King of Rap - Kool Savas - E-Book
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King of Rap E-Book

Kool Savas

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Beschreibung

Kool Savas ist der unumstrittene King of Rap. Seit zwanzig Jahren steht er ohne Widerspruch oder Konkurrenz an der Spitze der deutschen HipHop-Szene. Jahrelang haben Rapper mit Tabubrüchen und lauten Gesten aus der Underdog-Position heraus um ein Stück vom Kuchen der Musikindustrie gekämpft – heute ist HipHop die relevanteste und erfolgreichste Popkultur Deutschlands. Und Kool Savas immer noch ihr König. In seinem Buch erzählt Savas Yurderi nicht nur unbekannte Storys aus den Anfangsjahren seiner Karriere, er berichtet auch von der atemberaubenden Geschichte der Verfolgung und Flucht seiner Eltern und zeichnet seinen persönlichen Weg an die Spitze der Charts nach. Unzählige Abbildungen handgeschriebener Textblätter legendärer Songs, unveröffentlichte Fotos, Flyer, Plakate und andere seltene Devotionalien machen das Buch zu einem echten Sammlerstück. »Dieses Buch ist der beste Beweis: Die spannendsten Geschichten schreibt das wahre Leben. Fesselnd, inspirierend und motivierend zugleich! Unbedingt lesenswert - nicht nur für Fans seiner Musik!« SEBASTIAN FITZEK Mehr noch: Kool Savas reflektiert eigene Fehler und Erfahrungen, um diese mit anderen zu teilen. - Wann ist es wichtig, nur noch auf sich selbst zu hören? - Welche Erlebnisse aus seiner Kindheit und Jugend haben ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist? - Wie erkennt man Momente, die über die nächsten zehn Jahre des Lebens entscheiden können? - Was sind die häufigsten Fehler junger Newcomer in der Musikindustrie? - Wann muss man sich auf Veränderungen einlassen und seine Strategien wechseln? - Und warum hat die Geburt seines Sohnes ihn mehr verändert als jede Goldene Schallplatte?Kool Savas' »24 Gesetze« ist das Buch-Ereignis des Jahres. Nicht nur seine Millionen Fans haben auf dieses Werk gewartet, sondern auch alle, die auf ihrem privaten oder beruflichen Weg die Tipps und Tricks eines Nummer-1-Künstlers interessiert, der nach zwei Jahrzehnten Karriere mit seiner Musik erfolgreicher und relevanter ist als je zuvor. Eine nun schon Dekaden andauernde Erfolgsgeschichte und ein dennoch nicht perfektes Leben, das nicht auf schnellen Hypes basiert, sondern auf einem Fundament aus guter Musik, dem richtigen Umfeld, klugen Business-Entscheidungen und der Fähigkeit zur Weiterentwicklung. Wegbegleiter, Freunde und Business-Profis wie Eko Fresh, Artur Abraham, Haftbefehl, Freddie Lau, Sido, Lena Gercke, Tim Raue, Kida Ramadan oder Sony-CEO Patrick Mushatsi-Kareba u.a. berichten von ihren persönlichen Erlebnissen mit Kool Savas und erklären, warum die Marke Kool Savas und seine Legacy größer und wichtiger ist denn je. Und vor allem, was andere davon lernen können. Die inhaltliche Vielfalt dieses Buchs reicht weit über die Genregrenzen hinaus. Während Kool Savas' persönliche Geschichte für die Entwicklung der postmigrantischen Gesellschaft um die Jahrtausendwende steht, ist seine beeindruckende Karriere viel mehr als das übliche »From Zero to Hero«-Narrativ, von dem die Szene so häufig lebt. Kool Savas, die Ikone des Battle-Rap, schildert in seinem Buch nun erstmals seine Entwicklung vom HipHop-Untergrundkünstler zum Mittelpunkt jener Popkultur, die längst alle Milieugrenzen sprengt. Aus seinen persönlichen Erfahrungen destilliert er seine Lebenslektionen: 24 Gesetze, geschrieben um Wege zu erleichtern und Fehler zu vermeiden. »Savas ist einer der Gründe, wieso ich angefangen habe zu rappen.«Sido »Kool Savas hat die Publikumsbeschimpfung kultiviert.« DIE ZEIT

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Seitenzahl: 385

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KoolSavas

King of Rap

Die 24 Gesetze

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Seit über zwanzig Jahren steht Kool Savas ohne Widerspruch oder Konkurrenz an der Spitze der Deutschrap-Szene. In seinem Buch beschreibt der King of Rap nun erstmals seine Entwicklung vom Berliner HipHop-Untergrundkünstler zum Mittelpunkt einer Popkultur, die längst alle Milieugrenzen sprengt. Er öffnet sein Privatarchiv, erzählt unbekannte Storys aus den Anfangsjahren seiner Karriere, reflektiert Begegnungen mit Weggefährten, berichtet von der Geschichte der Verfolgung und Flucht seiner Eltern und zeichnet den Weg an die Spitze der Charts nach. Aus musikalischen, beruflichen und privaten Erfahrungen destilliert er so seine Lebenslektionen: 24 Gesetze, geschrieben, um Wege zu erleichtern und Fehler zu vermeiden.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Widmung

Karte

Vorwort

Prolog

| 1 | Ohne Vergangenheit hat die Gegenwart keine Zukunft

| 2 | Hinterfrage Autoritäten

| 3 | Mach deinen persönlichen Tiefpunkt zum Anfang von etwas Neuem

| 4 | Sei die Veränderung, die du dir für dein Leben wünschst

Bildteil

| 5 | Nimm dir, was du brauchst, und mach es zu deinem Eigenen

| 6 | Eine Partnerschaft braucht sinnvolle Komponenten

| 7 | Erste Schritte heißt oft: erste Fehler

| 8 | Erfülle keine Erwartungen, folge Dir selbst

Bildteil

| 9 | Lerne die Strukturen zu erkennen, in denen du dich bewegst

| 10 | Wähle deine Schlachten weise

| 11 | Konzentrier dich auf die positiven Aspekte

| 12 | Wie man sich bettet, so liegt man

| 13 | Kümmer dich um den Man in the Mirror

| 14 | Bau dir ein Team, das passt

| 15 | Lieber ein gutes Ende als ein schlechter Anfang

Bildteil

| 16 | Sei nicht »der Typ von damals«

| 17 | Du kannst vor deinen Problemen weglaufen

| 18 | Jede Marke muss mit der Zeit gehen

| 19 | Don’t believe the Hype

Bildteil

| 20 | Sei kein Fähnchen im Wind

| 21 | Lieber ein Jasager als ein Dauernörgler

| 22 | Sei der Beste in dem, was du tust

| 23 | Bewahre dir alle Facetten deiner Identität

| 24 | Nichts ist so wichtig wie jene, die immer an deiner Seite sind

Bildnachweis

Dieses Buch schildert meine persönlichen Erfahrungen. Diese kann ich nicht darstellen, ohne auch vom Erlebten zu erzählen. Das geht nicht, ohne auch Personen zu beschreiben. Um deren Privatsphäre zu schützen, habe ich daher immer mal wieder Namen und anderes verändert, damit diese nicht erkennbar sind. Sollten dennoch Ähnlichkeiten zu realen Personen bestehen, sind diese rein zufällig.

Für Y.

© mapz.com – Map Data: OpenStreetMap ODbL

Vorwort

Als Savas auf die Welt kam, waren mein Mann und ich noch jung. Wir haben ihn von Anfang an sehr unabhängig und selbstständig aufwachsen lassen. Bei meinen anderen, späteren Kindern war das gar nicht mehr so, da war ich wesentlich ängstlicher. Aber wir waren nun mal so jung, dass gewisse Erfahrungen und Ängste gar nicht vorhanden waren. Unsere Einstellung war damals: Das Kind soll alles selber machen und tun dürfen. Wird schon gut gehen. Savas ging mit drei oder vier Jahren zum Beispiel schon alleine einkaufen. Er hat Geld und eine kleine Liste mitgenommen und los ging’s. Wir haben auch oft in den Räumlichkeiten des Kindergartens geschlafen, in dem ich arbeitete. Wenn ich dann morgens um sechs Uhr zu meinem zweiten Job in einer deutschen Schule musste, blieb Savas oft komplett alleine in diesem Haus. Ich stellte ihm einen Wecker und malte ihm auf, wie die Zeiger stehen mussten, damit er aufsteht und sich anzieht. Das tat er dann auch.

Zwei Häuser weiter wohnte eine Arbeitskollegin von mir. Zu der ging er dann mit seinen fünf Jahren, fertig angezogen und auf die Minute pünktlich. Er musste von Anfang an für sich selbst verantwortlich sein, es ging nicht anders. Er musste es können, also konnte er es auch. Später zog er dann auch sehr früh von zu Hause aus und begann mit der Musik. Auch wenn mein Mann und ich natürlich anfangs dachten, dass der Rap allenfalls ein Hobby wäre und auf keinen Fall ein Beruf, hat er sich da nicht beirren lassen. Ich sage ganz ehrlich: Ich habe nicht daran geglaubt. Ich war geradezu entsetzt, als uns der damals zuständige Sozialarbeiter mitteilte, dass Savas nun auch die dritte Ausbildung abgebrochen hatte. Und dieser Sozialarbeiter fand das auch noch gut und bestärkte ihn in seinem Entschluss. Sie sollten ja beide recht behalten.

Diese Freiheiten, die Savas immer hatte oder sich nahm, die haben sein Leben geprägt. Wahrscheinlich war die unfreieste Situation in seinem gesamten Leben die Flucht aus der Türkei nach Deutschland. Wir fuhren mit dem Zug los, und sein Vater saß bereits hinter Gittern. Obwohl Savas neben der türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft hatte, gab es ein Gesetz in der Türkei, das es Kindern verbietet, das Land ohne schriftliche Genehmigung des Vaters zu verlassen. Die hatte ich natürlich nicht, ich wusste ja nicht einmal, in welchem Gefängnis er saß. Also gab ich Savas im Zug die Anweisung, dass er auf keinen Fall Türkisch sprechen darf, damit mich die Grenzbeamten nicht nach der Genehmigung fragten. Er musste jetzt ein deutsches Kind sein.

Das waren dann zwölf Stunden Fahrt bis zur Grenze, mit weiteren Fahrgästen im Abteil, die ebenfalls keinen Verdacht schöpfen sollten. Und er sprach tatsächlich nicht. Auch als wir in Deutschland ankamen und unsere Wohnung in Aachen bezogen, setzte sich das fort. Savas verstummte fast komplett. In wenigen Wochen verlernte er beinahe sämtliche türkischen Wörter und begann, eine neue Sprache zu lernen. Und zwar so gut und so schnell, dass die Erzieher im Kindergarten mir nicht glauben wollten, dass wir erst zwei Monate in Deutschland waren. Dass er diese neue Sprache und das Spiel mit ihr dann letztendlich zu seinem Beruf gemacht hat, war vielleicht ein Befreiungsmoment für ihn, eine Möglichkeit diesen Moment, in dem er nicht selbst agieren konnte, zu überwinden.

 

Hilde Yurderi, Juli 2021

Prolog

Genau jetzt ist der Moment. Dieser Moment, auf den ich so lange gewartet habe ohne es zu wissen. Eine ausverkaufte Max-Schmeling-Halle in Berlin. Den Titel als »King of Rap« nach wie vor fest in der Hand. Meine Frau und mein Sohn mit großen Augen am Bühnenrand. Davor Tausende von Fans. Gleich geht es los, die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Die letzten Kabel werden befestigt, ich bekomme das Mikro in die Hand, die Nervosität steigt. Meine Eltern werden das sehen. Meine Freunde. Meine Feinde. Ein paar Millionen Menschen sitzen gerade vor dem Fernseher. Und in wenigen Sekunden stehe ich da oben und performe einen Song aus einem Album, das bereits in der ersten Verkaufswoche Gold-Status erreicht hat. Ich bin zurück in der Stadt, die so viele mit mir verbinden und die mir so wenig Gutes gebracht hat. Die sollen das alle sehen. Die Typen, die mir nichts gegönnt haben oder versucht haben, Profit aus mir zu schlagen. Die Leute, die mir erzählt haben, dass alles zusammenbricht, wenn ich sie zurücklasse. Die Menschen, die mir Schlechtes gewünscht haben. Sie alle kriegen jetzt ihre Quittung! Started from the bottom, now we’re here …

* * *

So oder so ähnlich würde man eine typische Rapper-Biografie beginnen, glaube ich. Vom Tellerwäscher zum Millionär. Aus der Gosse in die Charts. Von ganz unten nach ganz oben. Ihr kennt diese Geschichte. Und sie wird dauernd wiederholt, weil man sie gerne hört. Weil sie uns erzählt, dass jeder es schaffen kann. Weil sie diejenigen, die immer noch unten sind, an den Traum glauben lässt, es da raus zu schaffen. Es ist eine der wichtigsten Geschichten dieser Musik, die ich lebe und liebe und eben auch seiner Protagonisten. Egal ob 50 Cent oder Eminem. Ob 2 Pac oder Biggie. Es ist die HipHop-Geschichte, die wir alle hören wollen. Und es ist auch die Geschichte der Gesellschaft, in der wir leben. Es ist eine Geschichte, die sogar die gerne erzählen, die bereits mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden.

»Ich hab mir alles selber aufgebaut« ist eine der wichtigsten Behauptungen und größten Lügen, wenn erfolgreiche Menschen nach ihrem Weg an die Spitze, oder was sie dafür halten, gefragt werden. Der einsame Ritter in seiner scheinenden Rüstung, der gegen alle Widerstände kämpft und am Ende als Turniersieger dasteht. Der Typ, mit dem keiner gerechnet hat. Wir lieben diese Story einfach zu sehr, um sie zu hinterfragen. Und dafür braucht man nicht mal Rapper zu sein. Selbst wenn wir an Bill Gates denken, sieht man diesen Nerd mit der 80er-Jahre-Brille vor dem inneren Auge, der in der Garage vor sich hin bastelte und sich aus dem absoluten Nichts an die Weltspitze gekämpft hat. Das hat zwar überhaupt nichts mit der Realität zu tun, denn seine Eltern waren stinkreich und förderten den jungen Bill nach Kräften, aber es hört sich einfach besser an. From Zero to Hero. Und ja, wenn man mich und meine Karriere von außen betrachtet, dann haut diese Story sogar einigermaßen hin.

Denn ich kann diese Geschichte auch erzählen. Wie ich es aus der baufälligen Altbauwohnung mit Kohleofen in Berlin-Kreuzberg, einem Bezirk, der damals noch weit entfernt vom heute so angesagten Szeneviertel war, in meine komfortable G-Klasse geschafft habe. Wie ich mir mit meinen Kumpels Essen und Sprühdosen zusammenklaute, auf WG-Sofas gepennt habe und mich vor den anderen Jugendlichen aus dem Viertel beweisen musste. Wie ich gelernt habe, dass die abgefuckte und trotzdem oft glorifizierte »Straße« nicht der Ort ist, an dem ich mein Leben verbringen möchte. Wie ich aus Berlin wegging, um dieser Welt zu entkommen und um rauszufinden, wer ich bin und was ich will. Und macht euch keine Sorgen, auch diese Geschichten wird es geben. Aber ich will mehr als das. Mehr als das Narrativ vom Kreuzberger Hinterhofkind zum strahlenden »King of Rap«, dem die Sonne aus dem Arsch scheint.

Denn es gibt mehr, was ich in den letzten Jahrzehnten gelernt habe, und mehr, was ich erzählen will. Mehr als die nächste Rapper-Biografie. Mehr als die übliche Verklärung oder Ghetto-Story. Ich habe Fehler gemacht und daraus gelernt. Ich musste Leute zurücklassen und neue Leute finden, die mir guttun. Ich habe viel zu oft an mir gezweifelt und zweifle auch heute noch. Und ich habe mich öfters mal ins Fettnäpfchen gesetzt. Ob privat, als Künstler oder als Geschäftsmann. Manchmal lag es daran, dass Leute meinen Humor nicht checkten oder ich mich offenbar unklar ausdrückte. Manchmal lag es an meinem Umfeld und manchmal lag es schlicht und einfach an mir.

Aber wenn man mich fragt, wie ich diesen Weg zum sogenannten Erfolg beschritten habe, dann gibt es eine Regel, die wichtiger ist als alle anderen. Erkenne, wann du an einer Gabelung stehst, und entscheide dich für den richtigen Weg! Das ist kein Hokuspokus oder irgendeine Managerweisheit, sondern das simple Einmaleins des Lebens. Das bedeutet nicht, dass jeder es schaffen kann oder gar, dass alle die gleichen Chancen haben. Haben sie nämlich nicht. Manche haben es einfacher, andere haben es schwerer. Und wieder anderen wird der Weg zum Erfolg einfach verwehrt. Aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer fehlenden Beziehungen. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Klasse oder angeblich mangelnder Schulbildung.

All das gehört zu unserer Realität. Dennoch zu erkennen, wann sich eine Gelegenheit bietet, ist mit das Wichtigste, was ich gelernt habe. Zu begreifen, wenn sich eine falsche Möglichkeit auftut, die trotz aller Verlockungen am Ende ins Nichts führt. Zu verstehen, dass man eine Chance nutzen muss. Ich hab in den letzten zwanzig Jahren meiner Karriere ehrlich gesagt verdammt viele Menschen kennengelernt, die die falsche Abbiegung genommen haben. Die zu früh dachten, dass sie es geschafft haben. Die nicht verstanden haben, was Demut bedeutet oder wann man einfach mal zugreifen muss. Denn jede dieser Eigenschaften hat ihren passenden Moment in deinem Leben.

In diesem Buch habe ich versucht, meine Fehler und Erfolge, meine Geschichte, meine Zweifel und meine Erfahrungen zusammenzufassen. Und dennoch ist es keine Biografie. Denn eine Biografie fühlt sich wie ein Abschluss an, wie der letzte Schritt auf einem langen Weg. Aber das hier ist kein Abschluss. Nichts in meinem Leben, egal ob privat oder beruflich, fühlt sich nach einem Ende an.

Ganz im Gegenteil. Da ist noch jede Menge, was vor mir liegt, und es gibt noch jede Menge Dinge, die ich dazulernen kann und will. Aber dafür muss ich mich hinterfragen. Mich auf Veränderungen einlassen. So wurden meine Erfolge in der Vergangenheit überhaupt erst möglich, und auch heute gilt das noch. Viele hervorragende Dinge in meinem Leben beginnen gerade erst. Ich hab dieses Jahr nach zwei Dekaden erfolgreicher Musikkarriere und Nummer-1-Alben meinen erfolgreichsten Song veröffentlicht. Ich habe meine Strategien geändert. Habe toxische Weggefährten zurückgelassen und positive Menschen in mein Umfeld geholt. Aber viel wichtiger ist etwas anderes, was gerade erst so richtig begonnen hat: Das Leben meines Sohns. Das Leben mit meiner Familie. Das Leben, das noch vor mir liegt.

| 1 |Ohne Vergangenheit hat die Gegenwart keine Zukunft

Ich bin Vater geworden. Das bringt so einiges mit sich. In meinem Fall einen mittlerweile siebenjährigen Sohn, der mich vor Kurzem nach meiner ersten großen Erinnerung gefragt hat. Nach einem Moment, der sich so sehr eingeprägt hat, dass ich ihn auch heute noch direkt vor meinem inneren Auge aufrufen und abspielen kann. Jetzt ist das jedoch so eine Sache mit der Erinnerung. Jeder hat seine eigene. Bei einem einfachen Unfall am helllichten Tag müsste man annehmen, dass es jede Menge verwertbarer Zeugenaussagen gibt. Schließlich haben alle gesehen, was geschehen ist. Und dennoch sitzen später auf der Wache zehn Personen, die alle etwas anderes erzählen. Irgendwer lügt, denkt man dann schnell. Doch so ist es nicht. Menschen, die sich falsch erinnern, sind in der Regel keine Lügner. Sie erinnern sich einfach nur nicht richtig, haben entscheidende Punkte nicht mitbekommen oder sind zu einem falschen Gesamtbild der Situation gekommen. Entweder weil sie von Dritten beeinflusst wurden, weil ihre persönliche Erfahrung nicht dem Gesehenen entspricht oder weil sie eine Situation so oft durchdacht haben, dass sie schließlich ihre eigene Erinnerung kreiert haben. Wenn man eine Geschichte oft genug gehört hat, dann glaubt man sie irgendwann. Vollkommen egal, ob sie wirklich so geschehen ist. Und wenn einem die Erinnerung schon in solchen Fällen einen Streich spielt, wie soll man sich dann erst an ein ganzes Leben erinnern? Wie soll das gehen?

Aber mein Sohn hat nun mal gefragt, und das nicht nur ein Mal. Kindliche Neugier, da hat man keine Chance. Also krame ich in meinem Gedächtnis, von dem ich ganz genau weiß, wie sehr es einen betrügen kann. Versetze mich erstmal in die Zeit zurück, als ich, damals etwa zehn, elf Jahre alt, mit meiner Familie in der Waldemarstraße in Kreuzberg 36 lebte.

Ein Katzensprung zum Kottbusser Tor und ein Steinwurf von der Berliner Mauer entfernt. Hier lebten vor allem Gastarbeiter aus der Türkei, Sozialhilfeempfänger aus Berlin und Hausbesetzer aus Süddeutschland, die keinen Bock auf die Wehrpflicht in ihrer westdeutschen Heimat hatten, sowie ein paar Rentner, die vollkommen nachvollziehen konnten, warum die jungen Leute sich die Wohnungen nahmen, die ansonsten ja einfach leer stehen würden.

Die Mentalität der neuen Generation hingegen war eine ganz andere. Es konnte nur besser werden, nur nach vorne gehen. Am 1. Mai stand die Luft im gesamten Viertel voll Tränengas, sodass die Nachbarn nasse Tücher vor die Ritzen der Fenster und Türen legten, damit das in den Augen brennende Gift nicht in die Wohnungen zog. Sich mit der Polizei anzulegen oder ganze Straßenzüge mit Barrikaden zu versperren, war eine gängige Praxis, um die Cops aus dem Bezirk zu halten, wenn mal wieder Häuser geräumt werden sollten oder Demonstrationen ausarteten. Das mag sehr dramatisch klingen, und doch war es Alltag. Vielleicht hatte das mit der Mauer zu tun, die man als sogenannter 36er quasi im Rücken hatte und die den halben Bezirk einkesselte. Der ein oder andere mag darin das Bild einer in die Ecke gedrängten Ratte sehen, für die Menschen, die in Kreuzberg versuchten, eine linke Utopie zu errichten, war die Mauer jedoch ein Schutzwall. Man musste sich nie sorgen, wer von hinten kam, wenn man von vorne angegriffen wurde. Denn von hinten kam keiner.

Aber es gab natürlich nicht nur Revolutionäre im Viertel. Wer kein Hausbesetzer war, der stand meistens von morgens bis abends in der Fabrik. Und wie soll man Zeit haben, über die Revolution und eine andere Welt nachzudenken, wenn man sich den Rücken krumm schuften muss, damit der Chef sich noch einen weiteren Porsche kaufen kann? Und auch für uns Kids gab es jene Tage, an denen nichts los war und man am Oranienplatz oder in der Dresdner Straße saß und darauf wartete, dass mal wieder irgendwas passierte. Weil das war klar: In Kreuzberg passierte öfters etwas.

Mitten in diesem brodelnden und sich gerade drastisch wandelnden Kiez lebten wir, die nicht so hundertprozentig in das Bild passten, das man klischeehaft von einer Familie aus der Türkei hat. Familie Yurderi. Mein Vater arbeitete nicht am Fließband oder im Gemüseladen und meine Mutter putzte nicht die schicken Wohnungen betuchter Charlottenburgerinnen. Ich weiß, das mag für viele ein Schock sein, aber das gab es damals tatsächlich. In Deutschland hat es gefühlt sechzig Jahre gebraucht, bis die Öffentlichkeit so langsam begriff, dass Menschen mit schwarzen Haaren auch Anwalt, Journalist oder Arzt sein können.

In der Waldemarstraße, in dem Haus gegenüber des berühmten und schon von Rio Reiser besungenen Mariannenplatzes, lebten wir. Genauer gesagt in einer Wohnung. Drei Zimmer, 80 Quadratmeter. Geht besser, geht aber auch deutlich schlechter. Darin meine Eltern, meine Schwester und mein Bruder. Ein Fernseher, ein Tisch, das Sofa, auf dem mein Vater Nachrichten schaute und Tee trank. Und dann liegt da diese Kleiderbürste, eine bescheuerte Kleiderbürste in Form eines Igels. Ich kannte sie bereits aus Istanbul, und dorthin trägt mich dann auch die Erinnerung zurück. Ich sehe mich mit drei oder vier Jahren, wie ich die Kleiderbürste nach meinem Vater werfe und ihn wohl etwas zu fest treffe, keine Ahnung, wieso ich mich das damals getraut habe. Bis heute habe ich meinem Vater nicht ein einziges Mal wirklich widersprochen, wieso ich es also wagte, eine Bürste nach ihm zu werfen? Aber das ist wohl einer dieser Fälle von Erinnerung, die in der Versenkung verschwunden ist. Auf jeden Fall fand er das überhaupt nicht witzig. Und plötzlich passierte etwas, was ich bis dahin so nicht kannte und nie erlebt hatte: Mein Vater wurde laut, stauchte mich richtig zusammen. Er schrie beinahe. Und ich wusste nicht, was ich mit dieser neuen Emotion anfangen sollte, die ich bis dahin nicht kannte. Das ist sie, meine prägendste Erinnerung aus der Vergangenheit. Ein plötzlich schimpfender Vater.

Bevor er aus dem Gefängnis in Istanbul zu uns nach Deutschland kam, war mein Papa fast immer ein eher ruhiger Typ gewesen. Bis dahin hatte er mich nicht einmal ausgeschimpft oder gar angeschrien, zumindest erinnere ich mich nicht daran. Im Türkischen gibt es das Wort »kibar«, was auf Deutsch so viel bedeutet wie »sanftmütig«. Aber natürlich klingt es im Türkischen sehr viel blumiger und besser, so wie vieles. Mein Vater war und ist auf jeden Fall »kibar« durch und durch. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr, als er von einem Tag auf den anderen verhaftet und in den Knast gesteckt wurde, hatten wir immer zusammengelebt, und bis auf dieses eine Mal habe ich ihn nie schreiend oder aufbrausend erlebt. Nicht in Aachen, wo ich geboren wurde und mein erstes Lebensjahr verbrachte, nicht in Istanbul, wo wir hingezogen waren, bevor meine Mutter nach der Verhaftung meines Vaters mit mir zurück nach Deutschland ging. Im Nachhinein kommt mir diese Zeit wie eine harmonische und perfekte Kindheit vor, auch wenn sie das bestimmt nicht immer war. Wenn mein Vater mir Spielzeug schnitzte, dann bedeutete das für mich nicht, dass wir arm sind, sondern dass er mir etwas Gutes tat. Mein Vater war dieser nette und liebe Mann aus Istanbul, der mir Spielzeug schnitzte. Zumindest bis zu dem Moment, als ich in Istanbul diese verfluchte Kleiderbürste warf.

Ich war sechs Jahre alt, als ich in Istanbul aus dem Kindergarten kam und er einfach nicht mehr da war. Verschwunden, als hätte sich ein Schwarzes Loch aufgetan und ihn eingesaugt. Und auch meine Mutter schien von diesem Schwarzen Loch angezogen zu werden, niemand erklärte mir, was vor sich ging oder wo sich mein Vater befand. Eine unfassbare Leere, die man vor mir zu verheimlichen versuchte. Dass mein Opa plötzlich bei uns in der Wohnung saß, war allerdings ein deutliches Signal, dass irgendetwas nicht stimmte. Im Laufe der nächsten Woche vor unserer Flucht, in der wir weder wussten, wo mein Vater sich befindet, noch ob er überhaupt noch lebt, reimte ich mir selber zusammen, was passiert sein musste. Vielleicht war er im Urlaub? Oder auf der Arbeit? Vielleicht war er einfach in eine andere Stadt gezogen? Wenn die Erwachsenen konspirativ zusammensaßen, rauchten und diskutierten, bekam ich ein diffuses Gefühl dafür, was passiert war. Er war weg. Und der Grund dafür waren irgendwelche bösen Männer. Aber nach wie vor erklärte mir niemand, wo der Mann war, der mein Spielzeug schnitzte.

Aber was soll man einem Sechsjährigen auch erzählen, über den brutalen Staat und den Kommunismus, über Gefängnisse und über die Gründe, warum der eigene Vater in einem solchen sitzt? Was verstand ich schon von Militärputschen, Studentenprotesten und Untergrundbewegungen. Nichts. Dennoch haben die Erinnerungen aus meiner frühesten Kindheit mehr oder weniger mit den Gründen zu tun, wegen denen mein Vater in den Knast kam und meine Mutter und ich nach Deutschland flohen. Es sind Fetzen von Bildern und Stimmen. Demonstrationen und Kundgebungen, ich mit fünf oder sechs Jahren an der Hand meiner Mutter. Ich sehe rennende Beine, höre die Aufregung und Panik der Menschen um uns herum. Militär und Polizei, es fallen Schüsse, Leute stolpern und fallen. Und dann ist alles wieder ganz ruhig. Ich sitze zu Hause und spiele mit den wenigen Matchbox-Autos, die ich besitze, die Erwachsenen reden wieder. Über Politik und die Revolution und all diese Dinge, von denen ich kaum etwas verstand.

Eine weitere Erinnerung sind die meterhohen Flammen auf dem Meer, direkt vor Istanbul. Für Erwachsene mag der Anblick eines brennenden Meers einprägsam und schockierend sein, für einen kleinen Jungen wie mich war es ein absolutes Spektakel. Die Independenta war ein rumänischer Öltanker, der am 15. November 1979, zwei Jahre bevor mein Vater verhaftet wurde, in der Zufahrt des Bosporus mit einem griechischen Frachter zusammenstieß. Das ganze Schiff explodierte und verursachte eine Ölverschmutzung von knapp 100 000 Tonnen. Riesige schwarze Flecken auf dem Wasser und ein einziges Chaos an Land. Aufgrund verschiedenster Probleme mit Behörden und Genehmigungen, die mir damals natürlich weder bewusst waren noch mich im Geringsten interessierten, dauerte es mehrere Wochen, bis der Brand gelöscht werden konnte. Dieser Tanker und das brennende Öl verschmutzte aber nicht nur den Bosporus und den Hafen von Haydarpaşa in Istanbul, sondern verdunkelte auch die Wolken über der Stadt. Und ja, ich weiß, ein Vergleich zu den aufkommenden dunklen Wolken über unserer Familie liegt hier sehr nah. Spare ich mir aber.

Bei uns zu Hause gingen die Merkwürdigkeiten weiter. Manchmal sah ich meine Eltern Papiere und Unterlagen in die Waschmaschine packen. Aus den nassen Klumpen formte meine Mutter später Figuren und Gebilde. Erst als viele Jahre verstrichen, begriff ich, dass sie hier nicht nur Kunst erschaffte, sondern zugleich auch verbotene Flugblätter und Worte vernichtete. Die Wohnung in Istanbul war meistens ziemlich kalt, wir hatten nur diesen kleinen Holzofen, der gerade ausreichte, um etwas Wärme an die auszustrahlen, die sich genau davor setzten. Weitere Fetzen von politischen Diskussionen und Geheimniskrämerei in den eigenen vier Wänden. Einmal, als wir gemeinsam in der Stadt unterwegs waren, blieb meine Mutter mit dem Bein in der Tür von einem Bus hängen. Auch dieses Bild hat sich eingeprägt.

Man braucht kein Psychologe zu sein, um zu erkennen, dass viele meiner Erinnerungen mit Angst und Panik verbunden sind. Es sind Momente, die von der Normalität abweichen, die einem Kind Gefahr suggerieren und es nachhaltig verunsichern können. Daraus kann man aber auch schließen, dass der erste Teil meiner Kindheit ziemlich harmonisch und unspektakulär verlief. Zumindest bis zu dem Tag, als mein Vater festgenommen wurde. Waren meine Eltern bisher immer vorsichtig gewesen, wenn sie die Werke von Marx, Engels und Lenin verbreiteten, steigerte sich diese Vorsicht nun gewaltig. Ich glaube, man kränkt meine Mutter nicht, wenn man sagt, dass sie zu diesem Zeitpunkt leicht paranoid wurde. Und wer mag es ihr verübeln? Schließlich wurde ihr Mann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom Staat verschleppt. Einem Staat, der für seine Skrupellosigkeit mehr als ausreichend bekannt war. Uns wurde weder mitgeteilt, wo er war, noch durften wir mit ihm sprechen oder ihn gar besuchen. Wie soll man da nicht paranoid werden?

Und dann war er plötzlich wieder da. Erst in Aachen, wohin ich mit meiner Mutter geflohen war. Steht quasi einfach vor der Tür und irgendwie ist alles wie früher und dennoch ganz anders. Er geht mit uns nach Berlin. Man erwartet, dass da der gleiche Mensch erscheint, den man damals unfreiwillig gehen lassen musste. Vor über fünf Jahren. Aber er war nicht der gleiche Mensch, konnte er gar nicht sein. Und es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, dass nichts mehr ist, wie es einmal war.

Ich war damals elf, da beginnt man Dinge zu begreifen, zu hinterfragen. Dieses Konspirative, die Geheimniskrämerei in meiner Kindheit, all die Erlebnisse, die damit zusammenhängen, haben mich selbstverständlich geprägt. Und nun begann ich mich zu fragen: Will ich das, was ich tue, wirklich? Finde ich die Lebensweise, die mir aufgezeigt wird, wirklich richtig? Fragen, die mich auch heute noch beschäftigen. Im Rückblick hat mich die politische Arbeit eher abgeschreckt, auch da sich die Frage, was richtig und was falsch war, bei uns zu Hause gar nicht stellte. Richtig und wichtig war nur eins: Man muss links sein, man muss Sozialist und Kommunist sein. Dann wird schon alles gut gehen. Lenin und wer da alles noch so dazugehört, das sind die Guten und alle anderen haben unrecht. Und bis heute fällt es mir schwer, diese Sichtweisen abzulegen oder andere anzunehmen, obwohl sich mein Leben kein Stück mit diesen Lehren deckte und deckt. Obwohl ich, wenn wir ehrlich sind, nie nach den Vorstellungen meiner Eltern gelebt habe, selten befolgt habe, was Marx oder Lenin sich für die Menschheit so gedacht haben und mit dem Kommunismus in meinem Alltag so viel anfangen kann, wie ein Heavy-Metal-Fan mit Volksmusik.

Das sind die Widersprüche, mit denen wir leben müssen, und ich vielleicht noch etwas mehr als viele andere. Denn Butter bei die Fische: Ich lebe mindestens gutbürgerlich, manche würden vielleicht sogar spießig sagen. Ich verdiene nicht gerade wenig Geld, ich fahre mit sehr viel Freude gute und durchaus teure Autos, ich wohne in einer schönen Immobilie auf einem großen Grundstück und ich reise gerne an schöne Orte mit guten Hotels. Wenn meine Eltern mich heute begleiten, dann schweige ich meist über den Preis dieser Hotels und Urlaube und wenn sie doch fragen, schwindle ich den Betrag nach unten. Ich weiß, dass es für sie unfassbar wäre, so viel Geld für ein Hotelzimmer auszugeben und gleichzeitig sehe ich, wie sie es genießen und ihren Spaß haben. Da sind sie wieder, die Widersprüche.

Wenn Politik im Alltag eines Kindes so allgegenwärtig ist, dann scheint der Vergleich zu einer Religion, die als einzige Option präsentiert wird, naheliegend. Wer jeden Tag mitbekommt, wie Rituale praktiziert werden, der stellt diese Lebensweise nicht infrage. Da brauchen die eigenen Eltern nicht mal was zu sagen. Viele meiner Freunde von früher, inzwischen erwachsene Männer, die es »geschafft« haben und ihre Kinder großziehen, tun sich noch heute sehr schwer mit den Ideologien und Religionen ihrer Eltern. Manche meinen, dass die Perspektive der Wissenschaft es eigentlich verbiete, ernsthaft an diese oder jene Religion zu glauben.

Selber diesen Schritt aus diesen Ideologien heraus zu machen, sich zu befreien von dem, was einem die Vergangenheit unfreiwillig mitgegeben hat, das ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg in ein eigenes Leben. Und wenn man dann feststellt, dass einer der vielen Götter oder auch Marx oder was auch immer, dir den Halt und das Wissen gibt, das du brauchst – perfekt! Go for it. Hol die rote Fahne raus und geh auf die Straße, nagel dir ein Kreuz an die Wand oder setz dich mit einer Schamanin in den Dschungel von Mexiko, um Ayahuasca zu ballern. Solange es deine eigene Entscheidung ist. Solange du ein Mal die Kleiderbürste geworfen hast. Metaphorisch reicht auch.

Vor einigen Jahren bin ich mit meinem Vater zurück in die Türkei. Wir sind rumgelaufen, er hat erzählt. Zurück an die Orte, die für ihn, aber auch mich, mit so viel Schrecken verbunden sind. Und plötzlich stehen wir vor diesem Haus, das damals ein Folterknast war. In meiner Vorstellung ist das einer der schlimmsten Orte und jetzt sehe ich das riesige Schild, das an der Front der Fassade hängt, als wäre die Geschichte getilgt: Four Seasons Hotel. Fünf Sterne, seidene Laken und Zimmerservice. Willkommen in der schönen neuen Welt. Sind das Momente, in denen man abschließen sollte, oder bricht das eher neue Wunden auf? Ich weiß es nicht. Aber eins ist klar: Diese Momente sind schmerzhaft. Es macht keinen Spaß, zu hören, wie der eigene Vater gefoltert wurde, und trotzdem sitzen wir oft zusammen und reden darüber. Immer und immer wieder. Weil ich versuche, ihn kennenzulernen, mich kennenzulernen und meine Schlüsse zu ziehen. Und auch, weil ich meinen Vater endlich mal in einem Moment erwischen möchte, in dem er ausnahmsweise nicht analytisch oder strukturiert daherkommt. Es ist schwer, ihn emotional zu packen, ihn mal außerhalb der für ihn gesetzten Bahnen abzupassen. Aber ich versuch es. Immer und immer wieder. Und ich bin nicht bereit aufzugeben.

Bis heute habe ich meinen Vater nicht ein Mal weinen sehen. Wenn wir zusammensitzen, er seinen Tee trinkt und von den Gräueltaten berichtet, dann lächelt er dabei und relativiert damit gekonnt all das Schreckliche, das aus seinem Mund kommt. Die Foltermethoden, den psychischen Druck, die bleibenden Schäden. Alles wird mit einem leichten Grinsen erzählt, während ich Tränen in den Augen habe und darüber den Tee vergesse, bis er schlussendlich kalt wird und mein Vater mir ein neues Glas einschenkt. Und dann bin ich plötzlich in der Türkei und sehe, wie mein Vater durch die Hölle geht, wie er Freunde sterben sieht und seine Mitkämpfer in ihrem eigenen Blut liegen und nach ihrer Mutter schreien. Das klingt vermessen und ist es auch vielleicht, aber genau in diesen Momenten begreife ich, woher meine Angewohnheit kommt, mich selber kaputt zu machen. Auch für die Musik. Es liegt alles in der Vergangenheit.

Viele Jahre nach dem Vorfall mit der Kleiderbürste erfuhr ich, dass mein Vater eine Therapeutin besuchte. Heute etwas komplett Normales. Das gehört für viele dazu, wie der Gang zum Zahnarzt – auch wenn die meisten immer noch nicht darüber sprechen. Für die Generation meiner Eltern aber ist Therapie auf gewisse Weise mit einem Makel behaftet. Man gilt als bescheuert, wenn man zum Psychologen muss. Man ist ja nicht stark genug, um selber mit allem klarzukommen. Und ja, verdammt! Genau darum geht es. Es ist doch vollkommen logisch, dass man mit dem ganzen Wahnsinn, den diese Welt und seine Bewohner täglich produzieren, nicht alleine zurechtkommt. Wie sollte man auch? Vor allem nicht, wenn man die Dinge erlebt hat, die mein Vater erlebt hat.

Und doch drückte er eines Tages auf das Klingelschild dieser Praxis irgendwo in Westberlin. Wartete brav im Vorzimmer, da, wo die Zeitungen liegen, in denen es fast immer nur um irgendwelche Königshäuser oder Promi-Paare geht – um eine Welt, die meinem Vater nicht fremder sein könnte –, und irgendwann öffnete sich die Tür und eine freundliche Therapeutin bat ihn hinein. Er setzte sich auf den dafür vorgesehenen Stuhl und erklärte ihr ebenso höflich wie bestimmt, dass er ihr nichts zu sagen habe. Kein Sterbenswörtchen. Nicht weil er nicht mit ihr reden wollte oder sie nicht mochte, sondern einfach weil er es für eine Selbstverständlichkeit hielt, alles mit sich selber auszumachen. Die Therapeutin nickte und erklärte, er könne auch gerne einfach hier sitzen, bis die Stunde vorbei ist. Und das tat er dann auch. Sechzig Minuten voller Schweigen. Schweigen, das den gesamten Raum ausfüllte. Schweigen, das für mehrere Generationen gereicht hätte.

Dieses Spiel wiederholte sich ein paar Mal. Jedes Mal das gleiche Vorzimmer mit den bunten Zeitschriften, die gleiche Ansage, das gleiche Schweigen, die gleiche abwartende Therapeutin. Wenn ich versuche, mich in diese Situation zu versetzen, erinnert mein Vater mich an die Samurais aus den japanischen Filmen, die ich in meiner Jugend so gerne sah. Diese Einstellung, anderen nicht mit seinen Problemen auf den Sack gehen zu wollen. »Ja, ich hab grauenhafte Kopfschmerzen, mein Haus wird gepfändet, ich wurde gerade gefeuert und die ganze Welt fuckt mich ab, aber ich will dich mit meinen Sorgen nicht belasten.« Diese Einstellung vertrat mein Vater lange und am energischsten in den vier Wänden dieser armen Therapeutin, die eigentlich dafür bezahlt wurde, dass man mit ihr redet. Ihre einzige Aufgabe wurde von meinem Vater gewissenhaft torpediert. Doch sie war geduldig. Bis er irgendwann sprach. Stück für Stück. Geschichte für Geschichte. Was er dort genau erzählte und ob es ihm geholfen hat, kann ich nicht sagen. Aber mir hat es geholfen, zu wissen, dass er in dieser Praxis war. Genau so wie die Gespräche mit ihm helfen, zu verstehen. Ich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass ich eines Tages an seinem Grab stehe und Informationen verpasst habe, die ihm oder mir wichtig waren und die relevant für unser beider Leben sein könnten.

An einem der wortreichen Abende mit meinem Vater ist mir klar geworden, dass ich mir mein Leben, meinen Charakter und mein ganzes Sein nicht mehr vorstellen kann, ohne all die Geschichten, Einstellungen und Erfahrungen meiner Eltern. Auch wenn ich sie nicht alle übernommen habe. Auch wenn ich manche der Geschichten in meiner Erinnerung umgeformt habe, bis sie für mich Sinn ergaben. Die Übersensibilisierung und die extrem hohe Emotionalität, die ich in mir spüre, sobald ich mich in Konfliktsituationen befinde und die mit Sicherheit von der Seite meiner Mutter kommt. Die Bindungsangst, die ich immer wieder spüre, und die Fähigkeit, schnell mit Menschen abschließen zu können, die mir nicht guttun, die definitiv auf meinen Vater zurückzuführen ist. Und das Gefühl, Dinge, die nicht abgeschlossen sind, abschließen zu müssen. Bis heute zermartere ich mir das Hirn, wenn Dinge für mich nicht ausreichend geklärt und besprochen wurden, suche verzweifelt nach Lösungen und Diskussionspunkten, um endlich zu einer Erkenntnis zu kommen, die mich zufriedenstellt.

Und ja, es mag keine besonders neue Erkenntnis sein, dass es wichtig ist, in seiner Vergangenheit zu forschen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft gestalten zu können, aber dennoch scheinen die meisten Menschen diesen einfachen Ratschlag kaum zu beherzigen, schieben die Geschichte ihrer Vorfahren und die prägenden Momente ihrer Kindheit weit von sich. Und ja, wenn Michael Ende, der Autor der Unendlichen Geschichte, sagt »Wer keine Vergangenheit hat, der hat auch keine Zukunft mehr«, dann hat der Mann einfach recht.

Für meinen Sohn war diese Antwort dann doch ein bisschen zu lang und kompliziert. Es wird hoffentlich auch noch eine Weile dauern, bevor er mit Kleiderbürsten auf seinen Vater werfen wird.

 

»Rewind«

| 2 |Hinterfrage Autoritäten

Was Autoritäten betrifft, bin ich ziemlich früh auf den Trichter gekommen, dass sie mir nur da nicht egal sind, wo ich mich gegen sie zur Wehr setzen muss. Das fing spätestens in der Schule an, die mir ehrlich gesagt nicht besonders wichtig war. Ich hatte damals andere Sorgen als meine Zensuren, und was irgendwelche Lehrer mir beibringen wollten, war mir ziemlich egal. Mein Selbstwertgefühl stand damals auf null und ich sah nicht, dass die Schule mich irgendwie aufbauen oder dabei unterstützen könnte, meine Lebenssituation zu verbessern.

Eigentlich kam mir nicht mal die Idee, mir zu überlegen, wo ich hinwill und wie das zu erreichen wäre. Es war für mich keineswegs selbstverständlich, ein Ziel zu haben, das außerhalb meines Mikrokosmos lag. Vielleicht ist das auch auf meine Eltern zurückzuführen, die meinen Geschwistern und mir oft vermittelten, wir sollten uns nicht als etwas Besonderes fühlen. Größere Möglichkeiten und bessere Umstände als andere zu haben, werteten sie nicht als positiv. Dass wir nichts hatten oder zumindest nicht mehr als die anderen, war vielmehr Teil ihres sozialistischen Selbstverständnisses.

Wahrscheinlich verfolgten sie damit die Absicht, uns Bodenhaftung mitzugeben und uns nicht zu Egoisten zu erziehen. Für meine Eltern ging es im Leben immer darum, die Ungerechtigkeit des Kapitalismus nicht zu akzeptieren, dagegen aufzubegehren und nicht etwa darum, das Beste für sich selbst rauszuholen, während andere benachteiligt, unterdrückt und ausgebeutet werden. Ihr Ding war es, sich für die gleichen Rechte und Bedingungen aller einzusetzen, für eine Gesellschaft, in der niemand untergeht. Diesbezüglich haben sie sich für den Klassenkampf aufgeopfert und dabei auf vieles verzichtet. Das entsprach ihrer Überzeugung und ihrem Wunsch nach einer besseren Welt. Und natürlich würden wir in einer beinahe perfekten Welt leben, wenn alle so agieren würden. Tun sie aber nicht.

Schon als ich noch klein war, damals in Aachen, nach unserer Flucht aus der Türkei, hat meine Mutter sich komplett aufgerieben in der politischen Arbeit. Dass wir zum Proletariat gehörten, wurde mir täglich klargemacht, wenn ich es denn aus irgendwelchen Gründen mal kurz vergessen haben sollte. Bei all der himmelschreienden Ungerechtigkeit auf diesem Planeten stand es niemandem zu – und das schloss meine Eltern selbstverständlich mit ein –, sich selbst um vorteilhaftere Voraussetzungen und Lebensumstände zu bemühen, als all diejenigen sie haben, denen es schlecht geht.

Einem jungen Mann, der mit ihnen aufgewachsen war, also mir, standen somit nicht gerade sehr viele Optionen zur Verfügung. Ich musste, etwas zu sensibel und nicht mit besonders großem Ego ausgestattet, erst mal mit der sogenannten Straße klarkommen. Klar, Kreuzberg war weder damals noch heute die lebensgefährliche Favela, zu der dahergelaufene konservative Provinzpolitiker und Hobby-Kriminologen es in ihren schlauen Kommentaren gerne hochpushen, aber einfach war der Bezirk eben auch nicht. In vielen Straßenzügen hatten Gangs das Sagen und es war angebracht, sich besser gut mit ihnen zu stellen oder sogar Mitglied zu werden, um Ruhe zu haben und nicht immer auf der Hut sein zu müssen.

Für Menschen, die wie ich in dieser Gegend groß geworden sind, war der Abfuck der Straße einfach gelebte Realität. Deshalb fühlte sich das auch nie besonders anormal oder dramatisch an. Wir hingen in unserer Jugend nun mal nicht auf dem Reiterhof der Tante oder der Raucherecke einer katholischen Privatschule rum. Niemand flog in den Ferien nach Bali oder auf die Malediven, wenn überhaupt, wurde das Auto der Nachbarn bis unters Dach vollgepackt und die ganze Familie fuhr zwei Monate in die Türkei oder den Libanon auf Heimatbesuch. Keiner von uns ging nach der Schule zum Klavierunterricht oder in den Volleyballverein, niemand hatte mehr Geld, als zum Leben nötig war. Wenn überhaupt. Nichts davon empfand ich als außergewöhnlich oder prekär. Die Wirklichkeit war halt so, wie sie war. Das hatte ich auch schon in der Vergangenheit so erlebt.

Als das Öl vor Istanbul das Wasser schwarz färbte und das Meer zu brennen begann, nahm ich das genauso als Teil meiner Welt an, wie ich Kreuzbergs raue Straßen als gegeben annahm. Und so erklärte ich mich anfangs auch mit den Regeln einverstanden, die dort herrschten. Ich befolgte sie und wendete sie selbst an, auch wenn mir das weder den Kick gab, den die Gewaltorgien und Diebstähle angeblich bei vielen auslösen, noch das Selbstvertrauen, das viele Straßenkids zumindest scheinbar daraus gewinnen.

Leuten aus gut behüteten Familien mag es nicht einleuchten, dass Prügeleien und Kleinkriminalität Anziehung auf jemanden ausüben. Aber wenn »Zuhause« bedeutet, dass deine Eltern nach einer 10-Stunden-Schicht erschöpft nach Hause kommen und keine Kraft mehr haben, sich um dich und deine vier Geschwister zu kümmern oder gemeinsam Hausaufgaben zu machen, dann kann die Aufmerksamkeit, die die Gang-Welt dir bietet, dich schon auffangen. Wenn du mit fünf Geschwistern auf zwei kleinen Zimmern verteilt lebst, dann kann sich die Parkbank oder die Bushaltestelle wie der Buckingham Palace für dich anfühlen. Wenn dein Vater von der Arbeit und den Lebensumständen so fertig mit den Nerven ist, dass er dich bei jeder Kleinigkeit verdrischt, dann sind ein paar Schellen von einer gegnerischen Gang verbunden mit der Möglichkeit, selbst auszuteilen, eine verlockende Alternative. Und auch wenn ich selbst nie in so krassen Verhältnissen gelebt habe – sie sind mir hundertfach begegnet, ich konnte so was immer wieder sehen und miterleben. Die negativen Auswirkungen einer Herkunft, die weniger an gesellschaftlicher Teilhabe, weniger Bildungschancen und Zukunftsperspektiven bietet, gehören nach wie vor zur Realität in Deutschland. Und trotzdem: Die Gang als Ersatz für den Zusammenhalt in der Familie kam für mich niemals infrage.

Eine der größten Lügen, die über die Straße kursieren, ist, dass hier unten wenigstens alle gleich sind. Der Mythos, auf der Straße würden Unterschiede nicht zählen, wird zwar immer wieder gefeiert, in Songs oder allen möglichen Filmen über das wilde Leben der sogenannten Underdogs, doch in Wirklichkeit spiegelt die Subkultur und die Straße einfach bloß die Hierarchien der Gesellschaft. Klingt blöd, aber ist so. Auch in Kreuzberg spielte es in meiner Jugend nämlich sehr wohl eine Rolle, woher jemand kam und zu welchen Kreisen er gehörte. Und ich war nun mal ein »Alman-Kanake«. Weder hatte ich besonders viel von der deutschen Kultur mitgekriegt noch mit der türkischen wirklich etwas zu tun gehabt. Ich saß gewissermaßen zwischen den Stühlen. Einen religiösen Background gab es bei mir nicht und ich war auch nicht mit einer der großen Familien verwandt, die sich untereinander alle kannten. Den meisten Jungs, mit denen ich klarkommen musste, fehlten schlicht und ergreifend die Parameter, um mich irgendwie in ihrem Begriffskreis einzuordnen. Demzufolge bot sich mir auch kein gut verankerter Platz in ihrer Mitte, obwohl ich genauso wie sie in diesem Bezirk lebte und zur Schule ging. Ich passte einfach nicht so ganz in diese Kulisse und konnte auch nie viel mit den Konkurrenz- und Machtkämpfen anfangen, die hier herrschten.

Mir lag das von Grund auf nicht. Denn im Endeffekt unterschieden sich die Regeln auf den Hinterhöfen und Plätzen meines Viertels nicht groß von denen des Militärs. Es gab Rangstufen, Befehlsketten und jede Menge Unterdrückung. Und dass ich mit Armeen, egal welcher Herkunft und welcher Ideologie, nicht besonders viel anfangen kann, das war schon damals so.

Dieses in sich geschlossene System der Straße, das wie überall auf der Welt von oben nach unten funktioniert, war überhaupt nicht mein Ding. Und es ist mir bis heute ein Rätsel, warum Menschen sich in solchen Zwängen auch noch stark fühlen können. Andererseits liegt es natürlich auf der Hand, dass jemand, dem nirgends ein eigener Wert zugestanden wird, der gar nicht erst in den Genuss einer ihn auch interessierenden Ausbildung kommt oder der täglich zehn Stunden am Fließband stehen muss, wo er sich für den Chef den Rücken krumm macht, oft keine andere Wahl hat. Das Getrete von oben nach unten ist ein entscheidendes Merkmal unserer Gesellschaft, auf die eine oder andere Art und Weise findet das immer statt. Und solange sich die Leute dem nicht aktiv widersetzen, wird das auch so bleiben.

Trotzdem ist es für mich ein No-Go, mich freiwillig in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben. Oder es auch noch abzufeiern, wenn mir Befehle erteilt werden. Dafür bin ich nicht am Leben, das ist mir zu unwürdig. Und das habe ich spätestens in dieser Zeit auf den Straßen Kreuzbergs begriffen. Ich habe zu viel Scheiß gesehen und zu viele Enttäuschungen erlebt, um Autoritäten dafür anzuerkennen, dass sie andere klein halten. Wenn man nicht manipuliert und ausgenommen werden will, muss man sich frei machen von Abhängigkeiten, vor allem von solchen, die einen bloß ausnutzen wollen. Das ist einer der wichtigsten Schritte auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Denn weder dein Vorgesetzter, weder irgendein cooler Schlägertyp aus deiner Klasse noch der Bürgermeister deiner Stadt weiß besser als du, was du willst und was du tun musst, um glücklich zu werden. Denn dafür musst du eigenständig denken, in dich hineinhorchen, dich dabei wahrscheinlich auch mit unschönen Themen auseinandersetzen und selbstverantwortlich handeln.

Es bringt einen immer voran, eigene Entscheidungen zu treffen, Sachen, die man verdrängt hat oder die einem in der Vergangenheit übel aufgestoßen sind, ehrlich zu betrachten und sich speziell von Menschen, die einem nicht guttun, zu verabschieden.

Solche angeblichen Freunde hatte ich jede Menge und das lange genug. Leute, die eben noch mit mir abhingen und eine gute Zeit hatten, änderten plötzlich ihr Gesicht, sobald einer der älteren oder anerkannteren Jungs auftauchte. Manche verließen unseren Freundeskreis einfach, wenn sie die Chance witterten, irgendwo mit irgendwelchen einflussreicheren und gefürchteteren Typen abzuhängen. Hassan oder Mike, die gestern noch deine Freunde waren, konnten morgen beschließen, doch mit den Jungs aus dem Nachbarbezirk ein paar Blocks weiter cool sein zu wollen. Und schon hagelte es Backpfeifen für einen armen Pechvogel, der gestern noch gegrüßt wurde. Es wurden ständig Vorwände gesucht, um Schwächere zu mobben. Dabei sollte eigentlich jedem, der auch nur ein bisschen was auf dem Kasten hat, klar sein, dass ein solches Verhalten immer bloß Ausdruck der eigenen Unsicherheit ist. Wer Schwächere drangsaliert, nach unten anstatt nach oben tritt oder auch einfach nur komplett sinnlos mit seiner Freundin oder seinem Freund Streit anfängt – der ist meistens nur unzufrieden mit sich selbst. Fast immer ist das der Grund für den Zoff.

Mir ging und geht es einfach nicht in den Kopf rein, warum man andere fertigmachen sollte. Bloß, weil etwas an einem nagt? Bloß, weil ja sowieso immer jemand gemobbt wird, egal in welchem Bereich, ob auf der Arbeit oder in irgendeiner Gang? Es wäre wohl gelogen, wenn ich behaupten würde, die Erziehung meiner Eltern hätte nicht zum großen Teil dazu beigetragen, dass ich Autorität von oben, Unterdrückungsmechanismen und menschenverachtende Befehlsstrukturen grundsätzlich ablehne. Und es wäre wohl auch gelogen, wenn ich sagen würde, ich sei ihnen dafür nicht dankbar.

Nicht selten habe ich auch erfahren, wie autoritäres Verhalten und Mobbing in Gewalt umschlagen kann. Natürlich bewegten sich die Gewalttätigkeiten in meinen damaligen Zusammenhängen immer im eher bescheidenen kleinkriminellen Rahmen, nicht zu vergleichen mit den ziemlich brutalen Gangs wie MS13 oder den Bloods in den USA. Aber wenn man sich da genauer mit beschäftigt, sieht man schnell, dass das letztendlich überall nach dem gleichen Prinzip abläuft. Geh dort und dort hin, knall den und den ab und dann gehörst du zu uns, dann steigt dein Ansehen. Anstelle von Orden gibt es ein paar neue Tattoos oder ein T-Shirt. Und obwohl das bloß zu Ärger führt und niemandem etwas bringt, hat sich daran bis heute nichts geändert.