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In Geschichten von Gott und der Welt, in der sich Persönliches und Soziales, Politisches und Zeitgeschichtliches verweben, zeichnen sich in diesen biografischen Notizen ein lebendiges Bild vom Landleben im Umbruch ab.
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Seitenzahl: 242
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Ein Engel namens „Radegunde“
„High noon over Haselünne“
Von Hunnewupp zu Wannewupp
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ROßELTERN
In Pente: Der Pferdeflüsterer
Schnabeltasse und Bettränkel
In Vinte: Der Heiler
Kein „Unrecht-Goud“
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INDHEITSERLEBNISSE
Milch im Wasser
Der blaue See ist schwarz
Bei Huckleberry auf der Insel
Flug ins Nichts
Das kalte Fenster und der warme Fuchs
Die letzte Kutsche
Das große Geld
Die Kapelle der Maienkönigin
Der Vogel am Schulfenster
„Schulten Jopp“ Der Schmied
„Holskenmaker Lahrmann“
Von der Schneekoppe nach Pente - Die Flüchtlinge
„Meine Kriegserlebnisse“
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RIEGSGENERATION
Karl
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Johannes
Maria und ihr Mann Hans
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Bernhard
Hubert
„Alles Weiberkram?“ - Frauen auf dem Hof
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ESOPOTAMIEN NACH
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OFGESCHICHTE
Am Dinosaurierstrand
Von Königen, Barden und Bauern - Namensgeschichte
Bauernleid und Bauernwehr
Die Schlacht im Gehn
Schwedentrunk
Ut de Franzosentid
Der Brunnen des Fürstbischofs
Mit der SS-Hansa in die „Neue Welt“ - Die Auswanderer
In Cincinnati over-the-Rhine
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ANDEL
„Tante Mias“ Laden
Das Müllzeitalter dämmert
Die Stadt und der Adler
Mord im Bad
„De Dämper kump“
„Ein irrer Duft von frischem Heu“
Hühner auf Kufen
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ILDUNG
Die Lehre
Vietnam in Pente
Die Dialektik der Frau
Mit China in die Krise - Die Fachhochschule
Die Friedenstauben von Warschau
Der völkische Konrad - Die Uni
Von Versailles nach Taizé
Windkraft gegen Windbeutel
Karl May gegen Karl Marx - Der Verfassungsschutz
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„Der feine Herr von Papen“ - Januar 1932
Der „Rote Landsonntag“
Vinte, Sonntag Anfang Mai 1931
Die Größten Verbrecher?
Neuenkirchen, Februar 1933
Verrat in der Krolloper
Berlin, 23. März 1933
„Wenn de Bischop kien Verstand häv...“
Berlin, den 26. April 1933
Vom Roggenfeld nach Bersenbrück - Die Verhaftung
Vinte, Anfang August 1933
Ins KZ nach Börgermoor
Osnabrück, Ende September 1933
Reichstag im Lager
Börgermoor im Oktober 1933
„Wir holen ihn raus!“ - Widerstand statt Anpassung
Vinte - Osnabrück im Oktober 1933
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AHRHEIT WIRD EUCH FREI MACHEN
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ISCHOF
Der lange Schatten
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OORSOLDATEN
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Niederlage oder Befreiung -
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OKUMENTE
Dokumente zum Berning Skandal
Kein schöner Land in dieser Zeit
Dieser Text ist entstanden im Laufe einer lebensbedrohenden Krankheit, welche mir die Chance gegeben hat, auf die Vergangenheit meiner Erfahrungswelt zurück zu blicken. Vielleicht können sogar einige Aufräumarbeiten in dieser inneren Welt dazu führen, das Vergangenes bearbeitet zurück- und losgelassen werden kann. Denn Dinge können sich verändern, indem wir sie betrachten.
Gleichzeitig haben mir jedoch die Fragen meiner Kinder und anderer interessierter Menschen deutlich gemacht, wie schnell das Vergessen einsetzt und wie wohltuend auch die Kenntnis der Lebenswelten unserer Vorfahren in der jüngeren und älteren Vergangenheit sein kann. Diese Kenntnis trägt dazu bei, die Lebensbedingungen, welche uns selbst und die Kriegsgeneration prägten, aus ihren biografischen und zeitgeschichtlichen Erfahrungen besser zu verstehen. Auch wenn sie uns nicht immer präsent sind, beeinflussen sie unbewusst unser heutiges Leben.
So ist mittlerweile eine Generation herangewachsen, der die DDR genauso fremd ist wie der untergegangene Kontinent Atlantis. Andererseits ist mir beim Schreiben deutlich geworden, wie sehr mich der Erfahrungshintergrund des Zweiten Weltkriegs durch meine Elterngeneration geprägt hat. Mir kommt es fast so vor, als hätte ich ihn teilweise selbst erlebt.
Auch in der Landwirtschaft hat sich in der Mitte des letzten Jahrhunderts ein Epochenbruch vollzogen. Während sich die Wandlungsprozesse der vergangenen Jahrhunderte oder gar Jahrtausende langsam vollzogen, veränderte sich das Alltagsleben um 1950 durch Mechanisierung, Chemiesierung, Motorisierung, Elektronifizierung radikal. Innerhalb weniger Jahrzehnte verschwanden fast 90 Prozent der Bauernhöfe in Deutschland.
Auch die alte Form des Geschichtenerzählers hat sich gewandelt. Ich gehöre wohl zu der letzten Generation, die noch eine Welt ohne Handy, E-Mail … gekannt hat.
In diesen Text flossen immer wieder Geschichten ein, die ich von den Menschen meines Umfeldes, angefangen von meiner Mutter, eingesogen habe. Erst über diese Geschichten lernte ich die Gedankenwelt der Eltern kennen und erfuhr etwas über die Generation der Großeltern. Auch in der Strukturierung dieses Textes bin ich so vorgegangen, wie ich die Welt vorfand, erlebte und mich in ihr entwickelte.
Naturgemäß beginnt sie mit meiner Geburt, meiner Familie, meinen Erfahrungen im Arbeits- und Lebensumfeld des Hofes, sowie den Erinnerungen der Kriegsgeneration, die mich geprägt haben. Später interessierte mich immer mehr, wie es zu dieser unglaublichen Katastrophe des Faschismus und des Zweiten Weltkrieges kommen konnte. Denn dieser war mehr oder weniger legal aus der demokratischen Weimarer Republik durch das Bewusstsein der handelnden Menschen, ja zum großen Teil sogar durch ihre Begeisterung, an die Macht gekommen. In einer Kulturnation, die von Schiller, Goethe, Mozart, Beethoven… geprägt war.
Ein Hauch von Welt kam in mein jugendliches Bewusstsein durch die Verwandtschaft mit dem Bischof jenseits des Atlantiks, die mich in das Zweite Vatikanische Konzil einführte, und durch die Freundschaft mit dem brasilianischen Jesuitenpater Alban. Diese anderen Erfahrungswelten sowie meine Tätigkeit in der internationalen katholischen Landjugend beendeten bereits früh meine kindlich-„naive?“ Interpretation der Wirklichkeit und öffnete meinen Blick für die hinter der Welt der Erscheinungen liegenden Machtstrukturen. Goethe erkannte bereits: „Es ist der Herren eigner Geist, in dem sich die Zeiten spiegeln“. Mich interessierte von daher eher die andere Seite, also nicht die Seite der Herren, sondern die Seite der Beherrschten, der Gefolterten, der Widerständigen, der nach Gerechtigkeit strebenden. Daher entstand bei mir bereits frühzeitig ein Archiv mit Zeitzeugen Interviews. Aus ihnen habe ich auch einige Aspekte in meinen biografischen Notizen rekonstruiert. Diese Weltsicht von unten birgt auch eine Gefahr, wie der brasilianische Bischof Dom Helder Camara formulierte: „Wenn ich einem Armen ein Stück Brot gebe, werde ich als Heiliger angesehen. Frage ich, warum er hungern muss, bezeichnet man mich als Kommunist.“
Einige meiner damaligen biografischen Erkundungen und Interviews fanden Eingang in die wissenschaftliche Forschung, wie zum Beispiel in Veröffentlichungen der „Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien“.
Eine tragfähige oder endgültige Antwort darauf, wie es zu dieser politischen Katastrophe in Deutschland kommen konnte, oder gar wie sie wirksam hätte verhindert werden können, fand ich bislang nicht. Aber einige Aspekte davon.
So hat mich beeindruckt, mit welch selbstverständlichen, von seinem christlichen Grundüberzeugungen getragenen Mut, mein Großvater mütterlicherseits gegen die menschenverachtende Ideologie gewirkt hat. Umso mehr hat mich erschüttert, in welch leichtfertiger Weise ein Teil der kirchlichen Hierarchie die Christen in die Irre geführt hat. Ein exemplarischer Fall ist das Verhalten des Osnabrücker Bischofs Berning. Wie ich in vielen Gesprächen mit christlichen Zeitzeugen erfuhr, blieb dies bei ihnen zeitlebens eine offene Wunde.
Die Rekonstruktion seines Gesprächs mit Hitler und Göring beruht übrigens auf den Protokollen, die von Berning als auch von Hitler angefertigt wurden. Wie schwierig eine innere Läuterung und Umkehr ist, musste ich an der Reaktion gewisser klerikaler Kreise erfahren, die so im Bann der Vergangenheit standen, dass sie meine berufliche Existenzvernichtung betrieben. Ich hatte es gewagt, die problematische Rolle dieses Hierarchen anhand von Dokumenten und Zeitzeugenrecherchen zu benennen.
Die Rolle der Religion im Leben ist vielfältig, mindestens ambivalent. Meine Elterngeneration hat daraus ihre Kraft für ihr teilweise bitteres Leben gezogen. Für mich persönlich war das Wirken von Papst Johannes XXIII (1881-1963) von Bedeutung, dem Bauernsohn, der Güte und Frieden ausstrahlte und mit dem Konzil die „Fenster weit aufmachen“ wollte. Um den kirchlichen Mief raus zu lassen, wie er es ausdrückte.
Ein weiteres herausragendes Beispiel ist Papst Franziskus I (*1936), der sich eindeutig auf die Seite der Armen stellt und die Erhaltung der Umwelt mit der Enzyklika „Laudato Si“ (2015) zum Mittelpunkt seines Wirkens erklärt. Er möchte das Klerikertum, so seine Worte, von Selbstgerechtigkeit und „spirituellem Alzheimer“ (22.12.2014) befreien.
Statt eine komplizierte Moraltheologie zu entwickeln, sagte mir der evangelische Kirchenpräsident Martin Niemöller in einem persönlichen Gespräch, kann man einem einfachen Leitstern folgen. Wenn man eine Antwort auf eine schwierige Aufgabe haben will, muss man sich einfach nur die Frage stellen: „Was würde Jesus dazu sagen?“
Dieser Text ist eine Gemeinschaftsarbeit, weil sie auf den Erfahrungen und Geschichten vieler Menschen basiert. Ihnen allen möchte ich danken für ihre Offenheit, ihren Mut und Erfahrungsschatz. Es soll aber auch ein kleines Denk-mal insbesondere für die Frauen des Hofes sein, die ihre Lebenskraft, ihre Menschlichkeit für eine lebenswerte Vergangenheit und Gegenwart eingesetzt haben und einsetzen.
Danke an alle, die mich unterstützt und ermutigt haben, diese teilweise sehr privaten Aufzeichnungen zugänglich zu machen. Für alle Irrungen und Wirrungen trage ich jedoch allein die Verantwortung.
Karfreitag. Nacht. Totenstille. Dunkelheit. Mit einer Sturmlaterne winkt Onkel Bernhard an der versteckten Ausfahrt der Lindenallee an der Bundesstraße 68 in den spärlichen Autoverkehr. Endlich. Der elfenbeinfarbige Krankenwagen hält an. Onkel Bernhard lotst ihn schnell zum Hof in Pente. Die Wehen hatten sich angekündigt.
Sturmgebraus - ein Schrei! Zwischen zwei Schneegestöbern wurde der kleine Johannes Franz am 8. April, einem Karsamstag im Jahr des Metall-Tigers, (1950), in die Welt geworfen. Aber nicht er allein. Einige Augenblicke später folgte Schwester Hildegard.
Meine Mutter hatte auf Grund schrecklicher Erfahrungen die Privatklinik Dr. Utmöller an der Schlagvorder Straße in Osnabrück (übrigens in unmittelbarer Nachbarschaft der RWE Verwaltung) gewählt. Denn meine beiden älteren Schwestern, Maria und Elisabeth, waren 1948 und 1949 bereits kurz nach ihrer Geburt verstorben.
Für einen kurzen Moment war die Freude groß. Ein gesunder Junge! Dann erschien meine Zwillingsschwester Hildegard. Sie hatte einen offenen Rücken – spinida bifida. Wer kann schon sagen, welches radioaktive Nuklid vielleicht vom Bikini-Atoll in die Atmosphäre geschleudert, über Pente abgeregnet war und das empfindliche Erbgut getroffen hatte? Eine Ultraschalluntersuchung, die in diesem Fall einen Kaiserschnitt nahegelegt hätte, gab es damals noch nicht. So folgte schicksalhaft die Geburtsinfektion der offenen Wunde und meine Schwester lernte nie das Laufen.
Die Geburts-Nachricht gelangte über Kabel und Boten schnell zum Hof in Pente. Denn in „Tante Mias Laden“ auf dem Hörnschen Knapp gab es bereits einen Fernsprecher. Ein riesiger schwarzer Bakelit Kasten, der auf dem Flur an der Wand hing, machte ihr Bruchsteinhäuschen zur Nachrichtenagentur. Von hier waren es nur etwa 500 m bis zum Hof.
ABBILDUNG 1 – 1950 Die Zwillinge Hildegard und Johannes vor der Westfront des im gleichen Jahr abgebrochenen alten Fachwerkhauses.
Als ich etwa drei Jahre alt war, erstaunte mich meine Mutter mit der Frage, ob ich mir noch ein neues Geschwisterchen wünschte. Ich war überrascht. Irgendwie klang es einerseits nach Weihnachtswunschliste, andererseits nach bereits erfolgter Bestellung. Es wurde mein kleiner Bruder Karl, der den Namen meines Vaters trug. Ich bekam ihn kaum zu Gesicht. Die Enttäuschung folgte bald durch einen kleinen weißen Kindersarg. Nach drei Monaten wurde das Karlchen zum Engelchen.
Meine Mutter (*09.06.1915) stammte von einem alten Bauernhof in Vinte bei Neuenkirchen im Hülsen. Auch in unserer Heimat entwickelte sich mit der entstehenden Landbaukultur der Sonnenkult. So ist der Name des großväterlichen Hofes mütterlicherseits Sönnker, im Sönnkenort.
Ein altes Flurstück weist mit der Bezeichnung "Vor dem hohen Tempel" auf die spirituelle Bedeutung dieses Ortes hin. Eine auffällige Besonderheit der Pflanzenwelt im Umfeld von spirituellen Stätten, wie zum Beispiel der Externsteine, ist das häufige Vorkommen der Stechpalme oder Hülse (Ilex aquifolium), im Plattdeutschen auch „Hülsekrappen“ genannt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihre roten Früchte im Winter trägt, wenn ringsum alles Leben in Kälte, Schnee und Eis erstarrt. Sie entwickelt sich gern unter alten Eichen, dem Kultbaum der Druiden. Der spiegelnde Glanz auf den Blättern ist ein besonderer Ausdruck dafür, wie festlich sie mit dem spärlichen Winterlicht umgeht, in dem sie es mit ihrer grünglänzenden Blatthaut in die Natur zurückwirft.
Auf diesem Hof mit seiner uralten Geschichte wurde meine Mutter 1915 geboren. Ihr Vater Theodor (*15.11.1862, +12.05.1936) und seine 20 Jahre jüngere Frau Anna, geb Reiring, (*29.03.1882, +02.11.1955) hatten neben meiner Mutter Maria noch weitere Kinder. Clemens führte den elterlichen Hof in Vinte, seine Schwester Emma heiratete nach Bawinkel auf den Hof Honigfort und Hedwig nach Voltlage in das noch heute existierende Busunternehmen Hülsmann.
ABBILDUNG 2 – Die alte Hofzufahrt zum Sönnkenort 1, dem Geburtsort meiner Mutter
ABBILDUNG 3 – Meine Mutter Maria in Vinte auf einem der Arbeitspferde des Hofes
Früh hatte sich meiner Mutter neben ihrer religiösen Haltung auch das politische Klima der damaligen Zeit eingeprägt. Ihr Vater galt als Heilkundiger und war als Zentrumspolitiker Bürgermeister, bis er von den Nazis abgesetzt wurde.
Für meine Mutter bestand das Leben in Pente weitgehend aus Arbeit, Sorge und Mühe. Schon als Kleinkind hatte ich den Eindruck, dass sie immer nur gearbeitet hat. Das war auf dem Lande in den Familienbetrieben unserer bescheidenen Größenordnung nicht unüblich. Neben der Familie gab es eine breit gefächerte Tierhaltung, die versorgt werden musste. Milchkühe, Hühner, Schweine, Pferde. Und fast alles, was gebraucht wurde, kam nicht über den Markt, sondern musste selbst hergestellt werden. Ein großer Gemüsegarten versorgte ganzjährig die Familie. Schnippelbohnen, Rote Bete, Gurken… alles wurde in Gläsern, Töpfen und Fässern eingelegt und für den Winter konserviert.
Plattdeutsche Worte für Ferien, Urlaub, Freizeit, Spaziergang… waren unbekannt. Es wäre meiner Mutter nie eingefallen, auf den „verruchten“ Gedanken zu kommen, alltags einen Spaziergang zu machen oder im Liegestuhl über Tag eine Zeitung zu lesen. Es sei denn, es war Sonntag oder „landwirtschaftlicher Feiertag“. Das waren die Regentage, wenn die sonstige Arbeit abgeschlossen war und draußen wegen des Wetters absolut nichts mehr getan werden konnte.
Krankheit, Leid und Tod waren ihr Schicksal. Ihre ersten beiden Kinder hatte sie ja kurz nach der Geburt verloren. Meine Zwillingsschwester war querschnittsgelähmt. Und mein jüngerer Bruder starb nach wenigen Monaten in einer Klinik. Ihre Schwiegermutter war seit dem Schlaganfall kurz vor der Hochzeit meiner Eltern querschnittsgelähmt und wurde von meiner Mutter versorgt. Dann folgte die Pflege von Onkel Wilhelm, dem immer gebrechlicher werdenden Bruder ihres Schwiegervaters.
1960 wurde bei meinem Vater ein Gehirntumor entdeckt. Er starb 1961. Später folgten Erkrankung und Tod von Tante Anna, der Schwester ihrer Schwiegermutter, die meiner Mutter im Haushalt eine große Stütze gewesen war.
Da Krankheit und Tod der Begleiter meiner Jugenderfahrungen war, bekam ich auch Einblick in die medizinische Grundversorgung. Schwester Radegunde vom Schwesternhaus in Wallenhorst war eine wiederkehrende Hilfsperson. Ihre kräftige zupackende Konstitution und die hochroten Pausbacken, die an Puttenengel erinnerten, (ihre Wangen waren durch starken Frost geschädigt, weil sie im Krieg mit dem Motorrad Lazarettdienste geleistet hatte) die beruhigende Stimme und ihre freundlich blitzenden Augen waren Hoffnungsträger für viele Kranke. Sie gab Ratschläge, brachte Medikamente, die vertraulich verabreicht wurden, weil niemand wissen sollte, woher sie diese bekam, und fuhr mit dem Fahrrad, später mit einem VW-Käfer, wieder von dannen. Eine richtige Abrechnung gab es nach meiner Beobachtung nicht. Ab und zu brachte ich beim Schwesternhaus ein geschlachtetes Huhn vorbei. Manchmal durfte ich etwas in den „Nickneger“ werfen, der
In dieser schweren Zeit wurde jedoch auch der Hof modernisiert. Meine Mutter hatte als Mitgift vom elterlichen Hof in Vinte eine Melkmaschine mit in die Ehe gebracht. Eine „Westfalia Separator“ mit zwei Melkgeschirren und großen Aluminiumeimern, welche die Melkzeit erheblich verkürzte und auch mir ermöglichte, als Kind ab und zu allein die Kühe zu melken.
Das Wohn- und Wirtschaftsgebäude wurde 1950 weitgehend neu aus Penter Klinkern und Heseper Betonelementdecken gebaut. Meine Mutter nutzte weitgehend ihre Kontakte zu Handwerkern, die sie aus ihrer Vinter Schulzeit als Klassenkameraden kannte: So den Zimmereibetrieb von Karl Goda aus Neuenkirchen, den Maurer Clemens Grüter und den Dränagebetrieb August Abing aus Vinte sowie den Elektriker Heinrich Mertens aus Neuenkirchen. 1956 folgte die große Scheune mit einem riesigen doppelten Eichendachstuhl. Es war das letzte große Getreidelagergebäude für den Winterdrusch, das in unserer Gegend gebaut wurde. Privat wurde überall gespart. Der Betrieb und damit die Lebensbasis gingen immer vor. Eine Sozialversicherung gab es noch nicht, so dass Renten- und Krankengeldansprüche nicht angemeldet werden konnten.
Dafür war damals die gegenseitige familiäre Hilfe selbstverständlich. In meinen ersten Lebensjahren waren noch zwei Brüder meines Vaters, Bernhard und Hubert, auf dem Hof, die aber bald ihre eigene familiäre Existenz aufbauten. Der familiäre Zusammenhalt bewahrte vor größter Not. Zeitweilig quartierten sich bei Krankheit Sohn Heinz oder Tochter Maria von Tante Emma, der Schwester meiner Mutter in Bawinkel, bereitwillig wochenlang in Pente ein, um im Alltag mit anzupacken. Denn auch meine Mutter hatte im Kriege ihrer Schwester Emma mit ihren sechs kleinen Kindern, Heinz, Maria, Walter, Willi, Robert und Rudolf, auf dem Hof Honigfort im Emsland geholfen, als deren Mann Heinrich (*12.05.1884, +02.02.1944) mitten im Krieg krank daniederlag. Rudolf, „Rudi“, sollte später den elterlichen Hof meiner Mutter in Vinte, der von ihrem kinderlosen Bruder Clemens und seiner Frau Maria geführt wurde, übernehmen.
ABBILDUNG 4 – Die Geschwister Maria und Emma nach einem Ausflug mit einem alten Hanomag PKW
Nach dem frühen Tod meines Vaters wurde Rudi auf Wunsch meiner Mutter zu meinem Vormund ernannt.
ABBILDUNG 5 – Das emsländische Hallenhaus aus Tonziegeln der Familie Honigfort zu Honigfort in Bawinkel, auf dem meine Mutter im Kriege ihrer Schwester Emma aushalf, als deren Mann schwer erkrankte.
Eine schnurgerade, mehrere 100 m lange Zufahrt, führte - vorbei an den zum Hof Honigfort zu Honigfort gehörenden Fachwerkhäusern der Heuerleute - direkt auf den Giebel des großen emsländischen Hallenhauses zu. Es war solide aus warmtonigen samtroten Tonziegeln errichtet. Hinter der Dielentür lagen links und rechts die wiederkäuenden Rinder und Milchkühe und in der Mitte das Heu und Stroh auf dem Stampflehmboden. Die Doppelflügeltür in der großen verglasten Holztrennwand am Kopfende der großen Dielenhalle ermöglichte den direkten Zugang in die riesige Küche, die sich einschließlich der Essecke fast über die volle Breite des Hauses erstreckte. Als erstes sah man die große Kochmaschine mit einer riesigen Herdplatte. Darüber der alte Schornsteinabzug. Hinter dem Herd, von weißen niederländischen Kacheln umrahmt, befanden sich zwei in Delfter Blau gemalte Wandbilder mit Kreuzigung und Himmelfahrt.
ABBILDUNG 6 – Die nach dem Vorbild von Lourdes auf dem Hof Honigfort errichtete „Marien Grotte“
ABBILDUNG 7 – Maria mit Honigforts Kindern und einem serbischen Kriegsgefangenen
ABBILDUNG 8 – Titel eines historischen Buches aus den USA über die Luftkämpfe in der Haupteinflugschneise der Alliierten Bomberflotte über Bawinkel und Haselünne auf ihrem Weg nach Berlin
Es war eine harte Zeit auf dem für die damaligen Verhältnisse großen Hof in der Nähe von Haselünne. Er lag direkt in der Einflugschneise der alliierten Bomberverbände nach Berlin. Im Frühjahr 1945 wurde Haselünne dreimal von den Angloamerikanern (Allianz von englischen, US-amerikanischen und kanadischen Streitkräften) erobert, so heftig war der Widerstand von Wehrmacht und SS.
Meine Mutter erzählte, dass die SS hinter dem alten Bauernhaus in einem kleinen Wäldchen eine Batterie Flugzeugabwehrkanonen aufgestellt hatten. Genau an der Stelle, wo die katholische Bauernfamilie aus großen Feldsteinen eine Mariengrotte als Besinnungs- und Gebetsort nach dem Vorbild des Wallfahrtortes Lourdes eingerichtet hatte. Ein meditativer Ort mit gepflegten Blumenrabatten, sorgfältig geharkt und von einer Buchsbaumhecke eingefasst. Nach Norden ragte eine etwa drei Meter hohe halbkreisförmig angelegte Feldsteinmauer auf. Hier befand sich auf halber Höhe die höhlenförmige Grotte mit der segnenden Jungfrau Maria in ihrem lichtblauen Gewand.
Hier hinein stellte also die SS ihre Geschütze. Diese vom „Feind“ gefürchteten Flakstellungen vom Kaliber 8,8 cm waren ein vorrangiges Ziel der alliierten Jagdbomber, welche die mit einem Dutzend Maschinengewehren ausgerüsteten schweren viermotorigen Propellermaschinen („flying fortress“) der Bomberflotte zu deren Schutz begleiteten. Meine Mutter fasste sich angesichts der Kinder im Haus ein Herz und ging auf den kommandierenden SS Offizier zu: „Ist es nicht möglich, die Geschütze etwas weiter weg vom Haus aufzustellen?“ Der Mann blickte sie drohend an, richtete die Mündung seiner Maschinenpistole auf sie und brüllte: „Noch ein Wort…!“ Besonders brisant war die Aktion meiner Mutter angesichts der Tatsache, dass sie im Haus noch einen halb verhungerten Häftling versteckt hatten, der aus den Emslandlagern geflohen war. Er befand sich in einem kleinen Raum, der sich hinter einer Klappe in der großen Wohnküche verbarg. Davor hatten sie das Bett mit dem kranken Vater gestellt. Meiner Mutter erzählte er, dass er vor Hunger im Lager so viel Gras gegessen hätte, wie auf einen großen Heuwagen passt.
ABBILDUNG 9 – Johannes in den 60er Jahren auf dem Mähbinder auf dem Hof Honigfort
Die wichtigste psychische Stütze meiner Mutter war ihr christlicher Glaube. Die Gottesdienstpflicht war ihr selbstverständlich. Das Gebet spielte zu allen Zeiten eine wichtige Rolle. Bei Krankheiten, schweren Gewittern und besonderen Schicksalsschlägen wurde in der Familienrunde, auch in meiner Jugend, immer wieder gebetet. Manchmal, vor allem beim Rosenkranz, kam es mir wie eine Ewigkeit vor, wenn die einzelnen „Gesetze“ des „schmerzhaften“ oder „freudenreichen“ Rosenkranzes nicht enden wollten.
In meiner frühen Jugend, ich muss zwei oder drei Jahre alt gewesen sein, erkrankte ich und bekam hohes Fieber. Es war wohl so ernst, erzählte meine Mutter später, dass ich, wäre ich einige Jahre früher geboren, ein unrettbarer Fall sei. Eine „Knochenmarkentzündung“, hieß es im Marienhospital Osnabrück. Täglich bekam ich eine Penicillin Spritze. Ich hörte, wie gesagt wurde, wenn man dieses Mittel bereits im letzten Krieg gehabt hätte, wären damit Hunderttausende von Menschen zu retten gewesen. Das Medikament wurde mir im Wechsel von zwei verschiedenen Schwestern verabreicht. Die erste, eine sehr robuste Frau mit einer riesigen schwarz geränderten Hornbrille ausgerüstet und mit einer Spritze, die gefühlt mindestens eine Länge von einem Meter hatte. Voll banger Erwartung stand ich blitzartig senkrecht im Bett, sobald sie die Tür öffnete. Die andere Schwester war wesentlich zierlicher. Bei ihr habe ich nie eine Spritze gesehen. Sie gab mir einen freundlichen Klaps auf den Po, den ich damals nicht als sexistischen Übergriff interpretierte - und sagte: „Schon fertig!“ Dabei ließ sie ihr freundlichstes Lächeln erstrahlen.
Die einzige größere Reise, die meine Mutter Anfang der fünfziger Jahre unternahm, war eine Wallfahrt nach Lourdes. Es war wohl der Versuch, durch Gebet und Opfer mit den Krankheiten in der Familie fertig zu werden...
Während dieser Zeit, ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt, wurde ich bei Onkel Bernhard und Tante Paula auf dem Caldenhof, dem Geburtsort von Ludwig Windhorst, Zentrumspolitiker und Gegenspieler Bismarcks im Deutschen Reichstag, untergebracht. Ich erinnere mich, wie ich „völlig unpolitisch“ durch eine Wandöffnung aus einer Kanne Wasser auf die glühend heiße Herdplatte in der Küche tropfen ließ und mich an den Wasserdampfexplosionen erfreute.
Außerdem bekam ich die Aufgabe, bei der Hochzeit meines jüngsten Onkels, Hubert, die Kerze zu tragen. In der Kirche von Ostercappeln stand ich neben dem Altar, als plötzlich ein Blitzlichtgewitter niederging. Für mich war dies ein völlig neues Phänomen, das mein junges Nervenkostüm etwas aus der Fassung brachte, so dass ich die Kontrolle über die brennende Kerze verlor. In der Folge lief das heiße Wachs über meine Hand. Aber das Prinzip – „Ein Junge weint nicht“ - musste durchgehalten werden.
Arbeit und Religion prägte die Lebenseinstellung auf dem Hof. Zeit-„Vertreib“ kam mir fast unmoralisch vor. Gesellschaftsspiele waren nahezu unbekannt. Man konnte und musste eigentlich immer etwas tun. Und vor Gott – so wusste ich - gibt es kein Entrinnen. Ich stand unter steter Beobachtung einer übergeordneten moralischen Instanz: „Ein Auge ist, das alles sieht, auch was in dunkler Nacht geschieht“.
Als ich 14 Jahre alt war, wollte ich Pater werden. Eine Missionsaktion in der Wallenhorster Kirche über Indianer im brasilianischen Urwald hatte mich gepackt. Den entfesselten Abenteuergeist konnte ich aber Gott sei Dank später mit Karl Mays Winnetou, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi aus der Borromäus-Bibliothek bändigen.
Meine Mutter war in einem inneren Zwiespalt und - aus meiner Sicht - erstaunlicherweise nur begrenzt begeistert. Wer sollte sich dann um den Hof kümmern? Aber sie hatte eine Idee. Wenn sie schon der Kirche keinen Priester schenken konnte, dann wollte sie helfen, dass woanders jemand ausgebildet werden konnte. Ich erinnere mich daran, dass eines Tages ein brasilianischer Theologe zu Gast war, der von einem Theologiestudenten sprach, welcher ein Hoffnungsträger sei. Dieser Gast, eine graumelierte aristokratisch dünkende Erscheinung, war mir allerdings etwas suspekt, weil er positiv von dem aktuellen Putsch und der Diktatur in Brasilien sprach. Mithilfe des US-amerikanischen Geheimdienstes CIA hatte nämlich im Jahre 1964 das brasilianische Militär geputscht und eine Diktatur errichtet. Soweit war ich politisch schon interessiert und engagiert, dass ich wusste, dass diese von den reichen Eliten getragen und gegen die armen Bauern sowie gegen die Menschenrechts- und Alphabetisierungsbewegungen gerichtet war.
Der Theologiestudent war allerdings ganz anders als von mir befürchtet. Pater Alban zeigte sich bald als engagierter Anhänger der Theologie der Befreiung und stellte sich erkennbar auf die Seite der Unterdrückten. Der kluge Jesuitenschüler setzte sein Studium an der Universität von Leuwen, Belgien, fort. So sparte meine Mutter 4000 DM, um die Ausbildung dieses Jesuitenpaters zu unterstützen, da ich kein Priester werden konnte.
ABBILDUNG 10 – Henry Soenneker bei seiner Inauguration zum Bischof von Owensboro, Kentucky (USA)
Außerdem hatte das II. Vatikanische Konzil unter dem Bauernsohn Papst Johannes XXIII. für eine Aufbruchsstimmung gesorgt. Während der Zeit dieses Konzils von 1962 bis 1965, an dem etwa 3500 Bischöfe aus aller Welt teilnahmen, kam ein Verwandter meiner Mutter, Henry Soenneker, der Bischof von Owensboro, Kentucky, USA, geworden war, zu Besuch. Er nutzte jeweils seinen Romaufenthalt, um zwischen den Sitzungsperioden einen Abstecher zu der Familie seiner Vorfahren zu machen. Für mich als eifriger Karl-May-Leser war es natürlich interessant, ihn, den Mann aus dem „Wilden Westen“, auch zu dem Schicksal der ersten Siedler aus Deutschland und ihrem Verhältnis zu den Indianern zu befragen. Es kam auch ein Hauch von Weltläufigkeit ins Haus und ich war stolz, als Zwölfjähriger allein nach Osnabrück zu fahren und für ihn bei den Agenturen die Formalitäten mit den Fluggesellschaften klären zu dürfen. Solche Besuche führten immer wieder die entfernten Familienmitglieder zusammen und sorgten für intensive Gespräche über Gott und die Welt.
Während der schwierigen Zeit der Krankheit meines Vaters 1961 und des so genannten Strukturwandels in der Landwirtschaft führte meine Mutter den Hof. (Allein in Deutschland starben damals jeden Tag etwa 50 Bauernhöfe.) Eine Zeitlang hatte sie einen Mitarbeiter, den Georg, der den Betrieb nach dem Tod meines Vaters aufrechthielt. Außerdem gab es noch den Hubert, der mit Hilde in der Mietwohnung wohnte und Schlepper fahren konnte. Und für Außenarbeiten kam „Jopp“ aus Lechtingen. Wenn es ums Bauen oder Fliesen legen ging, dann war „Hein“ unschlagbar. Er machte die Nacht zum Tage und erzählte aus seinem phänomenalen Gedächtnis die interessantesten Geschichten und Beobachtungen von Land und Leuten.
Die Preise in der Landwirtschaft wurden mit Gründung der EWG - der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - zugunsten industrieller Interessen drastisch abgesenkt. Man wollte ja billige Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft abziehen und die Lebenshaltungskosten der Arbeiter reduzieren. Dadurch wurde der Druck in Richtung höherer Lohne reduziert und ein Spielraum für industriellen Konsum eröffnet. Für einen Zentner Weizen konnten in der Folge die Bauern statt 25 nur noch 14 DM erlösen. Statt 50% des Einkommens für Lebensmittel auszugeben braucht man heute nur noch 10%.
Die Umstellung zur Intensivlandwirtschaft für eine billige Massenproduktion wurde massiv gefördert. Wir selbst bekamen Unterstützung bei der Trockenlegung und Kultivierung einer nassen Wiese durch ein Meliorationsprogramm.
Die begrenzte politische Weitsichtigkeit dieser Maßnahmen lässt sich auch darin erkennen, dass 50 Jahre später die Renaturierung, die Wiederverbuschung und Wiederherstellung des ursprünglichen Bachsystems, in Angriff genommen und als Ausgleichsmaßnahme bezuschusst wurde.
Meine Mutter arbeitete bis zu ihrem Tod, denn die Schweinemast war auch während einer zwischenzeitlichen Verpachtung des Betriebes ihre Einnahmequelle. Das landwirtschaftliche Altersgeld, das es mittlerweile immerhin gab, hatte nur die Höhe eines bescheidenen Taschengeldes.
In ihren letzten Lebensjahren gründete sie einen „Altenclub“, der für den Austausch und Zusammenhalt in der Nachbarschaft eine wichtige soziale Rolle spielte. Dabei wurde sie von einigen Frauen unterstützt. Als Ratgeberin war sie sehr gefragt. Ihre Gutherzigkeit und Hilfsbereitschaft waren sprichwörtlich. Die große Beteiligung der Menschen an ihrer Beisetzung 1983 zeigte, wie vielen Menschen sie wichtig war, ohne dass sie aufgrund ihrer Bescheidenheit großartig öffentlich in Erscheinung getreten war. Sie starb, wie sie es sich immer erhofft hatte: Nach einer Gehirnblutung lag sie nur drei Tage auf der Intensivstation. Sie wollte auf keinen Fall anderen zumuten, was sie selbst still erlitten hatte. Nämlich aufgrund von Gebrechlichkeit „anderen zur Last zu fallen“, wie sie es ausdrückte.
Ich bin noch in einer plattdeutschen Sprachwelt aufgewachsen. Mit meiner Mutter habe ich fast ausschließlich in dieser Sprache geredet, obwohl sie befürchtete, dass sich in der Schule für mich Nachteile ergeben könnten, weil ich das Hochdeutsch nicht richtig erlernen würde.