Karfreitag - Wolfgang Schuldlos - E-Book

Karfreitag E-Book

Wolfgang Schuldlos

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Beschreibung

Helmut Bauer, Kriminalhauptkommissar der Münchner Polizei, ermittelt in einem mysteriösen Fall. Pierluigi Cantoni, ein italienischer Kellner und Gelegenheitsstricher, wird im Englischen Garten, gefesselt und mit einer Tüte über dem Kopf, tot aufgefunden. Die Obduktion ergibt, dass er nicht erstickt, sondern ertrunken ist.Das Münchener Schlachthofviertel mit seinen eigenwilligen und einfachen Menschen bildet die Kulisse für Bauers Ermittlungen, aber auch für sein Leben, das er größtenteils in diesem Viertel verbrachte.Der Kommissar selbst ist Opfer dieses Milieus. Er trinkt zuviel, isst zuviel und die Liebe zu Frauen erlebt er nur in Zweckbeziehungen.\\\"Karfreitag\\\" ist ein bayerischer Kriminalroman, der nicht nur an der Oberfläche des Kommissars kratzt, sondern sein Innerstes, sein Empfinden und seine Sichtweisen zeigt - manchmal ernst, manchmal kauzig. Bauer ist ein Mensch, den man hassen, aber auch lieben muss.

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Seitenzahl: 294

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Wolfgang Schuldlos

Karfreitag

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Impressum

Jede vermeintliche Ähnlichkeit der Figuren des Buches mit

lebenden oder verstorbenen Menschen wäre rein zufällig und nicht

beabsichtigt.

Copyright 2012 EuroKomm Publishing

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit

Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Druck: Idee und Werbung, Schlehdorf

ISBN 978-3-00-038871-2

Inhaltsverzeichnis
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Impressum

Karfreitag

Bauer sitzt an einem dunklen Holztisch, vor sich ein Glas, das die Spuren von Bierschaum trägt. Bauer ist zufrieden mit diesem Tag. Die Stoppeln des Dreitagebartes schimmern grau und ein Mundwinkel ist leicht zur Seite gezogen, sodass ein leichtes Grinsen sein Gesicht umspielt.

Bauer grinst immer leicht, wenn er zwei Halbe Bier getrunken hat. Dann steigt in ihm dieses wohlige Gefühl nach oben. Aus der Magengegend entspannt sich der mächtige Körper und die scheinbare Unbill des Alltags weicht.

Das Wirtshaus, mit schwarzem Holz getäfelt, die Tische schlicht und dunkel, tut ihm gut.

Bauer hat sich zurückgelehnt an die Holztäfelung. Rechts neben ihm hängt sein dunkler Mantel, darüber der grüne Filzhut, den er seit seinem sechzehnten Lebensjahr besitzt.

Nun ist er 47, unverheiratet und ohne Kinder. Helmut Bauer - ein Kind des Münchener Schlachthofviertels, oder, wenn man es etwas genauer nimmt, ein Kind von Theresia Bauer, einer Wirtshausbedienung, die aus Niederbayern nach München kam, um anständiges Geld zu verdienen.

Helmut kam als Bastard zur Welt und hat seinen Vater nie kennen gelernt. Wahrscheinlich, so vermutet Bauer, war es ein Viehhändler oder ein Lohnmetzger, der nach dem Wirtshausbesuch schnell etwas mit der feschen Bedienung hatte, aber ebenso schnell wieder verschwand. Vielleicht war er sogar Landsmann von Theresia gewesen und hatte damit ihre Zuneigung erworben.

Heute will Bauer dies alles nicht mehr wissen. Seine Mutter ist vor etwas mehr als zwei Jahren gestorben. Man fand sie tot in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung liegend. Herzinfarkt stellte man als Todesursache fest. Allein sterben ist grausam, meint Bauer.

Nach der Beerdigung hat er ihre Wohnung übernommen und wohnt nun wieder in seinem Viertel, dem Schlachthofviertel. Hier ist man nicht reich, sondern arbeitsam, fleißig und bodenständig.

Ein Viertel, in das man nicht zieht, weil es schick ist, sondern weil man so ist, wie die Menschen, die diesem Viertel die Prägung geben.

Hier wohnt der Tod, meint man gemeinhin - vieltausendfach sogar! Jeden Tag werden die Tiere in den Schlachthof gekarrt, um dort ihr Leben zu lassen. In den wartenden Lastwagen sind die ängstlichen Schreie zu hören, die das lebende Fleisch von sich gibt. Minuten später zerteilen eisenbehandschuhte Hände mit Messern die Kreaturen.

Bauer ist ein Kind des Viertels. Er kann bei diesen Gedanken nichts empfinden. Für ihn ist hier der Magen dieser Stadt, der Schlachthof, und nebenan der Großmarkt. Nein, hier wohnt nicht der Tod - hier entsteht das Leben! Was wäre das Leben ohne Schweinebraten oder saures Lüngerl, fragt sich Bauer.

„Noch eine Halbe, Maria!“, ruft er der vorbeihuschenden Bedienung hinterher. Die nickt nur stumm.

Hier wird nicht viel geredet, sondern der Konsens besteht im Sein. Man ist so, wie man ist, in diesem Viertel. Da genügt es nicht, viele Worte zu machen. Hier ist nicht Schwabing oder Bogenhausen, wo man seine eigene Bedeutung durch bedeutungsschwangere Sätze manifestieren muss.

Überhaupt, so meint Bauer, besteht der Sinn des Lebens nicht darin, sich wichtig zu fühlen. So ein Schmarrn, findet er.

„Dein Bier!“

Die Bedienung stellt das volle Bierglas vor Bauer ab und räumt das leere Glas und einen leeren Teller mit Besteck ab. Sie hat Bauer aus seinen Gedanken gerissen. Er nimmt das Glas und setzt es an seine Lippen. Der Schaum verschwindet nach und nach, und das Bier strömt langsam in seinen Mund.

Es ist halb zwei, er hat seinen Schweinebraten gegessen und sitzt nun vor seinem dritten Bier. Manchmal muss das so sein, findet Bauer. Im Präsidium wird man ihn schon nicht vermissen. Was soll die Hektik? Er hat bisher jeden seiner Fälle gelöst und das gibt ihm das Recht, so zu sein, wie er ist. So, wie dieses Viertel ist!

„Zahlen!“, ruft Bauer der Bedienung zu.

„Wie viel Brezen?“

„Eine“ entgegnet Bauer.

Er hat die dritte Halbe Bier geleert und muss sich auf den Weg machen. Bauer steht auf, zieht seinen Mantel an und setzt seinen Filzhut auf. Er weiß, der Stoppelbart und die vernickelte runde Brille lassen ihn eher aussehen wie einen Viehhändler und nicht wie einen Kriminalhauptkommissar der bayerischen Polizei, Dezernat Mordfälle. Ihm ist das egal.

„Warum Mordfälle?“, haben ihn Bekannte gefragt. Er kann darauf nur antworten, dass Mord ein Geschäft sein kann – so, wie im Schlachthof.

Bauer gilt unter seinen Kollegen als kauziger Sonderling, kein Karriererist, aber ungemein erfolgreich, wenn es um das Enträtseln der menschlichen Psyche geht. Er ist wahrlich nicht feinfühlig, nein, eher das Gegenteil. Und er versteht es, den Menschen zu reduzieren, ihm die Verkleidung zu nehmen. Das ist sein wahres Erfolgsgeheimnis - man kann ihm nichts vorspielen. Täter werden unruhig in seinem Beisein. Ein langer, ruhiger Blick, eine vermeintliche Wortlosigkeit und das Reduzierte, was auch das Wissende sein könnte, ist sein Vorteil.

Nach mehr als 25 Dienstjahren erlaubt sich Bauer keine Hektik mehr. Warum auch? Dies liegt auch nicht in seinem bayerischen Gemüt. Bei seinem ersten Mordfall war das anders. Er kann sich noch gut an den jungen Mann erinnern, den er schließlich als den Mörder seiner eigenen Mutter enttarnte.

Nervös hatte er die Vernehmungen geführt und ungeduldig die Verdächtigen mit einer Kanonade von Fragen beschossen, anstatt sie einfach reden zu lassen. Damals setzte sich Bauer selbst immens unter Druck. Heute würde er sagen: „Ja mei, ich wollt‘ halt was werden!“. Seine eigene Karriere stand im Vordergrund und nicht die Genugtuung darüber, einen Mörder überführt zu haben. Heute muss er lächeln, wenn ihm die alten Zeiten durch den Kopf gehen. Seine damalige Unerfahrenheit ist ihm nicht peinlich, sie belustigt ihn eher.

Nach etwa zehn Minuten ist Bauer am Präsidium angekommen.

„Servus, Ferdl“, entwindet er seinen rauen Lippen, als er den Pförtner passiert. Langsam steigt er Stufe für Stufe nach oben in den ersten Stock. Natürlich könnte er auch den Fahrstuhl nehmen, aber er hat keine Lust auf ein Gespräch mit irgendeinem Kollegen, dem er sicherlich dort begegnen würde. Nein, dann schon lieber Treppensteigen. Oben angekommen, blickt er den Gang entlang, in dem sein Büro liegt. Niemand ist zu sehen. Gut, schweigt er in sich hinein. Schließlich erreicht er sein Büro, hängt Mantel und Hut auf und setzt sich an den Schreibtisch. Ungeordnet liegen dort unzählige Zettel und Akten. Bauer blickt auf die schwarze Oberfläche seines PC-Monitors. Natürlich erleichtert die Technik die Fahndung, aber entscheidend bleibt der Mensch, findet Bauer. Er lehnt sich zurück und starrt sinnierend weiter auf die glänzende Fläche. Seine Stimmung ist schweigsam melancholisch.

Schließlich reißt ihn Franz Kreuzpeintner aus seinen Gedanken. Der 37-jährige Kriminalkommissar ist einer der wenigen Kollegen, für die Bauer eine gewisse Sympathie empfindet. Die drückt sich aber nicht in Herzlichkeit aus, sondern in einer Form von Nichtmissachtung. Viele seiner Kollegen halten ihn für einen eigenartigen Menschen; manche sogar für ein ausgemachtes Arschloch, was Bauer in keinster Weise stört, sondern eher noch beflügelt, seine Eigenbrötlerei weiter auszubauen.

„Also, der Chef hat mir gerade gesagt, dass wir beide beim nächsten Fall zusammenarbeiten sollen. Ich weiß nicht, ob dir das recht ist, aber ich würd‘ schon gern“, meint Kreuzpeintner an Bauer gewandt.

„Mal schau’n“, entgegnet ihm Bauer und starrt Kreuzpeintner dabei mit zusammengekniffenem Gesicht an.

Er findet diese Pärchenbildung bei der Ermittlungsarbeit lächerlich. Ein Ermittlungspartner erscheint ihm eher als Klotz am Bein. Du musst jeden deiner Schritte erklären und möglicherweise auch noch auf Richtigkeit diskutieren. Es ist ihm schlicht zuwider.

Kreuzpeintner kennt Bauers sparsame Art zu antworten. Er weiß, dass er jetzt nichts zu entgegnen braucht. Schließlich murmelt er im Umdrehen:

„Na dann.“

Bauer schrickt auf. Sein Mobiltelefon, das er kurz vor dem Einschlafen auf sein Nachtkästchen gelegt hatte, läutet. Er ist schlaftrunken und der Rausch, den er nach den sechs Weißbieren am Abend hatte, ist auch noch spürbar.

„Hallo, Bauer“, murmelt er mürrisch in das Gerät.

„Hallo Herr Bauer, tut mir Leid, dass ich sie wecken muss, aber wir haben einen Leichenfund im Englischen Garten“, erklärt ihm die Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Wo genau?“, will Bauer wissen.

Nachdem er den genauen Fundort beschrieben bekommen hat, zieht er langsam Socken, Hemd und Hose an und macht sich auf den Weg zur Haustür.

„Zefix, immer in der Nacht“, brummt er, während er den Mantel anzieht.

Im Auto, auf dem Weg zum Fundort der Leiche, fällt ihm das Gespräch mit Kreuzpeintner wieder ein und er fragt sich, ob er diesen Fall im Duett lösen muss. Ja, er denkt „lösen“. Es gibt für ihn keine Alternativen! Der Gedanke, dass er einen Fall bearbeitet, aber keinen Mörder finden kann, ist für ihn absurd. Noch nie war dies bis jetzt der Fall, denn immer hat ihn sein Gespür untrüglich zum Mörder geführt.

Er hat nun den Englischen Garten erreicht und steuert den Wagen zum beschriebenen Fundort. Die Kollegen von der Spurensicherung untersuchen die nähere Umgebung im Scheinwerferlicht. Bauer steigt aus dem Fahrzeug aus und geht einige Meter auf einen Körper zu, der ausgestreckt auf dem Boden liegt. Er betrachtet die Person mit einem langsam abtastenden Blick. Die Hände sind hinter dem Rücken mit einem Seil zusammengebunden. Die Füße sind ebenfalls gefesselt.

Über den Kopf ist eine Plastiktüte gezogen, die um den Hals herum mit einer Schnur fixiert ist.

„Da sieht man mal wieder, dass der Aldi recht robuste Plastiktüten hat“, hört Bauer eine Stimme in seinem Rücken.

Er dreht sich um und erkennt Kreuzpeintner, der etwa einen Meter hinter ihm steht.

„Was machst du denn da?“, fragt ihn Bauer knorrig.

„Ist schon gut, brauchst nichts sagen“, fährt er fort, bevor Kreuzpeintner antworten kann.

„Habt‘s schon was gefunden?“, will Bauer von einen vorbeihuschenden Kollegen der Spurensicherung wissen.

„Nein, gar nichts, bis jetzt.“

„Was meinst du, Helli? Der Mord ist doch nicht hier passiert?“, fragt Kreuzpeintner.

Bauer überlegt kurz, ob er jetzt schon damit beginnen muss, den Fall zu diskutieren und zudem über so etwas Eindeutiges zu reden, wie das, was Kreuzpeintner als Erkenntnis ausdrückt. Aber gut, er mag seinen Kollegen, also gibt er ihm eine Antwort:

„So isses.“

Mehr muss nicht sein, findet Bauer.

Am nächsten Morgen wartet Kreuzpeintner bereits in Bauers Büro, als dieser eintrifft.

„Pathologie, Helli“, bemerkt Kreuzpeintner.

„Wann?“, fragt Bauer zurück.

„Jetzt gleich!“

In der Pathologie angekommen, begeben sich die beiden Kommissare in einen der gekachelten Säle, in denen die Leichen seziert werden und Dr. Brandl den Geheimnissen der toten Körper auf die Spur kommt.

„Habe die Ehre, meine Herren“, begrüßt sie Brandl.

„Na, samma heut‘ einer mehr, als sonst, Helli“, meint Brandl lächelnd zu Bauer.

Der verzieht nur einen Mundwinkel zu einem sauren Grinsen.

„Also“, fährt Brandl fort. „Der Tod ist gestern so gegen 20 Uhr eingetreten. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass der Mord nicht im Englischen Garten passiert ist. Außerdem, und jetzt kommt’s, ist der Tod nicht durch Ersticken eingetreten, sondern durch Ertrinken. Ich habe Wasser in seinen Lungenflügeln gefunden, was eindeutig auch die Todesursache darstellt. Ich konnte keine Form von grober Gewaltanwendung feststellen, sodass hier kein Zweifel besteht.“

„Sonst noch irgendwas Besonderes?“, fragt Bauer.

„Na ja, es steht zwar nicht in Zusammenhang mit dem Verbrechen, aber der Tote hatte, für einen Mann sehr ungewöhnlich, ein Zungenpiercing“, bemerkt Brandl. Kreuzpeintner schaut Bauer neckisch an.

„Das wär‘ doch auch was für dich, Helli! Vielleicht hätt‘st damit endlich mal ein bisserl mehr Glück bei den Frauen!“

„Depp! Wir gehen. Servus Hans“, bemerkt Bauer knapp und bewegt sich Richtung Ausgang.

Im Auto, Bauer fährt und Kreuzpeintner sitzt neben ihm, ergibt sich tatsächlich ein Gespräch zwischen den Beiden.

„Hast‘ Hunger, Franz?“

„Ja, natürlich. Ich hab‘ heut‘ Morgen nur kurz ein Tasserl Kaffee g‘habt. Die Nacht war ja eh so kurz.“

„Dann lass‘ uns doch schnell auf ein paar Weißwürscht gehen!“

„Gute Idee, Helli! Sag‘ mal, hast du eine Idee, wie wir jetzt weitermachen?“

„In so einem Fall ist es besser, noch nicht zu viel zu denken. Erst die Weißwürscht, dann die Leich‘.“

Bauer steuert den Wagen ins Schlachthofviertel. Hier kennt er alle Kneipen und Wirtschaften. Weißwürscht nur beim Neuner, würde seine Antwort lauten, wenn man ihn nach den besten Weißwürsten der Stadt fragen würde. Sie betreten die Wirtsstube.

„Servus, Helli“, schmeißt ihm eine Bedienung kurz entgegen. „Servus, Kathi!“

Die Wirtsstube ist gut gefüllt und Bauer steuert einen Tisch an, an dem bereits vier Männer sitzen.

„Dürf‘ma uns dazusetzen?“, fragt Bauer in die Runde.

„Hockts euch hi“, kommt es knapp zurück. Eine Bedienung erscheint und stellt einen Korb Brezen auf den Tisch.

„Trinken?“, ist die Aufforderung der Bedienung, die Getränke zu nennen.

„Ein Weißbier und viere“, entgegnet Bauer knapp.

Kreuzpeintner stutzt kurz und fügt an:

„Ein Weißbier und drei.“

Die Bedienung entgegnet ein kurzes „Danke!“ und eilt davon. Bauer nimmt sich eine Breze, zerreißt sie in zwei Teile und beißt ein Stück davon ab. Kreuzpeintner tut es ihm gleich. Bevor beide ein Wort wechseln, kommt die Bedienung und stellt zwei Weißbiere auf den Tisch. Kreuzpeintner und Bauer heben die Gläser, stoßen an und nehmen einen kräftigen Zug. Nachdem sie die Gläser wieder abgestellt haben, sagt Bauer:

„Schau dich hier mal um. Jeder Tisch ist voll und das um halb elf. Das ist bayerisches Lebensgefühl! Was immer behauptet wird; dieses Lebensgefühl ist nicht tot, sondern es lebt. Und es lebt besonders hier, in diesem Viertel!“

„Du magst das ganz besonders, dieses Lebensgefühl“, murmelt Kreuzpeintner.

„Ja, das bestimmt auch mein Leben“, antwortet Bauer.

„Aber glaubst du nicht, dass das alles allmählich antiquiert ist? Globalisierung und so weiter“, will Kreuzpeintner wissen.

„Ein Schmarrn! Was hams denn alle von ihrer Globalisierung? Hektik, Stress, Herzinfarkt und Burn-out“, murrt Bauer.

Bauer hat einen weiteren großen Schluck von seinem Weißbier genommen und fährt fort:

„Irgendwann im Leben kommt der Zeitpunkt, da muss man ehrlich zu sich sein. Man muss wissen, was einem gut tut und was schlecht ist. Man muss sich entscheiden. Ich habe mich entschieden. Ich gehöre hierher und lebe im Rhythmus dieses Viertels. Hier bestimmt der Schlachthof den Rhythmus und ihm folgen die Menschen hier. Prost!“

„Also ich weiß nicht, das ist schon eine sehr einfache Sicht“, zweifelt Kreuzpeintner.

Er wird durch die Bedienung unterbrochen. Sie stellt eine große Porzellanschale, mit den Weißwürsten in heißem Wasser, auf den Tisch. Dann folgt je ein Teller für Bauer und für Kreuzpeintner.

„An Guadn“, wünscht die Bedienung den beiden Männern, bevor sie sich umdreht und geht.

„Danke dir, Kathi“, ruft ihr Bauer nach und angelt sich mit seiner Gabel eine Wurst aus dem Gefäß. Kreuzpeintner tut es ihm gleich. Bauer hat bereits einen großen Klecks Süßen Senf auf seinem Teller platziert und tunkt nun die Wurst in den Senf. Dann beginnt er, an der Wurst zu zutzeln. Kreuzpeintner schneidet die Haut der Wurst auf und zieht sie ab. Danach fängt er an mit Messer und Gabel die Wurst zu zerteilen und schiebt sich ein Stück in den Mund.

„Schau Franz, das ist Leben“, bemerkt Bauer.

Prostet Kreuzpeintner zu und bestellt sich das nächste Bier.

Zurück im Präsidium gehen die beiden Männer direkt in Bauers Büro. Auf dessen Schreibtisch liegt ein DIN A4-Umschlag. Bauer öffnet ihn.

„Das sind die Ergebnisse vom Erkennungsdienst“, erklärt Bauer seinem Kollegen.

„Es handelt sich um einen gewissen Pierluigi Cantoni. Er war Kellner bei Beppo & Bippo am Gotzinger Platz, in der Nähe der Großmarkthalle.

32 Jahre alt. Keine Vorstrafen. Er hat in der Zenettistraße gewohnt und ist unverheiratet.“

„Ein unbeschriebenes Blatt also?“, fragt Kreuzpeintner.

„Ja, scheint so. Wer bringt denn einen Kellner aus Sendling um und legt ihn dann in den Englischen Garten, damit man ihn ja findet? Merkwürdig.“

Sie halten mit ihrem Wagen vor dem italienischen Lokal. Bauer betritt als Erster das Restaurant. Es ist 13.30 Uhr und auslaufendes Mittagsgeschäft. Die Hälfte der Tische ist noch gefüllt. Hier beginnt das Leben früh am Morgen. Bereits vor 6 Uhr öffnen zahlreiche Bistros, Gasthäuser und Kneipen, um die hungrigen Mägen der Metzger und Gemüsehändler zu füllen.

Das Mittagsgeschäft ist für viele dann schon die Zeit kurz vor Feierabend. Auch bei Beppo & Bippo ist es so. Bauer erkundigt sich bei einem der Kellner nach dessen Chef. Dieser deutet auf einen Mann, um die 50, der hinter dem Tresen Getränke vorbereitet.

„Grüß Gott, Herr Kolfani! Bauer mein Name, von der Kripo München. Das hier ist mein Kollege Kreuzpeintner.“

„Buongiorno, Signore Kommissare“, entgegnet der Angesprochene und schüttelt Bauer die Hand.

„Sie kommen sicher wegen Pierluigi? Sehr, sehr tragisch, diese Sache. Wissen sie, er war einer meiner besten Angestellten. Zuverlässig und schnell.“

„Wann haben sie ihn denn das letzte Mal gesehen?“, will Bauer von dem Italiener wissen.

„Letzte Woche, Sonntag. Das war seine letzte Schicht, Signore Kommisare. Die Woche darauf hatte er frei genommen.“

„Herr Kolfani, ist ihnen in der letzten Zeit irgendwas an Herrn Cantoni komisch oder anders vorgekommen? War er irgendwann mal bedrückt oder besorgt“, fragt Bauer den Lokalbesitzer.

„No, nonono. Er war immer fröhlich. Immer hilfsbereit und nett. Nix merkwürdig“, verneint Kolfani.

„Hatte Herr Cantoni Freunde, die sie kennen“, wirft Kreuzpeintner ein.

„No, keine Ahnung, welche Freunde er hatte. Er war hier, um zu arbeiten und mehr nicht.“

Bauer und Kreuzpeintner blicken sich gegenseitig an. Hier kommen sie offenbar nicht weiter.

„Ja, dann vielen Dank, Herr Kolfani. Wir haben fürs Erste keine Fragen mehr.“

Bei diesem Satz schüttelt Bauer dem Italiener die Hand, dreht sich schweigend um und geht. Kreuzpeintner folgt ihm.

Als sie wieder im Wagen sitzen, murmelt Bauer:

„Der braucht mir nicht erzählen, dass er Cantoni nicht privat gekannt hat. Die Italiener, insbesondere hier im Viertel, sind alle miteinander vernetzt. Der kann einen anderen für blöd verkaufen.“

Nach Dienstschluss hat Bauer keine Lust, sofort in seine leere Wohnung zu fahren. Außerdem hat er noch Hunger. Er stellt seinen Wagen in der Nähe seiner Wohnung ab und geht zu Fuß zu einem kleinen, italienischen Bistro in unmittelbarer Nähe des Schlachthofs.

„Servus, Gino“, begrüßt er den Wirt, der sofort auf ihn zukommt.

„Hallo Helli, wie geht‘s? Schon lange nicht mehr da gewesen!“

Bauer setzt sich an einen Tisch und entgegnet Gino:

„A mei, manchmal passt‘s und manchmal nicht. Bring mir doch erstmal einen Chianti.“

Der Wirt flitzt los, um den Chianti zu holen. Einige Minuten später kehrt er mit einem großen Weinglas und einer Flasche Wein zurück. Er gießt ein, Bauer probiert und nickt. Der Wirt gießt nach.

„Du sag mal, Gino, du kennst doch Beppo & Bippo?“

Der Wirt nickt.

„Ja, warum? Was ist mit dem Lokal?“

„Kennst du auch den Chef von dem Laden, einen Herrn Kolfani?“

„Sicher, du weißt doch, man kennt sich hier untereinander“, wundert sich Gino über Bauers Frage.

„Einer der Kellner von Kolfani wurde ermordet im Englischen Garten gefunden.“

Der Wirt reißt entsetzt die Augen auf und legt seine Finger erstaunt auf seine Lippen. Bauer fährt fort:

„Kolfani sagt, dass er diesen Kellner privat überhaupt nicht gekannt hat.“

„Kolfani stellt alle seine Leute nur über Empfehlungen von Bekannten ein. Und die kennen natürlich das ganze Privatleben des Betreffenden. Famiglia, du weißt schon?“

Dabei reckt Gino seinen Zeigefinger belehrend in die Luft.

„Kannst du mir die Namen dieser Bekannten geben?“

„No, Helli, tut mir Leid, das wäre gefährlich für mich. Verstehst du?“

Bauer nimmt einen großen Schluck Wein und taxiert Gino mit verkniffenen Augen. Er schweigt jetzt lieber und wartet auf eine weitere Reaktion des Italieners. Dieser blickt ihn mit einem Dackelblick an und grinst. Nichts zu machen, denkt sich Bauer und verbeißt sich ein Nachbohren.

Später liegt Bauer noch wach in seinem Bett und grübelt über die Möglichkeiten nach, weitere Informationen über das Privatleben von Cantoni zu bekommen. Nach zwei Flaschen Wein und einem Averna schwirren seine Gedanken wirr durcheinander. Letztlich schläft er ein.

Am nächsten Tag fährt Bauer mit Kreuzpeintner zu Cantonis Wohnung. Sie befindet sich im dritten Stock eines Altbaus in der Zenettistraße. Die Spurensicherung ist bereits hier gewesen und hatte Fingerabdrücke sowie weitere Spuren von Gegenständen genommen.

„Mal schaun, ob der liebe Pierluigi uns noch etwas helfen kann“, sagt Bauer zu seinem Kollegen.

Als sie die versiegelte Wohnung betreten und sich in den beiden Zimmern umsehen, entdecken sie zunächst nichts Außergewöhnliches. Kreuzpeintner durchstöbert das Schlafzimmer und Bauer nimmt sich die Wohnküche vor. Kein Adressbuch, keine Zettel mit hilfreichen Informationen. Der Mörder hat es offenbar verstanden, alle Hinweise verschwinden zu lassen, davon ist Bauer überzeugt. Er geht ins Bad. Dusche, Badewanne, Toilette, Waschbecken und Waschmaschine. Ein paar Tuben, ein paar Fläschchen und ein Föhn.

„Oh mei“, denkt sich Bauer.

Das macht er immer, wenn ihm gerade nichts einfällt. Jetzt nimmt er den Spülkasten ins Visier. Loser, also Verlierer, verstecken immer ihre Wertgegenstände im Spülkasten. Cantoni war ein Loser, sonst würde er jetzt noch leben. Er öffnet den Deckel.

„Franz, komm mal!“

„Ha“, tönt es aus dem Schlafzimmer.

Kreuzpeintner steht nun im Türrahmen zum Bad. Bauer hält einen Plastikbeutel in der Hand und versucht diesen zu öffnen. Er schafft es und zieht ein Geldbündel aus der Tüte.

„Nicht schlecht Franz, ha?“, grinst er seinen Kollegen an.

Das Gespür hat Bauer wieder auf die richtige Fährte gebracht. Kreuzpeintner sieht ihn verblüfft an. Er bewundert Bauer für seinen siebten Sinn, eine Gabe, die einen Kriminaler zum Künstler macht.

Kurz darauf verlassen sie die Wohnung Cantonis mit dem Geldbündel, um es zählen zu lassen und um zu überprüfen, ob die Scheine aus einem Überfall stammen.

Nachdem sie das Bündel im Präsidium abgegeben haben, meldet sich bei Bauer der fast latente Hunger.

„Franz, ich geh was Essen. Servus.“ verabschiedet er sich von seinem Kollegen. Bauer schlendert durch die nahe Fußgängerzone und kommt auf den Viktualienmarkt. Der Tag ist sonnig und warm.

Es wuselt. Menschen drängen sich an den Ständen.

An einem Stand bleibt er stehen und beobachtet versonnen die Frau hinter den Gemüsekisten.

„Griaß di, Vroni“, begrüßt er die Standlfrau.

Sie dreht sich zu ihm um und wirft ihm ein Lächeln zu.

„Ja, Helli, kommst du mal wieder vorbei!“, spielt Vroni die Überraschte.

Beinahe 15 Jahre dürfte das mit ihr jetzt her sein, überlegt Bauer. Irgendwann hat sie gemerkt, dass er sie nicht wirklich liebte. Sie war für ihn ein Mittel zum Zweck. Mit ihr kämpfte er gegen seine Einsamkeit, ohne sich selbst auch nur ein Stück auf sie einzulassen.

Das tut ihm heute, genauso wie damals, Leid und er ist froh, dass sie trotz allem Freunde blieben.

„Vroni, darf ich?“

Er schiebt sich in das Innere des Standes, wo er Vroni umarmt und zärtlich an sich drückt. Die schiebt ihn sanft, aber entschieden von sich.

„Wie sieht‘s aus, mit einem Weißbier, Helli?“

Sie weiß, dass er den Alkohol nutzt, um runterzukommen. Bauer lächelt zufrieden und setzt sich in den Rückraum des Standes, wo er von Vroni ein Glas Weißbier bekommt, das er bereitwillig entgegennimmt.

„Vroni, sag mal, hast du mich, als wir zusammen waren, wirklich so geliebt?“

Dies ist für seine Verhältnisse eine außergewöhnlich offene, emotionale Frage.

„Helmut, warum willst du das jetzt wissen? Wirst‘ allmählich sentimental, auf deine alten Tag‘?“

Bauer trinkt einen großen Schluck aus seinem Glas.

Er weiß, dass man hier mit seinen Gefühlen nicht hausieren geht, sondern sie in Gesten und in Blicken zeigt. Man braucht keine großen Worte, um jemandem zu zeigen, dass man ihn wertschätzt, oder vielleicht auch mehr. Hier bestimmt das Tun das Sein, nicht das Reden.

Bauer kotzt es an, dass sich Karrieristen durch Plappern nach oben reden. Natürlich ist es wichtig, miteinander zu reden; aber nur zu reden um seine berufliche Position zu untermauern, war nie seine Art. Mitunter ist die Leistung, die Tat, weniger Wert als eine ansprechende Eigenwerbung, denkt er.

Besonders die Kollegen aus dem Norden sind geborene Eigenwerber. Schon allein ihre Gewohnheit, Satzlücken mit „äh“ oder „ähähäh“ zu überbrücken, widert ihn an. Warum tun sie das? Angst, dass jemand etwas einwerfen könnte? Angst, dass die eigene Stimme in der Zwischenzeit versiegt und kein Laut mehr aus ihrem Mund entweicht? Er weiß es und hat es auch immer gewusst, dass diese Menschen einen anderen Ursprung haben müssen als er selbst.

„Ach Vroni, schenk mir noch eine Halbe ein“, murmelt er und blinzelt versonnen in ihre Richtung.

Ein Bier, um seine Gegenwart zu vergessen, ein Bier, um einfach abzutauchen in seine Gedankenwelt, die manchmal so düster und einnehmend ist. Manchmal kommt er sich vor, wie aus der Zeit gefallen. Wie ein Relikt der Vergangenheit. Die Gegenwart ist nicht mehr eins mit ihm. Sie erscheint ihm mehr und mehr unwirklich. Und deshalb bekämpft er sie, indem er den Alkohol nutzt, um sich zu betäuben und der täglichen Wirklichkeit zu entfliehen.

„Helmut, du sinnierst schon wieder“, spricht ihn Vroni an. „Ich kenne doch deinen leeren Blick, wenn du mit deiner Schwermut haderst.“

„Ach, weißt‘, ich glaub‘, dass ich nicht mehr dazu pass‘, zu diesem modernen Gehabe. Viele Dinge um mich herum sind mir suspekt“, entgegnet ihr Bauer. „Aber, ich muss jetzt ohnehin weiter, Mordfall weißt‘.“

Bauer trinkt den letzten Schluck aus seinem Glas und reicht es Vroni, die es wortlos entgegennimmt.

„Dankschön, Vroni. Du tust mir immer gut. Bist doch einer der letzten normalen Menschen auf dieser Welt!“

Er drückt Vroni noch einmal an sich, dreht sich um und verlässt den Stand.

Auf dem Rückweg zum Präsidium fallen ihm die vielen japanischen Touristen auf, die Viktualienmarkt, Tal oder Marienplatz bevölkern. Der Japaner, denkt sich Bauer, passt sich immer an seine Umwelt an. Er geht in der Gruppe voll und ganz auf. Nein, Japaner könnte er nicht sein! Das wäre nichts für ihn. Er, der eigensinnige, schon leicht verschrobene Eigenbrötler. Manchmal, so denkt er sich, wäre es besser, er würde nicht so viel nachdenken. Da hat Vroni schon recht.

Zurück in seinem Büro, erhält er das Ergebnis der Überprüfung des Geldbündels. Die Scheine stammen aus keinem Überfall, sind also sauber. Es handelt sich um die Summe von 74.360.- €.

„Woher hat der bloß so viel Geld?“, murmelt Bauer.

Er führt den Telefonhörer ans Ohr und wählt Kreuzpeintners Nummer.

„Franz, was glaubst du, woher der Cantoni so viel Geld gehabt hat?“

„Naja, mit seinem Kellnern wird er es nicht verdient haben, denk‘ ich.“

„Ich mein‘, wir sollten nochmal ins Schlachthofviertel fahren. Ich habe da vielleicht noch jemanden, der uns weiterhelfen kann“, bemerkt Bauer und legt auf.

Kreuzpeintner ist neugierig. Im Auto fragt er Bauer, an wen er denn denke.

„Es gibt einen Menschen im Schlachthofviertel, der kennt dort jeden. Max Lautermeier, einer der wichtigsten Fleischhändler im Viertel. Er ist so etwas, wie die graue Eminenz. Der weiß über alles Bescheid, redet aber nicht über alles.“

Bauer stoppt den Wagen vor einem großen Backsteinbau. Das Firmenschild „ML Fleischhandel“ prangt über dem Eingang. Die beiden Kommissare betreten das Gebäude durch den Haupteingang und nennen am Empfang ihre Namen und ihr Anliegen. Nach kurzer Zeit des Wartens erscheint eine junge, attraktive Frau in einem grauen Kostüm und begrüßt die Wartenden:

„Grüß Gott, meine Herren! Ich bin Petra Gruber, die persönliche Assistentin von Herrn Lautermeier. Darf ich sie zu ihm bringen? Bitte, folgen sie mir doch.“

Frau Gruber führt sie durch mehrere Gänge und dann eine Treppe hinauf, bis sie vor einer Bürotür aus Eichenholz stehen bleibt.

Sie klopft und wartet, bis sie ein kurzes „Herein!“ hört. Dann betreten sie den Raum. Lautermeier erkennt Bauer sofort. Er erhebt sich von seinem Bürostuhl und geht einige Schritte ihn zu.

„Mein lieber Helmut, dass du mal wieder bei mir vorbeischaust! Wen hast‘ denn da mitgebracht?“

„Servus, Max! Das ist mein Kollege Kreuzpeintner! Wir müssen dich mal schnell belästigen. Vielleicht kannst du uns ja weiterhelfen.“

„Ja, um was geht’s denn?“

„Es geht um einen Mord an einem italienischen Ober aus dem Beppo & Bippo. Sein Name war Pierluigi Cantoni. Ist dir der Mensch bekannt?“

Bauer zeigt Lautermeier ein Foto des Ermordeten.

„Ja, den hab ich öfter dort im Lokal gesehen. Aber, was wollt ihr jetzt von mir wissen?“

„Cantoni hat ungewöhnlich viel Bargeld besessen. Mehr als 70.000.- €. Das kann er unmöglich mit seinem Beruf als Ober verdient haben. Hast du eine Ahnung, Max, woher er dieses Geld gehabt haben könnte?“

Lautermeier zuckt mit den Achseln und zuckt mit dem Mund.

„Was Genaues weiß ich nicht. Aber zumindest so viel, dass Cantoni gern im Gärtnerplatzviertel verkehrt ist. Du weißt, was ich meine, Helli?“

Das Gärtnerplatzviertel ist in München bekannt, als ein Viertel mit einer großen Schwulen- und Lesbenszene. Eine Vielzahl der Kneipen und Bars dort stellen beliebte Treffpunkte zum Anbandeln mit Gleichgesinnten dar. Jetzt hatte Bauer zwar noch keinen Hinweis auf die Herkunft des Geldes, aber immerhin wusste er nun, wo man vielleicht mehr über Cantoni erfahren könnte.

Er schlug Lautermeier anerkennend auf die Schulter und nickte ihm dankend zu.

Mit Kreuzpeintner verabredet Bauer auf dem Rückweg, sich am Abend in der Sunrise-Bar zu treffen. Sie ist eine der bekanntesten Szenekneipen im Gärtnerplatzviertel.

Bauer betritt das Sunrise gegen acht. Der Gastraum ist in schummriges Licht getaucht und zu dieser Uhrzeit noch kaum gefüllt. Ihm ist leicht mulmig zumute, bei dem Gedanken, dass ihm der Großteil der Gäste zuerst auf den Hintern schauen wird.

Er setzt sich an die Bar und bestellt ein Helles, das er in einem Zug etwa zur Hälfte austrinkt. Bauer blickt er um sich. Direkt neben ihm sitzen zwei junge Männer, beide in schwarzen, glänzenden Lederjeans. Sie unterhalten sich und bemerken Bauers musternde Blicke nicht. Da greift ihm von hinten eine Hand an die Schulter. Er zuckt zusammen, dreht sich um und schaut in Kreuzpeintners grinsendes Gesicht.

„Na, Helli? Magst‘ vielleicht einen Begrüßungskuss von mir?“, fragt er scherzhaft.

„Lass‘ den Schmarrn, Franz!“

Bauer beugt sich dabei etwas nach vorn und sagt leise:

„Du, die neben mir schauen so aus, als ob die aus der Szene wären. Was meinst‘?“

Kreuzpeintner nickt und tritt anschließend hinter die beiden Männer. Bauer kramt das Foto von Cantoni hervor und sagt an die beiden gewandt:

„‘Tschuldigung, darf ich euch mal stören?“

Die Männer blicken Bauer verwundert an.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Bauer und das ist mein Kollege Kreuzpeintner. Kennt ihr diesen Mann?“, fragt er und zeigt den Männern das Bild des Ermordeten.

Einer der Männer grinst den anderen an und meint kurz:

„Der Züngerl! Was ist denn mit dem?“

„Er ist tot und wir ermitteln in diesem Mordfall. Also, woher habt ihr den Züngerl gekannt?“

„Na ja, wie der Name schon sagt. Er hat bestimmte Dienstleistungen angeboten, für die er dann den Spitznamen bekam. Wenn sie wissen, was ich meine.“

Bauer dämmert, worum es sich handelt. Anscheinend hat Cantoni Männern sexuelle Dienstleistungen angeboten, weshalb er sich auch die Zunge piercen ließ. Wie in München üblich, hat er dafür seinen Spitznamen in der Szene erhalten. Unauffällig, aber treffend! Es scheint also, dass er sein Geld durch Anschaffen verdient hat.

An diesem Abend pendelt Bauer wieder mal. Er pendelt zwischen zutiefst traurig und sexuell aufgeladen.

Ja, der Züngerl, mit seinem Piercing, hat’s bestimmt gebracht. Nein, er selbst ist nicht schwul. Er ist nur geil auf Befriedigung, egal wie. Warum ist er allein und warum muss er darüber nachdenken, sich durch einen Stricher befriedigen zu lassen? Manchmal ekelt er sich vor sich selbst.

Der Herr Kriminalhauptkommissar lässt sich von einem Stricher einen blasen. Das wäre eine schöne Überschrift in der Abendzeitung!

Eigenartig, dass er immer wieder auf seine Einsamkeit zurückgestoßen wird. Frauen bekäme er genügend, aber er kann darauf verzichten. Das dauernde Plappern, dann das Anziehsachen-Kaufen, wie er es nennt. Dafür hat er nichts übrig. Er ist nicht mehr umzuerziehen - zu alt, zu weit weg vom Familienleben!

Vielleicht, so denkt er, ist es auch sein Beruf - der Grund, warum er sich nie gebunden hat. Zu unstetig erscheint ihm sein Leben als Mordermittler. Vielleicht sind ihm ja die Toten heute lieber als die Lebenden. Es ist eigenartig, wie frustriert er in solchen Momenten ist. Ach, scheiß an, denkt er. Warum immer wieder den gleichen Gedanken nachhängen?

Er muss sich vielleicht doch noch ändern, muss das Verschrobene, Kauzige, aus seinem Leben verbannen.

Er könnte ein flotter Mittvierziger sein, ein Frauenschwarm. Wenn er sich nur dazu aufraffen könnte!

Doch, will er sich überhaupt anpassen, glatt und kantenlos sein? Er wäre einer von den Lackaffen, die zuhauf in den Schwabinger Straßencafés sitzen. Das Cabrio immer in der Nähe geparkt. Nein, das widerspräche seinem Innersten. Er will kantig sein, nicht allen gefallen.

Bauer hasst es, wenn er über sich selbst sinniert. Er hasst es, sich immer wieder dieselben Fragen zu stellen. Zum Glück hat er den Alkohol. Den Kopf auszuknipsen und ein künstliches Hochgefühl erzeugen.

Zeit zu schlafen! Der Abend in der Sunrise-Bar endet für Bauer wieder mal mit einem ordentlichen Rausch. Acht Halbe Bier und zwei Averna haben ihren Dienst getan. Bauer döst weg. Die Lust auf Befriedigung bleibt wieder einmal ungestillt.

Am nächsten Morgen sitzt Bauer am Schreibtisch in seinem Büro und überlegt. Der Züngerl? Bauer grinst. Jeder bekommt den passenden Namen hier in München. Das macht einen Teil des Charakters dieser Stadt aus. Sie vereinnahmt dich, indem sie dich neu erfindet.

Aus Cantoni wird der Züngerl, aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten. Jetzt muss er sich um dessen Freier kümmern. Wer gehörte alles zu seinem Kundenkreis? Vielleicht finden sich dort Hinweise auf den Täter oder gar der Mörder selbst? Woher bekommt man Hinweise auf die Männer, die sich von ihm mit dem Mund bedienen ließen? Am ehesten aus der einschlägigen Szene, da kennt man sich untereinander. Man weiß, wer mit wem kopuliert. So müssen zumindest Cantonis Stammkunden bekannt sein.

„Hallo, Franz? Hier ist der Helli. Wir müssen uns nochmal bei den Schwulen umsehen. Wir brauchen Namen von Freiern oder engeren Freunden vom Züngerl. Komm‘ bei mir vorbei, wir fahren ins Gärtnerplatzviertel.“

„Helli, gib mir zehn Minuten. Du, ich hab‘ heut‘ einen dermaßenen Dünnschiss! Ich muss schon wieder laufen. Servus.“

Bauer greift sich an die Stirn. Dieser Kreuzpeintner ist manchmal so ein Depp! Der schämt sich doch für gar nichts! Egal, Hauptsache, es geht schnell mit seiner Erledigung.

Im Auto fragt Bauer seinen Kollegen:

„Und, geht’s wieder?“

„Ja, du, ich sag‘ dir, das war knapp, sonst hätt‘ ich in d’Hosen g‘schissen.“

Bauer weiß jetzt, warum er nie mit einem Kollegen gemeinsam ermitteln wollte. Genau diese Gespräche, auf die kann er verzichten. Das braucht er nicht und er will es auch nicht.

Bauer schweigt Kreuzpeintner während der Fahrt einfach an. Genau das ist es, denkt er sich. Reden vermeiden und erst recht keine Fragen stellen.

Es ist jetzt etwa elf Uhr vormittags. Wahrlich keine Zeit, in eine Bar zu gehen, aber Zeit, ein spätes Frühstück einzunehmen. Nicht für Bauer aus dem Schlachthofviertel, aber für eine Vielzahl homosexueller Bonvivants, die hier im Viertel leben. Genau die richtige Klientel für einen wie den Züngerl, vermutet Bauer.

Er stoppt den Wagen vor dem „Petit Pièce“, einem französischen Bistro in der Klenzestraße. Es ist karg möbliert, fast schmucklos.

In Bauer steigen Erinnerungen hoch. Damals mit Vroni, vor etwa 15 Jahren, hatte er eine Frankreichreise unternommen. Ihr Ziel war die Atlantikküste in der Nähe von Bordeaux. Dort hatten sie ein Ferienhaus gemietet. Auf der Hinfahrt mussten sie im Massif Central übernachten. Es war eine regnerische Nacht und sie hatten um 10 Uhr abends ein kleines Hotel, abseits der Straße, gefunden. Im Gastraum des Hotels befanden sich nur noch zwei alte Männer, die vor ihren halb gefüllten Rotweingläsern saßen. Die Tische waren klein und karg bestuhlt. Als einzige Mahlzeit bot man zu dieser Uhrzeit noch Coq au Vin und anschließende Käseplatte an. Bauer erinnert sich, dass Vroni das Essen in extremer Weise genoss. Sie liebte es, bei gedämpftem Licht zu essen. Das war für sie ein erotischer Moment. Er weiß auch noch, dass das Mahl seinen Zweck nicht verfehlte. Sie wollte in dieser Nacht, dass er ganz tief in ihr war, sie einfach ausfüllte und ihr das Gefühl von Geborgenheit gab. Für ihn war es eher nur Sex. Tiefere Gefühle wollte er nie zulassen.