Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland - Marcus S. Kleiner - E-Book

Keine Macht für Niemand. Pop und Politik in Deutschland E-Book

Marcus S. Kleiner

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Beschreibung

Was erzählt Pop über die deutsche Geschichte? In der Popmusik spiegelt sich die Zeitgeschichte. Pop leistet dadurch einen Beitrag zur deutschen Erinnerungskultur und wird zum Kritiker der Zustände. Marcus S. Kleiner erzählt die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik der letzten 80 Jahre zusammenhängend und beleuchtet das Zusammenspiel von Pop und Politik. Die politische Popmusik bleibt über alle Jahrzehnte hinweg eine Stimme gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, rechte Bedrohungsallianzen, Nationalismus, Militarismus und vieles mehr. Mit zahlreichen Interviews, u. a. mit Sammy Amara (Broilers), Kersty und Sandra Grether (The Doctorella), Thorsten Nagelschmidt (Muff Potter), Ingo Donot, Jan Müller (Tocotronic) und Nikel Pallat (Ton Steine Scherben). »Das Phänomen Popmusik an sich finde ich politisch. Weil es mit der Gesellschaft zu tun hat, weil Popmusik in der Gesellschaft funktioniert und dort sofort politische Fragen aufwirft.« Thorsten Nagelschmidt (Muff Potter)

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Seitenzahl: 530

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marcus S. Kleiner

Keine Macht für Niemand

Pop und Politik in Deutschland

Reclam

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RECLAM Nr. 962352

2025 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Kosmos Design, Münster

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2025

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962352-8

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-011464-3

reclam.de | [email protected]

Inhalt

»Atemlos in die Barbarei«

1. »Das sind Geschichten« (Fehlfarben) Einleitung

Wir

Wendezeit

Musikcharts in der Wendezeit

Pop und Generation

Bizarre Festival 1989

Wem gehört Pop?

Geschichte(n) Erzählen

Das Buch

Aufbau

2. »Weck mich auf« (Samy Deluxe) Pop erzählt Deutschland – Musik und Zeitgeschichte

Was erzählt Pop?

Pop erzählt Politik

Pop ist Kommunikation

Popmusik und Zeitgeschichte: »Weck mich auf« von Samy Deluxe

3. »Ihr lieben 68er« (Peter Licht) Pop, Protest und Politik in Deutschland

Mit Pop ist keine Revolution zu machen

Pop macht Utopie

4. »Ausdiskutiert« (Franz Josef Degenhardt) Die Vorgeschichte deutschsprachiger Popmusik von 1945 bis 1969

Die Stunde Null und das deutsche Versöhnungstheater

Nationalsozialismus, Rechtsxtremismus und Erinnerungskultur

Wiederaufbau rechts

Franz Josef Degenhardt

Faschistische Fortsetzung und keine Zeitenwende

Entnazifizierung

Exkurs Europawahl 2024

Erinnerungskultur und Versöhnungstheater

Der Klang der deutsch-deutschen Popmusik bis 1969

Schlager – nationalsozialistische Nebenwirkungen und sentimentale Schmachtfetzen

Liedermacher – das politische Lied im Nationalsozialismus

Linke Lieder und linke Liedermacher:innen

Ein Jahrzehnt im Spiegel linker Lieder

Die Burg-Waldeck-Festivals

Liedkultur in der DDR

Die Internationalen Essener Songtage

Ausdiskutiert

5. »Macht kaputt, was euch kaputt macht« (Ton Steine Scherben) Die 1970er

Das entfesselte Jahrzehnt

Die entfesselte Musik des Jahrzehnts

Musik Macht Kritik

Deutschland 1970 bis 1979

Von der Entfesslung zur Erschöpfung

6. »Yankees raus« (Slime)Die 1980er

Grauschleier

Neue Wellen, Neues Deutschland

Deutschland 1980 bis 1989

Von Welle über Welle bis zur Neuen Grenzenlosigkeit

7. »Fremd im eigenen Land« (Advanced Chemistry)Die 1990er

Neues Deutschland, neue Grenzen

No Limit – oh no, Deutschland

Deutschland 1990 bis 1999

Von der neuen Grenzenlosigkeit über die neuen Grenzen zur Angstkultur im neuen Jahrtausend

8. »Schwule Mädchen« (Fettes Brot) Die 2000er

Neues Jahrtausend, neue Unsicherheiten

Neues Jahrtausend, neue Musik

Deutschland 2000 bis 2009

Von neuen Unsicherheiten über neue Reformen zum neuen entsicherten Jahrzehnt

9. »Punani Power« (Ebow)Die 2010er

Neue Verunsicherungen, neues Bewusstsein, neuer Extremismus

Neues Jahrzehnt, neue Musik

Deutschland 2010 bis 2019

Vom entsicherten Jahrzehnt zum Eskalationsjahrzehnt

10. »Hoffnung« (Tocotronic) Die 2020er

Neue Eskalationen, neues Bewusstsein

Die neue Musik des Jahrzehnts

Deutschland 2020 bis 2024

Vom Eskalationsjahrzehnt über neue Sensibilitäten und Aufmerksamkeiten

11. Pop, Protest, Politik 1945 bis 2024 – (k)ein Fazit

Literaturhinweise

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Playlists

Abbildungsverzeichnis

Dank

»Atemlos in die Barbarei«

Playlist zum Buch

Man kann nicht über Musik sprechen, ohne sie auch zu hören. Die begleitende Playlist umfasst ausschließlich die Songs, die ich im Detail analysiert habe; alle anderen erwähnten Titel finden sich im Verzeichnis der Songtitel. Mit rund 260 ausgewählten Songs bietet diese Playlist eine Zeitreise durch über 80 Jahre deutscher Musik- und Gesellschaftsgeschichte, von den 1940er Jahren bis zur Gegenwart. Mein Buch kann als umfassendes Booklet zu dieser Playlist gelesen werden. Umgekehrt fungiert die Playlist als lebendiger Soundtrack zu den Inhalten des Buches.

 

Die Playlist zum Buch finden Sie unter reclam.de/keine_macht_fuer_niemand bzw:

 

Egotronic, »Hallo Provinz«

1. »Das sind Geschichten« (Fehlfarben) Einleitung

Wir

Es war ein kalter, regnerischer, leicht nebliger und pechschwarzer Abend im Frühjahr 1990. Wir waren bei Sebastian in Xanten am Niederrhein, saßen mit schummriger Beleuchtung in seinem Zimmer, in dem es nicht viel heller war als draußen. Wir tranken Bier aus Dosen der Marke Hansa Pils und aßen Unmengen von klebrigen Erdnussbuttertoasts. Warum auch immer.

Wir, das waren neben Sebastian noch Nazan, Birgit, Thomas, Gregor und ich. Die Namen habe ich geändert. Wir waren in der 11. Klasse am Städtischen Stiftsgymnasium zu Xanten und zwischen 16 und 17 Jahre alt. Eine Teilzeit-Clique, die zusammen abhing, um leidenschaftlich über Musik, Philosophie, Literatur und Freiheit zu diskutieren, abzurauschen und sich wechselseitig in der Haltung zu bestärken, dagegen zu sein. Wir waren Jugendliche, die durch Popmusik, Popkultur, Literatur und Styling die große Welt in die konservative Enge der Dörfer und Kleinstädte holten, in denen wir aufwuchsen.

Vielleicht waren wir als Angehörige der Generation X konservative und wenig offene Neo-Spießer:innen, wie das auch den Baby Boomern, also der Generation vor uns, die im Zeitraum von 1955 bis 1969 geboren sind, nachgesagt wurde. Diese Selbsteinschätzung kam uns nicht in den Sinn. Als Teil einer bestimmten Generation fassten wir uns nicht auf, nur weil wir zur Bevölkerungskohorte der zwischen 1965 und 1980 Geborenen gehörten.

Der Episodenroman Generation X von Douglas Coupland brachte diesen Begriff mit seinem Erscheinen im Jahr 1991 erst in den allgemeinen Sprachgebrauch. In den 1950er und 1960er Jahren wurde er bereits im Journalismus und in der Wissenschaft verwendet, um Jugendliche und Jugendkulturen, wie etwa die Mods und Rocker, zu beschreiben.

Zwei Grafiktexte aus dem Buch von Coupland veranschaulichen, wie weit sich die Zeitgenoss:innen der Generation X von den gegenwärtigen Generationen Z und Alpha entfernt haben:

»USE JETS WHILE YOU STILL CAN.«

»YOU MIGHT NOT COUNT IN THE NEW ORDER.«

Damit wird einer der Gründe deutlich, warum die Generation X genauso wie die Generation der Baby Boomer in der neuen Welt der Generationen Z und Alpha nicht mehr zählt: der verantwortungslose Umgang mit unserer Umwelt, bei dem Ausbeutung anstatt Schutz im Mittelpunkt stehen.

Unser Umweltaktivismus beschränkte sich in dieser Zeit ausschließlich auf das Engagement in der Anti-Atomkraft-Bewegung. Dieses Engagement war allerdings volatil.

Von den Anti-WAAhnsinns-Festivals, die von 1982 bis 1989 im bayerischen Burglengenfeld stattgefunden haben, und als das deutsche Woodstock bezeichnet wurden, hatten wir nur gehört. Die WAAhnsinns-Festivals waren ein musikalischer Protest gegen die geplante Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf.

Deutschsprachige Popsongs wie »Karl der Käfer« von Gänsehaut aus dem Jahr 1983, der das Waldsterben in Deutschland thematisiert, konnten uns nicht für weitere Umweltthemen sensibilisieren. Diese Songs nahmen wir als pädagogischen und sentimentalistischen Zeigefinger-Pop-Schlager nicht ernst. Für uns waren sie eine unerträgliche musikalische Melange von linken Spießer:innen, die nur konservativen, pädagogischen Kitsch veröffentlichten.

Den Begriff der linken Spießer:innen hatten uns Slime mit dem gleichnamigen 1983er-Song ins Bewusstsein gehämmert, und wir ließen ihn bei jeder Gelegenheit fallen. Am liebsten, um einen Teil unserer Lehrer:innen zu kritisieren. Der Rest der Lehrerschaft bewegte sich für uns zwischen autoritär und konservativ. Ausnahmen waren an ein bis zwei Fingern abzählbar. Realistisch betrachtet waren wir selbst das Musterbeispiel von linken Spießer:innen in der Ausbildung.

Slime: Alle gegen alle, 1983

Wir waren in dieser Zeit keine Umweltaktivist:innen. Wir waren Hedonist:innen. Wir waren Medienkinder. Wir waren Popkultursüchtige. Die Welt erschien uns als eine Medienfassade, die uns verführte, sich permanent in ihr zu spiegeln. Eine Schule des schönen Scheins. Die Popkultur vermittelte uns eine größere Bildung als die Schule, fütterte unsere Egos, im Unterschied zur Schule, und färbte den Grauschleier bunt, der die dörfliche und kleinstädtische Wirklichkeit umgab, in der wir leben mussten.

Pop war für uns eine Parallelwelt, die die Welt um uns herum in Frage stellte und dazu aufforderte: mehr Intensität und weniger Intention. Pop war eine Möglichkeitswelt, die uns ein Mehr an Leben und Erleben versprach und dazu verführte, niemals an diesem Versprechen zu zweifeln. Heute glaube ich immer noch an dieses Versprechen.

Wendezeit

Als wir uns im Frühjahr 1990 bei Sebastian trafen, lag der Mauerfall im November 1989 gerade hinter uns, die Wiedervereinigung im Oktober 1990 vor uns, der »Wind of Change« wehte uns zu diesem Zeitpunkt im Wendejahr noch nicht besonders stark um die Ohren, und die gleichnamige Rockballade der Scorpions ließ auf sich warten.

Dass die Musik der Zeit immer auch ein Spiegel der Zeitgeschichte und ein Kommentar zu dieser sein kann, war bei uns ein wiederkehrender Diskussionsanlass.

Als Hymne des Mauerfalls wurde 1989 zuerst nicht »Wind of Change«, sondern ein anderer Song auserkoren: »Looking for Freedom« in der Coverversion von David Hasselhoff, die Ende 1988 erschien und nichts mit dem Mauerfall zu tun hatte. Der Titel des Albums, California Gold, auf dem dieser Song enthalten ist, gab die thematische Ausrichtung der Songs vor: gute Gefühle und Trallala.

»Looking for Freedom« stieg nach dem Auftritt von David Hasselhoff bei Wetten, dass..? Anfang März 1989 zum Nummer-eins-Hit in Deutschland auf, und wurde die meistverkaufte Single in diesem Jahr. Ein unpolitischer Song, der durch eine Fernsehunterhaltungsshow plötzlich politisch wurde und die deutsche Erinnerungskultur an die Wende bis zur Gegenwart mitbestimmt.

»Looking for Freedom«: David Hasselhoff singt am 31. Dezember 1989 am Brandenburger Tor.

Was wird im Song erzählt? In meinem Buch stehen Songs im Mittelpunkt, die als Schlüssel zur Geschichte der deutschsprachigen Popmusik in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart dienen. Ich konzentriere mich auf repräsentative Songs aus rund 80 Jahren Pop- und Zeitgeschichte und analysiere sie im Hinblick auf die Themen Pop, Protest und Politik sowie aus der Perspektive von Solidarität und Widerstand. Mein Ziel ist es, die Entwicklung der deutschsprachigen Popmusik zu rekonstruieren und ihren Einfluss auf die politische Zeitgeschichte zu beleuchten. Dabei zeigt sich, dass die politische Funktion dieser Musik in einer kontinuierlichen Kritik an den deutschen Verhältnissen, dem Deutschsein und den Deutschen besteht. Mit meinem Buch setze ich mich aus der Perspektive der Popmusik gegen Deutschtümelei, Nationalismus und Patriotismus ein. Also gegen ein deutschnationales und patriotisches Wir, das die Indierockband Kettcar 2017 im Song »Wagenburg« beschrieben hat: »Ein Wir ist Volk, Nation, Gesinnung / Ist Gang, ist Mob und hängt Verräter / Ein Wir will öffentlichen Raum / Ein Ich will seinen Teil vom Kuchen / Überall besorgte Bürger, die besorgte Bürger suchen«.

Ich muss immer wieder über Nationalismus, Patriotismus, Rechtsextremismus und Faschismus sprechen, da die deutsche Gesellschafts- und Zeitgeschichte nach 1945 von einer fortwährenden Auseinandersetzung mit diesen Themen geprägt ist. Gleichzeitig ist sie auch eine Geschichte von Rassismus, Sexismus und Diskriminierung.

Kommen wir jedoch zunächst zum Song »Looking for Freedom« zurück. Dieser erzählt die Geschichte eines privilegierten Jungen, der erkennt, dass persönliche Freiheit und ein selbstbestimmtes Leben die wichtigsten Ziele sind. Im Song bleiben diese Ziele unerreicht; die Suche nach Freiheit und Frieden endet ohne Erfolg.

Freiheit ist das Leitmotiv in den Wendejahren. Nicht verwunderlich, dass auch ein deutschsprachiger Song nachträglich zur Hymne der deutschen Einheit geworden ist: »Freiheit« von Marius Müller-Westernhagen, erschienen im September 1987. Die Liveversion vom 20. September 1989 beim Konzert in der Dortmunder Westfalenhalle, die am 18. September 1990 als Singleauskopplung aus dem Album Live veröffentlicht wurde, hat ein Eigenleben entwickelt, das sich Marius Müller-Westernhagen ebenso wenig erträumen konnte wie David Hasselhoff mit »Looking for Freedom«.

Und auch in diesem Song von Westernhagen ist es die Freiheit, die fehlt und letztlich unerreicht bleibt, aber als Sehnsucht bestehen bleibt. Ohne Freiheit gibt es hier keinen Frieden – weder weltpolitisch noch persönlich. Das Motiv der Freiheit bleibt unbestimmt. Freiheit ist ein universaler Wert. Die Primitivität und Naivität der Menschen werden der Freiheit gegenübergestellt. Dadurch bleibt die Verwirklichung der Freiheit ein Wunsch, der an der Realität scheitert. Ich werde im Folgenden diskutieren, ob politische Inhalte in Popsongs mehr sein können als diffuse Unbestimmtheiten, die auf die Intensität von Gefühlen, wie zum Beispiel Hoffnung oder Wut, sowie Haltungen, wie etwa Solidarität, Antisexismus oder Antirassismus, abzielen, um damit gemeinschaftsstiftend und handlungsleitend zu wirken. Diesen Songs wohnt häufig keine Absicht inne, konkret politisch zu sein oder politisierende Debatten auszulösen. Eine diffuse Unbestimmtheit lässt Popsongs offen für unterschiedliche politische Anlässe sein und ermöglicht, jede Vereinnahmung für konkrete politische Zwecke zurückzuweisen.

Im Unterschied zur Party-Wendehymne »Looking for Freedom« ist »Freiheit« festlicher, pathetischer und wehmütiger, auch wenn alle, die von Freiheit träumen, das Feiern nicht versäumen und auf Gräbern tanzen sollen. Songtexte leben von Assoziationen und Sprachspielen, nicht von stringenten Argumentationen. Politische Popsongs verwenden häufig parolenhafte Formulierungen, um die politische Haltung unmittelbar zu verdeutlichen.

Der Journalist Danny Kringiel weist darauf hin, dass der »›Einheitshit‹ ein Lehrstück in Sachen Marktwirtschaft [sei], eine unschlagbare Vermarktungsformel, mit der sich fast alles irgendwie in den Hitparaden platzieren ließ«. Als Beispiel nennt er den Westberliner Jugendchor »Die Gropiuslerchen«, die mit dem Lied »Berlin, Berlin«, das aus dem Jahr 1987 stammt und »in das man nun schnell noch ein paar ›Wir sind das Volk!‹-Samples hineingemischt hatte«, zu Beginn des Jahres 1990 »bis auf Platz drei der deutschen Charts« aufstieg.

Die ostdeutschen Hits der Wendezeit gingen unter. Diese waren kommerziell nicht erfolgreich und sind entsprechend nicht ins kollektive Wendegedächtnis eingegangen. Als Beispiele nennt Kringiel Songs, die vor dem Mauerfall erschienen sind: City mit »Wand an Wand« (1987), Karussell mit »Als ich fortging« (1987), »Neue Helden« (1989) von den Puhdys und Silly mit »Alles wird besser« (1989).

Im Gegensatz zu Hasselhoff, Westernhagen und den Scorpions war die Veröffentlichung von Songs für ostdeutsche Musiker:innen politisch riskant. Die Regimekritik in ihren Protestsongs, die sich gegen den Machtmissbrauch der Staats- und Parteiführung richtete, führte zu Auftrittsverboten und anderen staatlichen Interventionen. Kringiel betont, dass »für die Wendemusiker des Ostens weit mehr auf dem Spiel stand als nur Plattenverkäufe«, da sie sich als politische Bewegung verstanden.

Die diffuse Freiheit in den Songs von Hasselhoff, Westernhagen und den Scorpions taugt als Parole, die an Wände passt, die in Stadien mitgegrölt, die nostalgisch verklärt über Jahrzehnte immer wieder recycelt und als Motor der Vermarktung der Wiedervereinigung verwendet werden kann. Diese Freiheit ist gut, gerade weil sie unerreicht bleibt, aber als Hoffnung positiv aufgeladen wird, in einer Gesellschaft, die »am Arsch ist« und »in einem System, das defekt ist«. Lassen wir an dieser Stelle doch gleich Felix Kummer mit seinem Song »Alles wird gut« (2021) übernehmen. Die Dialektik von Hoffnungswunsch und Wirklichkeitserfahrung ist nur selten in einem deutschsprachigen Popsong so pointiert beschrieben worden:

»Ich würd’ dir gerne deine Angst nehmen / Alles halb so schlimm, einfach sagen / Diese Dinge haben irgendeinen Sinn / Doch meine Texte taugten nie für Parolen an den Wänden / Kein Trost spenden in trostlosen Momenten / Im Gegenteil, fast jede meiner Zeilen / Handelt von negativen Seiten oder dem Dagegensein / […] // Ich würd’ dir eigentlich gern sagen // Alles wird gut / Die Menschen sind schlecht und die Welt ist am Arsch / Aber alles wird gut / Das System ist defekt, die Gesellschaft versagt / Aber alles wird gut«.

Felix Kummer wendet sich mit seinem Text gegen die naiv-optimistische Haltung, dass, auch wenn die Verhältnisse um uns herum eskalieren, im Grunde alles gut ist. Diese Haltung wird von Bestsellerautoren wie zum Beispiel dem niederländischen Historiker Rutger Bregman in seinem Buch Im Grunde gut: Eine neue Geschichte der Menschheit (2019 erschienen, 2020 auf Deutsch) populär propagiert. Bregman betrachtet den Menschen als von Grund auf gut und präsentiert hoffnungsfrohe Ideen für die Verbesserung der Welt. Im Grunde leben wir, aus seiner Perspektive, in der besten aller möglichen Welten, die trotzdem immer noch besser werden kann. Im Grunde gut ist eine Utopie in Zeiten, in denen der Glaube an Utopien zunehmend zynisch erscheint.

In meinem Buch werden in den von mir ausgewählten Songs Utopien und Dystopien als Perspektiven und Haltungen gegenübergestellt, um das politische und politisierende Potenzial von Popsongs zu diskutieren. In der Geschichte der Popmusik, und nicht nur in der deutschen Popmusikgeschichte, sind Popsongs mit dystopischen Songtexten kaum in den Musikcharts zu finden. Mit Utopien wird die musikalische und politische Mitte der Gesellschaft leichter angesprochen als mit Dystopien und der Frage: Wie kann die Gesellschaft verändert werden, wenn das gesellschaftliche und politische System defekt und gescheitert ist?

Genau mit dieser Gegenwartsbeschreibung beginnt die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik im Jahr 1971, mit dem Erscheinen der ersten Platte von Ton Steine Scherben: Warum geht es mir so dreckig?. Und zwar mit dem Song »Macht kaputt, was euch kaputt macht«. Für die Anarcho-Rocker der Ton Steine Scherben steht fest, dass Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit im herrschenden gesellschaftlichen und politischen System in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sind. Der als regressiv und ungerecht empfundene deutsche Staat muss aus der Sicht der Band ästhetisch und politisch bekämpft werden.

Gegenwärtig wird die Rede von einem Systemdefekt bzw. von einem System, das vollständig abgeschafft werden muss, weil es als vollkommen gescheitert betrachtet wird, vor allem extremistisch vereinnahmt, etwa von verschiedenen rechtsextremen Gruppierungen oder von den selbst ernannten Reichsbürger:innen und Verschwörungserzähler:innen, die ebenfalls rechtsextrem und antisemitisch sind.

Bleiben wir für einen Augenblick noch bei den Wendejahren und den Songs der Wendezeit. Werfen wir einen Blick in die Musikcharts dieser Zeit.

Musikcharts in der Wendezeit

In der Top Ten der Offiziellen Deutschen Single Charts im November 1989 waren die Songs unbeeindruckt von den historischen Umwälzungen, die sich bereits in den Vormonaten angedeutet hatten: Kaoma tanzte mit »Lambada« immer noch an der Chartspitze. Mili Vanilli taten so, als ob sie uns selbst gefühlsduselig »Girl I’m Gonna Miss You« entgegenwimmerten. Sydney Youngblood wollte es mit »If Only I Could« allen zeigen. Und Technotronic feat. Felly rappten und tanzten bei »Pump Up the Jam« unter Hochdruck. Nur Depeche Mode wollten es dunkler und erzählten vom »Personal Jesus«.

Das Menschliche und Allzumenschliche waren die Leitmotive der Songtexte. Die Weltgeschichte blieb draußen vor der Chart-Tür des Persönlichen und Befindlichen.

Anfang März 1990, als wir uns bei Sebastian trafen, thronte Sinéad O’Connor mit »Nothing Compares 2 U« an der deutschen Chartspitze. Snap! schenkten uns den Ohrwurm »The Power«, der seitdem zu einem der beliebtesten Songs in Werbungen geworden ist. Dusty Springfield und Phil Collins stimmten mit »In Private« und »I Wish It Would Rain Down« nachdenkliche Töne an. Und auch in diesem Monat stand das Persönliche im Mittelpunkt und nicht die weltpolitische Lage.

Der Mauerfall spielte in den deutschen Charts vom November 1989 und März 1990 keine Rolle. Die Mauer war weltweit das Symbol für die politische Spaltung von Deutschland und Europa und für den Kalten Krieg, der die Welt eisern in West und Ost teilte. Das Ende der DDR-Diktatur und die Reformen, die Michail Gorbatschow seit seiner Wahl 1985 zum Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) auf den Weg brachte, und die mit den Begriffen Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) in die Geschichte eingegangen sind, erschienen als ein historisch einmaliger Weg zu einer friedlicheren Welt. Gorbatschows Außenpolitik, die Abrüstungsmaßnahmen, Entspannungspolitik und eine wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen erreichen wollte, und ebenso seine Aufhebung der Breschnew-Doktrin, mit der er den Ostblockstaaten außerhalb der UdSSR zusicherte, ihre Eigenständigkeit zu achten, und damit faktisch den Weg zur Demokratisierung dieser Staaten ebnete, stimmten zuversichtlich.

Der Song »Wind of Change« adressiert diese politischen Entwicklungen und nicht den Mauerfall. Im Song begleiten wir das Song-Ich beim Spaziergang durch Moskau bis zum Maxim-Gorki-Park für Kultur und Erholung. Auf dem Weg spürt der Spaziergänger überall den Wind der Veränderung und sieht Menschen, die sich so nah sind wie Brüder. Zu allem läuten die Friedensglocken. Im Song werden die beiden Begriffe nicht verwendet, dennoch ist »Wind of Change« eine Hymne auf die Veränderungen, die Michail Gorbatschow mit seinen Konzepten von Glasnost und Perestroika angestoßen hat.

Diese Entwicklungen waren für unsere Clique die bis dorthin prägendsten politischen Ereignisse, die wir miterlebt hatten. Ein anderes Ereignis, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl vom 26. April 1986, der bis zu diesem Zeitpunkt schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie, prägte uns gleichermaßen.

Pop und Generation

»Ja klar ist es generationsgebunden, aber einzelne Individuen können sich ja auch untypisch für ihre Generation verhalten. Ich habe ein Riesenproblem mit dem Generationenbegriff und mit der Idee von Alter. Es ist viel individueller, wie alt ein Mensch ist, welche Musik er oder sie hört. Früher kam man nicht so leicht raus aus den Strukturen. […] Heutzutage kannst du in jedem Alter dein Leben neu gestalten. Ich stehe total auf Kriegsfuß mit der Position, dass man so ist wie die Leute seiner Generation. […] Wir fühlen uns als Teil mehrerer Generationen. The Doctorella ist trans-generation. Das ist auch politisch.«

Kersty Grether, The Doctorella

Sandra Grether, Marcus S. Kleiner und Kersty Grether am 27. Juni 2023 in Berlin

Wir sind immer noch im Zimmer von Sebastian und schließen unmittelbar an der Stelle an, bei der ich vom Persönlichen zum Zeit- und Kulturgeschichtlichen übergegangen bin.

Die hellbraune Erdnussbutter ist uns von den klebrigen Toasts abwechselnd auf die Klamotten und den Teppichboden getropft. In Zeitlupentempo. Ein Aufschrei folgte auf den nächsten. Irgendwann haben wir uns eingeredet, dass die matschig-klebrige Erdnussbutter um uns herum wie der Schlammboden wäre, auf dem wir bei einem Festival ausrutschen, nachdem es geregnet hat. Unsere Festivalerfahrung beschränkte sich zu diesem Zeitpunkt auf ein gemeinsames Erlebnis: Am 24. Juni 1989 besuchten wir das Bizarre Festival in Sankt Goarshausen, Rheinland-Pfalz. Anders als bei vielen Festivals gab es hier keinen Schlamm; das Wetter war angenehm, und die Ränge vor der Freilichtbühne Loreley sowie das angrenzende Waldstück waren trocken. Ich erinnere mich nicht mehr, wie wir an diesem Abend bei Sebastian auf die Verbindung von Erdnussbutter und matschigem Festivalgelände kamen.

Eintrittskarte für das Bizarre Festival, 1989

Mit zwei älteren Bekannten fuhren wir in einem alten VW-Bus zum Festival. In den 1980ern und 1990ern nannte man Freunde oft »Kollegen«, was im Kontext von Freundschaft seltsam wirkt, obwohl soziale Beziehungen stets Arbeit erfordern. Diese beiden älteren »Kollegen« wurden als Hippies bezeichnet, und ich kannte nur ihre Spitznamen: Krümel und Brösel. In meiner Jugend am Niederrhein waren Hippies die Einzigen, die Überlandmobilität als Lebensziel verfolgten. Von den 1960ern bis in die frühen 1990er Jahre wurden Hippies häufig abwertend als realitätsferne, verträumte Ökos bezeichnet, die bürgerliche Normen ablehnten. Die als Hippiemusik bezeichnete Popmusik, die vor allem aus den USA stammte, galt als Protestmusik gegen die herrschende Ordnung. Niemand, den ich kannte und der als Öko galt, bezeichnete sich selbst so oder als Hippie.

Die Beschimpfung als Gammler:in, die von den späten 1950er bis Mitte der 1980er Jahre verbreitet war, spielte in meiner Jugend keine große Rolle mehr. In der alten Bundesrepublik, der ehemaligen DDR sowie in Österreich und in der Schweiz bezeichnete man damit Jugendliche mit langen Haaren, Jeans und Parkas, die Drogen konsumierten und Rock-, Blues- und Folkmusik hörten. Das traf auf Krümel und Brösel zu, doch für sie war das ein Ausdruck von Freiheit und Selbstbestimmung. Im Sommer tauschten sie Parka gegen Batik-Shirts und Jeans gegen Shorts, während bunte Baumwoll-Haarbänder ihre langen Haare zierten. Politisch unsensibel, wie die 1980er und 1990er Jahre waren, wurden sie oft als Kleinstadtindianer bezeichnet. Der Begriff kulturelle Aneignung war damals unbekannt, ebenso das Bewusstsein für den Unterschied zwischen dem Sprechen über andere und dem Sprechen für andere.

Die einleitenden Geschichten schildern eine Generationserfahrung, denn die Geschichte der deutschen Popjahrzehnte, die ich durch Popsongs erzähle, ist geprägt von Erfahrungen, an denen ich nicht beteiligt bin. Mein (Nach-)Erzählen versteht sich als Sprechen über diese Generationserfahrungen, nicht als Sprechen für andere. Kehren wir vom Politischen zum Persönlichen zurück: Diese Einleitung beschreibt meinen Weg in die Auseinandersetzung mit deutschsprachiger Popmusik, Protest und Politik.

Bizarre Festival 1989

Wir fuhren mit einem T3 Joker Westfalia in Braun mit einem weißen Dach zum Festival. Der Innenraum war komplett ausgeräumt, bis auf einige Matratzen, auf denen wir herumlagen, ein bisschen Stauraum für Bierkästen und andere Dinge, um auf Festivals zu überleben.

Auf dem Festival spielten nur drei Bands, die wir kannten: die britischen Indie-Rocker von New Model Army, die US-amerikanische Alternative-Metal-Band Living Colour, deren Auftritt unser Bizarre-Konzert-Highlight wurde, und die Hannoveraner Fun-Punker der Abstürzenden Brieftauben. Unsere große Entdeckung war die schottische Noise-Rock-Band The Jesus and Mary Chain. Die deutschen Bands, das waren neben den Abstürzenden Brieftauben unter anderem noch die Hamburger Indie-Rock-Formation Kastrierte Philosophen, begeisterten uns live nur mäßig. Rückblickend war das Bizarre Festival künstlerisch fast ausschließlich von Männern geprägt, ein Thema, das in meinen Freundeskreisen Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre nicht problematisiert wurde.

Wem gehört Pop?

Reisen wir ein letztes Mal zurück in Sebastians Zimmer, der Urszene meines Buches. An diesem Abend verwandelte unsere Vorstellungskraft sein Zimmer nicht in ein Festivalgelände. Wir redeten durcheinander und hörten Platten, die ausschließlich Sebastian auflegte – von The Doors bis Daily Terror. »Hungrige Träume« war unser Mitgröl-Hit von Daily Terror, Musik im Spannungsfeld von Befreiung und Beleidigung, Halluzination und Habitus, Pop und Protest. Diese Spannungsfelder spiegeln auch Sebastian wider, dessen Auftreten zwischen dauerbekifftem Hippie, Malocher und linkem Aktivisten schwankte.

An den Wänden hingen Zeichnungen von Sebastian, die auf mich düster, traurig, aggressiv und wütend wirkten. Dunkle Farben auf weißen Malbogenblättern. Die Motive waren abstrakt. Einige dieser Zeichnungen waren mit Worten, Parolen oder kleinen Texten versehen, die handschriftlich dazugefügt wurden: »Phantasie an die Macht«, »Realität ist was für Leute, die mit Drogen nicht zurechtkommen«, »Macht kaputt, was euch kaputt macht« oder, »Ich war, ich bin, ich werde sein – Die Revolution wird die Menschheit befreien«.

Im Zimmer lagen Bücher, vor allem US-amerikanische Romane und französischer Existenzialismus, sowie Bluesrock- und Punkplatten wild verstreut. Es war nicht leicht, einen Sitzplatz zu finden; wir saßen eng im Schneidersitz und wirkten wie ein postpubertärer Gesprächskreis. Die Aschenbecher waren überfüllt, und die Rauchentwicklung bedenklich. Unsere Gespräche waren hitzig, die Köpfe rot und die Stimmen heiser.

»Ein griffiger Slogan, damit fängt es an, dass man einen guten Satz hat für einen Refrain – das braucht ein politischer Popsong. Sowas wie ›Deutschland muss sterben, damit wir leben können‹. Oder ›Lass uns niemals so sein wie die‹, um noch einen von Slime zu nennen. Oder eben auch ›Macht kaputt, was euch kaputt macht‹, diese ganzen legendären Songs, die haben ja alle so eine Line, bei der du sagst, ja, das kann man direkt auch irgendwie mitsingen im Publikum. Und es bleibt hängen, egal wie der Rest vom Song ist, die Strophen oder so.«

Michael ›Elf‹ Mayer, Slime

Ich musste vor einiger Zeit an diese Haltung des Dagegenseins zurückdenken, als ich mir 2022 die Platte Zwei von Slime, den Hamburger Punklegenden, über die ich in diesem Buch noch oft sprechen werde, kaufte und den Song »Sein wie die« wieder und wieder hörte: »Wir taten, was wir mussten, nur der Wind macht, was er will / Jede Nacht hat ihren Preis, jeder Tag ist ein Geschenk / Es gibt keine Garantie / Ich trag dich bis ans Ende dieser Welt / Du musst mir nur eins versprechen: / Lass uns niemals so sein wie die«. So fühlte es sich damals an, und heute ist es kaum anders. Mit 51 fühle ich mich oft noch wie 16, wenn ich Musik höre, Songs mitsinge und dazu tanze. Unser Dagegensein war volatil und sollte uns von Mitschüler:innen abheben, die wir für Spießer:innen hielten, von Lehrer:innen, die wir als autoritäre Widerlinge sahen, oder von Menschen, die wir als alte und neue Faschist:innen wahrnahmen – etwa Polizist:innen, Bundeswehrsoldat:innen oder Stammtischpolitiker:innen in Kneipen mit Namen wie »Das Deutsche Eck«.

Dieses Wir stellte rückblickend auch nur den Konservatismus und die Spießigkeit des eigenen Andersseins dar, ein Differenzgefühl, das mehr aus- als einschloss und wenig offen für das Erleben von Vielfalt war.

Unser Abend bei Sebastian wurde nach ein paar Stunden wie aus dem Nichts unterbrochen: »Ihr versteht die Scherben und mich nicht«, wütete er uns entgegen. Der Wortlaut war so oder so ähnlich. Sein Gesicht wendete sich beim Reden von uns ab, und er blickte an eine der Wände mit seinen Zeichnungen. Die Reaktion von Sebastian war in diesem Moment vollkommen unerwartet und sorgte bei uns für Erstaunen und Stille.

Die Musik lief weiter: »Wir müssen hier raus, das ist die Hölle / Wir leben im Zuchthaus / Wir sind geboren, um frei zu sein / Wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein / Und wir werden es schaffen«. Dieser Song, »Wir müssen hier raus!«, der 1972 auf dem Album Keine Macht für Niemand von Ton Steine Scherben erschienen war, war der Auslöser für die Reaktion von Sebastian, aber nicht der Ausgangspunkt. Wir hörten schon den ganzen Abend über Songs von den Scherben. Und bei jedem neuen Scherben-Song distanzierte sich Sebastian von uns. Genauso, wenn er Punkplatten auflegte: von den Dead Kennedys, Exploited, den Sex Pistols, The Clash, Abwärts, Fehlfarben, Slime oder Spermbirds, um hier nur ein paar der Bands zu nennen, um die es ging.

Für Sebastian waren wir, wenn es um die Scherben und Punk ging, verwöhnte Kinder aus privilegierten Familien, die Protest und Politik als spannend und sexy betrachteten. Wir fühlten uns dadurch cool und überlegen, ohne zu begreifen, dass wir das alles nur konsumierten. Unsere Haltung bestätigte den Eindruck, dass Pop, Protest und Politik mehr sind als ein hedonistisches Distinktionsritual von Jugendlichen, denen nichts fehlt und für die alle Türen offen stehen. Eine Musik, die sich gegen die bürgerliche Ordnung engagiert, konnte uns nicht gehören, nur weil wir sie konsumierten. Das »Wir« in »Wir müssen hier raus!« schloss uns aus Sebastians Sicht nicht ein.

Geschichte(n) Erzählen

Das Erzählen von Zeitgeschichte erfordert Auslassungen, Verkürzungen und Vergessen. Ohne eine zusammenhängende Chronik ist es eine Auswahl bedeutender Geschichten, aus denen die Gegenwart entsteht und die von den Erzähler:innen als Meilensteine der Geschichtsentwicklung markiert werden.

»Zusammenhalt und Respekt sind essentiell. Ziel der politischen Popmusik sollte es sein, guten Samen zu pflanzen – Empathie und Respekt sollte man fördern.«

Sammy Amara, Broilers

Ich analysiere die politische Zeitgeschichte und verknüpfe sie mit Popsongs und ihren Geschichten. Meine Sichtweise ist biografisch geprägt, ohne mich ausschließlich auf meine eigene Biografie zu beschränken. Meine musikalische Reise begann Mitte der 1980er Jahre im Spannungsfeld von Heavy Metal, Punk, Postpunk und Psychobilly, wo die deutschsprachige Popmusik stets eine zentrale Rolle spielte.

Ich bin kein Historiker, der alle Zeugnisse der Vergangenheit sammelt und kritisch untersucht. Mein Blick auf die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik ist kulturwissenschaftlich und journalistisch geprägt, vor allem jedoch von der Perspektive eines Musikliebhabers. Für mich ist die deutschsprachige Popmusik ein kontinuierliches politisches Bildungserlebnis. Ich betrachte Popsongs als Spiegel und kritischen Kommentar zur deutschen Zeitgeschichte und werde die politischen Perspektiven dieser ausgewählten Songs analysieren, um zu zeigen, wie die gesellschaftliche und politische Geschichte Deutschlands nach 1945 in ihnen rekonstruiert wird.

Sammy Amara und Marcus S. Kleiner am 17. April 2023 in Düsseldorf

Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik betrachte ich zudem aus einer Perspektive, die von verschiedenen Privilegien geprägt ist. Als in Westdeutschland geborener, 51-jähriger, weißer, heterosexueller Cis-Mann aus der Mittelschicht mit Akademikereltern und einer Professur vereine ich nahezu alle gesellschaftlichen Vorteile dieser Zeit. Es hat eine Weile gedauert, bis ich meine Privilegiertheit erkannte und verstand, was sie bedeutet. Daraus ergeben sich Fragen: Welche Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten resultieren aus meinem privilegierten Status? Wie entsteht das Gefühl von Selbstverständlichkeit und Anrecht? Welche Vorurteile und blinden Flecken prägen meine Erfahrungen? Diese Reflexion über meine Privilegien führt zu einem Bewusstsein für die Begrenztheit meiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der deutschsprachigen Popmusik.

Das Buch

Seit dem Abend bei Sebastian sind über 35 Jahre vergangen. Die Musik und die Geschichten der Scherben, die mit 16 in mein Leben traten, begeistern und beschäftigen mich bis heute. Sie sind in meinem Buch allgegenwärtig. Der Titel zitiert den Album- und Songtitel Keine Macht für Niemand von 1972. Auf diesem Album geht es nicht um individuelle Befindlichkeiten oder die Ideologie von Gruppen oder Staaten, sondern um ein solidarisches Wir, dass den Machtzentren unserer Gesellschaft widerstehen soll. In meinem Buch stehen daran anschließend die deutschsprachigen Songs im Vordergrund, die die deutschen Verhältnisse und die Deutschen kritisieren.

»Viele Bands denken ja nur an sich und sind null solidarisch mit anderen Acts. Politisch Musikmachen bedeutet nicht immer nur, welche Songinhalte die Acts haben, sondern auch ob sie ihr Privileg oder auch einfach ihre Sichtbarkeit bereit sind, so einzusetzen, dass auch andere davon profitieren können. Ton Steine Scherben haben nicht einfach nur Musik gemacht, sie haben versucht neue Räume, Strukturen und Orte für mehr als nur sich selbst aufzureißen und bespielbar zu machen. Viele Bands heute haben aber zu viel Konkurrenzangst und denken nur an sich. Ich verachte das, um ehrlich zu sein. Wir sind insofern mit The Doctorella eine sehr politische Band, weil wir seit Anbeginn Orte für Sichtbarkeit von anderen Musikerinnen geschaffen haben, zum Beispiel mit der Konzertreihe Ich brauche eine Genie und dem popliterarischen Salon Krawalle und Liebe.«

Sandra Grether, The Doctorella

Der letzte Song der ersten Platte der Scherben, »Warum geht es uns so dreckig?«, aus dem Jahr 1971, lässt den Widerstand gegen diese als ungleich und ungerecht empfundene Gesellschaft mit dem utopischen Ruf nach Solidarität enden: »Was wir wollen, können wir erreichen / Wenn wir wollen, stehen alle Räder still / Wir haben keine Angst zu kämpfen / Denn die Freiheit ist unser Ziel / […] / Alles, was uns fehlt, ist die Solidarität«. Die Kritik an den herrschenden Verhältnissen und den Mächtigen nährt den utopischen Glauben an die Kraft der Kunst, die Gesellschaft mitzugestalten. Aus dieser Perspektive ist Popmusik ein Kreativraum für eine zukünftige Gesellschaft und fungiert als antiautoritäre Protestbewegung sowie als außerparlamentarische Opposition durch die Mittel der Popkultur.

Die Politikwissenschaftler:innen Klaus Schubert und Martina Klein skizzieren die politische Bedeutung von Widerstand auf drei Ebenen:

»Widerstand bezeichnet ein politisches Verhalten, das sich gegen eine als bedrohlich und nicht legitim empfundene Macht richtet. Es gibt Widerstand gegen Personen (den Herrscher, die Herrschenden), gegen die Form der Herrschaft (zum Beispiel Diktaturen) bzw. gegen einzelne politische Maßnahmen. Passiver Widerstand, d. h. die gewaltlose Weigerung (zum Beispiel Streik) ist von militantem Widerstand, d. h. den aktiven, mit Gewalt gegen Sachen oder Personen verbundenen Handlungen, zu unterscheiden.«

Diese drei Widerstandsebenen sind leitend für meine Auseinandersetzung mit der politischen und politisierenden Popmusik in Deutschland. Sie finden sich im gewaltlosen Protest von Fridays for Future wieder, aber auch im Kontext der politischen und politisierenden deutschsprachigen Popmusik. Der Popsong »Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt« von Danger Dan aus dem Jahr 2021 thematisiert dagegen die Notwendigkeit des militanten Widerstandes als letzte Handlungsmöglichkeit. Hinzu kommt, dass das positive Widerstandsrecht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Artikel 20 (4) verfassungsrechtlich abgesichert ist. Dieses Widerstandsrecht richtet sich gegen jeden, der versucht, die verfassungsmäßige Ordnung abzuschaffen.

Aufbau

Meine Rekonstruktion der deutschsprachigen Popmusikgeschichte als Zeitgeschichte beginnt mit der Einordnung des Zusammenhangs von Pop und Erzählen (Kapitel 2) sowie den Leitbegriffen Pop, Protest, Politik, Solidarität und Widerstand (Kapitel 3). Anschließend skizziere ich die Vorgeschichte der deutschsprachigen Popmusik von 1945 bis 1969 (Kapitel 4). Dies bildet die Grundlage für die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik von 1971 bis zur Gegenwart, wobei ich die jeweiligen Jahrzehnte und repräsentativen Popsongs fokussiere (Kapitel 5 bis 10). In diesen Kapiteln werde ich zunächst auf die politischen Ereignisse der deutschen Zeitgeschichte eingehen, dann die repräsentativen Popsongs und deren politische Themen vorstellen sowie konkrete Songanalysen präsentieren. Abschließen werde ich mit einer Zusammenfassung der pop-politischen Grundpositionen (Kapitel 11).

In meinem Buch werde ich keine rechte, rechtsextreme und neofaschistische Popmusik behandeln. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens möchte ich der darin zum Ausdruck kommenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit keine Plattform bieten. Zweitens spielt die Geschichte der rechten und rechtsextremen deutschsprachigen Popmusik in Deutschland keine bedeutende Rolle für die Entwicklung der deutschsprachigen Popmusik von 1945 bis heute.

Mein Buch ist von Song-Geschichten inspiriert worden, und wie immer handelt es sich bei Geschichten und beim Geschichtenerzählen um eine individuelle Mischung aus Fakten (Zeitgeschichte) und Fiktionen (Songgeschichten).

2. »Weck mich auf« (Samy Deluxe) Pop erzählt Deutschland – Musik und Zeitgeschichte

Was erzählt Pop?

Die Frage ›Was erzählt Pop?‹ verweist auf eine zweite Frage: ›Wie erzählt Pop?‹. Daran schließt die dritte Frage an: ›Wer erzählt Pop?‹. An diesen drei Fragen setze ich an. Und zwar mit der politischen und politisierenden Inanspruchnahme des Erzählens in der deutschsprachigen Popmusik.

In diesem Kontext ist deutsch eine Selbstbezeichnung, die zahlreiche Fantasien und Zuschreibungen hervorruft und ein Wir-Gefühl erzeugt. Sie konstruiert Vorstellungen darüber, wer zu diesem Wir gehört und wer nicht, insbesondere im Hinblick auf Migrant:innen in Deutschland. Die Behauptung eines einheitlichen Deutschseins ist eine nationalistische Konstruktion, die das deutsche Wir von anderen abgrenzt. Realistisch betrachtet ist das Wir jedoch nie eindeutig, sondern vielfältig und oft kritisch gegenüber der Idee des Deutschseins.

Das deutsche Wir-Gefühl vereint Kollektivierung – den organisierten Zusammenschluss von Menschen in Gemeinschaften – mit Individuation, dem Prozess der Reifung der menschlichen Persönlichkeit. Das Ich wird zu einem Wir, das sich flexibel an verschiedene Situationen, Gefühle und Ideologien bindet und dabei andere Bindungsmöglichkeiten ausschließt.

Pop erzählt Politik

Popmusik erzählt immer wieder von Politik und kann dabei politisierend wirken. Diese pop-politischen Geschichten können individuelle Bildungsprozesse auslösen. Erzählen beruht auf Erfahrungen, und Erfahrungen können sowohl Distanz zum Erzählten erzeugen als auch die Unmittelbarkeit der Erzählung herstellen: in und aus der Gegenwart, vergangenheitsorientiert oder zukunftsbezogen.

Ein Beispiel ist der politische Popsong »Kristallnaach« von BAP aus dem Jahr 1982, den Wolfgang Niedecken geschrieben hat. Die »Kristallnacht« bezieht sich auf die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, auf die vom nationalsozialistischen Regime organisierten Gewalttaten gegen Jüd:innen und die Ermordung von Jüd:innen in Deutschland.

Reichspogromnacht ist hierbei die korrekte Bezeichnung. Dieser Begriff ist nicht, wie der der »Kristallnacht«, verharmlosend, weil er den angerichteten Schaden nicht auf das zerschmetterte Glas von Schaufenstern reduziert.

Mit »Kristallnaach« setzten BAP ein Zeichen gegen das Erstarken der politischen Rechten in Europa und formulierten Kritik an der Diskussion über die Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus in Deutschland.

Die Frage ›Was erzählt Pop?‹ beantworte ich mit Blick auf den Zusammenhang von Pop, Protest und Politik aus der Perspektive von Solidarität und Widerstand.

Die Beantwortung der Frage ›Wie erzählt Pop?‹ beziehe ich auf die Songtexte und die Musik der ausgewählten Popsongs.

Die Frage ›Wer erzählt Pop?‹ beantwortet die Songauswahl. Musiker:innnen- und Band-Images sind dabei für meine Analysen ebenso wenig von Bedeutung wie Interviews und Äußerungen in den sozialen Medien.

Dass ›Wer?‹ ist die historische oder gegenwärtige Person, die den Songtext verfasst hat. Die realen Autor:innen bzw. Textdichter:innen. Davon unterscheide ich den Erzähler eines Songtextes, der häufig auch, aber nicht immer, aus der Ich-Perspektive spricht. Ist dies der Fall, spreche ich von einem Song-Ich. Diesen Erzähler setze ich nicht mit der realen Autorin bzw. dem realen Autor gleich. Bei der Analyse von Songtexten sind die realen Autor:innen, etwa Wolfgang Niedecken als Autor von »Kristallnaach«, erzählerisch nicht relevant.

Mit jedem Kapiteltitel zitiere ich einen repräsentativen Song aus dem jeweiligen Jahrzehnt, der im Kapitel behandelt wird. Diese Songs analysiere ich ausführlicher als die anderen, indem ich gezielt die drei Fragen beantworte: Was wird erzählt? Wie wird erzählt? Wer erzählt? Die Analysen der anderen Songs konzentrieren sich hauptsächlich auf die Fragen ›Was wird erzählt?‹ und ›Wer erzählt?‹, jedoch in verkürzter Form.

Insgesamt umfasst meine Untersuchung rund 260 Songs, die gemeinsam eine fortlaufende Reflexion über die deutsche Zeitgeschichte darstellen. Diese Lieder sind nicht nur Ausdruck ihrer Zeit, sondern auch Spiegel gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen, die bis heute nachwirken. Durch diese umfassende Analyse möchte ich aufzeigen, wie politische Themen in der deutschsprachigen Popmusik verarbeitet werden.

Ich erzähle die Geschichte der jeweiligen Jahrzehnte in West- und Ostdeutschland anhand von zehn historischen Ereignissen, die Deutschland und die Deutschen bewegt haben. Diese Ereignisse vermitteln Einblicke in das jeweilige Jahrzehnt, geben aber keinen Überblick über alle wichtigen politischen Entwicklungen des jeweiligen Jahrzehnts. Die deutschsprachigen Songs, die ich hierzu ausgewählt habe, sollen diese Geschichtsmomente zum Klingen bringen. Zeitgeschichte und Musik sind untrennbar miteinander verbunden. Musik ist der Reflektor und Kritiker der Zeitgeschichte. Mit diesen politischen Ereignissen und Themen vermittle ich ein Panorama der pop-politischen Jahrzehnte in West- und Ostdeutschland.

Pop ist Kommunikation

Meine Auseinandersetzung mit politischen deutschsprachigen Popsongs wird durch Musiker:innen-Gespräche ergänzt, in deren Zentrum ebenfalls der Zusammenhang von Pop, Protest und Politik aus der Perspektive von Solidarität und Widerstand steht.

Ich habe diese Gespräche im Zeitraum von Mai 2023 bis Februar 2024 geführt: mit Sammy Amara (»Broilers«), Jens Friebe, Kersty Grether und Sandra Grether (»The Doctorella«), Ingo Knollmann (»Donots«), Michael ›Elf‹ Mayer (»Slime«), Jan Müller (»Tocotronic«) und Thorsten Nagelschmidt (Muff Potter).

Popmusik ist Kommunikation, die Anschlusskommunikationen auslösen kann. Als Gesprächsanlass ist Popmusik ein Ensemble der Weitergabe: von den Musiker:innen zu den Hörer:innen und von diesen in deren Lebenswelten. Dieses Ensemble orientiert sich an den Prinzipien der Partizipation und Zirkulation. Aus politischer und politisierender Perspektive kann Musik ein haltungsvoller Weckruf sein oder ein Anlass, sich selbst künstlerisch zu positionieren. Popsongs initiieren immer wieder andere Popsongs.

Popmusik ist aber nicht nur auf kommunikative Unmittelbarkeit und die Aktivierung von Denkprozessen, Handlungen oder Kreativität beschränkt. Popsongs dienen darüber hinaus einerseits zur Erinnerung an das eigene Leben mit Pop, und andererseits leistet Popmusik einen Beitrag zur Erinnerung an historische Ereignisse oder ruft diese Erinnerung wach bzw., hält sie offen, wie etwa die drei Wendesongs, die ich in der Einleitung besprochen habe.

Popmusik und Zeitgeschichte: »Weck mich auf« von Samy Deluxe

»Weck mich auf« vom Hamburger Rapper Samy Deluxe, veröffentlicht am 10. September 2001, ist ein gutes Beispiel dafür, wie Pop Deutschland erzählt und wie Musik sowie Zeitgeschichte ineinandergreifen. »Weck mich auf« zieht eine Bilanz, die auch heute noch relevant ist. Diese Aktualität bezieht sich nicht auf tagespolitische Ereignisse, sondern darauf, dass sich Geschichte wiederholt.

Was wird im Song erzählt?

Die Frage, die der Song formuliert, lautet: Was bedeutet es für Jugendliche, in Deutschland zu leben? »Weck mich auf« ist ein zeitloser politischer Rap-Song, der in drei Strophen eine vernichtende Deutschlandkritik formuliert. Und darüber hinaus die Grundstruktur eines Generationenkonflikts beschreibt.

Samy Deluxe, 2001

Was erzählt der Song? Deutschland wird in allen drei Strophen durch eine assoziative Themenaufzählung als ein Albtraum beschrieben, der jeden Tag von Neuem in einer Sackgasse endet.

»Weck mich auf« schildert in der ersten Strophe, wie das Leben in Deutschland von Beschränkungen und durch Verbote bestimmt wird, die die Wege zueinander und die Brücken zwischen unterschiedlichen Positionen oder Menschen verdrängen beziehungsweise zum Einsturz bringen. Das Miteinander-Reden und das Aufeinander-Zugehen werden damit ebenso verunmöglicht, wie das Gehört-und-gesehen-Werden von Jugendlichen durch die Politik oder durch die älteren Generationen.

Dieses Nicht-gehört-und-gesehen-Werden durch die älteren Generationen ist ein Grundthema in Generationenkonflikten, von der jede Generation immer wieder von Neuem betroffen ist.

Die 2003 geborene deutsch-indonesische Autorin und Aktivistin Ananda Klaar hat zu diesem Thema 2022 ein Buch veröffentlicht: Nehmt uns endlich ernst! Ein Aufschrei gegen die Übermacht der Alten. Klaar fordert mehr politische Teilhabe für junge Menschen und weniger Politik von Alten für Alte, die die jungen Menschen übergeht, systematisch benachteiligt und sich den Folgen ihrer politischen Entscheidungen nicht mehr stellen muss, etwa mit Blick auf den Klimawandel.

Die Welt, die in »Weck mich auf« beschrieben wird, ist allerdings anders als die, die Ananda Klaar fordert: Die junge Generation wird als passiv beschrieben, steht der Politik gleichgültig gegenüber und engagiert sich nicht für eine bessere Zukunft. Durch Drogenkonsum entflieht sie dem Alltag, und als Psychopathologie des Alltagslebens entstehen Depressionen. Es handelt sich um einen klassischen Generationenkonflikt, der, etwa im Unterschied zu den 1968ern, nicht von den jüngeren Generationen selbstbestimmt verändert wird. Die Grundhaltungen sind passiv oder, wie in der dritten Strophe beschrieben, eskapistisch.

Als zweite Personengruppe, die in der ersten Strophe eingeführt wird, treten Menschen auf, die marginalisiert, aber auch rassistisch diskriminiert und verfolgt werden. Konkret werden »Türken« und »Afrikaner« genannt, die von rechtsradikalen »Skinheads« bedroht werden. Die Polizei ist, das legt die erste Strophe nahe, auf dem rechten Auge blind. Dieser Alltagsrassismus und der tief verwurzelte strukturelle Rassismus in Deutschland werden durch verschiedene Personengruppen lebendig gehalten: durch Rechtsextreme, Patriot:innen, Konservative und Angepasste, die Ja zum Eigenen und Nein zum Fremden sagen.

Es sind aber nicht nur rassistische und rechtsextreme Einstellungen und Handlungen, die kritisiert werden. Vielmehr hat Deutschland ein Problem mit der Vergangenheitsbewältigung des Nationalsozialismus, vor allem, weil diese nationalistische Vergangenheit immer wieder von Neuem zeitgeschichtliche Gegenwart wird. Die Deutschen, die in der ersten Strophe beschrieben werden, sind allesamt negativ gekennzeichnet: kalte Patriot:innen ohne Mitgefühl; Konformist:innen, die Angst vor Veränderung haben; »Hackfressen«, die das hässliche Deutschland verkörpern; und politische Eliten, die sich nur um die eigenen Vorteile kümmern. Die »Die da oben«-Perspektive trifft auf die »Wir hier unten«-Perspektive: Minderheiten regieren, und Mehrheiten werden abgehängt.

In der Hookline, das ist der musikalische, zumeist melodische und zugleich textliche Aufhänger bzw. das Wiedererkennungsmerkmal eines Songs, an dem die Hörer:innen hängen bleiben sollen, werden drei Reaktionen auf die beschriebene Situation genannt: erstens das Aufwachen aus dem Albtraum; zweitens ein unglaubhaft bzw. manipulativ gewordenes Freiheitsversprechen, ohne klar zu benennen, wer dieses Freiheitsversprechen gibt; und drittens, weil es im Song kein richtiges Leben im falschen, also im Albtraum Deutschland gibt, die Notwendigkeit von Selbstreflexion und selbstbestimmtem Handeln.

Insofern stellt der Song einen Weckruf dar, der zu den zuletzt genannten Themen aufrufen will, weil den meisten Menschen die Klarsicht und der Mut zum Handeln fehlt. In »Weck mich auf« werden keine konkreten Hinweise gegeben, wie gehandelt werden und wer konkret handeln soll. Die Hookline wird nach der zweiten und der dritten Strophe wiederholt.

In der zweiten Strophe wird die Schilderung der deutschen Zustände drastischer und dramatischer. Deutschland wird mit der Metapher »Babylon« beschrieben. In Hip-Hop- und Reggae-Texten ist Babylon häufig ein negatives Bild für die westliche Zivilisation und steht für die Anmaßung des Menschen gegen Gott. In der Bibel wird Babylon in der neutestamentlichen Offenbarung des Apostels Johannes (Offb. 17) als »die große Hure« bezeichnet, die die »Mutter aller Gräuel auf Erden« sei. Die Offenbarung des Johannes ist der Schlüsseltext der christlichen Apokalyptik und beschreibt die Vorstellungen vom Endkampf zwischen Gut und Böse, bevor das tausendjährige Reich Gottes und damit das Ende der Zeit anbricht.

In »Weck mich auf« wird die Metapher bzw. Textfigur »Babylon« gesellschaftskritisch, aber assoziativ verwendet, denn im Songtext gibt es keine weiteren christlichen Bezüge oder Perspektiven. Und es gibt auch keinen Kampf zwischen Gut und Böse, denn die beiden beschriebenen Welten, die der jungen Generation und die der älteren Generationen, leben aneinander vorbei. Insofern wird auch nicht konkret beschrieben, was nach dem Ende von »Babylon« geschieht, also nach dem Untergang von Deutschland in der gegenwärtigen Verfasstheit. Deutschland als »Babylon« wird ausschließlich von destruktiven Personengruppen regiert, die in der zweiten Strophe so personifiziert werden: Politiker:innen werden als Psychopath:innen bezeichnet, die intellektuell beschränkt seien und zudem auch noch »der dunklen Seite« dienten, womit Banken und Wirtschaftskonzerne gemeint sein könnten. Darüber hinaus sind die Politiker:innen abhängig von Berater:innen und nicht in der Lage, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Die Bürger:innen sind für die Politiker:innen nur als Steuerzahler:innen und Wähler:innen von Bedeutung. Deutschland wird von gefühlskalten und nicht empathischen Bürokrat:innen verwaltet. Die Polizei handelt sadistisch und rassistisch. Dementsprechend wird die Verbrechensbekämpfung in Deutschland rassifiziert.

Ein weiterer Kritikpunkt, der im Song »Weck mich auf« geäußert wird, ist, dass die Menschen von Medien manipuliert und nicht objektiv informiert werden. Großkonzerne produzieren gesundheitsgefährdende Nahrungsmittel, daher haben »bald alle BSE«. Nicht zuletzt fördert die Regierung nicht den Klimaschutz, sondern, im Gegenteil, die Zerstörung der Umwelt. Die Reaktion der Menschen in Deutschland bleibt, wie in der ersten Strophe, passiv und eskapistisch: feiern und Drogen nehmen anstatt politisch aktiv zu werden und selbstbestimmt zu leben.

Zudem herrscht die unvernünftige Haltung »Nach uns die Sintflut« vor, worauf die Hinweise auf einen Herzinfarkt oder das Weitermachen in einer Gesellschaft, die so nicht weitermachen sollte, verweisen. Das Handeln wider besseres Wissen wird zum Wesenszug der Deutschen.

Vor der Wiederholung der Hookline wird als Intention des Songs hervorgehoben: »Doch ich bin hier, um Alarm zu schlagen, wie’n Feuermelder«.

Die zuvor beschriebene Benennung von Schuldigen erzeugt eine Grauzone, denn die im Text geäußerte Kritik wird, abgesehen von der Kritik am Rassismus, in Deutschland in den letzten Jahren verstärkt auch von rechtskonservativen und rechtsextremen Gruppen und Parteien geäußert, ebenso oft von Verschwörungserzähler:innen und Reichsbürger:innen, die wiederum zumeist rechtskonservativ und rechtsextrem sind.

In der dritten Strophe verändert sich die Perspektive. Es soll eine Vermittlung zwischen der Politik, die durch »Gerhard Schröder« personifiziert wird, der von 1998 bis 2005 der siebte Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war, und der jungen Generation stattfinden. Das Ergebnis soll eine politische Perspektivenveränderung sein. Die Kernfragen hierbei lauten: Wie kann die Perspektivlosigkeit der Jugend verändert werden? Welche neuen, zukunftsfähigen Perspektiven können entstehen?

In der Gegenwart des Songtextes verspielen und verfeiern die Jugendlichen aber weiter planlos, ideenlos und apathisch die eigene Lebenszeit. Die Hoffnung auf ein langes und glückliches Leben haben sie ebenso aufgegeben wie die Vorstellung, dass nach einem langen Arbeitsleben der wohlverdiente Ruhestand mit einer guten Rente wartet. Sie bewegen sich lediglich von Gegenwart zu Gegenwart. Das Alltagsleben soll dabei durch kleine Fluchten, die täglicher Drogenkonsum ermöglicht, und durch die Verwirklichung von materiellen Träumen erträglich gemacht werden. Denn ein Neustart wie bei »Nintendo« ist im Leben nicht möglich.

»Weck mich auf« wird nicht utopisch, sondern mit einer dystopischen Perspektive beendet. Die Jugendlichen haben sich im Elend eingerichtet. Es droht eher der persönliche Kollaps, als dass die Revolution bevorsteht. Das Leben macht die Jugendlichen zu passiv für die aktive und selbstbestimmte Veränderung der eigenen Lebenssituation und der Gesellschaft. Darüber hinaus bietet der Song keine Möglichkeit an, wie sich die Jugendlichen untereinander solidarisieren könnten, um den gesellschaftlichen Verhältnissen widerständig zu begegnen.

»Zu unseren Shows kommen mittlerweile viele, die schon ihre Kids mitbringen oder sogar Enkel. Das Beste, was wir machen können, ist, Leute zu ermutigen, mehr Kids mit zu den Shows zu bringen, denn so macht man die Welt besser. All Ages Shows sind genial, denn so zeigt man jungen Menschen, dass das ’ne gute Zeit hier bei den Punks und bei weltoffenen Leuten ist und eben nicht bei Nazis. Ich glaube, das Sendungsbewusstsein muss man auch einfach behalten.«

Ingo Knollmann, Donots

Ingo Knollmamn und Marcus S. Kleiner am 9. Mai 2023 in Köln

Die Stimmungslage von Jugendlichen in Deutschland wird nicht nur in Songtexten erzählt, sondern auch wissenschaftlich erforscht. Eine der prominentesten Forschungsarbeiten ist die Shell Jugendstudie, die seit 1953 erscheint, »um Sichtweisen, Stimmungen und Erfahrungen von Jugendlichen in Deutschland zu dokumentieren«. Die Perspektive auf Jugendliche soll gesellschaftspolitische Denkanstöße vermitteln.

Die deutsche Tochtergesellschaft des Öl- und Energiekonzerns Shell beauftragt hierfür unabhängige Wissenschaftler:innen und Institute. In der 13. Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2000, für die 4546 Jugendliche im Alter von 15 bis 24 Jahren über ihr Leben befragt wurden, wird die Millennium-Generation mit einer optimistischeren Grundhaltung beschrieben als die Jugend, von der im Song »Weck mich auf« erzählt wird. Die Jugendlichen finden die Welt, so wie sie ist, ganz in Ordnung, und haben keine allzu großen Zukunftsängste. Die Forscher:innen identifizieren einen gesteigerten Leistungswillen und die frühe Vorbereitung auf die Anpassung an die Erfordernisse des Arbeitsmarktes.

Von den befragten Jugendlichen sehen allerdings rund zehn Prozent verunsichert und ratlos in die Zukunft: »Sie haben wenig Möglichkeiten, sich dem Wandel in allen Lebensbereichen anzupassen, geschweige denn, darin ihre Chance zu nutzen – und sie wissen das.« So fassen die Forscher:innen die Haltung dieser Jugendlichen zusammen.

In der Millennium-Generation ist das Interesse an Politik gesunken und die Ausländerfeindlichkeit gestiegen. Diese beiden Themen sind für das Deutschlandbild im Song »Weck mich auf« von großer Bedeutung. »Von Weltverbesserung ist nichts zu sehen, auch nichts von revolutionären Utopien«, hält das Forscher:innenteam fest. Die Jugendlichen lassen das politische System links liegen.

Der Sozialpädagoge Richard Münchmeier, Mitverfasser der Studie, stellt zudem fest: »Ausländerfeindlichkeit ist auf dem Lande und in Kleinstädten, wo wenig Fremde leben, wesentlich verbreiteter als in den Städten.« In der Auswertung von Münchmeier erscheinen 27 Prozent aller deutschen Jugendlichen als ausländerfeindlich: »Schlechtere Lebensbedingungen, geringere Bildung, schlechtere Ausstattung oder zumindest eine Selbsteinschätzung in dieser Richtung«, so erklärt der Wissenschaftler diese Entwicklung.

Von einer interkulturellen Gesellschaft kann in der Shell Jugendstudie kaum die Rede sein – ebenso wenig im Song »Weck mich auf«. Nicht zuletzt gehen deutsche Jugendliche und Jugendliche mit Migrationshintergrund in ihrer Freizeit getrennte Wege. Es sind vor allem die deutschen Jugendlichen, die unter sich bleiben wollen. Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund erscheinen in der Shell Jugendstudie überwiegend als aufgeschlossen und an die deutsche Lebensweise angepasst.

»Wie erreicht man junge Leute? Auch wenn man aus einer anderen Generation kommt und eine andere Sprache spricht, ist es wichtig, Brücken zu bauen. Zuzuhören und im besten Falle etwas Neues mitzunehmen. Gleichaltrige bringen bei Konzerten Kinder mit (Generationsübergabe). Dies zeigt, dass Musik ein verbindendes Element zwischen den Generationen darstellen kann.«

Sammy Amara, Broilers

Der Song »Weck mich auf« läuft den empirischen Forschungsergebnissen der Shell Jugendstudie teilweise zuwider und legt –verknappt und plakativ – den Fokus auf die Schmerzpunkte der deutschen Gesellschaft zu Beginn der 2000er Jahre.

Wie wird im Song erzählt?

An die Beantwortung der Frage ›Was wird im Song erzählt?‹ schließe ich jetzt die Frage an: ›Wie wird im Song erzählt?‹ Der Song wird in einer getriebenen, aggressiven und autoritären Ansage-Rap-Haltung präsentiert, die monoton und wenig dynamisch ist. Das sind nicht nur die Kennzeichen des Rap, sondern auch des Textes und der Musik. Diese Haltung erzeugt einerseits Distanz und wirkt andererseits empathielos.

Der Rap ist eine Art Bewusstseinsstrom, der »auf eine geordnete Syntax« verzichtet, »rational nicht gesteuerte Bewusstseinsabläufe scheinbar ›authentisch‹ in aller ihrer Inkohärenz darstellt«, so beschreiben die beiden Literaturwissenschaftler Matías Martínez und Michael Scheffel die Form eines Bewusstseinsstroms. Hierbei wird eine relativ große Distanz zu der erzählten Rede und den Zuhörer:innen erzeugt. Dies korrespondiert mit der Überzeugung des Song-Ichs, dass Menschlichkeit und Empathie nicht zu den deutschen Tugenden zählen.

Die Kritik an den deutschen Zuständen in Form des Bewusstseinsstroms wird im Song durch die Konstruktion von Feindbildern bestimmt. Hierzu zählen Polizei, Justiz, Beamt:innen, Politiker:innen, Rechtsradikale und Nazis, Pädophile, Konformist:innen, Wirtschaftskonzerne, die Lebensmittelindustrie, Menschen ohne Klarsicht und die älteren Generationen. Alle Feindbilder sind gleichermaßen destruktiv, ein Besser oder Schlechter gibt es nicht. Die Wahrnehmung dieser Feindbilder wird dadurch verstärkt, dass sie an Angstthemen gebunden werden, wie zum Beispiel die Zukunftsangst.

Die distanzierte Haltung wird nur am Ende der letzten Strophe aufgebrochen: Das Song-Ich, das kein Mitglied der dargestellten jüngeren Generation ist, solidarisiert sich mit dieser Generation. Die implizite Haltung hierbei ist: Meiner Generation ging es auch nicht besser als euch, ich kann euch daher verstehen und, wir können miteinander reden.

Alexander Paeffgen, Professor für Komposition und Musiktheorie an der Popakademie Mannheim, weist mich im Gespräch darauf hin, dass der Beat von »Weck mich auf« ein Originalzitat der britischen Progressive Rock-Band Barclay James Harvest ist, und zwar aus »The Song (They Love To Sing)«, der sich auf deren 1979er-Album Eyes of the Universe befindet. Zudem handelt sich, so Paeffgen weiter, um ein melancholisches Moll-Zitat des lebensfrohen Dur-Riffs des Songs »Life is for Living«, der sich auf dem 1981er Album Turn of the Tide befindet.

Wer erzählt den Song?

Abschließend gehe ich auf die Frage ein: ›Wer erzählt den Song?‹ Das Song-Ich tritt als Beobachter und Ankläger der deutschen Zustände auf, ohne selbst handelnd einzugreifen. Es bleibt distanziert und wartet darauf, dass sich die beschriebenen Themen ändern, um aus dem deutschen Albtraum aufwachen zu können.

Von dieser Grundhaltung gibt es zwei Ausnahmen: In der dritten Strophe tritt das Song-Ich als Vermittler zwischen den jüngeren Generationen und der Politik auf. Und in der letzten Zeile dieser Strophe beschreibt sich dieses Song-Ich als Teil der Generation, von der es erzählt, und identifiziert sich mit der beschriebenen Generationserfahrung: »Und deshalb sind ich und meine Generation so depressiv«. Das erzeugt Ambivalenzen, denn zum einen ist das Song-Ich nicht Teil der beschriebenen Generation, und zum anderen erklärt es sich zum Teil der Generation, von der es erzählt. Die zweite Ambivalenz entsteht durch die Distanz des Song-Ichs zum Erzählten, zugleich wird jedoch ein Gefühl von Solidarität mit den jüngeren Generationen angezeigt. Diese beiden Ambivalenzen werden nicht weiter aufgelöst und bleiben bestehen.

Ungeachtet dieser Uneindeutigkeiten erzeugt der Song ein Spannungsfeld zwischen Passivität und Aktivität. Die Grundlage für die Passivität ist das indifferente oder desillusionierte Weitermachen. Die Motivation für die Aktivität ist das eigene Nachdenken über die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Möglichkeiten, diese Verhältnisse zu verändern. »Weck mich auf« veranschaulicht eindrucksvoll, wie sehr Popmusik und Zeitgeschichte zusammenhängen. Pop erzählt Deutschland. Pop erzählt Zeitgeschichte.

3. »Ihr lieben 68er« (Peter Licht) Pop, Protest und Politik in Deutschland

In den frühen 1970er Jahren ging es in der deutschsprachigen Popmusik nicht um Weltrettung oder Dialog mit der Politik, sondern um produktive Zerstörung. »Macht kaputt, was euch kaputt macht« – so lautete das subversive Programm von Ton Steine Scherben, die 1971 die deutsche Gegenwart und die Nachkriegsentwicklung radikal in Frage stellten. Ihre Musik wurde zum prototypischen Soundtrack der deutschen Protestgeneration und schuf ein deutsches Gegenmodell zur Schlagerkultur und zu den pädagogischen Liedermacher:innen.

»Erst mal müsste man das vorweg natürlich definieren: ›Politisch‹, wie eng oder weit fasst man das? Es ist ja eine sehr weite Bandbreite. Aber ich würde sagen, egal, wie weit man das fasst, Musik muss meiner Meinung nach überhaupt nicht politisch sein.«

Jan Müller, Tocotronic

Udo Lindenberg brachte 1973 mit Alles klar auf der Andrea Doria zentrale Themen der Polit-Aktivist:innen in den Mainstream und erreichte das Bewusstsein der gesellschaftlichen Mitte. Sowohl Ton Steine Scherben als auch Lindenberg bekennen sich zur deutschen Sprache, was in den 1970ern eine politische Entscheidung war, um über die deutschen Verhältnisse zu berichten.

Die Geschichte der deutschsprachigen Popmusik ist somit auch eine Geschichte der deutschen Zustände – eine pop-poetische und politische Gegengeschichte. Pop und Politik sind untrennbar miteinander verbunden; Pop bleibt aus dieser Perspektive eine gelebte Utopie und ein Protest gegen die als ungerecht empfundenen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Unter Protest verstehe ich die elementare, gewaltfreie Form öffentlich vorgetragener Kritik. Diese greift im Allgemeinen ein vernachlässigtes gesellschaftliches oder politisches Thema auf, dem sie öffentlich Resonanz verschaffen will, um die Öffentlichkeit auf einen tatsächlichen oder vermeintlichen Missstand aufmerksam zu machen und auf diese Weise zu dessen Beseitigung beizutragen. Protestler:innen verstehen sich dabei als soziale Alternative oder politische Avantgarde, die Wahrnehmungs- und Interventionsschwächen der institutionalisierten Politik, einschließlich der jeweiligen politischen Oppositionen, korrigieren will.

»Popmusik kann, aber muss nicht politisch sein. Es gibt viele Möglichkeiten, über Musik Menschen Themen nahezubringen, ohne dass sie explizit politisch sein muss. Ich persönlich möchte meine Mittel aber auch dazu nutzen, zumindest politische Denkanstöße zu liefern. Ich würde mir nicht verzeihen, nicht alle Möglichkeiten genutzt zu haben, im Guten auf Menschen einzuwirken.«

Sammy Amara, Broilers

Im Gegensatz zu politischen Bewegungen wie der 68er-Generation sind Pop-Protest-Kulturen meist ästhetisch motiviert und keine reinen Protestbewegungen. Dennoch teilen sie mit politischen Protestkulturen das solidarische Engagement für eine bessere Welt und eine utopische Ausrichtung.

Unter Solidarität verstehe ich mit dem Soziologen Manfred Groser allgemein die »wechselseitige Verpflichtung, als Mitglieder von Gruppen oder Organisationen füreinander einzustehen und sich gegenseitig zu helfen. Solidarität entspringt gemeinsamen Interessen und Überzeugungen und beruht auf einem Zugehörigkeitsgefühl.« Dem solidarischen Verhalten liegen eine gemeinsame Gesinnung der Gemeinschaft zugrunde, gemeinsame Ziele, der Wille, füreinander einzustehen, und das Gefühl der inneren Verbundenheit.

Popmusik ist politisch aufgrund politischer Aussagen und politisierend, indem die Popsongs zur Meinungs- und Haltungsbildung auffordern, wenngleich die notwendige pop-poetische Verkürzung politischer Themen immer wieder populistische Perspektiven erzeugt. Politik unterteile ich im Anschluss an den Kommunikationswissenschaftler Jörg-Uwe Nieland in die drei Bereiche Polity, Politics und Policy:

»Polity bezeichnet die formale Dimension (also das Normen- und Institutionengefüge) und versteht Politik als Rahmen. Politics erfasst die verfahrensmäßigen Dimensionen, also den Prozess und die Konfliktaustragung, und versteht Politik als Prozess. Policy meint die inhaltliche Dimension, somit die Be- und Verarbeitung von gesellschaftlichen Problemen, und versteht Politik als Inhalt.«

Daran orientiert, bezieht sich meine politische Auseinandersetzung mit den politisierenden und politischen Potenzialen der deutschsprachigen Popmusik auf die Ebene der Policy. Politik und Musik entfalten ihre Bedeutung im gesellschaftlichen Kontext und sind kollektive Kommunikationsprozesse.

»Musik kann ganz verschiedene Formen von Qualität haben. Natürlich kann sie einen auch geistig, politisch oder auch in anderer Weise zum Nachdenken anregen. Sie kann religiös oder auch schlicht funktionell sein. Ich habe den Eindruck, dass das Politische oft als Wert per se betrachtet wird. Ein schlechter Song mit politischem Gehalt ist aber noch immer ein schlechter Song, und ein guter unpolitischer Song ist noch immer ein guter Song.«

Jan Müller, Tocotronic

Unter politischer und politisierender Popmusik verstehe ich eine künstlerische Reflexion von Politik. Diese Art von Musik ist kritisch und nicht affirmativ; sie verwandelt politische Botschaften nicht in einen unterhaltsamen Soundtrack, sondern fungiert als musikalischer Protest gegen die herrschenden Verhältnisse. Die politischen und politisierenden Potenziale der Popmusik bestehen vor allem auf fünf Ebenen:

Popmusik ist grundsätzlich politisch aufgrund politischer Aussagen.

Politische Popmusik nutzt die Potenziale des politischen Popsongs durch Verknappung und Plakativität, um unmittelbar anschlussfähig zu sein.

Diese Unmittelbarkeit nimmt in Kauf, durch Dekontextualisierung populistisch zu wirken bzw. ein Meinungsklima zu erzeugen.

Politische Popmusik ist eine direkte Aufforderung zur Meinungsbildung.

Politische Popmusik bietet eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit politischen Themen.

Die Bedeutung von politischer und politisierender Popmusik besteht in der spezifischen Perspektive auf politische Themen und Ereignisse.