Kleine Eheverbrechen - Eric-Emmanuel Schmitt - E-Book

Kleine Eheverbrechen E-Book

Eric-Emmanuel Schmitt

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Beschreibung

Lisa und Gilles sind ein Paar. Seit fünfzehn Jahren verheiratet. Sie weiß etwas, was er nicht wissen darf. Doch was passiert, wenn er weiß, was er nicht wissen darf, und sie weiß, dass er es weiß? Ein Spiel mit Masken und ein Spiel mit der Wahrheit in einem Akt. » Eric-Emmanuel Schmitt zeigt, dass er auch ein Meister der Theaterkunst ist. Seine Szenen einer Hassliebe prickeln bis zum Schluss.« Dietmar Adam

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Eric-Emmanuel Schmitt

Kleine Eheverbrechen

Aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker

Fischer e-books

Personen:

LISA

 

GILLES

Abend. Eine Wohnung.

Geräusche von Schlüsseln und Riegeln.

Die Tür geht auf, und im gelblichen Licht des Flurs gleiten zwei Schemen herein.

Die Frau tritt ins Zimmer, der Mann bleibt mit einem Koffer in der Hand an der Schwelle stehen und zögert einzutreten.

Hastig läuft Lisa von Lampe zu Lampe und schaltet sie an. Sie kann es nicht erwarten, den Raum zu präsentieren.

Nachdem sie alle brennen, zeigt Lisa mit ausgebreiteten Armen auf die Wohnung, als hätte sie ein Bühnenbild für eine Theateraufführung eingerichtet.

LISA

 Und?

Er schüttelt den Kopf. Beunruhigt bemüht sie sich weiter:

LISA

 Doch! Laß dir Zeit, konzentrier dich!

Er schaut sich aufmerksam und gründlich jedes Möbelstück an, gibt sich dann geschlagen und senkt kläglich das Haupt.

LISA

 Nichts?

GILLES

 Nichts.

Sie gibt sich mit dieser Antwort nicht zufrieden, läßt ihn den Koffer abstellen, schließt die Tür, nimmt ihn am Arm und führt ihn zu einem Sessel.

LISA

 Das ist der Sessel, in dem du so gerne liest.

GILLES

 Sieht ziemlich mitgenommen aus.

LISA

 Hundertmal habe ich dir vorgeschlagen, ihn neu beziehen zu lassen, aber jedesmal hast du geantwortet, »entweder der Polsterer oder ich«.

Gilles setzt sich in den Sessel. Vor Schmerz verzieht er das Gesicht.

GILLES

 Der müßte nicht nur neu bezogen wer-den, anscheinend ist auch eine der Sprungfedern ziemlich angriffslustig.

LISA

 Die intellektuelle Sprungfeder.

GILLES

 Bitte?

LISA

 Deiner Meinung nach taugt ein Sessel nur dann etwas, wenn er unbequem ist. Die Sprungfeder, die dir in die linke Backe piekt, nennst du die intellektuelle Sprungfeder, den Stachel des Denkens, den Sporn der Wachsamkeit!

GILLES

 Bin ich ein falscher Intellektueller oder ein echter Fakir?

LISA

 Setz dich an deinen Schreibtisch.

Ergeben folgt er ihr, schaut aber voller Mißtrauen auf den Drehhocker davor und streicht mit der Hand darüber. Als er sich setzt, hört man ein metallisches Quietschen. Er seufzt.

GILLES

 Hab ich auch eine Theorie über quietschende Hocker?

LISA

 Selbstverständlich. Du wehrst dich gegen jeden Tropfen Öl. Du betrachtest jedes Quietschen als Alarmsignal. Ein eingerosteter Hocker ist für dich ein grundlegender Beitrag im Kampf gegen die allgemeine Erschlaffung.

GILLES

 Hab ich über alles eine Theorie?

LISA

 Fast. Du erträgst es nicht, daß ich deinen Schreibtisch aufräume, du nennst das Chaos deiner Papierberge »Archiv geordnet nach dem Faktor Zeit«. Du meinst, daß eine Bibliothek ohne Staub eine Wartezimmerbibliothek sei. Du bist der Ansicht, daß Brotkrümel kein Schmutz sind, weil wir das Brot ja essen. Neulich hast du sogar behauptet, daß die Krümel die Tränen des Brots sind, da es Schmerz empfindet, wenn wir es brechen; Ergebnis: Betten und Sofas werden zum Hort ewiger Trübsal. Kaputte Glühbirnen wechselst du nie aus, weil du behauptest, man müsse ein paar Tage um das Licht trauern. Nach fünfzehn Jahren Studium und ehelicher Gemeinschaft ist es mir endlich gelungen, deine multiplen Theorien auf eine einzige, aber fundamentale These zu reduzieren: Bloß nichts anpacken!

Er lächelt betrübt, aber sehr sanft.

GILLES

 Leben mit mir ist die Hölle?

Überrascht wendet sie sich ihm zu.

LISA

 Deine Frage rührt mich.

GILLES

 Und die Antwort?

Sie sagt nichts. Da er abwartet, gibt sie am Ende scheu, aber zärtlich zu:

LISA

 Es mag vielleicht die Hölle sein, aber eine Hölle, an der ich … in gewisser Weise … hänge.

GILLES

 Warum?

LISA

 Da ist es warm …

GILLES

 In der Hölle immer.

LISA

 Und da ist mein Platz …

GILLES

 Luzider Luzifer!

 

Durch ihr Geständnis beruhigt, schaut er sich aufmerksam um und berührt die Gegenstände in seiner Nähe.

GILLES

 Merkwürdig … ich habe das Gefühl, ein erwachsenes Neugeborenes zu sein. Seit … wie lang eigentlich schon?

LISA

 Zwei Wochen …

GILLES

 Erst?

LISA

 Ich fand’s lang.

GILLES

 Ich fand’s kurz. Zu sich Aufzuwachen, eines Morgens, in einem Krankenhaus, die Lippen taub, als käme ich vom Zahnarzt, in den Wangen ein Kribbeln, um den Kopf einen Verband, im Schädel ein Zentnergewicht. »Was tu ich hier? Hatte ich einen Unfall? Hauptsache, ich lebe.« Das Aufwachen ist eine Erleichterung. Meinen Körper berühren, als hätte ich ihn gerade zurückbekommen. Habe ich Ihnen das mit der …

LISA

 verbessert ihn Dir!

GILLES

 verbessert sich Habe ich dir das mit der Krankenschwester erzählt?

LISA

 Das mit der Krankenschwester?

GILLES

 Eine Krankenschwester kommt herein. »Wie schön, Sie mit offenen Augen zu sehen, Monsieur Sobiri.« Ich drehe mich um, will sehen, mit wem sie spricht, und ich entdecke, daß ich allein im Zimmer bin. Sie läßt nicht locker. »Wie geht es Ihnen, Monsieur Sobiri?« Sie scheint sich ihrer Sache sicher. Erschöpft nehme ich meine Kraft zusammen, um ihr so gut ich kann zu antworten. Kaum ist sie raus, krieche ich ans Fußende des Bettes und reiße das Krankenblatt an mich. Da steht dieser Name drauf, Gilles Sobiri. »Warum nennen die mich so? Wer hat sich da geirrt?« Sobiri sagt mir nichts. Aber gleichzeitig habe ich Schwierigkeiten, eine andere Identität zu finden, mir fallen nur Namen aus meiner Kindheit ein, Micky, Winnie Puh, Fantasio, Schneewittchen. Da wird mir klar, daß ich nicht mehr weiß, wer ich bin. Ich habe das Gedächtnis verloren. Eben dies Gedächtnis. Die Erinnerung an mich selbst. Dagegen erinnere ich mich noch immer an meine Latein-Deklinationen, an das Einmaleins, an meine russischen Konjugationen, an mein griechisches Alphabet. All das gehe ich im Kopf durch. Es beruhigt mich. Das übrige wird schon wiederkommen. Denn wie kann man perfekt sein Achter-Einmaleins im Kopf haben – das Schwierigste, wie jeder weiß – und nicht mehr wissen, wer man ist? Ich versuche, nicht in Panik zu geraten. Es gelingt mir sogar zu glauben, daß der Verband um meine Schläfen zu eng sitzt und mein Erinnerungsvermögen einschnürt; sobald man ihn mir abnimmt, wird alles wieder gut. Ärzte und Krankenschwestern kommen und gehen. Ich kläre sie über meine Amnesie auf. Sie schauen mich ernst an. Ich lege ihnen auch meine Theorie über den Verband dar. Keiner widerspricht meinem Optimismus. Ein paar Tage später kommt eine andere Krankenschwester durch die Tür in mein Zimmer, eine attraktive Frau, die keinen Kittel trägt. »Tolles Weib, die neue Krankenschwester!«, sag ich mir. »Aber warum ist die in Zivil?« Sie sagt keinen Ton, sie schaut mich lächelnd an, sie nimmt meine Hand und streicht mir über die Wange. Ich frage mich allmählich, ob man mir da nicht eine ganz spezielle Schwester geschickt hat, eine Schwester mit Sonderauftrag, »Dienstleistung an notleidenden Männern«, eine Schwester aus der Nutten-Brigade, als mir eben diese Krankenschwester in Zivil verkündet, sie sei meine Frau. Er dreht sich zu Lisa um Und Sie sind sich dessen sicher?

LISA

 Ganz sicher.

GILLES

 Man hat Sie nicht zu diesem Dienst abkommandiert?

LISA

 Du sollst mich duzen.

GILLES

 Sie sind keine … Du bist keine …

LISA

 unterbricht ihn Ich bin deine Frau.

GILLES

 Schön. Eine Pause Und Sie sind … du bist sicher, daß du uns nach Hause gebracht hast?

LISA

 Ganz sicher.

Er schaut sich wieder im Zimmer um.

GILLES

 Ohne einen voreiligen Schluß ziehen zu wollen, ich glaube, besser als meine Wohnung gefällt mir meine Frau.

Sie lachen. Hinter seinem Witz kommt echter Galgenhumor zum Vorschein. Er leidet.

GILLES

 Was werden wir tun?

LISA

 Heute abend? Es dir gemütlich machen. Und wieder das frühere Leben aufnehmen.

GILLES

 Was werden wir tun, wenn mein Gedächtnis nicht zurückkommt?

LISA

 irritiert Es wird zurückkommen.

GILLES

 Ich bin mit meinem Optimismus am Ende, ich habe keine Tabletten mehr.

LISA

 Es wird zurückkommen.

GILLES

 Seit zwei Wochen trichtert man mir ein, ein Schock würde genügen … Ich habe Sie gesehen, ich habe Sie nicht wiedererkannt. Sie haben mir ein Fotoalbum mitgebracht, ich hatte das Gefühl, in einem Katalog zu blättern. Wir kommen hierher, ich fühle mich wie im Hotel. Schmerzlich Nichts kommt mir vertraut vor. Da sind Geräusche, Farben, Formen, Gerüche, aber nichts hat mehr einen Sinn. Es fügt sich nicht zusammen. Da existiert eine volle, eine prallgefüllte Welt, die in sich stimmig erscheint, aber ich irre in ihr herum, ohne meinen Platz darin zu finden. Alles ist vorhanden, nur ich nicht. Mein Ich ist verschwunden.

Sie setzt sich neben ihn und, um ihn zu beruhigen, nimmt sie seine Hände in ihre.

LISA

 Der Schock wird kommen. Fälle dauerhafter Amnesie sind sehr selten.

GILLES

 Nach dem wenigen, was ich über mich weiß, gehöre ich bestimmt in die Kategorie »selten«. Oder? Flehend Was werden Sie tun …

LISA

 Du!

GILLES

 Was wirst du tun, wenn meine Erinnerung nicht zurückkommt? Du wirst nicht mit einem gehirnamputierten Doppelgänger von mir leben wollen, einem Affen, der mir ähnlich sieht?

LISA

 über seine Angst amüsiert Warum nicht?

GILLES

 Nicht, wenn du mich liebst, Lisa, nicht, wenn du mich liebst!

Lisa hört auf zu lachen.

GILLES

 Wenn du mich liebst, mich, dann kannst du nicht meinen Zwilling lieben. Mein Ebenbild! Eine leere Hülle! Eine Erinnerung, die sich an nichts erinnert!

LISA

 Beruhige dich.

GILLES

 Wenn du mich liebst, dann kannst du mich entstellt ertragen, verkrüppelt, alt, krank, aber nur unter der Bedingung, daß ich Ich bleibe. Wenn du mich liebst, dann willst du »mich«, nicht nur mein Abbild. Wenn du mich liebst … dann …

Lisa steht gereizt auf und geht im Zimmer hin und her.

GILLES

 Lieben Sie mich?

LISA

 Du!

GILLES

 Liebst du mich?

Lisa schaut ihn schmerzlich an und schweigt. Gilles denkt laut nach und macht nach jedem Satz eine Pause.

GILLES

 Bin ich geliebt? Bin ich liebenswert? Nichts weiter als liebenswert? Ich, der Unbekannte. Unbekannt, selbst für mich. Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob ich mich mag, ich hab zu wenig Anhaltspunkte …

Er zuckt mit den Schultern. Sie starrt ihn seltsam an. Sie will etwas sagen, aber hält sich dann zurück. Eine Pause.

GILLES