nicht laut aufzuschreien. Die Zuschauermenge löste sich langsam auf und Nico nützte die Gelegenheit, Jukka näher an sich heranzuziehen. „Bilde dir bloß nichts ein!“, zischte er. „Das war Anfängerglück, nichts weiter!“

„Na sicher doch.“ Eine mit Farbe und Tinte bekleckste Hand legte sich auf die von Nico. „Beim nächsten Mal gewinnst wieder du. Niemand ist immer gleich gut drauf, stimmt’s Jukka?“

„Sicher“, sagte Jukka so ruhig wie möglich, und versuchte, trotz des Schmerzes nicht das Gesicht zu verziehen.

„Ahäm“, machte Leo und sah Nico erwartungsvoll an. Der errötete und ließ endlich Jukkas Hand los. Dann wandte er sich ab und trat mit voller Wucht gegen einen herumliegenden Fußball.

„Da kann einer nicht verlieren“, stellte Jukka fest.

Leo zuckte mit den Schultern. „Sein Vater hat früher schon jeden Leichtathletik-Wettbewerb hier an der Schule gewonnen. Sport ist schrecklich wichtig für ihn. Und Nico will ihn wohl nicht enttäuschen. Kann man irgendwie verstehen, oder?“

Jukka sah sie neugierig von der Seite an. Dieser Nico war ja nun wirklich kein besonders liebenswerter Zeitgenosse. Aber aus irgendeinem Grund verteidigte Leo ihn. Sie wurde rot bis unter ihre behelfsmäßig mit einem Schuhband gebändigte Lockenmähne, als sie Jukkas Blick bemerkte. „Ich meine ja nur“, sagte sie. „Jeder will doch, dass seine Eltern stolz auf ihn sind, oder nicht?“

Jukka dachte einen Moment nach. „Ich denke, mein Vater ist so oder so stolz auf mich“, sagte er schließlich. „Egal, ob ich irgendeinen Pokal gewinne oder nicht.“

Eine steile Falte wuchs zwischen Leos Augenbrauen, als sie sagte: „Da hast du echt großes Glück.“ Zum Abschluss des Sportunterrichts wurden Karol und Nico bestimmt, Fußballteams zu wählen. Es überraschte Jukka nicht besonders, dass er zum Schluss alleine übrigblieb. Gerade wollte er sich auf die Ersatzbank setzen, da rief die Lehrerin der Mädchen herüber: „Hey, Jukka, spielst du auch Volleyball? Uns fehlt hier noch jemand!“

„Klar!“ Jukka mochte Volleyball ohnehin lieber als Fußball – seine geringe Größe machte er durch seine Sprungkraft wett und er erwischte einfach jeden Ball, weil er so schnell war.

„Jetzt ist er endlich da, wo er hingehört“, hörte er Nicos Stimme hinter sich. Der Typ war echt ein Neandertaler.

2. Halbe Kraft voraus

„Hey, Paps!“

„Hey, Großer!“ Es war fast zehn Uhr abends, als Jukkas Vater sich erschöpft aufs Sofa fallen ließ. „Mann, das war ein Tag. Alle kennengelernt, Aufgaben in der Küche verteilt, Menüplan erstellt, Einkaufslisten geschrieben. Jetzt sollte alles so einigermaßen funktionieren.“ Er sah erwartungsvoll zu Jukka, der sich in den fetten Ohrensessel geworfen hatte, ein Erbstück von Jukkas Opa. Jukka hatte seinem Vater geholfen, den Sessel mit blau-weiß gestreiftem Stoff neu zu beziehen. Jukkas Vater konnte so etwas. Er konnte eine Menge Dinge – außer kochen konnte er auch ziemlich gut tischlern, alle Arten von Maschinen reparieren, und großartige Lagerfeuer machen. Außerdem war er groß und stark, ein Bär von einem Mann. Jede Küche, in der er arbeitete, kam Jukka wie eine Puppenküche vor. Oder wie die winzige Kombüse im Bauch eines Piratenschiffes, in der ein bärtiger, muskelbepackter, tätowierter Smutje mit Pfeife im Mundwinkel und Messer im Gürtel Kartoffeln schälte. Nur dass an Jukkas Vater so gar nichts Bedrohliches war: Er hatte blaue Augen, die ständig hinter der knallrot gerahmten Brille blitzten, als ob dahinter eine gute Idee die nächste jagen würde, ein rundes Gesicht und ein freundliches Lachen. Kurzum, sein Vater war ein echt cooler Typ und Jukka würde nie verstehen, warum seine Mutter lieber mit diesem dünnen Zahnarzt zusammenwohnte, der nicht einmal Eierspeise mit Schnittlauch kochen konnte. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

„Und wie war dein erster Tag so?“

Jukka seufzte. Er hätte seinem Vater lieber erzählt, dass alles ganz toll gelaufen war. Aber die Sache mit der Übersiedlung war ein Zwei-Mann-Projekt. Sie mussten zusammenhalten, und das ging nicht ohne absolute Ehrlichkeit.

„Meinst du den Teil, als mich ein Mädchen mit giftigen Blicken beschossen hat, weil der Lehrer mich zwischen sie und ihre beste Freundin gesetzt hat?“, fragte Jukka also. „Den Teil, als mich der Klassen-Bully Jutta’ genannt hat? Oder den Teil, als derselbe Typ mich in den Mülleimer gesetzt und angekündigt hat, mir das Leben zur Hölle zu machen?“

Die Sache mit dem Mülleimer war nach dem Sportunterricht passiert, und Nico hatte das natürlich nicht allein geschafft, sondern nur mit Hilfe seiner beiden ständigen Begleiter, Karol und Mo.

„So schlimm?“ Sein Vater sah ihn erschrocken an. „Was hat der denn gegen dich nach nur einem Tag?“ „Es gefällt ihm nicht, dass ich schneller renne als er. Bis jetzt war er der ungekrönte Sportplatzkönig in unserer Altersgruppe. Und dann kommt der Junge, den er gerade noch als Mädchen bezeichnet hat und besiegt ihn. Er hat wohl Angst, dass ich ihn beim Schülerwettkampf blamiere.“

„Schülerwettkampf?“

„Ein Leichtathletik-Wettbewerb, kurz vor Ferienbeginn. Bis jetzt hat Nico immer alles gewonnen. Und vor ihm sein Vater. Jedes Jahr, bis zum Abschluss.“

„Oh.“ Jukkas Vater nickte und grinste seinem Sohn zu. „Das Erbe der Väter. Da hast du es leichter. Du musst nur die Eierspeistradition hochhalten. Im Sport war ich nie der Beste. Außer im Tor und beim Kugelstoßen.“

Jukka grinste zurück. „Du bist in vielen Sachen der Beste“, erklärte er und musste im selben Augenblick wieder an seine Mutter denken. Wahrscheinlich ging es seinem Vater genauso.

„Was soll ich jetzt also machen?“, fuhr Jukka hastig fort, um den Gedanken an sie zu verscheuchen. „Das Mädchen neben dem ich sitze, ist echt nett. Und witzig. Also, das andere Mädchen. Sie trägt übrigens verschiedenfarbige Socken. Aber jedes Mal, wenn ich mit ihr rede, schaut ihre Freundin mich an als wollte sie mich erwürgen.“

Sein Vater sah ihn an. „Freundschaft passiert oder eben nicht. Lass einfach die Nette entscheiden und warte ab. Wie heißt sie eigentlich?“

„Leo.“

Jukkas Vater lachte. „Leo und Jutta. Passt ja hervorragend.“

Jukka grinste ein bisschen schief. Sein Vater war auch der Beste darin, die komische Seite der Dinge zu sehen.