Kein Tag ohne dich - Ian Millthorpe - E-Book

Kein Tag ohne dich E-Book

Ian Millthorpe

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Beschreibung

Die Ärzte haben keine Hoffnung mehr, Angie wird sterben. Doch statt zu klagen, setzt sie alles daran, ihren geliebten Mann auf eine Zukunft ohne sie vorzubereiten. Schließlich muss er die acht Kinder auch nach ihrem Tod versorgen: Vom Zöpfeflechten über das Backen der Geburtstagskuchen bis hin zur täglichen Organisation einer Großfamilie - mit ungebremster Energie und Fröhlichkeit regelt Angie das Leben ihrer Lieben und ist für sie da - bis weit über den Tod hinaus.


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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über den Autor

Titel

Impressum

Widmung

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

EPILOG

DANKSAGUNGEN

Über dieses Buch

Die Ärzte haben keine Hoffnung mehr, Angie wird sterben. Doch statt zu klagen, setzt sie alles daran, ihren geliebten Mann auf eine Zukunft ohne sie vorzubereiten. Schließlich muss er die acht Kinder auch nach ihrem Tod versorgen: Vom Zöpfeflechten über das Backen der Geburtstagskuchen bis hin zur täglichen Organisation einer Großfamilie – mit ungebremster Energie und Fröhlichkeit regelt Angie das Leben ihrer Lieben und ist für sie da – bis weit über den Tod hinaus …

Über den Autor

Ian Millthorpe ist geboren und aufgewachsen in einem Bergbaugebiet in South Yorkshire, England. Ian stammt aus einer Bergbaufamilie. Nach 26 Jahren unter Tage musste er seinen Beruf aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Seit Angies Tod im Oktober 2010 ist Ian Vollzeitvater für seine 8 Kinder.

IAN MILLTHORPE

KEIN TAGOHNE DICH

Aus dem Englischen von Ulrike Werner-Richter

Digitale Neuausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2013 by Ian Millthorpe und Lynne Barrett-Lee

Published by Arrangement with Simon & Schuster UK Ltd., London, UK

Titel der englischen Originalausgabe:

»Mum’s Way. Angie’s courage and her life lessons, remembered by the husband and eight children she left behind«

Dieses Werk wurde vermittelt durch die literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Für die deutschsprachige Erstausgabe:

Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Marion Labonte, Wachtberg

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven von © cultura/masterfile

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-1664-2

luebbe.de

lesejury.de

KAPITEL 1

März 2010

»Mill«, ruft Angie. »Kannst du bitte mal kommen?«

Ich heiße Ian, aber Angie hat mich schon immer Mill genannt. Mill, die Kurzform von Millthorpe – und damit zugleich die kürzere und männlichere Version des Spitznamens, den man mir zu meinem Leidwesen in der Schule verpasst hatte und der schlimmer nicht hätte sein können: Milly.

Ich unterbreche das Abräumen des Frühstückstischs und mache mich auf den Weg zu ihr, um herauszufinden, was sie von mir will. Wie man das eben so macht, wenn die Ehefrau ruft, nicht wahr? Es ist ein Werktag, und wir machen gerade die jüngeren Kinder für die Schule fertig. Die fünf jüngeren, um genau zu sein. Die fünf jüngeren von insgesamt acht. Was bei uns zuhause einem strategischen Einsatz gleichkommt.

Ich finde Angie im Wohnzimmer, wo sie unserer Tochter Jade vor dem großen Spiegel, der über dem Kamin hängt, Zöpfe flechtet – so wie sie es jeden Morgen getan hat, seit Jade zur Schule geht.

»Stell dich hierhin, Mill«, sagt sie und zeigt unmittelbar neben sich. »Du sollst einfach nur hier stehen und zuschauen, wie ich es mache.«

Sie muss meinen Gesichtsausdruck bemerkt haben, denn sie lächelt mir zu. »Es ist ganz einfach, wenn man weiß, wie es geht«, versichert sie mir. »Bestimmt. Ganz ehrlich.«

Ich stehe da und schaue ihr zu. Ihre Hände bewegen sich flink und geübt. »Das werde ich nie lernen«, erkläre ich.

»Doch, das wirst du«, entgegnet Angie ruhig. »Weil ich es dir beibringen werde.«

Jade liebt diese Momente, in denen ihr Haar geflochten wird. Sie ist fast in Trance. Außerdem starrt sie wie gebannt auf den Fernseher, genau wie der Rest der jüngeren Kinder, der sich einen Zeichentrickfilm anschaut. »Warum willst du es mir beibringen?«, frage ich Angie, während unsere Blicke sich im Spiegel begegnen. Angie ist so dünn geworden. Obwohl sie es selbst nicht wahrhaben will und mir immer sagt, dass sie sich gut fühlt. Ihr Haar ist nach der letzten Chemo nachgewachsen und jetzt wieder wie immer – so dicht, weich und glänzend, wie es schon in ihrer Jugend war. Aber alles andere an ihr scheint vor meinen Augen zu schrumpfen. Sie muss ihre Jeans inzwischen mindestens hundertmal am Tag hochziehen.

Für einen Moment hält sie mit dem Flechten inne und schaut mich demonstrativ an. »Warum?«, wiederhole ich. »Warum willst du es mir beibringen, wenn du es doch selbst machen kannst?«

Wieder schenkt sie mir ein kleines Lächeln. Selbst die winzigste Andeutung eines Lächelns bringt ihr gesamtes Gesicht zum Strahlen. »Du weißt warum, Mill«, flüstert sie mir zu. »Weil du es eines Tages wirst machen müssen.«

Ich spüre, wie mir die Tränen kommen – Tränen, die niemand sehen darf, Angie nicht und Jade erst recht nicht. Also mache ich mich schnell wieder auf den Weg in die Küche. Es fällt mir so schwer, meine Tränen zurückzuhalten, aber ich weiß, dass ich es muss. Reece ist schon zur Arbeit gegangen. Alle Kinder außer Jake, der sich gerade oben die Zähne putzt, sind bei Angie im Wohnzimmer, und wenn es etwas gibt, das sie ganz bestimmt nicht brauchen können, dann ist es ein weinender Vater.

Dabei kommen mir die Tränen inzwischen so oft, dass ich allmählich eigentlich besser damit umgehen können müsste. Und irgendwie ist dem auch so. Ich reiße mich zusammen, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht, trockne mich ab und kehre ins Wohnzimmer zurück, wo Angie gerade mit Jades Zöpfen fertig geworden ist.

»Los, Süße«, sagt sie. »Hol deine Schuhe und den Ranzen.«

Dann dreht sie sich zu mir um und schaut mich an. »Hör auf, dich aufzuregen, Mill«, sagt sie streng. »Du wirst noch krank davon.« Ihr Blick wird weicher. »Hör zu, Liebster, ich will dich nicht verrückt machen. Wirklich nicht. Aber ich muss sicher sein, dass du das hinkriegst.«

Ich spüre, wie meine Augen sich schon wieder mit Tränen füllen, und ich weiß, dass Angie es sieht. Wie kann sie nur so stark sein, während ich ständig von Gefühlen überwältigt werde?

»Ich muss sicher sein, dass du es hinkriegst, dich um die Kinder zu kümmern, Mill«, sagt sie. »Weißt du was? Du bringst sie jetzt zur Schule, und danach reden wir, okay?«

Ich nicke lahm, ihr Mut macht mich demütig. Vor mir steht meine bildschöne, wirklich bildschöne Frau und redet über Dinge, die mir widerfahren werden, wenn sie stirbt. Ich habe keine Ahnung, wie ich damit fertigwerden soll. Nur, dass ich es muss.

Unsere drei Mittleren – Connor und die Zwillinge Jake und Jade – besuchen die örtliche Schule, die Milefield Primary. Klein-Corey geht seit September zur Vorschule in derselben Einrichtung. Weil Angie keinen Führerschein hat, ist es mein Job, die Kinder dorthin zu bringen. Und das mache ich seit meiner Frühverrentung im Jahr 2004, als ich im Alter von nur zweiundvierzig Jahren eine Hirnblutung erlitt.

Der Weg zur Schule ist mir so vertraut, dass ich ihn vermutlich auch mit geschlossenen Augen fahren könnte.

Das mache ich natürlich nicht, aber innerlich habe ich in jedem Fall auf Autopilot geschaltet. Zwar spreche ich mit Connor, der zehn Jahre alt ist und neben mir auf dem Beifahrersitz fröhlich schwatzt, aber in meinem Kopf schwirren schreckliche, unausweichliche Gedanken herum.

Normalerweise fahre ich nicht sofort nach Hause, nachdem ich die Kinder abgeliefert habe. Angies Eltern wohnen nur ein kurzes Stück die Straße hinunter, und meistens halte ich auf dem Rückweg bei ihnen an und erkundige mich, ob sie irgendetwas brauchen. Herbert und Winnie kommen zwar gut klar, aber Winnie wird zunehmend gebrechlicher, und daher bemühe ich mich, ihnen schwere Arbeiten abzunehmen, Besorgungen zu erledigen und so weiter. Heute allerdings nicht. Heute fahre ich mit wild pochendem Herzen sofort nach Hause, zurück zu Angie.

Sie wischt gerade im Wohnzimmer Staub. Ich mache uns in der Küche zwei Tassen Tee, stelle sie auf den Tisch und setze mich auf das Sofa. »Okay, Angie«, sage ich und bemühe mich, meine Stimme möglichst normal klingen zu lassen, als sie sich neben mich setzt. »Was ist los, Liebes?«

Sie setzt ihre Teetasse ab und nimmt meine Hand.

»Mill«, sagt sie. »Ich habe viel nachgedacht, weißt du. Ich muss einfach sicher sein, dass ihr, du und die Kinder, zurechtkommt, falls … sobald es passiert.«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, entgegne ich. Weil es genau das ist, was du immer sagst, habe ich recht? Obwohl wir beide wissen, dass es längst nicht mehr um ein falls geht. Die Zeiten sind vorbei. Jetzt geht es nur noch um wann. »Wir schaffen das«, füge ich hinzu. »Ganz sicher. Wir werden zurechtkommen.«

Dabei werde ich allein mit den Gedanken daran schon nicht fertig, wenn ich ehrlich bin. Weshalb ich sie so oft wie möglich verdränge. Aber Angie fällt nicht darauf rein. »Kannst du denn Zöpfe flechten?«, fragt sie keck und lächelt mich an.

»Nein«, muss ich zugeben. »Du weißt, dass ich es nicht kann. Und ich kenne auch keinen einzigen Mann, der das kann.«

Jetzt lächelt sie nicht mehr. Ich sehe ihr an, dass sie ebenso mit dem kämpft, was sie mir zu sagen hat, wie ich damit, es mir anhören zu müssen. »Das weiß ich doch, Mill«, erklärt sie schließlich. »Aber du wirst anders sein müssen als die meisten Männer. Die meisten Männer müssen nämlich nicht gleichzeitig Mutter und Vater sein, oder? Du schon. Du wirst beides sein müssen.«

Ich nehme sie in die Arme und drücke sie an mich. Jetzt, wo niemand es sehen kann, beginnt sie zu weinen. Tränen strömen in kleinen Rinnsalen über ihr Gesicht. »Wir werden zurechtkommen, Angie, Liebes«, tröste ich sie. »Ich verspreche es dir.«

Sie rückt ein Stück von mir ab, schaut mir ins Gesicht und wischt ihre Tränen mit dem Handrücken fort. »Aber es wird so schrecklich anstrengend sein. Das geht mir einfach nicht aus dem Kopf. All unsere Kinder … die ganze Logistik … das alles wird so schrecklich anstrengend für dich. Ich habe viel darüber nachgedacht, auch darüber, wie ich es dir so einfach wie möglich machen kann. Ich werde dir einfach jeden Handgriff zeigen.« Sie schnieft die restliche Traurigkeit fort und gibt sich plötzlich ganz nüchtern. Diesen Blick kenne ich nur zu gut. Angie ist keine Frau, die leicht aufgibt. Niemand, der acht Kinder zur Welt gebracht hat, gibt leicht auf. »Ich werde dir alles beibringen. Ich werde sicherstellen, dass du alles weißt, was du wissen musst, vom Baden übers Kochen bis zum Hausaufgabenmachen und zum … ja, bis hin zum Kuchenbacken. Das musst du unbedingt können, Mill. Es ist wichtig.«

»Kuchen backen?« Ich kann mir nicht einmal vorstellen, überhaupt irgendetwas in Richtung Backen erlernen zu können, geschweige denn einen Kuchen.

»Ja. Wenn die Kinder Geburtstag haben«, sagt sie und schaut mich an, als hätte ich das von allein wissen müssen. Ich spüre, dass sie wirklich ernsthaft nachgedacht hat. Sie braucht die Sicherheit, dass wir ohne sie das gewohnte Leben weiterleben. Und dass ich zumindest einen Geburtstagskuchen zustande bringe.

»Einverstanden, Liebes«, sage ich. Ich bin einfach nur dankbar, sie wieder lächeln zu sehen. »Womit fangen wir an?«

Ich nehme an, jeder Mensch glaubt, dass die erste Liebe auch die einzige bleibt, vor allem, wenn man sich im zarten Alter von vierzehn verliebt, in dem man sehr beeinflussbar ist. Aber wie oft geschieht das wirklich? Doch eher selten.

Der 27. September 1976 ist ein Tag, den ich nie vergessen werde. Ich war am späten Nachmittag auf dem Heimweg von meinem Freund David, als mir plötzlich jemand von der anderen Straßenseite etwas zurief. Ich hob den Blick und sah ein Mädchen, das ich aus der Schule kannte, auf mich zulaufen. »Ian«, keuchte sie, »ich soll dich fragen, ob du Lust auf ein Date mit meiner Freundin Angie hast. Sie findet dich wirklich toll«, fügte sie als Lockangebot hinzu.

Ich lehnte sofort ab. Ich hätte liebend gern Ja gesagt, aber ich tat es nicht. Ich kannte Angie vom Sehen und fand sie ebenfalls toll, aber ich war erst vierzehn und was Mädchen betraf eher skeptisch, ich wusste ja, wie sie sein konnten. Ein solches Angebot war ganz sicher ein Scherz. Was sonst? Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie das Mädchen im Falle einer Zusage schnurstracks zu Angie laufen würde und die beiden sich auf meine Kosten vor Lachen ausschütteten.

Im Übrigen hatte es angefangen zu regnen, es schüttete förmlich, und ich wollte nicht im Regen herumstehen und nass werden. Wir befanden uns in den Siebzigern, und ich musste schließlich an meine Frisur denken. »Ach, komm schon, Ian«, flehte das Mädchen. »Im Ernst. Sie mag dich wirklich sehr! Sie redet ständig von dir«, fügte sie hinzu. »Komm schon. Bitte!«

Ich schwankte noch immer, weil ich befürchtete, zum Besten gehalten zu werden, beschloss aber schließlich, es aller Zweifel zum Trotz zu versuchen. Diese Angie Yoxall gefiel mir nämlich wirklich sehr gut, und wenn ich jetzt ablehnte, ließ ich möglicherweise die Chance meines Lebens sausen. Angie hatte riesengroße, braune Augen und war außergewöhnlich hübsch – wer weiß, vielleicht würde ein anderer Junge sie mir sogar wegschnappen. »Okay«, sagte ich und bemühte mich, so cool wie möglich zu klingen. »Sag ihr, wir treffen uns morgen nach der Schule um sechs im Park.«

Der Park lag nicht weit von der Schule entfernt, und einige von uns hingen dort gern herum. Er verfügte über die üblichen Anlagen – ein Bowling Green, ein paar Tennisplätze und einen etwas heruntergewirtschafteten Pavillon. Außerdem luden zahlreiche Bänke dazu ein, hier sonnige Nachmittage mit einem Mädchen zu vertrödeln. Sofern man eines hatte …

Das Mädchen, das übrigens ebenfalls Angie hieß, rannte zufrieden davon und versprach, der anderen Angie Bescheid zu sagen. Ich setzte meinen Heimweg fort, von einem Ohr zum anderen grinsend, und konnte es kaum fassen: mein erstes Date! Mein allererstes Date! Ich hatte eine Freundin! So lief das damals noch – längst nicht so umständlich wie das, was die Kids heute so auf Facebook treiben. Ich hatte ein Date, und das bedeutete, dass ich eine Freundin hatte – na ja, mehr oder weniger jedenfalls. Der Regen war mir jetzt egal, obwohl ich längst vollkommen durchnässt war. Der nächste Tag konnte gar nicht schnell genug kommen.

Und dann auch noch schnell genug vergehen, wie ich bemerkte. Die erste Liebe ist eine alles verzehrende Angelegenheit, und ich konnte mich kaum auf etwas anderes konzentrieren. Ich war viel zu beschäftigt damit, im Schülergewimmel nach Angie Ausschau zu halten. Normalerweise sah ich sie ständig irgendwo – ich entdeckte sie immer, weil sie mir so gut gefiel –, aber an jenem Tag schien sie mir auszuweichen. Pause, Mittagessen, nächste Pause. Sie war wie vom Erdboden verschluckt. Ob sie überhaupt zur Schule gekommen war?

Dann, als ich gerade nach Hause gehen wollte, stand sie auf einmal am Schultor. Und sie schien auf mich zu warten, wie ich an ihrer Art, aufzublicken, als ich auf sie zukam, erkannte. Ich bemühte mich, so lässig wie nur möglich dreinzuschauen. Sie löste sich von der Mauer, an der sie gelehnt hatte, und lief mir mit ihren Riesenaugen und ihrem Schokoladenhaar entgegen.

»Hi, Milly«, sagte sie schüchtern. Ihre schüchterne Art gefiel mir. »Sag mal, könnten wir uns heute vielleicht schon um fünf statt um sechs Uhr treffen?«

Sie wartete auf meine Antwort, ohne mir eine Erklärung für die Vorverlegung zu geben. »Klar«, sagte ich, achtete aber darauf, keinesfalls zu eifrig zu klingen. Zu eifrig zu klingen war das Peinlichste überhaupt. »Kein Problem«, fügte ich hinzu. »Wir sehen uns dann um fünf.«

»Danke«, sagte sie. Und war auch schon wieder verschwunden.

Auf dem Heimweg schwebte ich nun schon den zweiten Tag hintereinander wie auf Wolken. Mein Lächeln wurde mit jedem Schritt breiter. Mensch Meier, dachte ich in typischer und bestechender Teenagerlogik, sie kann nicht einmal bis sechs Uhr abwarten, mich zu sehen – sie muss wirklich sehr auf mich stehen! Ich ging schneller. Bis fünf Uhr hatte ich noch eine ganze Menge zu erledigen.

Kaum hatte ich die Haustür hinter mir geschlossen, als ich auch schon meine Schultasche fallen ließ und raketengleich die Treppe hinaufflitzte, um mir ein Bad einzulassen. Während sich die Wanne füllte, kümmerte ich mich um die Auswahl der Klamotten. Musikalisch unterstützt von David Bowie durchwühlte ich meinen Schrank, kramte meine beste Hose hervor und flitzte damit zu meiner Mutter. Die Hose war beige, hatte einen hohen Bund, große Taschen und eine Doppelreihe Knöpfe. Sie war mein coolstes Kleidungsstück, abgesehen von ein Paar kirschroten Doc Martens, die ich natürlich ebenfalls tragen würde. »Mum«, säuselte ich und lächelte sie ganz besonders freundlich an, »könntest du die hier vielleicht kurz für mich bügeln?«

Ich war das jüngste von acht Kindern (mein nächstältester Bruder Glenn war inzwischen achtzehn), und in meiner Eigenschaft als Nesthäkchen verwöhnte meine Mutter mich nach Strich und Faden. Manchmal, wenn ich ausging, folgte sie mir mit Geld in der Tasche, das sie mir zusteckte, wenn niemand in der Nähe war. Obwohl die anderen sich sicher nicht daran gestoßen hätten, denn genau genommen verwöhnte sie uns alle. Weil aber inzwischen außer mir nur noch meine drei Brüder Terry, Les und Glenn zu Hause wohnten, hatte sie ein bisschen mehr Zeit dafür als früher.

Sie lächelte mir zu, wie sie es immer tat, und streckte die Hand nach meiner Hose aus. »Du hast es ja ganz schön eilig, Junge«, stellte sie fest. »Hast du dir etwa eine Frau geangelt?«

Ich spürte, wie ich rot wurde. Das Blut explodierte geradezu in meinen Wangen, und ich konnte nichts dagegen tun. »Nein«, leugnete ich hastig. »Ich will nur eben rüber zu einem Freund.«

»Klar hast du dir ’ne Frau geangelt«, hörte ich sie hinter mir herrufen, als ich ins Bad eilte.

Mir blieb nicht viel Zeit, müßig in der Wanne zu sitzen und über mein Glück zu sinnieren. Die Zeiger der Uhr wanderten unerbittlich in Richtung fünf. Ich hatte gerade noch Zeit, mich abzutrocknen und meine Hosen abzuholen (und dabei so zu tun, als hätte ich den amüsierten Gesichtausdruck meiner Mutter nicht gesehen). Im letzten Augenblick – ich hatte den Garten schon halbwegs durchquert – kam mir ein Gedanke, und so schlich ich mich in Terrys Zimmer und erleichterte ihn um ein oder zwei Spritzer seines Brut Aftershave. Es war von wesentlicher Bedeutung, dass ich für Angie nicht nur gut aussah, sondern auch gut roch. Terry würde mich umbringen, wenn er davon erfuhr, doch das war eigentlich nicht zu befürchten. Und wenn er Verdacht schöpfte, würde ich ohnehin alles abstreiten. Ein Mann muss schließlich tun, was ein Mann tun muss. In diesem Fall das »Splash it on«, das mir der Boxer Henry Cooper regelmäßig in der Fernsehwerbung ans Herz legte.

Halb ging und halb rannte ich durch die abendlichen Straßen. Das Aftershave wehte wie eine Duftwolke hinter mir. Punkt fünf stand ich im Grimethorpe Park, bereit für mein Date.

Man sagt ja oft, beim Anblick einer besonderen Person setze das Herz einen Schlag aus oder Ähnliches, aber ich schwöre, dass genau das bei mir geschah, als ich Angie erblickte. Sogar zwei oder drei Schläge, um genau zu sein. Sie saß auf der dem Parkeingang am nächsten gelegenen Bank und war schöner denn je. Die Beete waren um diese Jahreszeit leer, die Geranien und Ringelblumen des Sommers waren verblüht. Aber selbst in voller Blüte hätten sie es nicht mit Angie aufnehmen können. Sie sah geradezu perfekt aus. Zu schön, um wahr zu sein.

»Hi«, begrüßte sie mich und wirkte dabei womöglich noch schüchterner als zuvor.

»Hi«, sagte ich und setzte mich neben sie. Sie trug verblichene Jeans und einen cremefarbenen, kuscheligen, offenbar selbst gestrickten Pullover. Ihr dichtes, glänzendes Schokoladenhaar fiel ihr auf die Schultern. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Schon damals hatte sie ihr zauberhaftes Lächeln, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich mich schon an jenem Tag in sie verliebte.

Ich konnte mein Glück nicht fassen. Damals ebenso wenig wie heute. Sie war meine erste und einzige Liebe. Und meine letzte.

KAPITEL 2

Die Fähigkeit, das Flechten von Zöpfen zu erlernen, war mir nicht direkt in die Wiege gelegt worden. Es mag tatsächlich Männer geben, die sowas schon in frühester Kindheit lernen, aber dazu gehöre ich definitiv nicht. Ich entstamme einer traditionellen Bergarbeiterfamilie aus dem Dorf Grimethorpe bei Barnsley, wo das Flechten von Zöpfen nicht unbedingt ganz oben auf der Tagesordnung der Männer steht.

Grimethorpe ist wahrscheinlich hauptsächlich durch den Kohleabbau bekannt, die beiden Zechen dort gehörten zu den tiefsten in ganz England. Bis zur Schließung der Gruben arbeitete fast die Hälfte der örtlichen Einwohner in der Kohleindustrie, und anschließend war nicht nur ebendiese Hälfte der Bevölkerung arbeitslos, sondern es gab und gibt – infolge der vielen in finsteren Schächten verbrachten Jahre – noch immer eine Menge Invaliden.

Obwohl die Zechen längst geschlossen sind, ist der Zusammenhalt in der Bergbaustadt auch heute noch enorm, und wie so viele andere Städte in South Yorkshire ist auch Grimethorpe berühmt für sein Bergmannsorchester. Aber wie bereits der 1996 dort gedrehte Film Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten deutlich macht, brachen nach den Zechenschließungen schwierige Zeiten an. Das Drehbuch des Films basiert auf der wahren Geschichte des Bergmannsorchesters zu jener Zeit. Glücklicherweise hat die Band bis heute Bestand und ist sogar bei den Olympischen Spielen in London 2012 aufgetreten.

Der Ort und seine Bewohner haben darüber hinaus noch auf eine andere Weise Berühmtheit erlangt. Ein enger Freund unserer Familie (ebenfalls ein ehemaliger Bergmann), Freddie Fletcher, spielte 1969 in dem Film Kes eine Hauptrolle. Unsere kleine Welt, die in diesem Film beschrieben wird, hat sich bis heute nicht grundlegend verändert. Die Landschaft mag etwas anders aussehen, aber die Leute sind noch genau wie damals. Immer noch ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft ausgesprochen stark. Und immer noch gibt es große, miteinander um viele Ecken verwandte Familien.

Für einen Vierzehnjährigen in den 1970er Jahren war die Frage der Berufswahl schnell beantwortet. Ich würde in die Fußstapfen meines Vaters treten und als Bergmann in die Grimethorpe Colliery einfahren. Und wie fast alle Jungen meines Alters war ich darauf sehr stolz.

Alle Gedanken an die Zukunft waren jedoch wie weggeblasen an dem Tag, als Angie Yoxall erklärte, mit mir gehen zu wollen. Die Zeit schien stillzustehen.

»Himmel, Mill, schau mal auf die Uhr!«, entfuhr es ihr plötzlich. Sie sprang von der Parkbank auf. Irgendwie waren fünf Stunden ins Land gegangen, ohne dass wir es bemerkt hatten. Es war stockfinster und eiskalt. Angie musste um zehn Uhr zu Hause sein.

»Ich bringe dich heim«, bot ich galant an, obwohl ich keine Ahnung hatte, wo sie wohnte. Als Belohnung für meine Ritterlichkeit ließ sie einen schüchternen Gutenachtkuss zu. Dieser Kuss gab mir den Rest. Als ich wie auf Wolken heimwärts schwebte, war mir klar, dass es mich erwischt hatte.

Wir verliebten uns Hals über Kopf ineinander, wie Teenager das eben so machen. Innerhalb weniger Wochen gab es in Grimethorpe keine Mauer mehr, auf die nicht einer von uns beiden unsere Namen geschrieben hatte. Wir sahen uns fast jeden Tag, trafen uns in der Schule, auf dem Sportplatz und dann wieder nach Unterrichtsschluss zu unserem Fünf-Uhr-Stelldichein im Park.

Inzwischen war es Winter und ziemlich kalt geworden. Wir verlagerten unsere Treffen von der Bank am Parkeingang auf eine Stufe des heruntergekommenen Pavillons, auf »unsere Stufe«, wie sie von Angie schon bald getauft wurde.

Rückblickend wundere ich mich noch heute, dass wir damals nicht erfroren sind. Stundenlang saßen wir eng umschlungen auf dem kalten Beton und redeten über Gott und die Welt, die beißende Kälte des Yorkshire-Winters bemerkten wir nicht einmal. Vielleicht hält Liebe ja wirklich warm.

Vor dem ersten Treffen mit Angies Eltern hatte ich große Angst, da ich, wie vermutlich jeder Junge in meinem Alter befürchtete, nicht gut genug für die Tochter zu sein. Aber es stellte sich schnell heraus, dass Angies Vater vor seinem Ruhestand wie mein Dad Bergmann gewesen war und viele Jahre mit meinem Vater zusammengearbeitet hatte.

Er hieß Herbert und hätte nicht netter sein können. »Ich kenne deinen Dad, Junge«, sagte er in seinem breiten Yorkshire-Akzent. »Wir haben zusammen unter Tage gearbeitet. Ein prima Kerl.«

Diese Worte waren gleichbedeutend mit der Aufnahme in seine Familie, was mich ausgesprochen erleichterte. Von diesem Tag an behandelten er und Winnie – die mir später fast eine zweite Mutter wurde – mich wie eines ihrer eigenen Kinder. Obwohl wir uns an Schultagen und Wochenenden immer noch im Park trafen, stand ich fast jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen bei Angie auf der Matte, noch ehe sie sich den Schlaf aus den Augen gerieben hatte.

Aus irgendeinem mir unerfindlichen Grund wurde Angie meiner nicht überdrüssig. Wochen wurden zu Monaten, Monate zu Jahren. »Für immer vereint«, schworen wir uns und meinten es ernst. Selbst wenn es in Yorkshire ein noch perfekteres Mädchen gegeben hätte, verspürte ich nicht den Drang, danach Ausschau zu halten. Ich hatte es längst gefunden. Angie und ich gehörten zusammen.

Im Sommer 1978 beendeten wir beide die Schule. Da ich Bergmann werden wollte wie mein Vater, folgte ich nach der Aufnahmeprüfung der Familientradition und begann mit der Ausbildung über Tage. Angie hatte sich immer gewünscht, mit Kindern arbeiten zu dürfen, und begann eine Ausbildung in der örtlichen Kinderkrippe. Es war ihr Traumjob. Von Anfang an redete sie von nichts anderem mehr als davon, wie die kleinen Gesichter leuchteten, wenn sie ihnen eine Geschichte vorlas, und wie viel Freude es ihr machte, sich um diese Kinder zu kümmern. Für mich war es daher keine Überraschung, dass sie ein paar Jahre später in unserer Hochzeitsnacht gleich als Erstes vorschlug, doch direkt mit der Familienplanung zu beginnen.

Das entsprach durchaus auch meinem Wunsch – außerdem befanden wir uns in den Flitterwochen, und ich freute mich verständlicherweise sehr darauf, es zu probieren. Allerdings dauerte es zunächst einmal eine halbe Ewigkeit, bis wir den ganzen Reis aus dem Hotelbett geklaubt hatten, den Angies Bruder Neil heimlich darin verstreut hatte. Angies Wunsch ging schon bald in Erfüllung. Zwei Monate später kam sie eines Tages heim und wedelte mit einem kleinen braunen Umschlag aus der Apotheke vor meiner Nase herum. Er enthielt das Resultat eines Tests, den sie wenige Tage zuvor gemacht hatte.

»Und?«, fragte sie fröhlich. »Bin ich oder bin ich nicht?«

Zu meinem größten Stolz – immerhin hatte ich meinen Teil des Jobs ausgiebig erledigt – bestätigte das Schreiben, dass sie schwanger war.

Von diesem Augenblick an konnte man sich in unserem Haus vor lauter Babysachen kaum noch bewegen. Damals hausten wir in unserer ersten richtigen Wohnung, einer kleinen Doppelhaushälfte in einem Dorf namens Shafton, zwei Meilen von Grimethorpe entfernt. Alles drehte sich nur noch um das Baby und die nötige Rundumausstattung. Wir richteten ein Kinderzimmer ein, inklusive weißer Wolken, blauen Himmels und eines Regenbogens, und Angie las jede Babyzeitschrift, derer sie habhaft werden konnte. Sie konnte es kaum erwarten, Mutter zu werden, denn genau das war es, was sie sich wirklich wünschte: ein Leben inmitten vieler Kinder. Aber neben all dem Glück gab es auch traurige Momente. Leider war mein Vater nicht mehr da, als sein jüngster Enkel zur Welt kam. Wie so viele andere Bergleute zahlte er einen hohen Preis für die vielen Jahre harter und gefährlicher Arbeit. Der Kohlenstaub, den er über fünfundvierzig Jahre lang eingeatmet hatte, setzte seinem Leben mit achtundsechzig Jahren ein Ende.

Aber Angie verabschiedete sich auf die ihr ganz eigene Weise von ihm. Am vorletzten Tag seines Lebens weinte sie nicht etwa, sondern gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange, streckte die Hände aus und griff nach seinen großen, abstehenden Ohren. Und dann begann sie zu lachen. Angies Lachen war wirklich etwas ganz Besonderes.

»Weißt du«, sagte sie grinsend, »diese beiden großen Henkel wollte ich schon immer einmal anfassen und ordentlich knuddeln.« Mein Vater lächelte unter Tränen.

»Komm her, Liebes«, sagte er und zog sie ein Stück näher zu sich heran, damit er ihren dicken Babybauch streicheln und sich von dem Enkelkind verabschieden konnte, das er niemals sehen würde. Ich erinnere mich, dass ich nur daran denken konnte, wie toll meine Frau war.

Einen guten Monat später kam unser erstes Kind Ryan Arthur zur Welt. An die Geburt erinnere ich mich, als hätte ich selbst entbunden. Ich weiß, dass die meisten Männer Schmerzen lange nicht so gut ertragen können wie Frauen, aber als unser Sohn Anstalten machte, sich zur Familie zu gesellen, litt ich unter jeder Wehe ungefähr so heftig wie Angie.

Und so kam es, dass ich vermutlich lauter schrie als sie. Denn sobald man ihr befahl zu pressen, suchte sie nach etwas, woran sie sich klammern konnte, und da mein Kopf gerade in Reichweite war (ich befand mich am Kopfende und nicht an der Seite, wo es zur Sache ging), grub sie beide Hände in meine Haare. Glücklicherweise waren die Presswehen von überschaubarer Dauer, sonst wäre ich wahrscheinlich heute kahlköpfig.

Als es schließlich geschafft war und wir Ryan endlich in die Arme schließen konnten, brach Angie in ihr berühmtes Lachen aus. Mein Gesicht war völlig zerkratzt, und mir fehlten ganze Büschel Haare. Ich sah aus, als hätte ich mit einem Löwen gekämpft und verloren.

Zu Hause gelang es Angie nur mit Mühe, unseren Sohn wenigstens ab und zu abzulegen. Während meine Fleischwunden langsam heilten und mein Haar nachwuchs, saß sie stundenlang da, stillte das Kind und genoss jeden kostbaren Moment. Beim Anblick der beiden ging mir trotz der Tortur, die ich dafür hatte erleiden müssen, das Herz vor Stolz und Liebe auf.

Schon bald starteten wir einen neuen Versuch. Angie wollte es keinesfalls bei nur einem Kind belassen, und mir ging es genauso. Wir stammten beide aus großen Familien und kannten es nicht anders.

»Dieses Mal hätte ich gern ein Mädchen«, sagte Angie. »Ich werde sie hübsch anziehen, ihr Haar flechten und mit ihr zusammen shoppen gehen, wenn sie älter ist; und dann werde ich sie eines Tages in einem wunderschönen weißen Brautkleid durch das Kirchenschiff schreiten sehen.«

Es war der Traum aller Mütter – warum also nicht auch Angies? Als dann aber Damon kam, war das alles vergessen. Wieder wurde sie zu einem kleinen Mädchen, dem man eine neue Puppe geschenkt hatte. Sie liebte Babys und scheute keine Mühe, was deren Wohlergehen betraf. Es war eine Aufgabe, für die sie geboren zu sein schien, und sie tat nur das, was ihre Bestimmung war.

Es überraschte niemanden, dass Nummer drei sich schon recht bald danach ankündigte. Reece wurde im Frühjahr 1991 geboren. Angie war entzückt. Zwei Mini-Mills rannten durch unsere Wohnung (okay, einer rannte, der andere kroch eher herum und stieß gegen Möbel), und nun betrachtete Angie begeistert Reece’ dunkles Haar und bräunlichen Teint. »Na endlich!«, rief sie. »Jetzt habe ich wenigstens ein Kind, das ein bisschen so aussieht wie ich!«

Natürlich verlief unser Leben nicht so wie bei den Waltons. Obwohl Angie in Teilzeit in der Highschool gleich hinter unserem Haus putzte, war das Geld mit drei kleinen Kindern immer sehr knapp. Meine dunklen und staubigen Acht-Stunden-Schichten dehnten sich immer öfter auf zwölf Stunden aus. Aber das störte mich nicht. Ich hatte alles, was ich mir wünschte. Vorher hatte Glück für mich bedeutet, zusammen mit Angie einen Ausflug in meinem blauen Ford Capri zu machen, doch das hatte sich inzwischen geändert. Ich war glücklich. Ohne Wenn und Aber. Ich hatte Angie. Ich hatte meine Söhne. Und ich hatte ein Leben voller Liebe. Mehr brauchte ich nicht.

Doch das Schicksal hatte offenbar andere Pläne mit uns. Pläne, die an einem stürmischen Samstag im März 1993 offenbar wurden. Ich saß auf dem Sofa und fütterte Reece. Er war inzwischen fast zwei, und wir nannten ihn Mister Übermut. Man konnte ihn keine fünf Minuten in der Nähe eines Küchenschranks lassen, ohne dass er sämtliche Töpfe und Pfannen ausräumte.

Plötzlich trat Angie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck ins Zimmer. Sie sah besorgt aus, und weil sie sonst meistens lächelte, war mir dieser Ausdruck fast fremd.

»Mill«, erklärte sie, »ich glaube, ich habe einen Knoten in meiner Brust gefunden.«

Ich setzte Reece ab, während Angie ihre Bluse aufknöpfte. »Hier, fühl mal«, sagte sie und führte meine Hand auf die betreffende Stelle. »Kannst du ihn tasten?«

Ich konnte. Es war eindeutig ein Knoten, aber er fühlte sich sehr klein an. Nicht größer als eine Erbse. »Ich glaube nicht, dass du dir deswegen Sorgen machen musst«, sagte ich. »Er ist winzig. Vielleicht ist es auch nur eine Zyste. Aber wir sollten das abklären, lass dir einen Termin beim Arzt geben. Aber ich bin ziemlich sicher, dass es nichts Schlimmes ist.«

Diesen Satz wiederholten wir bis zum Arzttermin. Was hätten wir auch sonst tun sollen? Angie war erst dreißig. Und Frauen erkrankten doch nicht schon mit dreißig an Brustkrebs, davon hatten wir jedenfalls noch nie gehört. Es erschien uns unmöglich.

Unsere Hausärztin war auch der Meinung, dass wir uns keine Sorgen machen sollten. »Der Knoten fühlt sich eher wie eine Zyste an«, bestätigte sie. »Aber um ganz sicherzugehen, überweise ich Sie ins Krankenhaus zu einer Biopsie.«

Zwei Wochen nach der Biopsie bekamen wir einen Brief, in dem Angie zu einem Gespräch über die Ergebnisse der Gewebeproben gebeten wurde. Wir machten uns immer noch nicht ernsthaft Sorgen. Der Knoten war klein, Angie war jung, und niemand in der Familie hatte Krebs.

»Sei nicht albern, Mill«, schimpfte Angie, als ich ihr vorschlug, mir den Tag freizunehmen, um sie zu begleiten. Angie besaß keinen Führerschein, und es wäre die einfachste Lösung gewesen, wenn ich sie hinfuhr. Aber sie blieb stur.

»Ganz ehrlich, Mill, es ist nicht nötig. Ich werde Mam bitten, mich zu begleiten.«

»Bist du ganz sicher?« Auch wenn es sicher nicht leicht werden würde, meine Schicht zu verlegen – ich arbeitete inzwischen im Bergwerk von Pontefract –, fühlte ich mich doch verantwortlich und wollte bei ihr sein.

»Ja, Mill«, erwiderte sie mit fester Stimme. »Geh zur Arbeit. Du musst für so etwas keinen Tag Urlaub opfern. Ich fahre mit Mam. Und hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. Mit mir ist alles in Ordnung.«

Den ganzen Tag über dachte ich nur an Angie. Und das, obwohl wir uns immer wieder gegenseitig versichert hatten, dass sie nicht ernsthaft krank war. Aber was, wenn doch?

Als ich heimkam, fand ich alle Türen verschlossen und das Haus leer, was bedeutete, dass die Kinder offensichtlich noch bei meiner Mutter waren. Ein Schauder kroch über meinen Rücken. Es war halb drei am Nachmittag, den Termin hatte Angie um zehn Uhr gehabt. Wo zum Teufel war sie? Sie hätte längst zurück sein müssen.

Jetzt war ich wirklich beunruhigt. Ich wusste nicht, ob ich zu meiner Mutter gehen oder doch lieber hierbleiben und auf Angie warten sollte, und so wanderte ich schließlich im Wohnzimmer auf und ab und schaute immer wieder aus dem Fenster, während mir jede Minute, die verstrich, vorkam wie eine Stunde.

Es verging in der Tat noch fast eine Stunde, ehe ich sie schließlich am Ende der Straße erblickte. Langsam und steif lief sie auf das Haus zu. Jede ihrer Bewegungen wirkte fremd – ganz und gar nicht wie Angie. Ich glaube, ich ahnte schon in diesem Moment, dass sie mit schlechten Nachrichten kam. Ich lief zur Haustür und öffnete sie und erkannte an ihrer Haltung sofort, dass tatsächlich etwas Schlimmes passiert war. Mir sank das Herz in die Hose.

Erst als sie das Gartentor erreichte, sah sie mich, blickte mich an und schüttelte den Kopf. Sie weinte. Ich rannte ihr entgegen, nahm sie fest in die Arme und bemühte mich, stark zu sein für das, was jetzt kommen würde.

Unsere kleine Glücksblase stand kurz vor dem Zerplatzen. »Ich habe Krebs«, schluchzte Angie an meiner Brust.

KAPITEL 3

Zu meiner Erleichterung – ich habe nämlich zwei linke Hände – findet heute keine weitere Lektion im Zöpfeflechten statt. Alle Kinder sind inzwischen in der Schule, und der Haushalt erledigt sich leider nicht von selbst.

Angie hat ihre Tränen schon wieder getrocknet. Sie wirkt so entschlossen wie eh und je und präsentiert mir eine neue Idee. Ella Rose macht auf dem Sofa im Wohnzimmer gerade ihr Verdauungsschläfchen – und während sie schläft, soll ich kochen lernen.

»Chicken Curry«, beschließt Angie, nachdem wir in der Küche den Inhalt der Gefriertruhe inspiziert haben. »Du kannst mir helfen, das Lieblingsgericht der Kinder zu kochen.«

Nachdem wir alle nötigen Zutaten beisammenhaben, holt Angie nach und nach verschiedene Gerätschaften aus den Schubladen. Ich sehe ihr zu. Beobachte, wie sie sich zielgerichtet durch die Küche bewegt. Ein Schneidebrett, zwei Messer, eine Pfanne, dann eine zweite. Mir ist, als wäre sie der Kapitän eines Schiffes und ich ein ziemlich hoffnungsloser Fall von einem neuen Schiffsjungen.

Seit dreiundzwanzig Jahren wohnen wir nun schon in diesem Haus. Wir sind eingezogen, als Ryan noch ein Baby war, und haben es zusammen renoviert, jeden Feierabend und jedes Wochenende, haben endlose Tage damit verbracht, Tapete abzureißen. Und neue auszusuchen, was sehr lange dauerte, weil wir uns nie einigen konnten. Jedes Mal, wenn Angie etwas hübsch fand, gefiel es mir nicht und umgekehrt. Was natürlich damit endete, dass wir das Haus schließlich nach ihren Vorstellungen einrichteten. In Bezug auf unser Heim hat Angie schon immer den Ton angegeben.

»Los, jetzt du«, sagt sie auf einmal und zeigt auf einen Haufen Zwiebeln auf der Arbeitsfläche. »Die hacken sich nicht von allein.«

Ich bin nicht dumm. Natürlich kann ich Gemüse schälen. Aber wie fast alle Männer – vor allen Dingen Männer, die zwölf Stunden unter Tage arbeiten – hatte ich bisher nicht viel Gelegenheit dazu. Nicht viel Gelegenheit, Gemüse zu schälen. Punkt.

Damals, als Bergmann, arbeitete ich als Hauer. Ich war Teil eines Viererteams, und zwei der Männer, Danny und John, sind bis heute meine Freunde. Wir arbeiteten zwölf Stunden am Stück, machten nur Pause, um unsere mitgebrachten Brote zu verzehren, und bedienten turnusmäßig die Maschine. Diese sogenannte Teilschnittmaschine war ein riesenhaftes Gerät, das sich meterweise durch Kohle und Gestein fraß. Anschließend stützten wir den frisch gegrabenen Stollen mithilfe schwerer Eisenprofile ab. Wir montierten sie am Tunnelboden zusammen und brachten sie mit dem Ausleger der Teilschnittmaschine in ihre endgültige Position.

Es war Schwerstarbeit. Manchmal mussten wir die Eisenprofile bis zu dreißig Meter weit tragen – nur zu viert und bis zu den Knien in Matsch und Schlamm versunken. Aber wir gaben nie auf – wir wagten es schlicht nicht. Mein älterer Bruder Barry war unser Steiger, und er hatte scharfe Augen. Wenn er der Meinung war, dass jemand seinen Job nicht ernst nahm, gab er das an die Geschäftsführung weiter – ohne Ausnahme seines kleinen Bruders. Er hatte zwei Spitznamen, mit denen ich ihn bis heute aufziehe: Barry, der Bastard und der Lachende Mörder. Nichtsdestotrotz war das Betriebsklima dort unten einfach toll, und die Tatsache, dass er ein Pedant war, tat der Beliebtheit meines Bruders keinen Abbruch. Jeder schien unseren Barry zu mögen.

Unter Tage war es extrem heiß. Und unabhängig von der Wetterlage über Tage war es unten immer feucht. Wir kamen vor Hitze fast um, obwohl wir nichts als Stiefel, Helm und Shorts trugen. Eines der wichtigsten Utensilien war eine große Wasserflasche, die wir vor Dienstantritt mit Eiswürfeln füllten, um immer etwas Kühles zu trinken zu haben. Wenn wir zum Schichtende ausfuhren, waren wir schwarz. Schwarz bis tief in die Poren. Schwärzer als die Kohle selbst, wie wir zu sagen pflegten.

Wo ich jetzt hier in der Küche stehe und Zwiebeln hacke, während meine Frau mir Anweisungen gibt, erscheint mir das alles endlos lang her. Aber ich bin und bleibe lernwillig, denn mein Leben hat sich verändert und wird sich in absehbarer Zeit noch viel einschneidender verändern. Obwohl mich der Gedanke, bald ohne Angie weiterleben zu müssen, völlig aus der Fassung bringt, lasse ich mich darauf ein, die Dinge zu erlernen, die sie mir beibringen will. Natürlich schmerzt das Wissen um den Grund, weshalb ich all diese Fertigkeiten erlerne, aber ich möchte ihr den inneren Frieden schenken, den sie jetzt nötiger braucht als alles andere.

Ella ist wach geworden und weint, und Angie geht zu ihr. Ich fange an, die Zwiebeln zu hacken, die sie mir hingelegt hat. Unsere beiden Hunde Jess und Pebbles lassen mich nicht aus den Augen – es könnte schließlich sein, dass etwas Fressbares hinunterfällt. Ob Stücke von Hühnchen oder roher Zwiebel – da sind sie nicht wählerisch. Alle Zwiebeln sind gehackt, also höre ich auf. Was offenbar mein erster Fehler ist. Als Angie nämlich mit Ella auf dem Arm in die Küche kommt, um meine Fortschritte zu begutachten, bricht sie sofort in ihr ansteckendes Lachen aus.