Julia - Julia Prillwitz - E-Book

Julia E-Book

Julia Prillwitz

4,8

Beschreibung

Sie wird geboren als Junge. Doch als sie gerade einmal zehn Jahre alt ist, wachsen ihr statt der ersten Barthaare Brüste. Von den Mitschülern wird sie verhöhnt, von den Lehrern misshandelt. Für sie alle ist Julia eine Skurrilität, weder Junge noch Mädchen. Doch Julia entscheidet sich, sich nicht zu entscheiden. Sie will sich nicht komplett zur Frau umoperieren lassen, sie will nicht zum Mann werden. Sie ist Julia – nicht Mann, nicht Frau – mit ihrer eigenen, ganz besonderen Sexualität. Und die wiederum ermöglicht es ihr, die emotionalen und sexuellen Beziehungen zwischen den Geschlechtern viel besser zu verstehen, als es »normale« Menschen können. Dabei ist Julia eine Person, die sich durch eine Lebensfreude auszeichnet, die sich aus den Widrigkeiten des Lebens entwickelt hat und der nichts und niemand etwas anhaben kann. Dieses Buch ist die Geschichte eines ganz besonderen Menschen und ein leidenschaftliches Plädoyer für den offenen Umgang mit Sexualität, sexuellen Vorlieben und den tatsächlichen oder vermeintlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2014

© 2014 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung, vorbehalten. Die Übersetzung ist in Absprache mit dem Verlag und dem Autor für nicht kommerzielle Nutzung möglich. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Caroline Kazianka Umschlaggestaltung: Melanie Melzer, unter Verwendung von Shutterstock

Umschlagfoto: Manuel Jacob, www.manueljacob.com

Make-up und Hairstyling: Giovanni Fasiello

Bilder Innenteil: © Julia Prillwitz

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN Print 978-3-86882-183-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-431-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-432-4

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.mvg-verlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Imprints unter

www.muenchner-verlagsgruppe.de

Inhalt

Kind des Teufels

Keine gute Konstellation

Süßschnabel und Ameisenpopo

Königin des Bumbum

Ein Loch in der Schuluniform

»Lustiges Spiel«

Schmeiß es runter!

Meine kleine Titti

Auf der Straße

Die aberkannte Krone

Zigarettenrauch und Babypuder

Wesen wie ich

Todeskuss

Verklebte Wimpern

Schwester Julia

Eine richtige Familie

Es war einmal

In der Villa Gloria

Mama und Papa

Junggesellinnenabschied

Er gehört zu mir

Nur für mich

Eine grüne Mango beginnt zu reifen

Heimliche Geliebte

Darf ich Ihre Füße küssen?

Orang-Utans Liebe zu Strümpfen

Schleich dich!

Bin ich schwul, wenn ich dich mag?

Fischstäbchen statt Dorade

Die Frau im Mann

Der gute Ruf

Ein Skorpion bleibt ein Skorpion

Es geht auch anders

Sei eine Diva

Kaffeeböhnchen

Nackt im Scheinwerferlicht

Meine kleine Welt zerbricht

Einmal Boxer, immer Boxer

Ich muss mich nicht verstecken

Bildteil

Dieses Buch widme ich Brian Rennie

Die Namen der Personen, von denen ich in diesem Buch erzähle, habe ich verändert. Ich möchte nicht, dass sie identifizierbar sind.

Julia Prillwitz, Oktober 2014

Kind des Teufels

Keine gute Konstellation

Ich war blau wie eine Heidelbeere, als ich auf die Welt kam. Die Nabelschnur hatte sich um meinen Hals und den Kopf gewickelt und mir die Luftröhre abgeschnürt. Ich atmete schon nicht mehr. Gerade noch rechtzeitig zog die Hebamme mit ihren dicken Fingern die Nabelschnur von meinem Hals, sonst wäre ich erstickt.

In Brasilien gilt es als Zeichen für etwas Großes, wenn ein Kind seine Geburt nur knapp überlebt. Man sagt, dass Fast-Totgeburten sich in ihrem Leben durchsetzen werden. Denn diese Kinder haben sich schon im ersten entscheidenden Kampf für das Leben entschieden.

Auch für meine Mutter stand es auf Messers Schneide, ob sie die Geburt überleben würde, da ich ein sehr großes Baby war und nicht herauswollte. In diesem Zustand zwischen Leben und Tod gab meine Mutter ein folgenschweres Versprechen: Sie schwor dem Schutzpatron unserer Familie, dass sie mir bis zu meinem 15. Geburtstag nicht die Haare schneiden lassen würde, wenn wir beide überlebten. Ein brasilianischer Junge mit langen Haaren ist natürlich sehr ungewöhnlich. Und so gab es – noch bevor ich überhaupt das erste Mal Luft geholt hatte – dieses Omen, dass mein Leben nicht wie das eines normalen Jungen und später das eines normalen Mannes verlaufen würde.

Ich kam in Manaus, der Hauptstadt des Bundesstaates Amazonas, auf die Welt. Die Stadt, die heute fast zwei Millionen Einwohner zählt, liegt mitten im Urwald nahe des Äquators am Ufer des Rio Negro. Sie ist nur per Flugzeug und mit dem Schiff erreichbar, die nächste Stadt ist mehrere Tausend Kilometer entfernt. Während der Regenzeit, von Dezember bis Mai, regnet es täglich. Das Land ist außerordentlich fruchtbar. Der Dschungel rund um Manaus gilt als artenreichste Region der Welt, immer wieder werden dort neue Tier- und Pflanzenarten entdeckt. Wenn wir als Kinder Obstkerne auf die Erde spuckten, keimte schon nach dem nächsten Regen ein neues Pflänzchen. Früchte, wie Guaven oder Cashewfrüchte, wachsen im warmen Regen innerhalb von 24 Stunden um das Fünffache, sie saugen sich voller Wasser. Als Kind dachte ich immer, ich würde Zeuge eines Wunders, wenn nach dem Regen die überreifen Früchte an den Bäumen aufplatzten und sich Vögel- und Bienenschwärme darauf stürzten.

*****

Meine Mutter stammte aus einer einflussreichen und wohlhabenden Familie. Sie war die jüngste von drei Schwestern und eine zierliche, hübsche Frau mit einer starken erotischen Ausstrahlung. Als Teenager hatte sie sich unsterblich in einen jungen Mann aus der Region verliebt. Doch dieser Mann war für meine Großeltern nicht standesgemäß.

»Seine Familie hat keinen Namen«, hieß es, was gleichbedeutend war mit: Seine Familie ist unter unserem Niveau. Er kam für meine Großeltern als Schwiegersohn nicht infrage. Meine Mutter sollte ihre große Liebe vergessen, zumal ihre Eltern bereits einen anderen Mann für sie ausgesucht hatten – meinen Vater. Seine Familie war zwar längst nicht so angesehen wie unsere, aber sie war noch vermögender als wir. Die Ehe wurde arrangiert, Widerspruch nicht geduldet. Es gehörte sich einfach so, dass sich die wohlhabenden Familien zusammentaten, um noch reicher zu werden.

Als sich meine Mutter und der Mann, den sie liebte, zum letzten Mal treffen wollten, um voneinander Abschied zu nehmen, war er nicht da. Sie suchte überall nach ihm. Schließlich öffnete sie einen Schrank, um nachzuschauen, ob er sich vor ihr versteckte, und dort fand sie ihn: Er hatte sich aus Verzweiflung darüber, dass er meine Mutter nicht heiraten durfte, im Schrank erhängt. Da war sie 19 oder 20 Jahre alt.

Meine Mutter fügte sich in ihr Schicksal und heiratete meinen Vater. Es war ein pompöses Fest mit einer traurigen Braut. Nach der Hochzeit rief meine Großmutter ihre Tochter zu sich und sagte: »Das erste Kind von dir gehört mir!«

Ihre eigenen Kinder waren schon erwachsen, aber sie wollte noch einmal Mutter sein. Im Amazonas kommt es häufig vor, dass einflussreiche Frauen ihre Enkel großziehen. Meine Mutter musste sich dem fügen, denn das Wort der Älteren war Gesetz.

Die Familienstrukturen in Brasilien sind sehr hierarchisch. Bis heute ist es so, dass Kinder die älteren Familienmitglieder siezen. Wenn ich nach draußen wollte zum Spielen, wenn ich wieder nach Hause kam und bevor ich abends ins Bett ging, musste ich jedes Mal als Zeichen der Ehrerbietung und Unterwerfung alle erwachsenen Anwesenden um ihren Segen bitten. »Vater, segnen Sie mich«, bat ich.

»Ich segne dich.«

»Mutter, segnen Sie mich.«

»Ich segne dich.«

»Tante, segnen Sie mich.«

»Ich segne dich.«

*****

Es hat eine Weile gedauert, bis meine Mutter mit mir schwanger wurde, sie musste erst mit Hormonen behandelt werden. Eigentlich wollte sie kein Kind von dem Mann, den sie nicht liebte. Aber es wurde von ihr erwartet. Als es dann endlich geklappt hatte, ging sie fest davon aus, dass ihr Baby bei ihrer Mutter aufwachsen würde. Das wäre wohl für uns beide das Beste gewesen. Wahrscheinlich wäre mein Leben dann ganz anders verlaufen.

Doch während meine Mutter in den Wehen lag, starb meine Großmutter. Sie war am selben Tag nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus wieder nach Hause entlassen worden, und die ganze Familie und auch die Ärzte dachten, dass sie wieder gesund sei. Ihr Tod kam für alle überraschend.

Meine Mutter bekam also von einem Mann, den sie nicht liebte, ein Kind, das sie nicht wollte. Und ihre Mutter, die sie liebte, starb am selben Tag. Keine gute Konstellation, um auf die Welt zu kommen. Damit fing alles an.

Erst die schwere Geburt, dann der Tod der Matriarchin – meine Mutter war überzeugt davon, dass ich verhext war. Mal glaubte sie, dass der Geist meiner Großmutter an mir zerrte und schon während der Geburt versucht hatte, mich mit ins Reich der Toten zu nehmen. Dann wieder war sie sicher, dass mich der Teufel hatte holen wollen. Meine Mutter wollte keine Bindung zu mir aufbauen und gab mir daher auch nicht die Brust. Vom ersten Tag an wurden zwei Ammen damit beauftragt, für mich zu sorgen. Sie hatten es nicht einfach mit mir, denn ich nahm kaum Nahrung zu mir, war schwächlich und oft krank. Eine meiner Ammen erzählte mir später, meine Mutter habe uns manchmal dabei zugesehen, wie sie versuchten, mich zu füttern. Einmal wurde sie so wütend, weil ich nichts essen wollte, dass sie mir den Brei ins Gesicht klatschte und zornig sagte: »Aus dem Balg wird nichts!«

Obwohl ich noch so klein war, sehnte ich mich sehr nach der Zuwendung und Liebe meiner Mutter. Sie hatte mir voller Verachtung den Brei ins Gesicht geschmiert – und ich hatte ihn mir gierig von den Lippen geschleckt.

*****

Meine Eltern gaben mir den Namen einer Blume. Er ähnelte den Vornamen meiner beiden Cousinen, die ebenfalls nach dieser Blume benannt waren, nur die Endungen waren verschieden. Die Frauen in meiner Familie waren sehr abergläubisch. Ein ungeschriebenes Gesetz lautete, dass sich alle Namen einer Generation ähneln mussten, sonst würde der Patriarch der Familie sterben. Also bekam ich als Junge einen weiblich klingenden Namen – ein weiterer Hinweis darauf, dass mir kein typisches Jungenleben bevorstand. Während meiner Schulzeit stutzen die Lehrer immer, wenn sie mich zum ersten Mal aufriefen. Denn sie waren unsicher, ob dieser Name nun zu einem Jungen oder einem Mädchen gehörte.

Mein Kindername ist mein Geheimnis. Ich verrate ihn niemandem. Nicht einmal mein späterer Ehemann, mit dem ich mehr als zehn Jahre verheiratet war, kennt ihn. Ich möchte nicht, dass man mich heute noch so ruft. Das dürfen nur die Geister und Hohepriester, die spirituellen Führer meiner Religion. In Zeremonien rufen sie mich bei meinem Taufnamen. Meine Religion, der Candomblé, ist eine sehr alte Religion, die mit den Sklaven nach Brasilien kam, die ab dem 16. Jahrhundert aus Nigeria, Benin und Togo verschleppt wurden, um auf den brasilianischen Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Eine dem Candomblé verwandte und den Europäern bekanntere Religion ist Voodoo.

Meine Familie war zwar katholisch und ging sonntags in die Kirche, aber sie verehrte in aller Heimlichkeit auch die Gottheiten des Candomblé. In dieser Religion gibt es für vieles einen Orixá, einen Schutzpatron: zum Beispiel für das Gewitter oder das Feuer. Es gibt eine Göttin der Winde und Stürme und einen Orixá der Heilkräuter. Wir Gläubige treffen uns regelmäßig zu Ritualen, bei denen wir uns durch Tanz, Rhythmus und Gesänge in Trance versetzen, um mit den Orixás in Kontakt zu treten und deren kosmische Kraft in uns aufzunehmen. Meine Religion ist bis heute ein elementarer Bestandteil meines Lebens, und ich spreche fast täglich zu meinen Gottheiten.

*****

In den ersten Jahren meines Lebens litt ich unter einer schweren Krankheit. Ich bekam sehr oft aus heiterem Himmel hohes Fieber mit Schüttelfrost und Krämpfen. Dann verdrehten sich meine Arme und Beine, ich zitterte und zuckte am ganzen Körper und fiel ins Delirium. Noch heute kann ich mich an diese Fieberträume erinnern. Ich sehe meine Eltern oder meine Ammen neben meinem Bett stehen und ich fühle, wie ich zu wachsen beginne. Ich werde immer größer und dehne mich in alle Richtungen aus, bis mein Körper den ganzen Raum ausfüllt. Auch als größeres Kind bekam ich diese Fieberanfälle noch und fühlte mich dann jedes Mal, als sei ich kurz vor dem Explodieren. Ich dachte, ich würde mit meinem Körper das ganze Haus sprengen, wenn ich nicht sofort ein Fenster öffnete.

Manchmal hatte ich in meinen Träumen auch Visionen. Einmal sah ich meinen Vater hinter dem Steuer seines Autos. Er fuhr durch die Nacht, neben ihm saß eine Frau. Plötzlich geriet der Wagen ins Schleudern, schoss über die Fahrbahn hinaus und stürzte eine Schlucht hinunter, wobei er sich mehrmals zwischen den Bäumen überschlug. Meine Mutter und die Ammen dachten, ich würde nur im Fieber fantasieren, doch wenig später klingelte das Telefon. Mein Vater hatte in jener Nacht tatsächlich einen Unfall gehabt. Wer die Frau gewesen war, die bei ihm im Auto gesessen hatte, weiß ich nicht.

Meine Mutter wollte mir das Böse, das angeblich in mich gefahren war, austreiben. Daher brachte man mich zu einem Schamanen, der die Geister besänftigen sollte. Dieser Rezador hatte die schwärzeste Haut, die man sich überhaupt nur vorstellen kann, einen schneeweißen Bart und ebenso weiße, krause Haare. Dieser Medizinmann und Heiler begleitete mich während meiner gesamten Kleinkindzeit.

Seine Hütte stand im Urwald. Meistens trug mich mein Vater zu ihm, während ich in eine Decke gehüllt vor mich hin fieberte. Während ich in den Armen meines Vaters im Gehen sanft hin und her geschaukelt wurde, umgaben mich die Geräusche des Waldes: Die Frösche quakten, und die Grillen zirpten. Wir gingen immer erst nach Anbruch der Dunkelheit zu ihm, weil meine Mutter nicht wollte, dass wir mit ihm oder in seiner Nähe gesehen wurden. Deshalb durfte der Rezador auch nie zu uns ins Haus kommen. Heute bekennen sich sogar bekannte Schauspieler oder Richter zum Candomblé, doch damals galt diese Religion in den höheren Gesellschaftsschichten als primitiv, und so praktizierten wir unseren Glauben nur heimlich.

Die Hütte des Rezadors bestand ganz aus Holz, in den Spalten zwischen den Fußbodenbrettern konnte ich die sandige Erde sehen. Es duftete nach Kräutern, ätherischen Ölen und Kerosin. Der Feuerschein der Öllampen, die er sich aus leeren Milchdosen mit einem Docht aus Stoff hergestellt hatte, tauchte den einzigen Raum in gelbliches Licht. Es war ein gutes Gefühl, bei ihm zu sein. Ich nannte ihn Avo, Opa. Sein Körper fühlte sich warm an, und seine Haut duftete nach Kräutern.

Er nahm mich immer in den Arm und flüsterte mir mit seiner sanften, heiseren Stimme beschwörend Worte zu, die ich nicht verstand. Während er betete, bespritzte er meinen Kopf, meinen Bauch, meine Hände und Füße mit geweihtem Wasser, in dem Heilkräuter schwammen.

Als Avo starb, ging ich mit meinem Vater ein letztes Mal zu seiner Hütte, in der sein toter Körper auf einem Tisch zwischen Kerzen und Blumen aufgebahrt war. Mein Vater musste mich hochheben, damit ich von Avo Abschied nehmen konnte. Ich küsste den Toten und dankte ihm für alles, was er für mich getan hatte.

Süßschnabel und Ameisenpopo

Am Wochenende fuhr mein Vater manchmal mit meinen Cousinen und mir auf dem Boot in den Dschungel. Meine Mutter aß gern das Fleisch der Tortugas Arraú, einer Riesenschildkröte, die damals noch nicht unter Artenschutz stand. Mein Vater fing die Tiere, wenn sie am Strand ihre Eier ablegten. Auf dem Weg in den Dschungel kamen wir am Encontro das Aguas, dem Treffen der Wasser, vorbei. Hier stoßen der Rio Solimões, wie der Amazonas bis hierher genannt wird, und der Rio Negro aufeinander. Sie fließen mehrere Kilometer im selben Flussbett nebeneinander her, ohne sich miteinander zu vermischen. Die Flüsse haben unterschiedliche Farben und Temperaturen und fließen auch unterschiedlich schnell. Es ist ein Naturphänomen, das man sogar auf Satellitenbildern erkennen kann. Wenn wir Kinder bei unseren Ausflügen in den Dschungel ins Wasser eines kleinen Nebenflusses sprangen, kamen sofort die grauen Delfine angeschwommen, wir hielten uns an ihren Flossen fest und ließen uns von ihnen an den Strand ziehen. Auf dem Weg in die Dörfer der Indios kamen wir an verwilderten Kautschukplantagen vorbei. Die Seringueiras, Gummibäume, hatten Manaus einst zu einer der reichsten Städte der Welt gemacht. Schon vor Jahrhunderten hatten die Ureinwohner im Amazonas die Stämme angeritzt und die weiße Milch in kleinen Gefäßen, die direkt am Stamm befestigt wurden, gesammelt. Sie verwendeten die Latexmilch für die Herstellung von Bällen, für wasserdichte Gefäße oder auch als Klebstoff für Schuhe. Mit der Erfindung des US-Amerikaners Charles Goodyear, der 1830 das Verfahren der Vulkanisierung entwickelte, konnte aus Naturkautschuk erstmals Gummi hergestellt werden. Die Nachfrage stieg daraufhin innerhalb weniger Jahre ins Gigantische. Gummi wurde für Autoreifen, Gummistiefel, Regenkleidung oder Dichtungen in der Industrie und im Maschinenbau verwendet. Auch Kondome wurden aus Naturkautschuk gefertigt, die ersten, die in Serie gingen, waren zwei Millimeter dick. Die Region um Manaus war der einzige Kautschuklieferant der Welt, der Boom brachte großen Reichtum mit sich. Aus dem einstigen Indianerdorf wurde innerhalb weniger Jahre eine Großstadt mit breiten Straßen, extravaganten Gebäuden und dem ersten Wasser- und Abwassersystem Brasiliens. Baumeister, Architekten, Ingenieure, Forscher und Künstler ließen sich hier nieder, und Manaus bekam den Beinamen »Paris der Tropen«. Nach den Plänen von Gustave Eiffel, dem Erbauer des Eiffelturms, entstanden die Markthallen von Manaus. Wenig später wurde 1884 mit dem Bau des berühmten Teatro Amazonas begonnen. Zwölf Jahre dauerte die Errichtung des Gebäudes und kostete damals die sagenhafte Summe von zwei Millionen Dollar. Die Baustoffe wurden auf Schiffen von überall her transportiert: Die Kacheln für die Kuppel stammten aus dem Elsass, die Pflastersteine aus Portugal, der Marmor aus Carrara. Das Theater wurde zum Symbol der Extravaganz und des Reichtums der Stadt. Damit die Pferdekutschen, die draußen vorbeifuhren, die Theateraufführungen nicht störten, wurden die Pflastersteine mit Kautschuk übergossen.

Das Ende des Kautschuk-Weltmonopols begann mit einem dreisten Diebstahl. Es war damals unter Todesstrafe verboten, Samen der Bäume außer Landes zu bringen. Ein englischer Pflanzer und Abenteurer riskierte es trotzdem. Henry Alexander Wickham handelte im Auftrag des Direktors der berühmten Royal Botanic Gardens (auch Kew Gardens) im Südwesten Londons. Wickham sammelte heimlich 70.000 Samen, deklarierte sie als Orchideensamen und schickte sie 1876 per Schiff nach Europa. Aus diesen Samen wuchsen in den Londoner Gewächshäusern der Kew Gardens etwa 2000 Setzlinge heran, die die Briten wiederum in ihre Kolonien nach Malaysia, Ceylon und Singapur brachten. Von den Pflänzchen überstanden der Überlieferung nach zwar gerade mal acht die lange Reise über die Meere, aber diese reichten aus, um im Lauf der Jahre riesige Kautschukplantagen in Asien zu züchten, die enorm ertragreich waren. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts stammten 90 Prozent des Kautschukexports aus Malaysia. Damit gehörte der Kautschukboom in Manaus der Geschichte an. Die Plantagen verloren ihre Bedeutung, verwilderten und wurden von da an wieder wie früher vorwiegend von den Indios für den Eigenbedarf genutzt. Wenn wir auf unseren Ausflügen in den Dschungel an den überwucherten Gummibäumen vorbeikamen, rollten wir Kinder die getrocknete Latexmilch zwischen unseren Fingern zu Kügelchen. Diese kauten wir wie Kaugummi, spuckten sie aber schnell wieder aus, weil sie leicht bitter schmeckten. Von dort ging es dann weiter in die Dörfer der Indios, wo wir uns Röcke aus Bananenblättern bastelten. Diese Ausflüge gehören zu den schönsten Erinnerungen meiner Kindheit. Bei den Indios interessierte es niemanden, ob ich ein Junge oder ein Mädchen oder keines von beidem war.

Ich bin vor allem mit meinen Cousinen aufgewachsen. Es verging kein Tag, an dem wir nicht zusammen spielten. Wir buken Sandkuchen, fingen kleine Fische oder fliegende Riesenameisen und klebten uns mit Spucke Blütenblätter auf die Fingernägel. Wir verbrachten jede freie Minute zusammen. Meine Cousinen und ich waren auch mit Jungen befreundet, die zu uns kamen, aber deren Spiele gefielen mir nicht. Sie rauften und machten sich schmutzig, das mochte ich nicht.

Es gibt Tausende Jungen, die mit Mädchen aufgewachsen sind und als Männer trotzdem Frauen lieben. Bei mir ist es anders. Ich glaube, dass ich eine alte Seele habe, die weiblich ist. In welchem Körper eine Seele steckt, spielt keine Rolle. Wenn die Seele weiblich ist, wird auch die Essenz dieses Menschen weiblich sein. So ist es bei mir. Bevor ich in die Schule kam, habe ich mir überhaupt keine Gedanken darüber gemacht, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin. Ich habe mich einfach als Kind gefühlt und dachte, wir wären alle gleich, meine Cousinen und ich. Erst als ich an einem heißen Sommertag einmal mit den beiden gemeinsam duschte, fiel mir auf, dass sie nicht so aussahen wie ich.

»Irgendwas ist hier komisch«, dachte ich. »Ich bin ganz anders als die beiden.«

»Wieso habe ich keine chicão wie sie?«, fragte ich meine Mutter später. In meiner Familie galt es als ordinär, Vagina oder Penis zu sagen. Auch das Wort Kot durfte nie ausgesprochen werden, wir sagten dazu coco. Es gab für alles Fantasienamen. Die Vagina hieß chicão, was eigentlich von chico, Affe, abgeleitet ist. Warum sie so genannt wurde, weiß ich nicht – vielleicht weil Affen Bananen mögen? Den Penis nannten wir badinho, ein reines Fantasiewort.

»Weil du wie Papa bist und deine Cousinen wie ich«, antwortete mir meine Mutter.

»Die spinnt!«, dachte ich. Ich fühlte mich den Mädchen viel ähnlicher als den Jungen.

*****

In meinem Elternhaus war alles riesig. Wir lebten in einem schlossähnlichen, typisch portugiesischen Haus mit massivem dunklem Parkett und Bordüren an den hellblauen Wänden. Brasilien war 1500 von dem Seefahrer Pedro Álvares Cabral entdeckt und später von den Portugiesen kolonialisiert worden. Bei uns zu Hause standen noch Möbel aus Brasilholz und Mahagoni aus der Kolonialzeit herum. Eigentlich war es ein lichtdurchflutetes Haus, aber in meiner Erinnerung liegt über allem ein dunkler Schleier. Obwohl ich im Überfluss aufwuchs, habe ich sehr gelitten in diesem Haus, denn ich habe mich von meinen Eltern nie wirklich geliebt gefühlt.

Meine Familie besaß Haciendas mit Kaffee- und Kakaoplantagen und einen riesigen Garten am Haus, in dem Bananen, Mangos, Guaven und Avodacos üppig wuchsen. Hier lebten Schildkröten, Kakadus und Affen, in einem kleinen Zoo hielten wir Papageien, vor allem Aras, deren Flügel gestutzt waren, damit sie nicht wegfliegen konnten. Wir Kinder brachten ihnen heimlich Schimpfworte bei und verstellten dabei unsere Stimmen, damit die Erwachsenen nicht heraushören konnten, wer von uns ihnen diese Kraftausdrücke vorgesprochen hatte – denn das gab Ärger.

In einem eigenen Gehege lebte auch eine alte Würgeschlange. Wenn die Boa constrictor im August paarungsbereit war, sammelten die Angestellten ihre Fäkalien ein und verkauften sie als Aphrodisiakum für Hexenrituale.

Meine Lieblingsplätze waren der Garten und die Küche. In der Küche kamen die Angestellten zusammen, dort herrschte eine fröhliche, herzliche Atmosphäre. Alle waren freundlich zu mir, sie lachten, scherzten und verwöhnten mich mit süßen Stückchen von der Guave, Goiaba, oder dem Cupuaçu, einem indianischen Baum, der dem Kakaobaum ähnelt. Da ich beim Erzählen gern die Lippen spitzte und einen Kussmund machte, nannten sie mich »bico doce«, Süßschnabel. »Du bist so süß, bico doce«, sagten sie oft und kniffen mir dabei liebevoll mit Daumen und Zeigefinger in die Wange. Bico ist ein kleiner, gelber Vogel im Dschungel. Im Portugiesischen ist er ein Neutrum, es heißt also das Bico. Der kleine Vogel hat eine Besonderheit: Kurz bevor der männliche Jungvogel geschlechtsreif wird, verhält er sich wie ein Weibchen. Dann stellt er die Federn seines Schwanzes auf, tänzelt und bezirzt die Männchen so lange, bis sie ihn vögeln. Nach dieser Phase entwickelt er sich weiter zu einem erwachsenen Männchen.

Auch ich entwickelte mich nicht wie ein typischer Junge. Ich liebte es zum Beispiel, mit Puppen zu spielen. Hinter einer Lagune, in einem abgelegenen Teil in unserem Garten, stand ein begehbares Spielhaus, das um einen Sternfruchtbaum herum gebaut worden war. Als Kinder kletterten wir oft hinein und machten es uns auf den vielen bunten Kissen darin bequem. Dort spielte ich auch gern allein und bastelte mir kleine Puppen, deren Körper ich mit Stoffresten füllte. Den Kopf und die Gliedmaßen band ich mit Schnur ab. Wenn ich Glück hatte, vergaß auch mal eine Cousine eine ihrer Puppen bei uns. Dann schaffte ich sie heimlich beiseite und versteckte sie.

Mein Liebling aber war Girafuda, meine Giraffe. Sie war aus gelbem Plastik mit braunen Punkten und schon ziemlich abgenutzt. Girafuda hatte riesige, hellblaue Augen mit langen, gebogenen Wimpern. Ich zog ihr die schönsten Kleider an und schminkte ihr mit den zerstoßenen Samen der Urukum-Palme knallrote Lippen und Bäckchen.

Ich liebte es auch, mich selbst zu verkleiden. Oft wickelte ich mir ein Leintuch um den Körper und legte mir ein Handtuch über den Kopf, das ich mit einem Stirnband befestigte. So wurde ich zu Kleopatra, der letzten Königin des pharaonischen Ägypten. Obwohl ich noch sehr klein war, hatte ich schon damals großen Spaß daran, die Bestimmende zu sein und den anderen Kindern Befehle zu erteilen. In dem berühmten Film mit Elizabeth Taylor hatte ich gesehen, dass sich Kleopatra gern im Liegen Trauben reichen ließ. Also legte ich mich im Spielhaus auf die Kissen und befahl den anderen, mir Früchte und Geschenke zu bringen. Die Jungen schickte ich zum Angeln, sie mussten für mich Fische fangen.

Großartig fand ich es auch, die Kleider meiner Mutter anzuziehen und in ihren hochhackigen Schuhen herumzustolzieren. Dazu bastelte ich mir aus Klebeband zentimeterlange künstliche Fingernägel, die ich mit ihrem Nagellack anmalte. Wenn mich meine Tante so sah, sagte sie immer dasselbe: »Der wird schwul!«

Meine Mutter antwortete nicht darauf.

*****

Ich benahm mich schon sehr früh wie ein Mädchen, verkleidete mich und spielte die gleichen Spiele wie meine Cousinen. Auch äußerlich sah ich nicht aus wie ein Junge, ich wirkte schon immer sehr weiblich: Ich war ein zartes, niedliches Kind mit langen, dunklen Locken, Pausbäckchen und einem hervorstehenden Po. In der Familie meines Vaters hatten alle ein Hohlkreuz, meines war noch deutlich ausgeprägter als das meiner Verwandten. Die anderen Kinder neckten mich oft damit, sie nannten mich »Entenpopo« oder riefen mir »Biene« und »Ameisenhintern!« nach.

Männer, die mich ansahen, assoziierten mit meinem markanten Po wohl eher »paarungsbereit wie ein Pavian«. Noch bevor ich überhaupt wusste, was Sex ist, hatte ich offenbar auf andere schon eine erotische Wirkung. Wenn Besuch zu uns kam, nahmen mich auch Männer gern auf ihren Schoß, und ich erinnere mich, dass ich da schon manchmal etwas Hartes spürte. Was das bedeutete, verstand ich damals nicht.

Ein runder, wohlgeformter Hintern, wie ich ihn schon als Kind hatte, ist in Brasilien der Inbegriff von Erotik und Sex. Ein richtiger Hintern ist Kult, er ist noch wichtiger als der Busen. Er ist das Kapital einer Frau. In Südamerika sind alle darauf fixiert. Jede bekannte Sängerin zeigt ihren Hintern. Statt Selfies, also Selbstporträts von vorn, verschickt man in meiner Heimat schon seit Jahren Belfies, also Fotos von hinten. Frauen ohne richtiges Hinterteil haben es daher schwer in Südamerika. Deshalb lassen sich manche am Bauch Fett absaugen und dies dann in den Po spritzen, um ihn aufzupolstern.

Da mein Po so hervorstand, brachte mich meine Mutter eines Tages zu einem Orthopäden.

»Ihr Sohn hat einen Haltungsschaden«, diagnostizierte der Arzt.

»Entweder muss er ein Korsett tragen oder Ballettunterricht nehmen.« Meine Mutter ließ sich dazu überreden, dass ich nach der Schule zum Tanzunterricht durfte. Unser Chauffeur brachte mich hin und fuhr mich in unserem Dodge DeLuxe, einem tiefschwarzen Wagen mit verchromten Felgen und hellbraunen Ledersitzen, auch wieder nach Hause. Es gab nur wenige schwarze Autos wie unseres in Manaus. Diese Limousinen bedeuteten Macht und Wohlstand und wurden alle von einem Chauffeur gefahren.

Zuerst war ich glücklich über den Ballettunterricht, aber meine Begeisterung ließ schnell nach. Denn vom ersten Tag an war ich ein Sonderling. Die Ballerinas wunderten sich über den kleinen Jungen, der da plötzlich auftauchte und noch überhaupt nichts konnte. Und ich hatte nur den einen Wunsch, dass ich wie sie ein Tutu anziehen durfte. Doch das kam nicht infrage. »Tutus sind nur was für Mädchen, Jungen tragen so etwas nicht«, lautete die Begründung. Ich verstand das nicht, für mich war das kein ausreichender Grund. Ich wollte auch so ein Tüllröckchen, aber stattdessen musste ich komische Shorts tragen wie unser homosexueller Lehrer mit seinem dicken Bauch. So verlor ich schnell wieder den Spaß am Ballett, obwohl ich eigentlich sehr gern tanzte.

*****

Ich habe mich im Grunde nie bewusst dafür entschieden, ein Mädchen sein zu wollen. Ich habe nie beschlossen, kein Junge mehr zu sein. Ich liebte einfach Puppen, Lippenstifte und Ohrringe und gefiel mir von klein auf besser in Mädchenkleidung. Aber ich habe auch einen Penis. Das ist meine Normalität. Ich habe das immer als natürlich empfunden. So bin ich. Beides, das Männliche und das Weibliche, gehören für mich ganz selbstverständlich zu mir. Ich akzeptierte und liebte mich schon immer, wie ich bin. Ich hatte nie ein Problem mit meinem Körper – meine Familie und meine Umwelt dagegen umso mehr. Je älter ich wurde, umso mehr nahm ich mir die Freiheit heraus, nach außen weiblich in Erscheinung zu treten, weil ich mir so besser gefiel.

Ich bin weder Männlein noch Weiblein. Ich bin Julia. Und Julia ist eben beides.

Königin des Bumbum

Wenn ich mich glücklich in den Kleidern meiner Mutter zeigte, sagte mein Vater manchmal lachend: »Schaut her, das ist mein Erbe! Der ganze Stolz der Familie!«

Meine Mutter konnte darüber überhaupt nicht lachen, denn sie fand dieses Kind, das sich nicht so benahm, wie sie es für einen Jungen richtig fand, abstoßend. Wenn ich mit ihr spazieren ging, blieben die Leute manchmal stehen, um ihr ein Kompliment zu machen.

»So ein süßes Mädchen!«, sagten sie freundlich.

»Sohn!«, fauchte meine Mutter dann zurück und ging schlecht gelaunt weiter. Solche Situationen waren für sie ein Albtraum. Was eigentlich nett gemeint war, bestärkte sie nur in ihrer Überzeugung, dass sie kein normales Kind hatte. Sie hasste es, wenn sie von Fremden auf ihr niedliches Mädchen angesprochen wurde. Irgendwann beschloss sie daher, nicht mehr mit mir spazieren zu gehen und mich auch nicht mehr zur Schule zu bringen, um so etwas nicht mehr erleben zu müssen. Stattdessen schickte sie unseren Chauffeur.

Auch mein Lachen ertrug meine Mutter nicht. Ich war ein fröhliches Kind, das viel und gern lachte. Ich konnte mich ausschütten vor Lachen, und das ist bis heute so. Für meine Mutter war das ein Gräuel. Sie fühlte sich provoziert, wenn ich aus vollem Herzen lachte, und fand meinen Mund ekelhaft und viel zu groß.

»Dein Mund ist so hässlich wie die Muschi von einer Kuh«, sagte sie und schlug mir mit dem Handrücken ins Gesicht. Einmal nahm sie sogar einen Holzschuh und schlug mir damit so brutal auf den Mund, dass meine Lippe aufplatzte. Die Narbe ist noch heute zu sehen.

Schließlich befahl sie mir, die Hand vor den Mund zu halten, wenn ich lachte. Und so gewöhnte ich mir an, mein Lachen zu verstecken, um nicht jedes Mal geschlagen zu werden. Ich presste die Lippen aufeinander und zeigte meine Zähne nicht mehr. Erst viele Jahre später nahm ich die Hand wieder weg – für einen Mann, der mich gern mochte.

»Warum hältst du die Hand immer vor den Mund?«, fragte er mich.

»Hast du schlechte Zähne?«