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Johanna, geboren in den frühen 1920er Jahren, wächst mit ihrem jüngeren Bruder in einem Dorf auf, in einem abgelegenen Winkel Nordhessens. Aber ihre Kindheit ist kein ländliches Idyll. Die Mutter verlässt Mann und Kinder, als Johanna noch nicht einmal zehn Jahre alt ist. Das Buch erzählt davon, wie das Mädchen versucht, fertig zu werden mit diesem traumatischen Erlebnis und mit allem, was daraus folgt.
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Seitenzahl: 92
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Die beiden Kinder saßen eng aneinandergeschmiegt im Bett des Mädchens. Der kleine Junge zitterte.
"Schschsch...", versuchte die große Schwester ihn zu beruhigen. "Sie haben sich doch schon so oft gestritten!", flüsterte sie. "Sie hören auch wieder auf. Das weißt du doch, Fiete."
Aber der Junge hörte nicht auf zu zittern. "Und wenn Mama wirklich weggeht?", schluchzte er. "Ich hab Angst!"
Die Schwester drückte ihn an sich.
"Schschsch..." Sacht wiegte sie ihn hin und her. Sie wusste doch auch keine Antwort. Sie hatte doch auch Angst, aber das durfte sie dem kleinen Bruder nicht zeigen. Sie war schon neun, sie war ein großes Mädchen. Wenn sie nur die Nachttischlampe anmachen könnte. Aber das war verboten. Durch die Vorhänge des Kinderzimmers drang nur die fahle Nachthelle herein. Straßenlaternen gab es in ihrem Dorf nicht.
Eine Tür wurde zugeschlagen, und danach waren die streitenden Stimmen nur noch gedämpft zu hören.
Aber doch immer noch so erschreckend. Viel zu laut.
Die polternde, drohende Stimme des Vaters. Die schrille Stimme der Mutter.
Johanna summte leise eins von den Liedern, die ihre Mutter ihnen vorsang. Allmählich beruhigte sich ihr kleiner Bruder. Er sank an ihre Schulter. Eingeschlafen.
Sacht ließ sie ihn aufs Kopfkissen gleiten.
Hoffentlich wachte sie morgen früh zeitig genug auf, um ihn in sein eigenes Bett zu schicken. Den Geschwistern war streng verboten, zusammen in einem Bett zu schlafen.
Johanna betrachtete den Kleinen. Fünf war er jetzt, der kleine Fiete. Auch Mama nannte ihn so. Nur Vater sagte Karl-Friedrich zu ihm. Aber so ein erwachsener Name, der passte doch gar nicht zu so einem Knirps.
Wie süß er war, mit seinen weichen hellen Löckchen.
Vorsichtig streckte sich Johanna neben dem kleinen Bruder aus. Sorgfältig zog sie die Decke über seine Schultern, damit er nicht fror.
Immer noch waren die streitenden Stimmen der Eltern zu hören. Jetzt - die harten Schritte des Vaters im Flur, dann klappte die Haustür.
Endlich schlief das Mädchen ein.
Einmal wurde Johanna wach. Ihre Mutter stand am Fußende des Bettes. Sie stand da, bewegungslos, und sah zu Johanna hin. Als sie bemerkte, dass das Mädchen etwas sagen wollte, legte sie den Finger auf die Lippen.
Kein Streicheln für Fiete. Kein Streicheln für Johanna.
Sie starrte noch einen Augenblick auf die Kinder. Im nächtlichen Dämmerlicht sah ihr Gesicht bleich aus.
Weinte sie?
Schließlich drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Lautlos schloss sie die Tür.
Johanna wusste später nicht mehr, ob das wirklich so gewesen war. Oder ob sie das geträumt hatte.
Es war hell, als sie erwachte. Erschrocken fuhr sie hoch.
"Fiete!" Sie rüttelte den kleinen Bruder. "Los! Rüber!"
Doch ehe Fiete sich schlaftrunken aus der Decke gewühlt hatte, wurde die Zimmertür aufgerissen.
"Los! Aufstehen! Beeilung!" Vaters Befehlsstimme.
Laut. Energisch. Und offensichtlich war er schlecht gelaunt. Johanna hatte ein Gespür für seine Befindlichkeit.
Angst stieg in ihr auf. Eigentlich war es doch Mama, die sie weckte.
Kein Wort darüber, dass Fiete sich in ihrem Bett befand. Die Tür schlug krachend hinter ihm zu.
Fiete sah erschrocken zu ihr auf, Angst in den Augen.
"Warum kommt Mama nicht?" Er begann zu weinen.
"Weiß nicht." Johannas Hände zitterten, als sie den großen weißen Krug vom Boden hob und vorsichtig Wasser in die emaillierte Schüssel goss, die auf einem Schemel stand. Sie half Fiete, Gesicht und Hände zu waschen. Während er sich leise weinend abtrocknete, wusch sie sich ebenfalls das Gesicht und zog sich schnell an.
"Hör auf zu weinen!", flüsterte sie. "Du weißt doch, Papa kann das nicht leiden und..." Sie schlug mit der flachen Hand durch die Luft. Fiete verstand.
Johanna half ihm beim Anziehen. Wieder summte sie eine Melodide. Die Musik machte sie ruhiger.
Sorgfältig kämmte sie den Bruder und sah ihn prüfend an. Hemd richtig geknöpft. Die gestrickte Hose ziemlich sauber. Gut.
Aber was sollte sie bloß mit ihren eigenen Haaren machen? Mama müsste längst gekommen sein, um ihr Haar zu zwei langen Zöpfen zu flechten. Egal. Sie kämmte sich und strich das Haar streng hinter die Ohren. Hoffentlich blieb es da.
"Warte!" Schnell brachte sie das Wasser weg und schütte es ins Klo. Als sie wiederkam, schimmerten schon wieder Tränen in Fietes Augen.
"Nicht!", flüsterte sie ihm zu. "Sonst gibt's gleich wieder Haue. Bestimmt ist Mama in der Küche."
Sie ahnte, dass das nicht stimmte. Sie war ja schon groß. Zwar verstand sie die Erwachsenen nicht immer, aber wenn etwas nicht stimmte. spürte sie das.
Sie band ihre Schulschürze um. Fühlte nach dem Taschentuch in der Schürzentasche.
"Komm!" Hand in Hand gingen die Geschwister über den Flur zur Küche.
Keine Mama.
Auf dem Tisch war für drei Personen gedeckt. Drei Tassen - Erwachsenentassen vom Alltagsservice mit den winzigen roten Sternchen. Nicht Fietes Hasentasse. Nicht Johannas Veilchentasse. Holzbrettchen. Margarine, der graue Steintopf mit Pflaumenmus. Bestecke. Vier Brotschnitten im Körbchen, viel zu dick geschnitten, das sah Johanna sofort. Kein Blumensträußchen. Wortlos nahmen die Kinder ihre Plätze auf der Eckbank ein und warteten auf den Vater. Johanna griff nach dem Krug und goss ihnen Milch ein.
"Wo ist Mama?" In Fietes Stimmchen schwang Angst.
Seine Mundwinkel zuckten. "Fiete!", zischte Johanna warnend, denn die Schritte des Vaters näherten sich der Küchentür.
Dann stand er vor ihnen. In Hemdsärmeln und Strickweste. Ein mächtiger Mann. Viel zu groß für die kleine Küche.
In der rechten Hand hielt er einen Briefumschlag, mit dem er nervös auf die Linke trommelte.
"Eure Mutter hat uns verlassen!", sagte er trocken, als wäre es die Ankündigung des normalen Tagesablaufs.
"Sie wird nicht wiederkommen. Von ihr wird in dieser Familie nicht mehr gesprochen werden."
Er setzte sich auf seinen Platz, legte den Umschlag ab und goss sich Kaffee ein. Probierte und verzog angewidert das Gesicht.
"Übermorgen wird Tante Hertha kommen und sich kümmern."
Jetzt erst schien er die Kinder wirklich wahrzunehmen. Sein Blick ging prüfend über die Geschwister.
Zwischen seinen Augenbrauen erschien die Zornesfalte. "Johanna! Warum sind deine Zöpfe nicht ordentlich geflochten?"
"Das hat doch immer...ich meine...ich wollte sagen...", flüsterte das Mädchen angstvoll, "ich kann das nicht, Vater."
Der Vater stutzte. "Ach ja. Natürlich. Binde die Haare hinten ordentlich zusammen, irgendwie. Das wirst du wohl schaffen." Hastig trank er seinen Kaffee aus und stand auf. "Hier den Brief gibst du deiner Lehrerin. Du wirst zu spät zur Schule kommen, weil du Karl-Friedrich in den Kindergarten bringen musst. Beeilt euch. Ich hoffe, dass alles klappt. Vergiss die Schlüssel nicht." Schon war er weg. Die Haustür fiel ins Schloss.
Die Kinder tranken ihre Milch aus. Dann band Johanna, so gut es ging, ihr Haar im Nacken mit einer ihrer Zopfspangen zusammen.
"Komm!"
Tante Anneliese fragte nichts, als Johanna ihren Bruder im Kindergarten ablieferte. Sie strich Fiete liebevoll über die Locken und schickte ihn mit einem Klaps zu den anderen Kindern. Johanna sah, dass die schon im Kreis auf ihren Stühlchen saßen und jetzt neugierig zu ihr her sahen.
"Wir sind...ich - ich meine..." Das Mädchen wollte erklären, warum sie zu spät waren, aber sie hatte Angst, was durfte sie wohl sagen, durfte sie überhaupt...
"Schon gut, Johanna. Schon gut. Ich weiß." Tante Anneliese nickte und strich auch ihr übers Haar. "Dann holst du ihn nachher auch ab, nicht?", sagte sie schließlich freundlich. "Um drei Uhr. Nach dem Mittagsschläfchen."
Johanna nickte erleichtert. Daran hätte sie nicht gedacht. Sie gab der Kindergartentante die Hand, machte einen Knicks und sagte höflich: "Auf Wiedersehen, Tante Anneliese." Dann drehte sie sich um und ging.
So leise wie möglich öffnete sie die Tür zu ihrem Klassenzimmer. Alle Kinder sahen zu ihr hin, und Johanna errötete. Die Lehrerin unterbrach ihren Vortrag und sah Johanna fragend und mit hochgezogenen Augenbrauen entgegen. Mit zaghaften Schritten ging das Mädchen den Weg zum Pult - wie lang dieser Weg doch war! und immerfort starrten alle auf sie! - und hielt ihr wortlos den Brief des Vaters hin. Fräulein Kruse las den Brief durch. Ihre Lippen bewegten sich stumm dabei. Dann seufzte sie tief und schüttelte kaum merklich den Kopf.
"Setz dich, Johanna. Wir beschäftigen uns gerade mit dem Weg vom Korn zum Brot."
Sie fuhr mit ihrem Vortrag fort. Mit dem Zeigestock wies sie auf die Abbildungen verschiedener Getreidearten auf einem Rollbild hin, das wie eine Landkarte am Kartenständer hing. Sie erklärte jede Abbildung, und immer wieder schrieb sie einige Wörter an die Tafel.
Da waren die Pflanzen, Weizen, Roggen, Gerste, Hafer; der mit der Sense mähende Bauer; die Wassermühle; die Mehlsäcke; ein gemauerter Backofen, in dem Glut glomm; Brotlaibe. Ein lachendes Kind, das in ein Stück Brot biss.
Johanna starrte das alles an, aber sie sah nichts.
Ihre Mama. Ihre Mama war weg. Würde sie wirklich niemals mehr wiederkommen? Alle Welt schien das normal zu finden. Tante Anneliese, Fräulein Kruse, die waren gar nicht erschrocken gewesen. Aber das ging doch nicht.
Warum bloß war Mama weggegangen? Gestritten hatten sich die Eltern doch schon immer. War sie selber nicht brav genug gewesen? Sie gab sich doch immer solche Mühe. Johanna fiel ein, dass sie letzten Sonntag zornig gewesen war und geweint hatte, weil Mama ihre rosa Zopfschleifen nicht gebügelt hatte und sie ohne Schleifen herumlaufen musste. Am Sonntag! Wenn alle Mädchen ihre besten Schleifen an die Zöpfe gebunden hatten! Aber nun - hatte das ihre Mama so sehr geärgert?
Johanna schluckte und schluckte. Nein, nicht weinen, bloß nicht weinen.
"Johanna!" Die strenge Stimme der Lehrerin schreckte sie auf. "Nun fang endlich an!" Fräulein Kruse deutete auf die Wandtafel. Johanna nickte und bemühte sich, ihre Gedanken ins Klassenzimmer zu holen. Abschreiben. Sätze bilden. Hausaufgabe. Ja. Das verstand sie.
Sie würde jetzt immer sehr sehr brav sein. Vielleicht kam Mama dann wieder.
Als in der Frühstückspause die anderen Kinder ihre Brote auspackten und mit auf den Hof nahmen, merkte Johanna, wie hungrig sie war. Am Morgen hatte sie nichts herunterbekommen. Sie ging weg von den anderen.
"Hast du schon gefrühstückt, Kind?" Plötzlich stand Fräulein Kruse vor ihr, die selber ein Butterbrot in der Hand hielt.
"Ich?" Johanna wurde rot. "Nein...ja,ja...doch!" Sie nickte.
Fräulein Kruse sah sie prüfend an. Dann lächelte sie.
"Warte mal." Aus ihrer Manteltasche zog sie ein Päckchen und wickelte ein weiteres Butterbrot aus. "Hier!
Nimm!"
Erschrocken sah das Mädchen zu ihr auf. Die Lehrerin lächelte ihr freundlich zu. "Na los, nimm nur!"
Johanna war verwirrt und wusste nicht - durfte sie? - aber dann griff sie nach dem dargebotenen Brot und machte einen Knicks. "Vielen Dank!" Die Lehrerin nickte ihr noch einmal zu, wandte sich ab und setzte ihren Rundgang über den Schulhof fort.
Johanna hielt das Brot in der Hand und starrte es an.
Das strenge Fräulein Kruse. Das schon mal mit dem Lineal auf die Kinderfinger schlug, wenn die Fingernägel bei der morgendlichen Kontrolle schmutzig waren.
Durfte sie das Brot überhaupt annehmen? Hatte sie jemand gesehen?
Die Mädchen schwangen ein großes Seil und zählten laut mit, wie viele Hüpfer eine jede schaffte, ohne hängen zu bleiben. Bestimmt würde Helga wieder die meisten Sprünge schaffen, sie war die beste dabei. Die Jungen spielten Fangen, und die Lehrerin musste ein Auge darauf haben, dass sie nicht die Mädchen ärgerten, einfach mitsprangen im Seil oder ihnen die Schürzenbänder aufzogen.
Zögernd biss Johanna von dem Brot ab. Wie gut das tat.