Julia Timoschenko - Dmitri Popov - E-Book
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Julia Timoschenko E-Book

Dmitri Popov

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Beschreibung

Bundeskanzlerin Merkel kritisiert die rechtsstaatliche Lage in der Ukraine. Bundespräsident Gauck sagt seine diplomatische Reise ab. Außenminister Westerwelle bietet medizinische Hilfe an: Es ist eine zarte, abgemagerte Frau, um die sich ganz Europa sorgt. Julia Timoschenko verkörpert den unerschütterlichen Willen, gegen die postsozialistische Staatsmacht anzukämpfen. Wer ist diese Frau, die als Ministerpräsidentin die Geschicke der Ukraine gelenkt hat und nun als politische Gefangene weggesperrt wird? Diese autorisierte Biografie zeigt das Leben und den Weg von Timoschenko als Galionsfigur der Orangenen Revolution, als Regierungschefin der Ukraine, ihr Sturz und ihre Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe. Zugleich ist ihre Geschichte aber auch die ihres Heimatlandes, die auf dem Weg zur eigenen Identität und Souveränität nur mühsam vorankommt. Willensstark, unbeugsam, stolz, das ist 'die eiserne Julia'. Selbst das jüngste Kapitel, der Hungerstreik hinter Gittern, legt Zeugnis ab von einer charismatischen Frau, deren Charakter Hoffnungsträger einer ganzen Region ist. Die Autoren Dmitri Popov und Ilia Milstein haben ihre Geschichte in vielen persönlichen Gesprächen mit Julia Timoschenko aufgezeichnet. Ihr Buch ist ein ergreifendes Dokument von Timoschenkos Unschuld und ein Ruf nach mehr Freiheit für die Ukraine.

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Seitenzahl: 387

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Dmitri Popov | Ilia Milstein

Julia Timoschenko

Die autorisierte Biografie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.  

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

[email protected]

1. Auflage 2012

© 2012 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096  

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.  

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Umschlagabbildung: Getty Images

Satz und Epub: Grafikstudio Foerster, Belgern  

ISBN Epub 978-3-86414-306-9  

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.redline-verlag.de

Anmerkung des Verlages

Diese Biografie wurde von Julia Timoschenko größtenteils autorisiert.

Die Autorisierung umfasst Kapitel 2 bis einschließlich Kapitel 19. Um den aktuellen Ereignissen gerecht zu werden, haben die Autoren die restlichen Kapitel neu verfasst. Julia Timoschenko konnte diese Kapitel aus gegebenem Anlass nicht autorisieren.

Ihr Redline-Team

Inhalt

Brief an die Mutter

1. Die drei Arreste der Julia Timoschenko

2. Die Heimatstadt

3. Eine Jugend Grau in Grau

4. Das Geheimnis der ersten Million

5. Die Freiheit

6. Ein Minirock für den Dinosaurier

7. Unangreifbar werden

8. Die Gasprinzessin

9. Unter Kutschma drehen sich die Räder!

10. Wer mich mag: Mir nach!

11. Juschtschenko

12. Zwei in einem Boot – Kutschma nicht gerechnet

13. Der Fall Gongadse

14. Eine Generalin ohne Truppen

15. Schönheit rettet die Welt

16. Für alle reicht ihr Gift nicht!

17. Der Flug über den Maidan in Orange

18. Julia Timoschenkos Utopie

19. Ich wurde im Steigflug gestoppt!

20. Janukowitschs Rückkehr

21. »Die gehört hinter Gitter!«

22. Gefängnis und Freiheit

Jewgenia Timoschenko

Brief an die Mutter

Heute sollte ich vor Gericht als deine Verteidigerin auftreten. Aber ich habe beschlossen, es nicht zu tun. Ich werde dem Gericht nichts sagen, weil ich weiß, wie sinnlos das ist. Heute, meine liebe Mutter, spreche ich nur zu dir …

Es hat sich so ergeben, dass ich heute deine Verteidigerin bin. Dabei weiß ich, dass du gar keiner Verteidigung bedarfst.

Früher, als ich ein Kind war, und auch später, bist du immer meine Verteidigerin gewesen. Und heute bin ich es für dich. Einerseits bin ich stolz darauf. Aber andererseits ist es für mich ungewohnt und schmerzlich.

Ich weiß, dass du ein starker Mensch bist, sehr stark. Viel stärker wahrscheinlich als ich, Vater und Großmutter zusammengenommen. Aber für mich bist du in erster Linie nicht die Oppositionsführerin und eine große Politikerin (verzeih, wenn ich so spreche). Für mich bist du meine kleine, geliebte Mama. Und ich weiß wahrscheinlich besser als jeder andere, was diese Kraft, diese Ungebrochenheit, dieser Stolz dich kosten. Ich bin stolz auf dich, Mutter. Und wenn wir abends nach diesem Albtraum nach Hause kommen, dann weinen wir nicht, Mutter, ganz ehrlich. Wir bleiben standhaft und sind stolz auf dich.

Vor allem jedoch weiß ich, dass du keine Schuld trägst. Und das nicht etwa, weil dasselbe wahrscheinlich alle Kinder der Welt über ihre Mutter sagen würden. Nein, all die Journalisten, die im Gericht sind, die Diplomaten und alle Menschen, die schon seit zwei Monaten in Zelten auf dem Kreschtschatik übernachten, sowie Millionen anderer Menschen in der Ukraine, die dieser Farce zuschauen, die sich als Gericht bezeichnet, wissen das auch.

Ich verstehe nichts von Gasverträgen, ich kenne das Strafgesetzbuch nicht, aber dafür erinnere ich mich daran, wie du mich gelehrt hast, dieses Land zu lieben. Ich weiß, dass du es liebst. Ich weiß, dass du der Ukraine niemals und unter keinen Umständen etwas Böses zufügen würdest. Für mich ist das viel wichtiger als hunderttausend Gesetzesbücher, Argumente und Strafverfahren.

Ich erinnere mich daran, wie du dich während der Orangenen Revolution gefreut hast, dass viele, viele Menschen zum ersten Mal in ihrem Leben Ukrainisch sprachen, dass eine Million erstmalig zusammen die ukrainische Hymne sang. Dir gilt der Dank für diesen Teil unserer Geschichte. Ich bin keine Politikerin und habe deswegen das Recht, so zu sprechen und es so zu sehen.

Manchmal fragen mich Journalisten: Könnten Sie so sein wie Ihre Mutter Julia Timoschenko? Wahrscheinlich nicht, das könnte ich nicht. Julia Timoschenko ist einmalig, und selbst zu Hause sprechen wir in deiner Abwesenheit nicht von »Mutter«, sondern von »Julia«, so wie Millionen von Menschen in der Ukraine und in aller Welt. Meine Mutter ist zu einem Symbol des Kampfes geworden. Das hätte ich nicht gewollt, aber so ist es gekommen, und ich bin stolz darauf. Und auf dich.

Wenn ich zu dir und Vater nach Hause komme, laufen mir alle deine Hunde entgegen, als wollten sie fragen: Wo ist sie? Und ich belüge sie und sage, sie kommt morgen.

Bald wird sich das Gericht zur Beratung zurückziehen und sein Urteil fällen. Sieben Jahre sollen es sein, oder 70, oder 700. Ihnen ist das egal.

Ich werde das Gericht nicht um Gnade bitten, weil ich weiß, dass du von denen keine Gnade brauchst. Ich werde nicht um Nachsicht bitten, weil ich weiß, dass du keine Nachsicht brauchst. Du bist im Recht. Ich werde nicht an ihr Gewissen und ihre Ehre appellieren, weil einigen im Saal diese Begriffe völlig fremd sind.

Ich möchte nur, dass du eines weißt, Mutter: Was auch in diesem Saal geschehen wird, was auch geschieht in dieser Welt – die Wahrheit siegt trotzdem. Die Wahrheit und das Gute werden siegen, anders kann es nicht sein. Ich weiß, dass alles gut und gerecht zugehen muss, ich glaube daran.

Wir stehen zu dir. Wir alle. Ich liebe dich! Bleib standhaft, meine liebe Mutter!*

* Quelle: http//www.tymoshenko.ua/uk/article/oe3uva7z

Erstes Kapitel

Die drei Arreste der Julia Timoschenko

Die Tür der Zelle Nr. 242 des Lukjaniwska-Gefängnisses schwingt auf, und sie geht hinein. Es ist dieselbe Zelle, in der sie vor zehneinhalb Jahren 42 Tage verbringen musste. Heute ist der Raum kaum wiederzuerkennen. Wo früher ein mit Metallplatten vernageltes Fenster war, ist inzwischen eine undurchsichtige Bauglasscheibe eingelassen. Den klassischen Kübel aus Sowjetzeiten ersetzt eine Sanitärzelle hinter einer kleinen Trennwand. Zwei Betten, ein Tisch, ein Kühlschrank, ein Wasserkocher. Gut zehn Jahre zuvor hatte sie, entsetzt über den Gestank und Dreck, ihren Rechtsanwalt gebeten, ihr eine Fußmatte und Gummihandschuhe mitzubringen. Nun blitzt alles in kasernenhafter Sauberkeit.

Die kleine Frau auf Stöckelschuhen und in einer durchgeschwitzten Bluse, die am Morgen noch blendend weiß gewesen ist, lässt sich auf dem Bett nieder. In der Zweierzelle ist sie zunächst allein. Ihren berühmten Zopf musste sie öffnen – Haarnadeln sind im Untersuchungsgefängnis nicht erlaubt. Ihre gepackte Tasche, die sie vorausschauend zu jeder Gerichtsverhandlung mitgenommen hatte, musste sie ihrem Anwalt überlassen. Er wird sie ihr am Abend oder spätestens am nächsten Tag bringen.

Zehneinhalb Jahre zuvor war Julia Timoschenko ebenfalls auf eine Haft gefasst gewesen. Und in der Tasche, die sie nicht aus der Hand gegeben hatte, befand sich ungefähr das Gleiche wie jetzt. Seife, ein Handtuch, Wäsche, ein Trainingsanzug, Turnschuhe, Socken, Hygieneartikel, Tütensuppen, Plastikgeschirr, Zahnpasta, Hautcreme. Hinzugekommen sind allenfalls Medikamente. Außerdem wurde sie 2001 im Monat Februar inhaftiert, da brauchte sie warme Sachen, und nun, im heißen August des Jahres 2011, benötigt sie eher leichte Kleidung.

Warum dieselbe Zelle? Ist das der schwarze Humor der Gefängniswärter? Oder der Sonderstatus eines VIP-Kerkers, den sie ihrer ersten Haftzeit verdankt? Am wahrscheinlichsten ist es eine Geste von Präsident Janukowitsch gegenüber dem Westen: Schaut mal, wie viel humaner als Kutschma ich bin, wie viel näher ich Europa stehe. Dieselbe Zelle, aber nicht wiederzuerkennen.

Gut zehn Jahre zuvor hatten die Gefängniswärter an Timoschenko einen alten Trick aus dem Arsenal des sowjetischen KGB angewandt: Die Tür wurde zugeknallt, und in der Zelle ging das Licht aus. »Man möchte sofort mit den Fäusten gegen die Tür hämmern und schreien, sie sollen das Licht wieder anmachen«, bekannte sie nach ihrer Freilassung. Die Dunkelheit bricht den Willen eines Neulings, bereits beim ersten Verhör wird der Häftling nervös und sagt bereitwillig alles Mögliche über sich und andere aus. Damals hatte sie jedoch nicht den Kopf verloren. Schweigend hatte sie ihre Tasche auf den Fußboden gestellt und sich daraufgesetzt. Später war das Licht wieder angeschaltet worden. Es ist ihre dritte Haftstrafe, und jedes Mal war es ein Schock für sie. Noch eine Minute zuvor war sie frei, reich, glücklich – und schon fällt hinter ihr krachend die Tür ins Schloss, und sie ist keine Gasprinzessin mehr, keine Abgeordnete, keine Ministerpräsidentin, sondern eine einfache Insassin eines postsowjetischen Gefängnisses. Opfer des Regimes, der Umstände, des eigenen maßlosen Ehrgeizes, einer hemmungslosen Herrschsucht, einer verzweifelten Kühnheit, einer pathologischen Gier – Zutreffendes bitte unterstreichen.

»Sofort überrollt einen das Grauen. Sobald sie einem den Haftbeschluss verlesen, man in ein Auto steigen muss, von großen Männern der OMON-Sondereinheit umgeben ist, die einen eisig anschauen … Wenn sie die Fingerabdrücke nehmen wollen und einem die Finger mit Farbe beschmieren …« – auch diese Zeilen stammen aus den Erinnerungen von vor zehn Jahren.

Diesmal braucht es gleich mehrere Hundert »großer Männer der OMON-Sondereinheit«, um sie abzuführen. Als nach der einstündigen Sitzung Richter Kirejew seinen Beschluss verliest: »In Hinsicht auf die Systemverstöße, die Behinderungen bei der Wahrheitsfindung und die Ordnungswidrigkeiten im Verhandlungsverlauf hat das Gericht beschlossen, die Unterbindungsmaßnahme des Gewahrsams anzuwenden«, springen ihre Anhänger, die unter den Prozessbeobachtern in der Mehrheit sind, von ihren Plätzen auf und skandierten: »Schande!«, woraufhin der Saal von ungefähr 30 Milizionären gestürmt wird. Timoschenko bittet darum, man möge ihr keine Handschellen anlegen, und wendet sich an die Menschen im Saal: »Alles Gute, meine Lieben!« Sie verlässt in Begleitung einer Wachmannschaft den Saal, in dem eine regelrechte Prügelei losbricht. Abgeordnete versuchen, in das Zimmer der Wachmannschaft einzudringen, zu dem Angehörige der Sondereinheit »Berkut« den Zugang versperren. Sie stürmen auch auf die Straße, zu dem Gefangenentransporter, der Timoschenko ins Untersuchungsgefängnis bringen soll – aber auch die Treppe ist gesperrt. Julia Timoschenko wird auf den Hof geführt. Zuvor hat »Berkut«, indem sie den Protestierenden vor dem Gerichtsgebäude den Weg versperrten, das Tor geschlossen, durch das man auf Kiews zentralen Boulevard Kreschtschatik gelangen kann. Als Timoschenko den Gefangenentransporter besteigt, umringen etwa 300 Milizionäre das Fahrzeug. Der Gefangenentransporter setzt sich in Bewegung, fährt aus dem Torbogen und zwängt sich durch die Menge. Zu diesem Zeitpunkt haben Timoschenkos Anhänger bereits die Metallumzäunungen des Petschersker Bezirksgerichts demontiert und auf die Fahrbahn geworfen, um die Durchfahrt zu behindern. Als sich das Fahrzeug mit einem dreifachen Ring von »Berkut«-Einheiten langsam über den Kreschtschatik bewegt, kommt es zu einer regelrechten Schlägerei. Die Tollkühnsten von ihnen versuchen sogar, sich vor die Räder des Fahrzeugs zu legen, werden aber von Milizionären weggezerrt. Durch das vergitterte Fenster kann Julia Timoschenko einen Abschiedsblick auf den Maidan werfen, bevor der Gefangenentransporter das Stadtzentrum verlässt.

Die drei Arreste sind wie drei Abschnitte ihres Lebens. Einzigartig ist die Art dieser Arreste. Stets ist sie aufgrund strafrechtlicher Tatvorwürfe inhaftiert worden. Und jedes Mal war ihr politisches Wirken der eigentliche Grund.

Im März 1995 war ihr nicht viel Zeit geblieben, um einen Schreck zu bekommen. Die Ereignisse hatten sich überschlagen. Beim Einsteigen in das Flugzeug von Saporischja nach Moskau fanden Zollbeamte bei ihr unangemeldete Valuta in einer Menge, die für eine große Bestechung gereicht hätte, und noch mehr ukrainisches Geld. Es wurde ein Protokoll aufgesetzt. Einige Tage später verhaftete man Julia Timoschenko. Dennoch hegte die Themis von Saporischja gegen sie keine sonderlichen Ambitionen. Die Fragen kamen von der Kiewer Obrigkeit – und richteten sich an ihren damaligen Protektor Pawlo Lasarenko, den »Paten« von Dnipropetrowsk. Lasarenko hatte den Präsidentenposten im Auge, was bei Präsident Leonid Kutschma verständlicherweise Widerstand auslöste. Die junge Dame wurde, nachdem sie ihr Gepäck aufgegeben hatte, das Opfer knallharter Männerspiele. Ihr Protektor holte sie allerdings einigermaßen schnell wieder aus dem Untersuchungsgefängnis heraus.

Die Strafsache, die zu ihrer Verhaftung im Februar 2001 führte, war um einiges ernster. Was waren da schon die 26 000 Dollar, die der Zoll von Saporischja bei ihr gefunden hatte! Diesmal wurde sie zweier Vergehen beschuldigt: Schmuggel und Steuerhinterziehung. In Sachen Schmuggel zählte die Generalstaatsanwaltschaft mehr als eine Milliarde Dollar zusammen – eine astronomische Summe für die Mitte der Neunzigerjahre bettelarme Ukraine. Lasarenko hatte mit dieser Sache nichts mehr zu tun. Die Gasprinzessin persönlich, und nicht der nach Amerika entschwundene »Pate«, war nun die intime Todfeindin des Präsidenten. Entlassen vom Posten des Vizepremiers, trat sie feurig für »Eine Ukraine ohne Kutschma« ein. Sie schuf ein Forum zur nationalen Rettung – den Vorreiter für die orangene Unabhängigkeitsbewegung. Sie brach einen Streit vom Zaun im Zusammenhang mit der Ermordung des Journalisten Gongadse. Man begann, sie auch international wahrzunehmen. Man erzählte sich, Kutschma habe sich 48 Stunden vor ihrer Verhaftung – gewissermaßen als lebendes Pfand – endgültig dazu entschlossen, Timoschenko festzusetzen, als er in Dnipropetrowsk auf Putin getroffen sei. Aber sie hatte keine Angst mehr vor dem Gefängnis, sie wusste genau, dass aus dem Untersuchungsgefängnis der Weg an die Macht für sie am kürzesten sein würde. Sie war davon überzeugt, dass sie ein noch stärkerer Protektor als Lasarenko herausholen würde – das ukrainische Volk selbst. Und sie hatte sich nicht geirrt.

Im Prozess von 2011 ist indessen von 100 Milliarden Griwna die Rede, und Timoschenko wird des Landesverrats beschuldigt. »Verräterisch« sei der Vertrag über die Lieferung russischen Gases in die Ukraine, den sie als Ministerpräsidentin unterzeichnet hat. Für russisches Gas werden von der Ukraine nun überhöhte Zahlungen erwartet, höhere Summen, als selbst deutsche Verbraucher an Gazprom überweisen. Präsident Janukowitsch, der das Gefängnis nicht nur vom Hörensagen kennt, ging um einiges entschlossener vor als Kutschma. Er träumte tatsächlich davon, Timoschenko hinter Gitter zu bringen, und zwar für lange, so wie Putin Chodorkowski hinter Gitter gebracht hatte. Im Unterschied zu Kutschma, der 2001 nicht die Gefahr erkannt hatte, die von Timoschenko für ihn ausging, war sich Janukowitsch beim Erlass des Befehls über eine gerichtliche Untersuchung sicher, es mit seiner allergrößten Feindin zu tun zu ­haben.

Apropos, sie werden mittlerweile recht oft miteinander verglichen – Julia Timoschenko und Michail Chodorkowski – und das nicht ganz grundlos. Es gibt einige Gemeinsamkeiten in den Werdegängen des russischen Ölmilliardärs und der Gasprinzessin. Die Einleitung eines Gerichtsverfahrens, die durch eine persönliche Abrechnung motiviert ist. Richterliche Willkür als Verhaltensprinzip der Machthaber gegenüber der Opposition. Die Serie als Genre in diesem überlangen Kinofilm. Sogar die Zahl der Folgen ist gleich, bisher waren drei davon zu sehen, und das ist für ein Menschenleben sehr viel.

Beim ersten Mal wurde Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Im Verlauf des zweiten Prozesses stellte sich heraus, dass er »das ganze Öl gestohlen« hat, und es ist nicht auszuschließen, dass man künftig versuchen wird, ihm etwas noch Schlimmeres anzuhängen. Nicht umsonst hat Putin von »nachgewiesenen Morden« und »blutigen Händen« gesprochen.

Auch über Julia Timoschenko soll mehrfach zu Gericht gesessen werden: Diesmal wird sie der Steuervergehen, der Veruntreuung von Staatsgeldern und des Amtsmissbrauchs bezichtigt. Überdies sprechen die Staatsanwälte mittlerweile von ihrer Beteiligung am Mord eines Abgeordneten im Jahr 1996.

Es gibt auch Unterschiede. Denn Präsident Putin war, indem er über das Schicksal von Chodorkowskis Konzern YUKOS, seine Eigentümer und Topmanager bestimmte, vor allem die Aneignung der erfolgreichen Firma wichtig gewesen. Politiker im direkten Sinn ist Chodorkowski nicht gewesen oder noch nicht geworden. Julia Timoschenko hingegen hat zweimal die Regierung geleitet, bei den letzten Wahlen um das Präsidentenamt gekämpft und erst im zweiten Durchgang gegen Janukowitsch verloren. Und sie ist bis heute eine der beliebtesten Politikerinnen in der Ukraine.

Der Hauptunterschied zwischen beiden gehört jedoch in die Bereiche Psychologie und Verhaltensstrategie. Chodorkowski ist ein zurückhaltender, pragmatischer und verschlossener Mensch. Wir können lediglich Vermutungen darüber anstellen, welche Gefühle ihn beherrschten, als er bei Gericht seine Unschuld beteuerte. Und auch darüber, wie sein persönliches, zutiefst duldsames Verhältnis zu Putin aussieht. Lady Ju hingegen verbirgt ihre Empfindungen nicht, und auch nicht den Hass und die Verzweiflung bei dem Gedanken, dass sie gegen den ihrer Meinung nach erbärmlichsten aller Lenker der Ukraine verloren hat – gegen Viktor Janukowitsch.

Einige, die Chodorkowski aufrichtig eine baldige Freilassung gewünscht haben, fragten sich an den Tagen seines letzten Prozesses befremdet, warum er selbst nach so vielen Jahren Strafkolonie weiterhin die ihm aufgezwungenen Spielregeln einhält und dem System treu bleibt, das er selbst als kriminell eingestuft hat. Warum er nicht seine gläserne Angeklagtenzelle als Tribüne benutzt, um, den Rahmen seines Falls verlassend, Putins Regime, dessen Teil er selbst einmal gewesen ist, einen Schlag zu versetzen. Warum er es vorzieht, zu ironisieren, wenn man zetern und zanken muss. Manchmal wird er sogar mit den Angeklagten der Schauprozesse der Dreißigerjahre verglichen, die Stalins System bis zu ihrer Erschießung treu geblieben waren.

In diesem Sinne ist Julia Timoschenkos Prozess ein Fall für die Lehrbücher; wenn nicht für die der Jurisprudenz, so doch auf jeden Fall für die der Politologie. Sie hat ihre Verhandlung in eine Bühne verwandelt. Sechs Wochen vor ihrer Haft hat sie gespottet, gebrandmarkt, gelacht, schonungslos um sich geschlagen, andere mit ihren hohen Absätzen durchbohrt und mit voller Wucht zugeschlagen. Alle bekamen etwas ab – der Richter, die Staatsanwälte und das ukrainische Rechtssystem im Allgemeinen, aber ihr Hauptgegner war selbstverständlich Präsident Janukowitsch. Timoschenko brachte es nicht nur fertig, an allen von ihr eröffneten Fronten zu kämpfen, sondern auch jede Wendung des Prozesses auf Twitter zu kommentieren, wobei ihr kein Schmähwort zu peinlich war. Der Häufigkeit der Blogeinträge nach zu urteilen, wuchs das Publikum ihrer mehrteiligen Gerichtsshow beständig an.

Am 5. August – dem Tag ihrer Verhaftung – ist sie in Höchstform. Das Opfer der höhnischen und schonungslosen Angeklagten ist nun der vor Gericht geladene Ministerpräsident Nikolaj Asarow, der Timoschenkos Arbeitszimmer unmittelbar nach Janukowitschs Sieg bezogen hat.

»Die von Timoschenko unterzeichneten Verträge über die Lieferung von russischem Gas führen das Land in den Bankrott«, beginnt er. »Die Vereinbarungen waren ein Verrat am Land und seinen Bürgern. Ich vermute, Timoschenkos Ziel war ein Wahlsieg.«

Nachdem Timoschenko die Beschuldigung schweigend und mit einem Lächeln angehört hat, wendet sie sich an das Gericht: »Ich habe nichts von dem verstanden, was Asarow gesagt hat. Ich verstehe den ukrainischen Premierminister nicht, er spricht Russisch. Und ich verstehe keine andere Sprache außer der ukrainischen.«

Das ist ein Schlag ins Gesicht. Asarows dürftige Kenntnisse der ukrainischen Sprache sind schon lange Thema unzähliger Witze im ganzen Land. Ihre Offensive ausweitend, fordert Timoschenko, man möge einen Dolmetscher zum Prozess hinzuziehen. Der Staatsanwalt protestiert, und der durch den endlosen Spott ermüdete Richter Kirejew fängt an herumzukreischen. Erneut fordert er sie auf, das Gericht nicht zu beleidigen, und erneut bekommt er nur einen abschätzig-beißenden Blick zur Antwort.

Timoschenko wendet sich dem Zeugen zu. Jetzt will sie etwas über Asarows Bildungshintergrund wissen. Der Premierminister läuft dunkelrot an: »Ich bin Geophysiker, habe promoviert, bin Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Aber ich bin seit 20 Jahren in der Wirtschaft. Und Sie haben unsere Wirtschaft dermaßen zusammenbrechen lassen, wie es noch in keinem Land der Welt geschehen ist! Für uns ist wichtig, dass die Ukraine Gas hat und keine Probleme. Um das zu erreichen, müssen wir vor allem Timoschenko vom Amt des Premiers fernhalten.«

Timoschenko hat erreicht, was sie wollte. Asarow ist persönlich geworden. Aber auf diesem Feld hat das Akademiemitglied nicht die geringste Chance: »Erzählen Sie uns lieber davon, wie Sie Ihrem Sohn jeden Tag Staatsgelder überweisen. In Sachen Bestechung haben Sie langjährige Erfahrungen! Nur durch ein Wunder mussten Sie sich nicht für Ihr Vorgehen im Jahr 2005 verantworten, weil Juscht­schenko Ihnen verziehen hat. Erzählen Sie doch mal, wie die Firma ›RosUkrEnergo‹ den Zutritt zum ukrainischen Gasmarkt bekommen hat. Und antworten Sie doch bitte auf Ukrainisch.«

Als sich das Gericht zur Beratung zurückzieht, taucht auf Timoschenkos Seite bei Twitter folgender Kommentar auf: »Danach zu urteilen, was Asarow von sich gibt, braucht er keine Vernehmung, sondern ein MRT, dann eine Massage, Lindenblütentee und absolute Ruhe J. Bereits in der Wortverbindung ›Asarow wird vernommen‹ liegt etwas Positives und Ermutigendes. Es wird nicht das letzte Mal sein, denke ich JJJ. Ein bisschen Vernehmung noch, und Kirejew wird Asarow um Vergebung und seinen Segen bitten … Gut, dass Kirejew die ›Kutte‹ trägt und nicht Asarow.«

Kaum ist der Gefangenentransporter hinter den Toren des Lukjaniwska-Gefängnisses verschwunden, taucht Julia Timoschenko persönlich im Äther auf. »Heute bin ich noch in Freiheit«, wendet sie sich in der Fernsehaufzeichnung, die vor ihrer Verhaftung gemacht wurde, an das Land und die Welt, »aber morgen werde ich bereits im Gefängnis sein. Ich weiß, worauf ich mich einlasse, und ich weiß ebenfalls, dass ich noch gestärkter zu Ihnen zurückkommen werde. Außer Janukowitschs bestechlichen Gerichten gibt es noch andere, höhere Gerichte. Es gibt den Europäischen Gerichtshof, vor dem meine politische Unschuld bewiesen werden wird. Und es gibt das Gottesgericht, vor dem einen keine Macht und kein Schmiergeld schützt.«

Das Gottesgericht? Der Europäische Gerichtshof? Das Volk?

Im Februar 2001, als sie zum ersten Mal ins Lukjaniwska-Gefängnis kam, symbolisierte Julia Timoschenko eine glückliche, unbekannte Ukraine – ohne Kutschma und seine »Dnipropetrowsker Mafia«, derer alle überdrüssig waren. Es sollte eine Ukraine der erneuerten Eliten sein, die eine europäische Zivilisation anstrebt. Jeanne d’Arc in ihrem Kerker verkörperte diesen Zorn und diesen Traum.

Leider sind von jener Ukraine nur Träume und Erinnerungen geblieben, die vorwiegend bitter sind. Die Revolution der Nomenklatura, die auf dem Platz der Unabhängigkeit, Maidan, begann, schlug in ein langjähriges Ränkespiel der »orangenen« Anführer um und mündete in den ruhmlosen Abgang Juschtschenkos und den Sieg Janu­kowitschs, der aus der politischen Sphäre fast alle entfernte, die ihm 2004 auf seinem Weg zur Macht behindert hatten. Damals, zu Zeiten Kutschmas, war Timoschenko fähig gewesen, Hunderttausende ihrer Anhänger auf den Unabhängigkeitsplatz zu holen. An diesem Tag sind es einige Hundert.

Der Westen? Von ihm mag noch etwas zu erhoffen sein, auch wenn natürlich nicht mehr so klar wie früher. Wie Millionen von Ukrainern ließen sich auch die europäischen Politiker von der orangenen Revolution verzaubern. Und waren genauso schnell enttäuscht, als die Revolution in einen erneuten Stillstand mündete. Janukowitschs dumpfe Brutalität gegenüber Timoschenko lähmte sie, doch während sie 2001 noch eine klare Alternative zur ukrainischen Regierung gesehen hatten, gibt es nun für sie keine mehr. Julia Timoschenkos Hoffnung ist wohl nicht der abstrakte Westen, sondern ihre politischen Gefährten – die Chefs der europäischen Volksparteien, zu denen auch ihre eigene Partei Batkiwschtschina gehört: ­Nicolas ­Sarkozy, dem François Hollande im Amt folgte, Donald Tusk, Angela Merkel. Die ganz besonders. Bei ihr kann man überdies auf weibliche Solidarität hoffen.

Ein weiterer Trumpf ist die bevorstehende Fußball-EM. Das gesamte Land hat sich auf die Anreise der Gäste vorbereitet, und für Janukowitsch ist es die Chance, der Welt eine neue Ukraine zu zeigen, die ihre Stadien nicht schlechter renoviert hat als die VIP-Zelle im Lukjaniwska-Gefängnis. Julia Timoschenko weiß, dass sie eine Chance hat, dem Präsidenten diesen Festtag, wenn auch nicht vollkommen zu verderben, so doch stark zu trüben.

Und dennoch, selbst wenn sie tatsächlich auf die Hilfe der Europäer hofft, weiß Timoschenko nur zu gut, dass sich ihr Schicksal hier, in der Ukraine entscheiden wird. Und auch etwas anderes dürfte ihr klar sein: Der Arrest ist ihre letzte Chance, das Vertrauen der Wähler wiederzugewinnen. Die Ukraine hat den endlosen, politisch völlig sinnlosen Reigen ihrer drei Spitzen Juschtschenko, Timoschenko und Janukowitsch satt. Angefangen mit dem Bruch der beiden Anführer des orangenen Maidan 2005, liefen die Machenschaften innerhalb des politischen Prozesses im Land immer nur auf eine Frage hinaus: Welche beiden aus diesem Dreigespann tun sich als Nächstes zusammen, um den Dritten endgültig zu erledigen? Es gab keine ideologischen Tabus mehr. Jede Machtkombination war mehrmals erprobt, und keine von ihnen hatte Stabilität gebracht. Die Ukraine ist des absurden politischen Theaters vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Katastrophe im Land und der Weltwirtschaftskrise längst gründlich überdrüssig.

Mehr als die anderen hat Julia Timoschenko das Herz ihrer Wähler verstanden. Nicht ohne Grund besteht das Emblem ihrer Partei aus einem roten Herzen. An das Herz der »einfachen Ukrainer« (und nicht an ihren Verstand oder, sagen wir, an ihre Erinnerung an frühere politische Ränkespiele) hat sie sich jedes Mal gewandt, wenn die Geburtswehen neuer Wahlen einsetzten. Sehr gut erinnert sie sich auch an die Formel ihres Triumphs von 2001. Ausgangspunkt ihrer unglaublichen politischen Karriere waren ausgerechnet jene 42 Tage, die sie in der Zelle Nr. 242 des Lukjaniwska-Gefängnisses verbracht hatte. Und es war nicht nur der Zorn der Wähler auf den Präsidenten, der sie zu den Höhen des politischen Olymps aufsteigen ließ, sondern auch das Mitgefühl mit der zarten, hilflosen, von Krankheiten gezeichneten, gleichwohl ungebrochenen Gefangenen, die keine Angst kennt im Kampf für das Gemeinwohl.

Julia Timoschenko wird sich denken können, dass der Preis, den sie für ihre Rückkehr in die Politik zahlen muss, unendlich hoch ist. Und sie wird wissen, dass sie, wie so oft im Laufe ihrer Karriere, einfach keine Wahl hat.

Am 5. August 2011, als die schwere Tür hinter ihr ins Schloss fällt, glaubt die 50-jährige Julia Timoschenko noch fest daran, dass alles in ihrem Leben soeben erst beginnt.

Zweites Kapitel

Die Heimatstadt

Ihren Namen verdankt Julia Timoschenkos Heimatstadt Dnipropetrowsk nicht dem Apostel Petrus und auch nicht Peter I., sondern dem Bolschewiken Grigori Petrowski.

Der Mitkämpfer Lenins war in verschiedenen Funktionen tätig. Er gehörte zu jenen, die das System der Straforgane der Sowjetmacht aufbauten. Als Vorsitzender des Zentralexekutivkomitees der UdSSR setzte er Anfang der Dreißigerjahre gnadenlos die Kollektivierung des Dorfes in der Ukraine durch. Petrowski ist einer der Organisatoren der Abrechnung mit der Bauernschaft, die in neueren ukrainischen Geschichtsbüchern nur »Golodomor« genannt werden. Der von den Bolschewiken organisierte Hunger kostete in den Jahren 1932/33 vier bis sechs Millionen Menschen das Leben. Eine Zahl, vergleichbar der der Opfer des Holocausts.

Dnipropetrowsk spielte in der UdSSR eine besondere Rolle.

Das lag nicht nur daran, dass sich hier Unternehmen des militärisch-industriellen Komplexes der Sowjetunion konzentrierten, die eng miteinander verknüpft und einer einheitlichen Leitung unterstellt waren. Solche Städte gab es in der Sowjetunion viele, auch in der Ukraine, zum Beispiel Charkiw.

Dnipropetrowsk wurde jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer Kaderschmiede für das Politbüro des ZK der KPdSU. Männer aus dieser Gegend prägten das Gesicht des ganzen Landes. Die sogenannte Lenin’sche Partei der sogenannten Stagnationsperiode der Sechziger- bis Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts – das waren vor allem Genossen aus Dnipropetrowsk.

Im Volk hießen sie schon lange »Dnipropetrowsker Mafia«.

Die waghalsigsten sowjetischen Menschen nannten diese Truppe hinter vorgehaltener Hand auch »Breschnew-Mafia«. Ihr Namensgeber war der Generalsekretär des ZK der KPdSU, Leonid Breschnew, der in der Industriesiedlung Kamenskoje, nur 35 Kilometer von Dnipropetrowsk entfernt, zur Welt kam. In diesem Ort, der bald in Dniprodserschinsk umbenannt werden sollte, begann zur Zeit des Großen Terrors (auch »Große Säuberung«) Breschnews politische Laufbahn. Von dort versetzte man ihn nach Dnipropetrowsk, wo er 1938 im Gebietskomitee der Partei stellvertretender Abteilungsleiter für Agitation und Propaganda wurde. Hier lernte er auch seine Mitkämpfer kennen, die ihn bis in den Kreml begleiten sollten. Am Ende seines Lebens schwelgte er in Erinnerungen an seine Jugend und den Anfang seines Weges.

Ohne den Golodomor oder den Terror auch nur mit einem Wort zu erwähnen, schildern die feinsten Federn des sowjetischen Journalismus kurz und sachlich die Atmosphäre, die in der Vorkriegszeit im Lande herrschte.

Da ist davon die Rede, dass es bald Krieg geben wird – das spürten damals alle, Führung und Volk. 1940 kam aus dem Kreml die Direktive, mehrere Betriebe von Dnipropetrowsk unverzüglich auf die Herstellung von Kriegsgütern umzustellen. Ein Chiffretelegramm aus Moskau wies an, einen Sekretär des Gebietskomitees für Verteidigungsindustrie einzusetzen. Die Wahl der Genossen für diese Schlüsselfunktion in der Stadt und der ganzen Ukraine fiel einstimmig auf Breschnew.

Die Rüstungswirtschaft und Breschnews besonderes Verhältnis zu seiner Heimatstadt machten Dnipropetrowsk zu einem Giganten der sowjetischen Industrie, zu einem Monster aus Plattenbauten mit einer Million Einwohnern, das für Ausländer gesperrt war. Und zur Startrampe für schwindelerregende Karrieren in Partei, Wirtschaft und KGB.

In den Siebzigerjahren zogen Dnipropetrowsker in den Kreml ein. Im Politbüro und im Sekretariat des ZK, in den Funktionen des Vorsitzenden des Ministerrates und des KGB-Chefs, unter deren zahlreichen Stellvertretern, auf den Posten des Ersten Sekretärs und des Innenministers der Ukraine, in Schlüsselfunktionen der zweiten und dritten Reihe – überall tauchten Breschnews Parteigänger aus dieser ruhmreichen Stadt auf, die ihm grenzenlos ergeben und für ihn zu allem bereit waren. Wenn man zudem bedenkt, welchen Platz die UdSSR und Genosse Breschnew persönlich damals in der Welt einnahmen – er war der Führer einer der beiden Supermächte, die den ganzen Erdball in Schutt und Asche legen konnten –, dann wird die Rolle von Dnipropetrowsk jedem klar. Von dieser Provinzstadt ging Macht aus – im eigenen Land und in der Welt.

Breschnew liebte seine Heimatstadt. Wie viele Diktatoren war er sentimental und bodenständig. Auch die Bewohner von Dnipropetrowsk verehrten den Ersten Mann des Landes mit jener merkwürdigen zweideutigen Liebe, die die Bürger eines bettelarmen Reiches einem Landsmann schenken, der es zu etwas gebracht hat.

Der Landsmann vergaß sie dabei nicht.

Im ganzen Lande musste man nach Wurst Schlange stehen. In Dnipropetrowsk lag sie oft unbeachtet in den Läden herum oder wurde zusammen mit anderen Defizitwaren über das bekannte »Bestellsystem« großzügig an die Mitarbeiter der Rüstungsbetriebe verteilt. Es heißt sogar, dass die Leute aus Dnipropetrowsk dieses Symbol sowjetischen Wohlstandes zuweilen an ihre Verwandten in Moskau schickten, wo doch die Hauptstadt eigentlich besser versorgt war als die Provinz.

Aber Fleisch und Wurst waren nicht die einzigen Mangelwaren im Lande. Es fehlte fast an allem, was der Mensch braucht – an Schuhen, Toilettenpapier, Kleidung, Tonbandgeräten oder Medikamenten. Vieles Notwendige war für einen Sowjetbürger nur zu bekommen, wenn er Beziehungen hatte, bereit war, kräftig draufzuzahlen oder sich bei einer Verkäuferin lieb Kind zu machen.

Dazu kursierte im Imperium ein Witz. Frage: Kann ein Hase von der Heldenstadt Brest bis zur Heldenstadt Moskau laufen? Antwort: Nein. In der Heldenstadt Tula wird er gefangen und aufgegessen.

In Dnipropetrowsk gab es also etwas mehr Wurst und Toilettenpapier als im Landesdurchschnitt, weshalb die Stadt sich für wohlhabend hielt. Der Preis dieses relativen Wohlstandes war kein Geheimnis: Die Liebe und Sorge des sentimentalen Generalsekretärs um seine engere Heimat erklärte sich daraus, dass die Stadt für den Krieg arbeitete.

In ihrem Zentrum dröhnte dumpf die größte Raketenschmiede des Landes. Das Werk »Juschmasch« stammte aus der Zeit, als Breschnew hier dem Gebietskomitee der Partei vorsaß. Es stellte ballistische Raketen für das Militär und Weltraumraketen her. Hier stand die Wiege der gesamten SS-Serie sowie der Trägerraketen »Kosmos«, »Interkosmos«, »Zyklon-2«, »Zyklon-3« und »Zenit«. Ihr ganzer Stolz war der Raketenkomplex »SS-18«, der mehrere atomare Sprengköpfe tragen konnte. Dnipropetrowsk stellte erstmalig in der Welt künstliche Erdsatelliten in Serie her.

Zulieferer von Juschmasch waren Projektierungsinstitute, Hochschulen und Hunderte Betriebe. Wie überall im Lande stellte die zivile Produktion für diese Giganten der Rüstungsindustrie lediglich ein Nebengewerbe dar. Außer Raketen kamen von Juschmasch Traktoren, Omnibusse und Maschinen für die Lebensmittelindustrie. Dazu Fahrräder und Regenschirme.

Wenn es zwischen dem die Stadt beherrschenden Juschmasch und den Partei-Oberen am Ort oder in Kiew Konflikte gab, behielt immer das Werk die Oberhand. Die Direktoren, die zum militärisch-industriellen Komplex gehörten, verachteten die Eliten der Stadt und der Ukraine gründlich und zeigten ihnen, wenn es sich ergab, wer der Herr im Hause war. Ihre Sonderstellung in der Ukraine und der UdSSR, die sich auf keinen Rechtsakt gründete, war für alle offensichtlich. Hinter ihnen stand Breschnew.

Der Generalsekretär kämpfte auf hohen internationalen Tribünen unablässig für den Weltfrieden. Seine geliebte Heimatstadt dagegen arbeitete für den Atomkrieg. Das war kein Widerspruch. Zumindest nicht für jene, die sich über gar nichts wunderten, weil sie in der UdSSR lebten. Was sollte man sich auch wundern, wenn Karrieren in Partei und Wirtschaft, die in Dnipropetrowsk begannen, sich in Moskau fortsetzten, ohne je Kiew passiert zu haben? Konflikte endeten daher auch immer gleich – mit dem Sieg der allmächtigen Kriegspartei, die in den Fabriken von Dnipropetrowsk Gestalt angenommen hatte.

Als Gigant der Raketen, des Geistes und der Industrie war Dnipropetrowsk, an den ersten Stromschnellen des mächtigen Dnepr gelegen, mit den breiten Straßen und weiten Plätzen imperialen Stils auf seine Weise schön. Bei den Einwohnern hieß die Stadt wie der Fluss kurz Dnepr. Der lag zu ihren Füßen wie ein aufgeschlagenes Buch. Der große Gogol hatte ihn besungen, und in der UdSSR konnte jeder Schüler vom »herrlichen Dnepr bei stillem Wetter« schwärmen, »dessen Mitte kaum ein Vogel erreicht« …

Das goldene Zeitalter von Dnipropetrowsk währte fast 20 Jahre, bis das Herz des treuen Leninisten im November 1982 aufhörte zu schlagen. Nun wurden andere Saiten aufgezogen. Streng, gefühllos, ja sogar verletzend ging man mit dem Gedenken an Leonid Iljitsch um.

In der Breschnew-Zeit wächst Lady Ju heran.

Als er in der UdSSR zur Macht kommt, ist sie vier Jahre alt. Acht in jenem August, da die Truppen des Warschauer Vertrages Prag besetzen. 19, als der Krieg in Afghanistan beginnt, in dem ihre Altersgenossen sterben. Die 22-jährige Studentin Julia Timoschenko beweint gemeinsam mit dem ganzen Sowjetvolk den Tod des teuren Leonid Breschnew.

Tat sie das wirklich? Lokalpatriotismus, der sich auf den ersten Mann im Staate bezog, war damals in Mode. Aber kaum jemand, von einigen persönlichen Freunden abgesehen, empfand beim Ableben des Generalsekretärs echte Trauer. Eher kam Sorge auf. Was sollte aus dem Land werden? Allerdings klang diese Frage anders als im Jahre 1953, da das Volk von Stalin Abschied nahm. Damals hatten Massen schluchzender Menschen dem großen Führer das letzte Geleit gegeben, denn Stalin war schrecklich und unerreichbar gewesen wie Gott im Alten Testament, das die Sowjetmacht außer Kraft gesetzt hatte. Breschnew dagegen war wie alle gewesen – sehr irdisch, nicht boshaft, ein korrupter Sünder. Als er in den letzten Jahren deutlich nachließ, lachten die Leute im Lande zuweilen über ihren Generalsekretär. Auch in Dnipropetrowsk. Es war kein fröhliches Lachen, denn überall konnte man sehen, dass er das Land in eine Sackgasse geführt hatte.

Die Erdöldollar flogen buchstäblich zum Schornstein hinaus – für die Unterstützung der »Befreiungsbewegungen« in der Welt und für das Wettrüsten. Die Wirtschaft pfiff auf dem letzten Loch. Selbst der Propagandakrieg endete in einem Fiasko. Der sowjetische Mensch träumte von Mode und Technik aus dem Westen, und westliche Rundfunkstationen waren seit Langem die einzigen verlässlichen Informationsquellen über das, was in der Welt und im Lande geschah. Eine Dienst- oder Touristenreise nach Paris galt als großer Erfolg im Leben. Nicht nur Juden, sondern auch Russen begannen an Auswanderung zu denken. Das atomare Wettrüsten sorgte für gähnende Leere in der Staatskasse.

Nach Breschnew übernahm Juri Andropow die Führung des Landes. Schon als KGB-Chef hatte er Informationen über die Korruption in der Umgebung des lebensfrohen Generalsekretärs gesammelt. Jetzt griff er zu. Als Erste fielen die Dnipropetrowsker, die Breschnew am nächsten gestanden hatten – allesamt hohe Chefs in Partei und bewaffneten Organen. Innenminister Schtscholokow nahm sich das Leben. Unter Andropow wurde die Elite in raschem Tempo ausgewechselt. Dazu trugen mehrere Strafprozesse bei, die mit Todesurteilen gegen die Angeklagten endeten – der Fall »Fischwirtschaft«, der Fall »Brillantenschmuggel« oder der Fall »Sotschi«. Die Schuld der zum Tode und zu langen Haftstrafen Verurteilten bestand vor allem darin, dass sie nicht in die neue Zeit passten. Die bisherigen Eliten gingen hinter Gitter oder in den Tod, weil Breschnew nicht mehr war. Sie hatten keine Zeit, sich auf die neuen Spielregeln einzustellen. Genauer gesagt, man ließ ihnen diese Zeit nicht.

Bei internen Vorträgen vor ausgewähltem Publikum verkündeten die Propagandisten, Andropow schaffe jetzt »Ordnung« und rechne mit der »Breschnew-Mafia« ab. Unterschlagung in riesigem Umfang sei der Hauptgrund für die allgemeine Armut im Lande. Damit versetzte der KGB den »Dnipropetrowskern« einen vernichtenden Schlag. Der Korruption für schuldig befunden, mussten sie aus dem Kreml und aus der Politik verschwinden.

Aber das Leben in der UdSSR wurde davon nicht besser. Bald zeigte sich, dass die Hauptursache nicht in der Korruption, sondern in anderen, tiefer liegenden Problemen des kommunistischen Systems lag.

Gorbatschow brachte die Sache zum Abschluss. Als er ans Ruder kam, wurde Breschnews Zeit als Stagnationsperiode und dessen Kurs als gerader Weg in den Abgrund bewertet.

Die Sowjetunion zerfiel. Die Ukraine wurde unabhängig. Fast schien es, als habe Dnipropetrowsk seine Sonderstellung für immer verloren.

Aber so einfach war es nicht.

Zunächst konnte die Stadt ihr enormes Gewicht gar nicht verlieren, denn sie blieb ein Zentrum der Rüstungsindustrie. Außerdem ist die Elite der Nomenklatura wie die Hydra im Märchen: Wenn man ihr einen Kopf abschlägt, wachsen sogleich mehrere neue nach.

Dnipropetrowsk war dafür geradezu ein klassisches Beispiel.

Wie muss man sich einen Clan zur Sowjetzeit vorstellen? Als ein Geflecht offizieller und inoffizieller Beziehungen, die in gemeinsamen Dienstjahren entstehen und fürs ganze Leben halten. Im ideologischen Bereich heißt das Treue zur Partei und bedenkenlose Ausführung aller ihrer Weisungen. Was die Arbeit betrifft, so muss man in der Lage sein, sinnlose, leicht zu merkende, passende und unpassende Losungen der Partei geschickt anzuwenden. Im persönlichen Bereich ist unerschütterliche Treue zum Vorgesetzten in jeder Lebenslage zu demonstrieren. Hier haben sich feste Traditionen herausgebildet – man muss Trinkgelage im engen Kreis lieben, stets den passenden Trinkspruch zur Hand haben, die richtigen Witze zum Besten geben können, Familienfreundschaft halten und zur rechten Zeit mit einem guten Geschenk zur Stelle sein. Und natürlich muss man gemeinsame Saunagänge lieben. Unter Breschnew wurde es Brauch, die wichtigsten Machtfragen in russischen Badehäusern zu entscheiden.

Die Karriereleiter ist eine bewegliche Vertikale. Wenn an ihrer Spitze der Generalsekretär steht, dann kann auch noch der unbedeutendste Angehörige seines Clans mit einem warmen Pöstchen rechnen. Vorgesetzte begehen Fehler, erhalten Verweise, werden krank und sterben. Es geht langsam, aber stetig nach oben, wie auf einer Rolltreppe in der Metro. »Man muss nur warten können«, wie es in einem beliebten sowjetischen Lied heißt. Und keine Fehler machen.

Andropows Säuberungen, besonders aber Gorbatschows Perestroika und der plötzliche Zerfall der Sowjetunion rüttelten alle Clans des Reiches gehörig durcheinander. Aber gemeinsam war diese Zeit leichter zu überstehen als allein. In der unabhängigen Ukraine sind die Dnipropetrowsker bald die mächtigste Gruppe, die ihre Vertreter wieder auf höchste Posten schickt.

Leonid Kutschma, zunächst Direktor von Juschmasch, wird Ministerpräsident und schließlich sogar Präsident des Landes. Der Gouverneur des Dnipropetrowsker Gebietes, Pawlo Lasarenko, tritt an die Spitze der Regierung. Leonid Derkatsch, Kutschmas guter Freund aus der Zeit von Juschmasch, übernimmt die Führung der Partei »Werktätige Ukraine«. Viktor Pintschuk aus der dritten Generation von Dnipropetrowskern reißt den Löwenanteil der ukrainischen Industrie an sich, stellt Röhren her, handelt mit Gas und sorgt sich um die Stromversorgung. Walerij Pustowoitenko, Verkehrsminister und später ebenfalls Ministerpräsident, war einst Bürgermeister von Dnipropetrowsk. Vitali Boiko, vor Kurzem noch an einem Stadtbezirksgericht von Dnipropetrowsk tätig, wird Vorsitzender des Obersten Gerichts der Ukraine. In Staatsämtern und Vorständen von Aktiengesellschaften sitzen Dutzende dieser Leute, die sich auf Hunderte weitere stützen können – im Regierungsapparat, im Parlament und in der Wirtschaft.

Anfang der Neunzigerjahre taucht unter den Dnipropetrowskern ein neues Gesicht auf: die einzige Frau, die zierliche brünette Julia Timoschenko, die mit der Geschwindigkeit einer ballistischen Juschmasch-Rakete in der Geschäftswelt Karriere macht.

Zuweilen entsteht sogar der Eindruck, mit dem Dnipropetrowsker Clan sei die Breschnew-Zeit in die Ukraine zurückgekehrt. Das trifft natürlich nicht zu. Um zur Macht zu gelangen, brauchte Präsident Kutschma die Unterstützung der Unternehmensdirektoren der Sowjetzeit und seines Clans. Um an der Macht zu bleiben, musste er sich jedoch früher oder später über seinen Clan erheben. Nur so konnte er zum Landesvater, zum obersten Schiedsrichter in den blutigen Kämpfen der anderen Autoritäten werden, bei denen es um Milliarden geht. Der Kampf um Kutschma, für und gegen ihn, wird mit aller Brutalität geführt. Da sich die Dnipropetrowsker über Geld, Einfluss auf den Präsidenten und die Verteilung der Filetstücke des zu privatisierenden Staatseigentums nicht einigen können, geraten sie sich schließlich selbst in die Haare. Jeder kämpft nur noch für sich allein und es kommt zum »Bruch von Dnipropetrowsk«, an dem sich die ukrainische Presse weidet.

Aber am Anfang des Weges sind sie noch alle zusammen. Die Dnipropetrowsker. Die Landsleute. Der Clan.

Drittes Kapitel

Eine Jugend Grau in Grau

Ihre Kindheit verbrachte Julia Timoschenko in einem ganz gewöhnlichen fünfgeschossigen Plattenbau am Kirow-Prospekt. Unter Chruschtschow wurden solche Häuser im Eiltempo im ganzen Land hochgezogen.

Julias Wohnblock hieß »Haus des Taxifahrers«, weil man hier die Mitarbeiter des örtlichen Taxiunternehmens einwies, wo ihre Mutter Ljudmila Telegina als Dispatcher arbeitete. »Damit das Geld zum Leben reichte, hat Mama oft 24-Stunden-Dienste angenommen«, erinnert sich Julia. »Sie musste ihre Mutter und die Familie ihrer Schwester unterstützen. Ich habe in meiner Kindheit gelernt, was es bedeutet, jede Kopeke zweimal umdrehen zu müssen. Wir waren ganz allein auf uns selber angewiesen.«

Geschlossene Höfe gibt es zwischen diesen Häusern nicht. Ihre Kindheit verbrachte Julia in den offenen Räumen um die Wohnblöcke und Garagen, wo dichtes Gebüsch wuchs, wo die Wäsche an der Leine flatterte, wo alte Frauen, deren flinken Augen nichts entging, auf Holzbänken miteinander tratschten. Tag und Nacht tönte die Stimme von Julias Mutter aus den kratzenden Lautsprechern der salatgrünen Wolgas mit dem schwarzen Schachbrettmotiv an den Türen. Sie schickte die Wagen von einem Ende der Stadt zum anderen. Julias Freunde aus Kindertagen haben fast alle einen Taxifahrer zum Vater.

»Ich habe nie mit Puppen gespielt oder mich mit Mädchen abgegeben«, erinnert sich Julia. »Die Jungen hatten mehr Freiheiten und die besseren Einfälle. Das hat mich angezogen. Ich war kein wildes Kind, aber ihre Spiele haben mir gefallen, Fußball zum Beispiel.«

In der Hofmannschaft war Julia immer Stürmerin und schoss viele Tore. Dabei herrschten raue Sitten. Jedes Spiel endete mit »Schinkenklopfen«. Die Verlierer mussten den Siegern ihr Hinterteil darbieten, auf das dann scharfe Bälle abgeschossen wurden. Julia drückte sich nie und biss die Zähne zusammen.

Als sie zum Star wurde, strömten die Reporter nach Dnipropetrowsk. Klassenkameraden, Hausnachbarn, Lehrer, Kommilitonen und Universitätsprofessoren – jeder wurde befragt. Begierig durchwühlte man Fotoalben und Schularchive. Die Ergebnisse sind nicht sehr beeindruckend. Viel süßlicher Kitsch über eine ausgezeichnete Schülerin, aber kaum echte Informationen.

Mit Blick auf das, was aus ihr geworden ist, haben auch wir in der Julia der Dnipropetrowsker Jahre nach frühen Anlagen für die spätere »Gasprinzessin« und flammende Revolutionärin gesucht.

Ihre Klassenlehrerin erinnert sich, dass Julia zwar eine gute Schülerin, aber ein ziemlich dreistes Mädchen war. Sie konnte zum Beispiel die Schulkleidung nicht ausstehen und zeigte das auch ganz offen. Die Uniform war allerdings auch wirklich nicht sehr ansprechend. In der ganzen Sowjetunion hatten die Schüler von der ersten bis zur zehnten Klasse die vom Bildungsministerium der UdSSR bestätigte Einheitskleidung zu tragen: die Jungen einen dunkelgrauen Anzug, die Mädchen ein dunkelbraunes Kleid mit weißen Manschetten und weißem Kragen, darüber eine mit Rüschen besetzte schwarze Schürze. Nicht nur Julia, sondern alle Mädchen von Riga bis Wladiwostok hassten diesen Aufzug. Er machte die langen Hälse und knochigen Arme der Teenager noch länger, die Beine dagegen kürzer. Julias mitfühlende Mutter ließ von einer Bekannten ein Kleid für sie nähen, das der Schuluniform ähnelte, aber doch anders war. Die Klassenlehrerin empörte sich darüber und forderte, Julia möge sich kleiden wie alle. Aber das Mädchen setzte sich durch.

Eine Rebellin mit Sinn fürs Schöne?

Eine andere Verkleidungsszene erinnert an Bilder aus dem nostalgischen Filmen, wie sie in der Sowjetunion Anfang der Achtzigerjahre in Mode kamen. Im Tschkalow-Park der Stadt führte Julia mit ihrer Freundin Lena bei einem Schulprogramm einen Matrosentanz vor. Die Mutter hatte ihr dafür eigens ein Kostüm geschneidert: ­einen gestreiften Sweater, weite Hosen und eine Matrosenmütze. Lena tanzte das Mädchen, Julia den Burschen. Die Nummer soll großen Erfolg gehabt haben. Besonders bei den männlichen Spaziergängern im Park. Alle schauten nur auf Julia.

Ein erster Hinweis auf eine Führernatur? Oder der Wunsch, eine Männerkarriere hinzulegen?

Julia war immer eine sehr gute Schülerin. Was sie sagte, war logisch und klang überzeugend. Kein Festprogramm in der Schule kam ohne sie aus. Manches schrieb und moderierte sie selbst. So erdachte und organisierte sie einen »Abend über die Liebe«. Zum Schulabschlussball schrieb sie auf jeden ihrer Mitschüler für die Wandzeitung einen Vers.

Hier Auszüge aus einem Schulaufsatz: »Ich liebe den Sport. Besonders gern spiele ich Tischtennis, laufe Schlittschuhe, spiele Volleyball oder Basketball. Ich mag Musik von Bach, Mozart und Strauß. Dazu moderne Gruppen wie die Beatles, Manfred Man [sic], Lad [sic] Zeppelin und andere.«

Für Tennis und Volleyball begeisterte sie sich allerdings erst in den oberen Klassen.

Nach dem Fußball auf dem Hof gab es für sie nur noch das Turnen. Als sie es aufgeben musste, war das für sie ein erster schwerer Schicksalsschlag. Denn Julia turnte mit Leidenschaft. Die Gründe lagen auf der Hand: Hier konnte sie die beiden wichtigsten Seiten ihres Wesens voll ausleben – den Drang nach Bewegung und maximaler körperlicher Verausgabung zugleich mit ihrem Wunsch, die Schönste zu sein. Wenn sie graziös am Balken turnte, waren die furchtlose Fußballerin und die Tänzerin im Matrosenkostüm miteinander versöhnt.

Vorbilder, die ihren Ehrgeiz anstachelten, gab es zur Genüge.

Da war vor allem Olga Korbut, die die ganze Sowjetunion liebte und die Presseleute das »Wunder mit Zöpfchen« tauften. Mit acht Jahren betrat Olga zum ersten Mal eine Turnhalle. Sie war die Kleinste in ihrer Klasse. Mit ihrem Triumph bei den Olympischen Spielen von München 1972 – drei Goldmedaillen! – setzte sie der Epoche der reifen Frauen ein Ende. Mit ihr begann im Frauenturnen die Ära der halben Kinder – kleine, zarte Mädchen ohne Busen und weibliche Hüften. Diese Winzlinge hatten vor nichts Angst, dafür aber einen eisernen Willen.

Dieser Trend war die Chance für Julia, die immer unter ihrer geringen Größe gelitten hatte. Die sowjetischen Turnerinnen glänzten in der ganzen Welt, räumten bei Meisterschaften und Olympischen Spielen im Ausland die Medaillen und zu Hause die staatlichen Auszeichnungen ab. Eine berühmte Turnerin zu werden, war der Weg aus dem »Haus des Taxifahrers« in ein unbeschwertes, wunderbares Leben voller Applaus, Blumen und allgemeiner Beliebtheit. Von der Kehrseite des Leistungssports – von Doping und späteren Gesundheitsproblemen der Turnerinnen, verursacht durch Überanstrengung und Verletzungen im frühen Kindesalter – wusste man damals noch nichts oder wollte nichts davon wissen. Erst Jahrzehnte später, als Olga Korbut nach Amerika ging, sollte sie von ihrem Trainer berichten, der sie und die anderen Mädchen mit Prügeln zu sportlichen Höchstleistungen trieb oder zum Sex zwang.

Julia hatte die Zielgerade zum Erfolg schon erreicht, war Anwärterin auf den Titel »Meister des Sports«, als sie beim Training vom Balken stürzte und sich das Schlüsselbein brach. Eine wahre Katastrophe. Der Bruch erwies sich als so kompliziert, dass sie alle Hoffnung auf eine sportliche Karriere begraben musste. Aber vom Turnen sind ihr die tadellose Körperhaltung und der eiserne Wille zum Sieg geblieben. In einem Interview sagte Julia Timoschenko später, sie fühle sich noch immer wie eine Sportlerin, der keine Anstrengung zu schwer ist.

Hochschulen gab es zwei in ihrem Leben. Zunächst schrieb sich Julia am Bergbauinstitut von Dnipropetrowsk ein. Dann überlegte sie es sich anders und bestand die Aufnahmeprüfung für die noch angesehenere Staatliche Universität der Stadt. An der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät begann sie Wirtschaftskybernetik zu studieren. Nach Schwangerschaft und Entbindung setzte sie das Studium fort, wechselte aber noch einmal zur Arbeitsökonomie. Dieser Entschluss war endgültig.

Die Universität besuchte Julia mit Erfolg.

Von Kommilitonen sind Geschichten über gebrochene Herzen, heimliche Liebeleien und offene Bekenntnisse – auch nach ihrer Heirat – überliefert. Julia kleidete sich gut und mit Geschmack. ­Kosmetik benutzte sie kaum. Sie zeigte sich lieber, wie die Natur sie geschaffen hatte. Dabei war Julia eine stolze, wählerische Schönheit. Ein Mitstudent, der jahrelang in sie verliebt war, hatte nie eine ­Chance. Er kam aus einer einfachen, mittellosen Familie. Zumindest ist das die Erklärung ihrer Mitstudentinnen, die allen Grund hatten, die erfolgreiche Julia zu beneiden. Mit Männern kam sie stets besser aus als mit Frauen.