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Maximilian Harden

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Maximilian Harden war ein einflussreicher deutscher Publizist, Kritiker, Schauspieler und Journalist. Die Porträtsammlung "Köpfe" gehört zu seinen herausragendsten Werken. Darin finden sich Biographien folgender Personen: Der alte Wilhelm Bismarck Kaiserin Friedrich. Holstein. Johanna Bismarck. Stoecker. Waldersee. Richter. Galliffet. Ibsen. Böcklin. Die Wolter. Menzel. Mitterwurzer. Zola. Lenbach. Matowsky. Richter Pontius. Therese Humbert. Der Hauslehrer. Das Blumenmedium. Gräfin Kwilecka. Moritz Levy. Fürst Eulenburg. Hau. Schoenebecks. Moltke wider Harden. Sternickel.

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Köpfe

Maximilian Harden

Inhalt:

Maximilian Harden – Biografie und Bibliografie

Der alte Wilhelm

Bismarck

Kaiserin Friedrich.

Holstein.

Johanna Bismarck.

Stoecker.

Waldersee.

Richter.

Galliffet.

Ibsen.

Böcklin.

Die Wolter.

Menzel.

Mitterwurzer.

Zola.

Lenbach.

Matowsky.

Richter Pontius.

Therese Humbert.

Der Hauslehrer.

Das Blumenmedium.

Gräfin Kwilecka.

Moritz Levy.

Fürst Eulenburg.

Hau.

Schoenebecks.

Moltke wider Harden.

Sternickel.

Köpfe, M. Harden

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849627003

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Maximilian Harden – Biografie und Bibliografie

Schriftsteller, geb. 20. Okt. 1861 in Berlin, verstorben am 30. Oktober 1927 in Montana, Schweiz. Hieß ursprünglich Felix Ernst Witkowski, legte jedoch diesen Namen gleichzeitig mit seinen Angehörigen um das Jahr 1886 wegen eines Familienkonflikts nieder und nannte sich H., während sein Bruder, der langjährige Oberbürgermeister von Posen, den Namen Witting annahm. H. besuchte das Französische Gymnasium in Berlin und vollendete seine Ausbildung durch Privatstudien. In seiner ersten Jugend konfessionslos erzogen, doch als Schüler an den christlichen Religionsstunden teilnehmend, trat er 16jährig zum Christentum über. Als Publizist von ungewöhnlicher Begabung erregte er zuerst Aufsehen durch seine unter dem Pseudonym Apostata veröffentlichten kritischen Essays über Politik und geistiges Leben der Zeit (gesammelt u. d. T.: »Apostata«, 1.–5. Aufl., Berl. 1892; neue Folge 1892), denen er eine Sammlung »Literatur und Theater« (das. 1896) folgen ließ. Er befestigte seine schriftstellerische Position durch Begründung der Wochenschrift »Die Zukunft«, die er besonders durch die geistvollen, an Heines Stil herangebildeten Beiträge aus seiner eignen Feder in weitern Kreisen ebenso beliebt wie gefürchtet gemacht hat. H. trat nach dem Sturze des Fürsten Bismarck, der ihn persönlich heranzog und seine journalistische Kraft schätzte, mit rücksichtslosem Freimut für diesen ein und befehdete dessen Nachfolger, den Grafen Caprivi, mit allen Waffen der Ironie und Satire. In neuerer Zeit war er infolge seiner überaus scharfen Angriffe in langwierige politische und literarische Zänkereien verwickelt, wobei es die Gegner an gehässigen persönlichen Verdächtigungen nicht fehlen ließen. Besondere Erwähnung verdienen Hardens Angriffe gegen Sudermann (»Kampfgenosse Sudermann«, Berl. 1903).

Der alte Wilhelm

Im Herbst 1895 geschrieben.

Das Jubelquartal liegt hinter uns. Nach dem Erntetag von Sedan wich die Hochsommerhitze, die so rasch den deutschen Waffen die Siege gereift und gehäuft hatte, und ein neues Ringen begann in der herbstlichen Landschaft, dessen Preis schwerer noch und nach längerem Harren erst zu erraffen war. Wohl war das bonapartische Kaisertum mit dem Glück, das allein es ein Vierteljahrhundert stützte, zusammengebrochen; mit ungestümer Leidenschaft aber rief Gambetta, der erste Ritter der romanischen Demokratie, nun das Volk zu verzweifelter Wehr und von allen Seiten wälzten in dichten Rotten sich neue Heere heran, Trümmer der alten, versprengten Armeen, die eilig bewaffnete Schaar der französischen Jugend und wüstes Gesindel, um der gefährdeten Hauptstadt rechtzeitig Entsatz zu bringen. Den in der Geschichte beispiellosen Versuch, eine mit fanatischem Mut verteidigte Millionenstadt zu belagern, sollte ein Rassenkrieg hemmen, wie ihn, in dieser wahnwitzig siedenden Wut, die moderne Welt vorher nicht gesehen hatte. Straßburg fiel, Orleans wurde erstürmt, Soissons kapitulirte und die Mauern von Metz öffneten sich den deutschen Truppen; doch Paris hielt noch Stand, und ob von Sieg und Übergabe auch oft genug frohe Kunde kam; alle Blicke wandten sich nach Paris und jedes Ohr horchte, hoffend oder angstvoll, auf die Minute, die den Kanonendonner an der Seine zum Schweigen bringen und das Schicksal zweier Herrenvölker entscheiden würde. Wahrend dieser bangen Pause regte sich im Hauptquartier des Preußenkönigs geschäftiges Leben. Von Rothschilds Schloß Ferrières war der Kriegsherr in das Versailler Präfekturgebäude übergesiedelt und harrte hier in geduldiger Ruhe, bis die starke Hand des treuen Beraters, der nun wieder in den Vordergrund des Geschehens trat, feine Fäden vorsichtig zu einem festen Netz verknüpft hatte, das künftig die deutschen Stämme mit dauerhaftem Gesträhn sicher umspannen konnte. Langsam, leise und klug wurde um die Wende des Jahres 1870 das Werk der Einheit bereitet, Vorurteil und Bedenken, alter Groll und erwachende Furcht wurden mit milder Gemächlichkeit überwunden und endlich brach der Tag an, wo in dem Prunkschloß des Sonnenkönigs, das in goldenen Riesenlettern einst à toutes les gloires de la France geweiht worden war, ein Deutscher Kaiser die Krone aufs greisende Haupt setzen durfte. Der Gekrönte hatte als neunjähriger Knabe die schmähliche Erniedrigung Preußens erlebt; an sein kindlich helles Gehör war wohl die Kunde gedrungen, der Übermut des siegreich vorwärts stürmenden Korsen wolle ein Deutsches Reich nicht mehr anerkennen und Franz der Zweite habe, fünf Tage nach Napoleons drohender Verkündung, auf die Würde der Römisch-Deutschen Kaiser verzichtet. Jetzt hatte der Dreiundsiebenzigjährige einen anderen Napoleon niedergeworfen und Preußen, dem in zwei schweren Kriegen die Hegemonie in Deutschland gesichert war, zum steilsten Gipfel des Ruhmes geführt. Er durfte stolz sein: und blieb bescheiden; er durfte sich laut seines Vollbringens rühmen: und barg sich freiwillig ins Dunkel. Dem Hofprediger Rogge, der berufen war, den feierlichen Akt der Krönung mit einer Weiherede einzuleiten, schärfte er nachdrücklich ein: "Rühmen Sie mich nicht in Ihrer Rede, denn ich bin nur ein Werkzeug gewesen in Gottes Hand."

Das Jubelquartal liegt hinter uns, der laute Lärm der Siegesfeste verhallt und selbst die eifrigsten Feierredner werden der Begeisterung und dem Pathos bis zum achtzehnten Januar nun keinen Gegenstand finden. Das ist gut; denn durch reichliche Wiederholung gewinnt das zuerst zündende Wort nicht an Kraft, der mahnende Ruf nicht an Wirkung. Der Deutsche, der aufmerksam dem Werden der Stimmungen lauscht, darf sich nicht verhehlen, daß die Stärkung des Nationalgefühles, die das frohe Geräusch dieses Sommers uns bringen sollte, bis jetzt leider ausgeblieben ist und daß für flüchtige Stunden nur die rechte Freudigkeit sich einstellen will. Gleichgiltig oder in dumpfem Groll hält die Menge sich fern, der an unseren Kulturgenüssen ein allzu geringer Anteil beschieden ist, die für den kärglichsten Lohn die gröbste Arbeit zu tun hat und die deshalb an einer Kultur, der sie nur als Dünger dient, sich nicht begeistern mag; der Handarbeiter, dem ein mit leichtem Herzen verkündetes Dogma den Anbruch des Tausendjährigen Reiches auf Erden verheißt, will nichts davon wissen, daß auch er dem Deutschen Reich und dem großen Krieg, der es schuf, Etwas verdankt, und er gedenkt in den Feierstunden nur der gerechten Beschwerde, die er seit manchem Jahr mit sich herumträgt und die ihm mit hartem Wort immer wieder verwiesen wird. Wie Freiligrath nach einer flammenden Patriotenrede von einem alten, verhärmten Arbeiter die Frage hinnehmen mußte, ob er den armen Leuten auch Brot schaffen könne, so wird die festliche Lust jetzt von dem anschwellenden Murren des Proletariates gedämpft, das in erhitztem Tafelgerede den Hinweis auf einen Weg zu besseren Lebensbedingungen vermißt. Die besitzende Bürgerklasse ist durch Interessengegensätze zerklüftet, Landmann und Städter, Produzent und Händler messen, ängstlich wägend und zitternd nur wagend, die Kräfte, die sie in dem geschichtlichen Kampf der Arbeiter gegen das Kapital so gern doch vereinen möchten; und sie werden des Jubeljahres nicht froh, weil sie empfinden, daß ihnen die feste Führung fehlt und daß sie von großen Erinnerungen allein in Behagen nicht leben können. Vielleicht wurde bei den glanzvollen Veranstaltungen der letzten Monate der Ton nicht getroffen, der in starker Schwingung Vergangenheit und Zukunft verbinden konnte; vielleicht drang die prologische Begeisterung nicht bis an die tiefste Wurzel des Glückes, dem ihr lautes Lobpreisen galt. Der stilleren Feier, die an dem Walten sittlicher Kräfte, nicht an dem Glanz blanker Waffen sich freut, ist die Pause zwischen den Schlachtfesten günstig und wir können sie nicht besser nützen als durch ein Verweilen vor dem Bilde des Mannes, der den sittlichen Kräften der aufsteigenden Volkheit Körper und Ausdruck gab. Aus der bangen Verworrenheit einer trübsälig unfruchtbaren Zeit, von den eklen Skandalen, die mit widrigem Gezeter unser allzu öffentliches Leben erfüllen, sehnt der Blick sich in hellere Luft und wendet gern sich dem Bilde des ehrfürchtig von prunkloser Zärtlichkeit geliebten Herrschers zu, der Preußen aus schwerer Verirrung einst in die Klarheit führte. In seinen Zügen, die uns die holde Erinnerung wecken, wie es war, wie es wurde und werden konnte, finden wir vielleicht auch die Antwort auf die quälende Frage, was uns fehlt und was uns zu unserem Heil notwendig ist.

Franz von Lenbach hat ihn uns gemalt; nicht den Heros, den später Lied und Legende ins epische Riesenmaß recken werden, nicht die herrliche Heldengestalt, vor der jetzt schon, im Überschwang familiärer Dankbarkeit, der Enkel sich neigt, – nein: den gütigen Greis, nicht Wilhelm den Siegreichen, sondern den Alten Wilhelm. Der große Seelendeuter, der aus den Hüllen höfischen und militärischen Pompes die feinste Menschlichkeit zu befreien und mit kräftigem Griff vor den Betrachter zu rücken vermag, hat den neunzigjährigen Kaiser nicht verschönt und nicht verfälscht; er hat ihn lange liebevoll angeschaut und ihn dann, ohne die Runzeln und die Wundmale des Alters zu unterschlagen, mit dem sicheren Mut des Genies der Natur nachgeschaffen. So, in der etwas ermüdeten und doch immer noch straffen Haltung, mit dem leise getrübten und doch vorsichtig prüfenden Blick, lebt er in unserem Empfinden; so, mit einem Hauch matter, ergebener Wehmut, der die ursprüngliche Heiterkeit der Soldatennatur doch nicht verdüstern konnte, sahen ihn Hunderttausende an dem Eckfenster seines einfachen Hauses, wenn die Wache aufzog und der freundliche Ernst seines Auges der jubelnden Menge zu sagen schien: Solchen strammen Jungen dankt Ihr das Reich und die Hauptstadt des Reiches; sorgt, daß ihnen der Nachwuchs nie fehle, und vergesset nicht, nach lachender Erben arger Sitte, welche Opfer unserer Größe gebracht werden mußten. Auch die Älteren kannten ihn kaum anders; hat die jähe Hitze der Jugend ihn niemals gepackt oder ist selbst in Anekdoten von seiner Jugendlichkeit keine Spur aufbewahrt? Alt und weise blickt er uns an: ein Mann, der ruhig harrt, bis die Zeit einst erfüllet ist, und sich in Bereitschaft hält, auf daß die Schicksalsstunde ihn gerüstet finde. Das ist nicht ganz großer Männer Art. Große Männer meistern die Zeit, sie stemmen die starke Persönlichkeit gegen das Rad der Geschichte, sie zerreißen, für kurze Zeit freilich nur, die Kette der Entwickelung und fuhren herrisch, auf selbstgefundenen Pfaden, an ein gutes oder ein schlimmes Ziel. Große Männer werden das Glück oder das schwarze Verhängnis der Völker, die sie in das Gesetz ihrer Individualität zwingen, und kein Fühlender kommt ohne die Regung leidenschaftlicher Liebe oder heißen Hasses an ihrem Bilde vorbei. Vom Stamm solcher großen Männer war unser alter Kaiser nicht; ihm huldigt man in sanfter Zärtlichkeit, wie einem Vater, und wer ihn hassen will, muß sich seine adelige Gestalt erst ins Gemeine verzerren; Herr Auer sogar, der menschenverständigste Führer der norddeutschen Sozialdemokratie, hat ihn in einer zu viel geschmähten und zu wenig beachteten Rede im Reichstag einen einfachen, stillen, sparsamen, friedliebenden Herrn genannt. Wenn die Geschichte das Bürgerjahrhundert durchsiebt, wird sie unter den Politikern wohl nur zwei mit dem Namen des Großen schmücken: Bonaparte und Bismarck, den dunklen und den hellen Exponenten der Revolution, den schwärmenden Eroberer und den nüchternen Staatenbildner. Die Größe läßt sich nicht dekretiren; mag in offiziellen Aktenstücken noch so oft von Wilhelm dem Großen die Rede sein: die Bezeichnung klingt zu stolz, klingt nicht innig genug, als daß sie jemals volkstümlich werden könnte. Groß scheint Der uns nur, neben dem kein Größerer aufragt, und der alte Kaiser hat nie einen Zweifel darüber gelassen, daß er sich als den dankbaren Schuldner eines Größeren fühle. Mögen Lied und Legende, die nach einem Jahrhundert jetzt schon an der Gestalt des alternden Spötters von Sanssouci ihre Tüncherarbeit getan haben, ihn einst in die Sagenreihe der germanischen Heerkönige erhöhen: uns lebt er, wie Lenbachs Künstlerauge ihn sah und wie er, dem Nestor gleich, herrlich vollendet starb. Wilhelm der Große: es klingt gar so feierlich, nach Zeremonien und Gepränge, so furchtbar historisch, als läge schon eine Welt zwischen ihm und uns, denen er doch, wie ein lieber Schatten, in jeder Stunde noch gegenwärtig ist. Wir ziehen den traulicheren Namen vor, den, in gerührtem und rührendem Erinnern, Bismarck ihm gern gibt, und nennen ihn mit kindhafter Anhänglichkeit den Alten Wilhelm. Der Name bringt ihn in die Gesellschaft des Alten Fritzen und des Alten Blüchers, und da wird er sich wohler fühlen als bei Alexander und Bonaparte.

Es wäre sehr töricht, ihn deshalb für klein, für unbedeutend zu halten. Als Hamlet den Fortinbras gesehen hat, erkennt er, daß wahrhafte Größe nur darin besteht: nicht ohne großen Gegenstand sich zu regen, doch einen Strohhalm selber groß zu verfechten, wenn Ehre es befiehlt. Nach diesem Wort hat Wilhelm der Erste sein Leben lang gehandelt; und es ist nicht eine Frage des Maßes, sondern des Gefühls, ob man ihn den Großen nennen will. Auch der aufrichtige Mann, der sechshundert Jahre vor ihm zum Deutschen Kaiser erkürt wurde, auch Rudolf von Habsburg trägt in der Geschichte nicht den Titel des Großen: und doch hat auch er Großes vollbracht und lebt, als der typische Vertreter eines Zeitalters, im Gedächtnis der Menschen fort. Rudolf gehörte nicht mehr dem Kreis der Heiligen und Heroen an, den die Ottonen und die Salier bevölkert hatten, er war auch kein froher staufischer Ritter mehr, kein Mann des lustigen Dreinschlagens und fröhlicher Reckenkämpfe; er war ein kluger und kühler Rechner, der beste Hausvater in seinem Lande, schlicht, sparsam, mäßig, im Ausdruck jeder Empfindung von äußerster Vorsicht und im Innersten doch von bauernschlauer Herzensheiterkeit. Als er in Todesahnung nach Speier zu Grabe ritt, soll, nach einer dichterisch verklärten Überlieferung, von allen Seiten das Volk herbeigeströmt sein, um noch einmal das Antlitz des Teuren zu schauen. Das wäre nicht von einem Menschen nur, Das wäre von einer Epoche der Abschied gewesen. Und solches wehe Scheiden haben auch wir im Frühlenz des Jahres 1888 erlebt und erlitten. Die dicht gedrängten Schaaren, die damals, wie ein verscheuchtes Hühnervolk, um das Denkmal des Alten Fritzen standen und mit ängstlich verhaltenem Atem der Nachricht vom Alten Wilhelm harrten, empfanden ganz deutlich: Da entschwindet uns eine Zeit, da kommt das Neue, das Unbekannte herauf. Nicht alle Wünsche hatte die scheidende Zeit erfüllt und an das Neue heftete sich manche Hoffnung; aber die Ruhe zerrann, die sichere Stetigkeit der Entwicklung schien gefährdet und bange Sorge mischte sich in die menschliche Trauer.

Der alte Kaiser war die Gewähr der Ruhe gewesen; bei ihm gab es keine Überraschungen, keine hastigen Entschlüsse und keine plötzlich vorbrechende Laune. Er war, wie Rudolf, ein kluger und vorsichtiger Rechner, aber er war von der derberen, härteren und zugleich doch wärmeren Art der besten Hohenzollern; ein echter Sohn der Zeit des kantischen Pflichtgebotes, aber auch der Sohn der milden Mutter Luise. Friedrich hatte vom voltairischen Geist, von der pikanten Kost der Rationalisten und Enzyklopädisten zu viel genascht; er höhnte Gott, der ihm an der Spitze der stärksten Schwadronen leichte Arbeit zu haben schien, und die Welt und verließ sich darauf, daß er aus allen Fährlichkeiten, in die Ehrgeiz und Medisance ihn je bringen könnten, sich tapfer mit seinen Rackers herausschlagen würde; das Preußenvolk und den deutschen Stamm, die seinem Ideal nicht entsprachen und deren tiefstes Empfinden er nicht verstand, verachtete er und an die werdende Zeit knüpfte ihn kein festes, haltbares Band; er war die große, blitzend und funkelnd geniale Persönlichkeit, aber seiner Schöpfung fehlte die Bürgschaft dauerhaften Bestehens, weil sie nicht auf die ans Licht drängenden Kräfte der Zeit gegründet war. Friedrich Wilhelm der Vierte war ein Kind der Dämmerung, ein lichtscheuer Mann, der im Dunkel Großes plante und blinzelnd und zagend dann vor der Tageshelle stand; er war zu geistreich, um sicher zu sein, er sah die Dinge von zu vielen Seiten, um festen Fußes vorwärts schreiten zu können; das Romantikerverhängnis ereilte ihn und er brach, nach prachtvollen Anläufen, morsch und müde zusammen, ein nutzloser Mann. In seinem Bruder mischten die Elemente sich glücklicher. Der König und Kaiser Wilhelm war kein heldischer Sonnensohn, kein Spötter, kein Schwärmer. Ihm war die heilsame Begrenztheit geworden, die allein erst die Festigkeit des Wollens verleiht; nichts Menschliches war ihm fremd, er liebte die leichte Kurzweil, das bunte Tanzspiel und die Schönheit schlanker Frauen; und in seinem Bilde darf der Zug der Geisteseinfalt so wenig fehlen wie die Freude an galantem Getändel. Sein Bild braucht die täuschende Retouche nicht, denn er hat Alles, was allzu menschlich in ihm war, weise immer zurückgedrängt: seine persönliche Neigung vermochte nichts über den Herrscher, – und so kann man den Menschen lieben, dessen Individualität feste Grenzen gesetzt waren, und den Monarchen bewundern, der die Entpersönlichung weiter als vor ihm irgendein anderer trieb und sein hohes Amt nach bestem Gewissen betreute, ohne Lust und Laune willkürlich schalten zu lassen. Friedrich hatte sich, schmunzelnd vielleicht, den Ersten Diener des Staates genannt und Friedrich Wilhelm hatte, gewiß ganz ehrlich, gefürchtet, schon ein Blatt Papier könne zwischen ihm und seinem Volk die innige Gemeinschaft lockern; dennoch blieben Beide dem Volksempfinden fremde und ferne Herren, die man im Glück umwedelt und im Unglück verwünscht. Wilhelm, der Soldatenprinz, der Sproß starrer Feudalität, wurde der erste König der festländischen Demokratie, – nicht ein Bourgeoiskönig wie Louis Philippe, nicht ein Geschäftsmann und Spekulant wie der belgische Leopold, sondern ein Bürger, der König blieb, der von der Liebe des Volkes getragene, von der Verantwortlichkeit seines Berufes erfüllte Vertrauensmann der Nation. Er hat einen neuen Monarchentypus geschaffen, den Typus des Monarchen in einer veränderten Zeit. Der Mann, dem solches Schaffen gelang, war sicher nicht klein.

Wie es ihm gelang? Man müßte ein Jahrhundert preußischer Geschichte schreiben, um diese glückliche Fügung ausreichend zu erklären. Prinz Wilhelm von Preußen hat dieses Jahrhundert erlebt und er hat aus ihm gelernt, unermüdlich, bis zum letzten Wank ein bescheidener Schüler der Geschichte. Er hatte Jammer und Schmach erlebt und daraus gelernt, daß man auch für die schwarzen Tage vorsorgen und im Glück einen Schatz von Vertrauen und Liebe ansammeln muß, der im Unglück dann die Hungernden stillt. Wie ein schwaches Regiment die Führung des Volkes verliert, hatte er gesehen, und wie ein unruhiges Irrlichteliren Verwirrung schafft, – und die Lehre gefunden: daß man aufsteigende Kräfte, wohltätige und schädliche, früh erkennen und rechtzeitig lenken muß, damit sie nicht später Den, der sie leiten sollte, in demütigende Willfährigkeit zwingen. Der Applaus und das Trugbild rascher Popularität lockte ihn nicht, der Jahre lang in geduldigem Schweigen den Torenhaß der roten Rotte von damals getragen hatte; er tat, auf welchen Posten er immer gestellt sein mochte, furchtlos und treu seine Pflicht, hoffte auf künftige Gerechtigkeit, nicht auf lärmende Gunst der Menge, und merkte früh, wie sänftiglich oft sich bald Das selbst fügt, was so wild und wüst erst begonnen hatte. Er hatte sich eingeschärft, daß es gefährlich ist, in die Flamme zu blasen, und daß ein im Rang hochgestellter Mann sich nie zu den kleinen Leidenschaften der Stunde erniedern darf. Als Soldat war er an Gehorsam gewöhnt – und wer gut gehorcht, wird auch gut befehlen–, aber auch an schnellen Entschluß, an sichere Führung und unbeirrte Erfüllung der Pflicht. Er pflegte später zu sagen, um Staatssachen habe er sich bis in sein reifes Mannesalter wenig bekümmert, sondern eigentlich nur gelernt, eine Infanteriedivision richtig zu führen. Zu rechter Zeit zeigte sich, daß diese militärische Drillung ihm die beste Grundlage für eine Monarchenerziehung gab, eine sehr viel bessere als etwa ein dilettantisches Naschen von allen Schüsseln. Er war selbständig geworden in dieser Schule, kein jubelndes oder schmähendes Gebrüll focht ihn an, aber er hatte auch gelernt, daß man im Glied den Widerspruch unterdrücken und ohne Murren dem Kommando folgen muß. Die Ständeverfassung, der Gang nach Olmütz, Preußens Haltung im Krimkrieg und manches Andere war nicht nach seinem Sinn und die Kamarilla, die Gruppe der Ober-, Unter- und Flügelteufel nebst dem gerlachischen Anhang, mochte ihm nicht behagen. Aber er beugte sich dem Befehl, zwang die Bedenken nieder und stellte die Entscheidung Gott anheim. Denn er war von Herzen fromm, ein guter Christ und ein rechter Protestant; mit seinem Glauben, der ihm das Heiligste war, prunkte er nie, er war kein Mucker, kein Prahler und der Hang zur Propaganda war in ihm nie stark; das Verhältnis zu Gott war ihm eine allerpersönlichste Angelegenheit, in die kein Fremder hineinsehen durfte; aber dieses Gottvertrauen war das tägliche Brot seines Lebens, es gab ihm zum Vorgehen den Mut, die Kraft zur Entsagung und die Möglichkeit, seinem Wahlspruch zu folgen: Alles vergeben und nichts vergessen. Als er, wahrlich nicht leichten Herzens, die Regentschaft antrat, war eine seiner ersten Amtspflichten, ein Patent zu zeichnen, das dem Literaten Lindenberg einen Posten im Posenschen verlieh; der verrufene Mann hatte gegen den Prinzen von Preußen als ein gehässiger Verleumder gewühlt, aber der Regent kannte kein Zögern und unterschrieb, ohne mit der Wimper zu zucken, die Bestallung. Als später tückische Mörder ihm nach dem Leben strebten, vernahm man aus seinem Munde kein hartes, kein zornig verdammendes Wort: er war nur ein Werkzeug in Gottes Hand, Gottes Hand würde ihn weislich hüten und führen. Dabei war ihm jeder Fatalismus ganz fremd. Es ist ein Irrtum, zu wähnen, er sei beinahe widerwillig zum Ruhm geschleppt worden. Die Heeresreform, ohne die Preußens Größe nicht zu denken ist, war sein eigenstes Werk; und daß er die nationale Aufgabe früh erkannte, beweist der Brief, den er im Frühjahr 1849 an den General Natzmer schrieb und in dem wir die Sätze finden: "Wer Deutschland regiren will, muß es sich erobern; à la Gagern geht es nun einmal nicht. Ob die Zeit zu dieser Einheit schon gekommen ist, weiß Gott allein. Daß Preußen bestimmt ist, an die Spitze von Deutschland zu kommen, liegt in unserer ganzen Geschichte – aber das Wann und das Wie? Darauf kommt es an." Als über das Wann und das Wie dann die Entscheidung gefallen war, stand er bereit und gerüstet. Der praktische Sinn für das Richtige hatte ihn sicher geleitet, die nüchterne Ruhe, die auch vor bitterer Wahrheit nicht erschreckt, hatte ihm schlimme Enttäuschung erspart und das wichtigste Herrschertalent, die Fähigkeit, Menschen zu unterscheiden, hatte ihm die besten Berater gewonnen. Der Mann, der mit sechzig Jahren, mit einer lückenhaften Bildung, zur Herrschaft gelangt war, hatte gut gehört, unermüdlich gearbeitet und Vieles gelernt; er folgte nur seiner gewissenhaft erwogenen Überzeugung, aber er scheute selbst als Greis die Belehrung nicht und sein ganzes Mühen war darauf gerichtet, so viel Verständnis zu erwerben, daß er der Belehrung zugänglich war und sie an der rechten Quelle zu schöpfen wußte. Ihm, dem keine Spur von Olympierbewußtsein anhaftete, ward es leicht, vor bewährter Tüchtigkeit sich zu bescheiden, und Dankbarkeit war ihm ein Herzensbedürfnis. Er hat gewiß empfunden, daß die besten Diener, die stärksten, nicht die bequemsten sind, aber er nahm die Unbequemlichkeiten und Reibungen gern in den Kauf, denn der Beste war ihm für das Wohl des Ganzen, das er verwalten sollte, gerade gut genug und er hätte sichs nie verziehen, wenn er in empfindlicher Laune auf erprobte und treue Hilfe verzichtet hätte. So wurde er der providentielle Mann, der König, der für das gewandelte Preußenland nach trüber Gärung nötig war, – so konnte er Deutscher Kaiser werden.

Seine historische Bedeutung ragt weit über die deutschen Grenzen hinaus. Er hat, nach Iherings Wort, in einer Zeit, wo sich der Sinn der Völker mehr und mehr der Monarchie entfremdete, diese wieder zu Ehren gebracht und ihr einen neuen moralischen Halt und eine Kräftigung gewährt, die nicht nur die Kronenträger, nein, auch die Völker ringsum für immer zu seinen Schuldnern macht. Er hat gezeigt, daß man stark sein und doch still bleiben, fest im Ererbten beharren und der wechselnden Zeit sich doch anpassen kann, daß ein Herrscher, ohne zum Schattenkönig hinabzusinken, niemals persönlich hervorzutreten, nie für Unbeträchtliches sein Ansehen einzusetzen braucht. In der harten Schule des Unglückes und straffer soldatischer Zucht hat er erfahren, daß auch von dem Höchsten das Volksbewußtsein, das man nicht mit Öffentlichen Meinungen verwechseln darf, Achtung und Beachtung heischt und daß Vertrauen nicht durch lockende Worte, wie ein verliebtes Mädchen vom hitzigen Knaben, erworben wird. Drei große Kriege hat er zu siegreichem Ende geführt; aber er wäre, als das Volk ihn und er das Volk erst erkannt hatte, auch an der Spitze eines geschlagenen Heeres der geliebte König geblieben.

In der Verworrenheit einer trübsälig unfruchtbaren Zeit kann das Bild des leisen und doch so mächtigen Werbers für den köstlichsten Lebensinhalt der Monarchie Völker und Fürsten mahnend daran erinnern, daß ihrem Glück unter jedem Himmel die Bürgschaft der Dauer fehlt, wenn sie nicht sicher sind, ohne gerechten Vorwurf fürchten zu müssen, eines dräuenden Unglücks Einbruch aufrecht zu bestehen.

Bismarck

Seit neun Monaten war es gewiß, wars bei jeder Frage nach dem geliebten Fürsten im bangen Blick des Arztes zu lesen, dessen sorgendes Auge an einem dunklen Oktobermorgen die erste Spur des neuen Leidens erkannt und nicht eine Sekunde sich scheu der schrecklichen Gewißheit verschlossen hatte, die Tage Otto Bismarcks seien gezählt. Im Fuß der Rieseneiche, deren unverwelklich grüne Greisenkrone kein Sturm zu brechen vermochte, nagte und bohrte geschäftig der leise Wurm; und die Liebe mußte der lange genährten Hoffnung entsagen, den Ragenden werde eines Tages ein Streich aus der Fülle der Lebenskraft reißen, ein dem Blitz jäh folgender Donnerschlag mit gewaltigem Wurf entwurzelt zu Boden schmettern. So hatten wirs uns erhofft, hatten wirs ihm gewünscht; und der Gedanke an ein langsames Absterben, ein leidvolles Verwittern so starker Herrlichkeit war fast furchtbarer noch als die Gewißheit des nahen Scheidens. Auch in diesen Gedanken mußten wir uns nun schicken. Wochen konnten, Monate vielleicht vergehen, bis die stille Tücke des unüberwindlichen Nagers an der Reckengestalt ihr Zerstörungswerk vollbracht, den letzten Lebenssaft ihr vergiftet hatte. Noch stand der Stamm aufrecht in alter Pracht, der so oft Gewittern getrotzt, in Stürmen so oft, im Innersten unbewegt, sacht nur die hohen Wipfel geschüttelt hatte, und staunend sah der Betrachter das stolze, junge Prometheuslächeln, das kein Blitz und kein Donner je verscheuchen konnte. Nur Wenige wußten, daß es zu Ende ging, und des treuen Arztes Freundessorge war bemüht, dem Leidenden und den ihm Nächsten so lange wie möglich das Schreckbild der Wahrheit zu verhüllen und ein Sterben bei offenen Türen zu hindern, – das Sterben vor den Augen einer lauernden, nach Sensationen langenden Menge, die jede Phase des Todeskampfes neugierig verfolgt, jedes Sinken der Kraft emsig notirt hätte. Mancher helle Tag brach noch an und erfüllte die Wissenden selbst wieder mit neuer Hoffnung. Wer den großartigen Ausbrüchen der politischen Leidenschaft des in den Rollstuhl Gebannten lauschte, wer auch von fern nur vernahm, mit welchem Eifer der Leidende den Tagesvorgängen folgte, wie glänzend abends namentlich noch seine Rede war, wie unangetastet die prachtvolle Plastik seiner Darstellung, wie die Sicherheit des Diplomatenblickes und die unbeirrbare Erkenntnis des in jeder Stunde Notwendigen ihm geblieben war, Der konnte, konnte nicht glauben, so schnell schon werde für immer die schwarze Nacht hereinbrechen. Wenn dieses Auge im alten Feuer aufflammte, diese feine, in der Gedankenfülle stockende Stimme von den Entwickelungmöglichkeiten der deutschen Geschichte, von den bis zum Unheilsjahr 1890 ungeahnten Erfolgen der russischen Politik und von den weiter vielleicht, als die Kurzsichtigkeit sichs jetzt träumt, reichenden Wirkungen des häßlichen lippischen Handels sprach, das Kleinste in historische Zusammenhänge einreihte und die winzigste Alltagserscheinung mit dem schlanken Finger in die richtige Perspektive rückte, dann wich die Vorstellung, hier rede ein nahem Tode Geweihter. Man glaubt so leicht, was man gern glauben möchte. Und wer sollte sich vermessen, zu sagen, wann diese über der Menschheit Grenzen hinausgereckte Natur völlig erschöpft, ihre letzte Kraftquelle versickert sein würde? Der Gott, der im märkischen Sande den Genius weckte, konnte auch an dem Greis noch ein Wunder wirken. Doch immer wieder brachte ein leise nur andeutendes Wort des Arztes die aufglimmende Hoffnung zum Verlöschen. Die letzte Leidenswoche kam, die Verfallszeichen mehrten sich und die bebend der Qual Zuschauenden fürchteten, hofften, die nächste Stunde müsse Erlösung bringen. Wie das erwartete Wunder wurde es begrüßt, als der schon verloren Geglaubte am Abend des achtundzwanzigsten Julitages plötzlich auf dem gewohnten Platz am Familientisch saß, mit dem Behagen des Gesundenden zum ersten Mal wieder seinen Lieblingchampagner, den mit der weißen Kapsel, trank, leichte Speisen aß, fünf Pfeifen rauchte und, nachdem er Stunden lang in alter Anmut geplaudert hatte, auf Schweningers Mahnung, nun wieder ins Bett zu gehen, die heitere Antwort fand: "Schon? Das ist aber grausam!" In den Mienen seiner Kinder las er das Glück froher Hoffnung, die sich ihm selbst um so sicherer mitteilen mußte, als der Arzt, der ihn in keiner kritischen Stunde je verließ, jetzt, um den durch seine kluge Kunst erreichten psychischen Eindruck zu vertiefen, für anderthalb Tage von Friedrichsruh schied. Der Erfolg dieses Abends war der letzte Lohn eines fast zwei Jahrzehnte währenden, zu jedem Opfer bereiten Mühens, das kein Dank, keine amtliche Ehrung bezahlen kann, das nur hingebende Liebe zu leisten vermag... Ich sah Schweninger, wie er am dreißigsten Juli nachmittags totenblaß dem Eisenbahnwagen entstieg, die Depeschen in der Hand, die ihn an das Lager seines Fürsten riefen. Er war neun Tage und Nächte nicht aus den Kleidern gekommen und hatte in der Erschöpfung den Frühzug versäumt. Ohne des strömenden Regens zu achten, jagten wir auf den Bahnhof, – umsonst: auch mit einem Extrazug war das Ziel seines Sehnens nicht um eine Sekunde früher zu erreichen. Wir saßen im leeren Wartesaal und sprachen von ihm. Vielleicht hatte die nervöse Sorge der Angehörigen die Gefahr übertrieben, vielleicht war es wieder nur ein Anfall der Krankenbettschwäche, war Rettung noch einmal möglich. Im Auge des Anderen las der Sprecher, daß er kein Wort davon glaubte. Die Minuten schlichen dahin, als wolle der müde Chronos gerade jetzt, gerade hier säumig werden. Endlich war es so weit. Ein Händedruck, – und Beide wußten: es ist aus ... Und dennoch, trotz aller Vorbereitung in Wochen und Monaten: als nachts dann die Trauerkunde kam, der Weckruf schrill durch das Sturmgebraus klang, da war es wie ein unerwartet aus heiterer Höhe niederfahrender Streich, da schien es undenkbar und war doch wehe Gewißheit: der Großes groß empfindenden Menschheit war der Fürst für immer geraubt.

"Trost gibt es nicht," hatte Schweninger geschrieben. Aber die letzten Nachtstunden mußten überstanden werden. So griff ich nach dem größten Beruhiger und schrieb auf das Kalenderblatt des entwichenen Tages aus Goethes Epilog zu Schillers Glocke die Strophe:

Da hör' ich schreckhaft mitternächtiges Läuten, Das dumpf und schwer die Trauertöne schwellt. Ist's möglich? Soll es unsern Freund bedeuten, An den sich jeder Wunsch geklammert hält? Den Liebenswürdigen soll der Tod erbeuten? Ach! Wie verwirrt solch ein Verlust die Welt! Ach! Was zerstört ein solcher Riß den Seinen! Nun weint die Welt. Und sollten wir nicht weinen?

Und, in Erinnerung an den Freund, dessen Arm den Leidenden so lange gehalten hatte, in dessen Arm er nun verschieden war:

Ihr kanntet ihn, wie er mit Riesenschritte Den Kreis des Wollens, des Vollbringens maß, Durch Zeit und Land, der Völker Sinn und Sitte, Das dunkle Buch mit heiterm Blicke las; Doch wie er, atemlos, in unsrer Mitte In Leiden bangte, kümmerlich genas, Das haben wir in traurig schönen Jahren, Denn er war unser, leidend miterfahren. Und endlich die letzte, tröstende Strophe:

So bleibt er uns, der vor so manchen Jahren – Schon zehn sind's fast! – von uns sich weggekehrt! Wir haben Alle segenreich erfahren, Die Welt verdank' ihm, was er sie gelehrt; Schon längst verbreitet sich's in ganze Scharen, Das Eigenste, was ihm allein gehört. Er glänzt uns vor, wie ein Komet entschwindend, Unendlich Licht mit seinem Licht verbindend.

Der Arzt, der nur die letzten Minuten des Geliebten noch erleichtern konnte, war im ersten Schmerz ungerecht: es gibt einen Trost. Der Fürst – es gab für uns stets nur den einen – hat viel gelitten, aber er hat einen guten Tod gehabt, den Tod, den er selbst sich wünschte. Wenn das Licht dieser Seele, wie über einem nicht mehr getränktem Docht ein müdes Flämmchen, sacht erloschen wäre, dieses gewaltsame Herz von Woche zu Woche kraftloser gepocht und dem entsetzten Blick sich das Bild eines geistig verfallenden Bismarck geboten hätte!.. Das hatten die Freunde gefürchtet; und dieses Furchtbarste blieb ihnen, blieb ihm durch die Gnade des Schicksals erspart. Er hatte seit Jahren davon gesprochen. Ihm lag nichts mehr am Leben, er fühlte sich in der erzwungenen Untätigkeit überflüssig, einen Gefangenen, wehrte jeden Widerspruch ab und pflegte schon vor Jahren zu sagen, nur die Rücksicht auf seine Frau, der er nicht wegsterben möchte, fessele ihn noch an das Dasein, das ihm keine freundliche Gewohnheit mehr war. Als im Herbst 1894 auch die äußerlich stille, im Innersten aber leidenschaftliche, nur mit ihm und für ihn empfindende Hausfrau von seiner Seite gerissen war, kamen die trüben Stimmungen, die Sehnsuchtseufzer nach dem Tode noch öfter; er murrte, leise manchmal und manchmal auch laut, gegen die ärztliche Mahnung, die ihn erhalten wollte, und meinte, er habe "hier unten ja nichts mehr zu suchen und zu finden". "Ich bin alt und verbraucht: Das ist meine Krankheit; und dagegen gibts nur ein Mittel, das ich mir täglich wünsche." Jedes Versagen der Gedächtniskraft, das selbst an dem Jüngsten nicht auffällig gewesen wäre, stimmte ihn zu solchen Sentenzen; und immer kehrte die Angst wieder, elendiglich zum "Jammermann" zu vergreisen. Wenn beim Aufstehen aus dem Lehnstuhl einmal die Beine "nicht wollten" oder die quälenden Gesichtsschmerzen ihn zwangen, eine seidene oder wollene Mütze über den mächtigen Schädel zu ziehen, bis über die weißen, buschigen Brauen, hart an die mädchenhaft zarte Haut der feinen, wachsbleichen Ohren, dann sagte er lächelnd: "Ja, – auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß". Und die Hörer konnten noch so lebhaft protestiren, konnten, aus ehrlicher Überzeugung, versichern, in seinem Wesen sei keine Greisenspur sichtbar: es half nicht. Er litt am Leben, litt unsäglich unter dem Bewußtsein, daß seinem rastlos arbeitenden Geist die Körperkräfte entglitten, seinem stürmischen Temperament die Ausdrucksmittel zu welken begannen. Wie hätte er, der sich so genau beobachtete und kontrolirte, erst gelitten, wenn er geistig hilflos geworden und verdammt gewesen wäre, das Absterben der Sinne immer deutlicher zu spüren! Ist es nicht ein Trost, daß er bis in die letzten Lebensstunden gut sah und hörte, die ganze Macht seiner unvergleichlichen Intuition sich bewahrte und in ungetrübter Klarheit des Geistes den oft gerufenen Erlöser heranschleichen fühlte? ... Und ein zweiter Trost ists, daß er scheidend nur die Treusten um sich sah, nur gute Gesichter, nur echte Tränen. Keine Heuchlerzähre, kein Klageruf eines schlechten Gewissens, keine Komoediantengrimasse hat, so lange er atmete, das Sterbezimmer des Mannes entweiht, dem nichts so widrig war wie die Tünche der Heuchelei, der aus seinem Hörbereich nichts so entschieden verbannte wie das leere Pathos lärmender Prologe und Nekrologe. Der Lebende konnte sich solchen "Huldigungen" nicht immer entziehen; dem Sterbenden wurden sie fern gehalten. Und Die gerade, die am Besten um ihn trauerten, atmeten erleichtert auf, da, ohne Feiertagskomoedie, der Sarg geschlossen und verlötet war. Nun mochte das Unvermeidliche Ereignis werden, mochten Alle, die ihn gekränkt, geschmäht und im Lebensnerv verwundet hatten, ihre Trauerchoräle und Patriotenhymnen anstimmen: er sah sie, sie sahen ihn nicht mehr. Einfach lag der stets Einfache in den letzten Kissen; und einfach wird die Feier sein, wenn der Leib in den geliebten Boden des Sachsenwaldes versenkt wird.

Es war im Jahr 1894, nach dem Januartag, der Bismarck im berliner Schloß gesehen und, wie Gläubige lange behaupteten, den Abschluß einer "Versöhnung" gebracht hatte. Der Fürst durfte damals selbst bei kühlem Wetter noch im Freien Gespräche führen und lud Gäste, deren Art ihm nicht unbehaglich war, gern in den Wagen, in dem Patzke, der sichere, in Wald und Feld heimische Kutscher, ihn vor der Hauptmahlzeit täglich ein paar Stunden herumfuhr. Allerlei Geschichtenträgereien, allerlei Versuche, die Beziehungen des wieder Begnadeten zu Hof und Regirung zu entstellen, hatten ihn erst geärgert und später zu ironischer Heiterkeit gestimmt. Auf dem Heimweg wurde er still und ließ dicht vor dem Herrenhaus halten. Er wies mit der Krücke des Stockes auf einen Hügel gegenüber dem Hause, das man töricht ein Schloß genannt hat, und sagte: "Da, denke ich, werde ich mich einmal mit meiner Frau begraben lassen. Ich hatte auch an Schönhausen gedacht; aber hier ists wohl paßlicher, denn in Schönhausen bin ich doch eigentlich schon lange ein Fremder". Der Gast hatte zu schweigen. Abends, als die altfränkische Öllampe freundlich brannte und die kränkelnde Fürstin auf ihrem Sofa, neben Lenbachs Meisterbild des alten Kaisers, eingenickt war, schlug der Sinnende wieder das Thema an, verarbeitete es nach seiner Weise und schien sich in humoristischer Ausmalung des feierlichen Lärmes, der nach seinem Tode losbrechen würde, nicht genug tun zu können. Frau Johanna schrak auf und rief ganz ärgerlich: "Aber, Ottochen, wie kannst Du nur so traurige Sachen reden!" "Liebes Kind", war die Antwort, "gestorben muß einmal sein, trotz Schweninger, und ich will wenigstens rechtzeitig dafür sorgen, daß mit meinem Leichnam kein Unfug getrieben wird. Ich möchte nicht, wie die Berliner sagen, eine schöne Leiche sein; und eine von der bekannten Aufrichtigkeit, die heimlich ›Uff!‹ macht, inszenirte Trauerkomoedie, so zwischen Vogelwiese und Prozession, wäre so ziemlich das Einzige, was mich noch schrecken könnte." Die Freunde des Hauses wissen, wie oft der Große dann später noch diesen Gedanken ausgesprochen und mit der ihm allein eigenen graziösen Laune beleuchtet hat.

Er war noch aufrecht, als ich zum ersten Mal seines Lebens Linie nachzuzeichnen versuchte. Hier ist, was ich damals schrieb.

Vier Wochen nach Napoleons Rückkehr von Elba wird in Schönhausen an der Elbe dem Rittmeister a. D. Ferdinand von Bismarck von seiner klugen und schönen Frau, der schlicht bürgerlich geborenen Wilhelmine Luise Mencken, ein gesunder Knabe geschenkt. Der kleine Otto lernt, was ein Junkerlein damals eben zu lernen pflegte; und da eine frühe Neigung ihn bald zur Geographie treibt, entsteht auch frühzeitig das erste Erstaunen in dem Kindergehirn; neununddreißig verschiedene Landesgrenzen zeigt ihm die Karte von Deutschland, die er mit hitzigem Knabeneifer immer wieder studirt. Die bunten Farben verwischen sich, als der Siebenzehnjährige vom berliner Grauen Kloster nach Göttingen kommt, aus der Beschränktheit des Pennälertumes in die schrankenlose Freiheit der Universitas literarum, vom engen Gymnasialzwang altberlinischen Stils in die helle und luftige Welt blanker Schläger und bunter Mützen. Junker Otto wird ein fideler Bursche, raucht, rauft, zecht und randalirt und vergißt darüber doch das Arbeiten nicht völlig; die Historie lockt ihn jetzt, deren Wunderland ihm der alte Heeren erschließt, und bei Hugo und später in Berlin bei Savigny lernt er, wie das Recht in die Welt kam und wie es im Wechsel der Zeiten sich wandeln mußte. Weil er niemals nur ein Corpsbursche war, kann er nachher auch nicht, als er in den Verwaltungdienst tritt, ins seichte Philistertum versinken. Er arbeitet in Berlin, Aachen, Potsdam, aber er fühlt in der dumpfen Luft der Schreibstube sich nicht lange heimisch, er merkt rasch, daß zum Bureaukraten, der die Persönlichkeit abtun und, selbst eine Nummer, schematisch die Aktennummern erledigen muß, nicht das Zeug in ihm steckt, und kehrt zu den väterlichen Gefilden zurück. Die Epoche beginnt, die er mit leisem Spott einst die Zeit seiner agrarischen Unwissenheit genannt und die doch vielleicht seiner im goethischen Sinne natürlichen Weltanschauung die feste Grundmauer errichtet hat; in der pommerschen Monotonie fand der tolle Junker vom Kniephof das innige Verhältnis zu einer weislich waltenden Vorsehung und das sichere Gefühl für die Bedürfnisse des in den einfachsten Lebensbedingungen sich regenden Menschen. Ein guter Wirt, ein getreuer Haushalter und bei aller wilden Vergnüglichkeit doch eine ernste und Ernstes inbrünstig suchende Natur: so steht er, namentlich in den Briefen an die Schwester Malwine, vor unserem Blick. Diese Natur blieb still und stumm, so lange sie im selbstgeschaffenen Pflichtenkreis frei sich ausleben durfte; sie mußte in dem Augenblick vulkanisch losbrechen, wo eine fremde und feindliche Weltanschauung sich in ihr Gesichtsfeld drängte. Ohne das Erstarken des liberalen Ideals wäre Bismarck vielleicht nur einer von vielen Vertretern des alten und befestigten Grundbesitzes im preußischen Herrenhause geworden, obwohl er, wie Sybel (leider erst spät) erkannt hat, der geborene Staatsmann und Politiker ist; er bedurfte immer der Reibung, des Anstoßes von außen, um sich "tanti" zu fühlen, um ganz er selbst sein zu können, mit den flackernden Funken einer genialischen Persönlichkeit. Erst der revolutionäre Sturm stöberte den Landjunker aus seiner Verschollenheit auf, erst das instinktive Gefühl, dem organischen Wachsen und Werden des geliebten Preußenlandes könnten ernste Gefahren drohen, trieb ihn in die Öffentlichkeit. Er hätte sich ohne großen Gegenstand gewiß niemals geregt; jetzt schien der große Gegenstand ihm gegeben und die Aufgabe gestellt: Preußen vor weither geholten und in der Mark nicht erprobten Erziehungrezepten zu schützen, – und nun gab es für ihn kein Halten mehr. Der unruhig nach Stützen umhertastende Schwarmgeist Friedrich Wilhelms des Vierten wittert in dem Manne, der von den Gerlach, Manteuffel, Brandenburg, Radowitz und Genossen so grundverschieden geartet ist, den möglichen Retter; er sieht, wie Bismarck später gern sagte, in ihm ein Ei, aus dem die Hitze des königlichen Willens einen Minister ausbrüten könnte. Aber die Zeit ist noch nicht erfüllt. Der ganz und gar nicht ehrgeizige Märker entkommt ungefährdet nach Frankfurt, nach Petersburg und Paris; er übt, wie der junge General Bonaparte, ohne die Absicht merken zu lassen, auf die Entschließungen der Vorgesetzten den entscheidenden Einfluß, aber er bleibt hinter den Coulissen und tritt erst ins grelle Rampenlicht, als in Preußen das Militärdrama zum gefährlichen Abschluß neigt und die Furcht wach werden läßt, der Machtkonflikt könne die Monarchie an ihrer Wurzel bedrohen. Hier setzt der wild aufgewachsene Autodidakt ein, – mit dem ganz bestimmten Programm: unbeirrt von anderer Rücksicht den besonderen Zweck des preußischen Staates zu fördern und erbarmungslos jeden Trieb auszujäten, der diesem besonderen Zweck schädlich werden könnte, und von dem ganz bestimmten Empfinden geleitet, daß die politische Kunst im Wesentlichen nur richtig angewandte Kenntnis der Geschichte ist und daß den großen Politiker die Fähigkeit macht, in jedem Augenblick die Grenzen des Erreichbaren deutlich zu erkennen. Er gewinnt das waghalsige Spiel. Und da er die Grenzen des Erreichbaren weiter gerückt sieht, kehrt ihm auch das erste Staunen des über die Landkarte gebeugten Knaben zurück, der Kindertraum von der deutschen Einheit dämmert wieder auf, – und der stockpreußische Junker aus dem Vereinigten Landtag wird zum Exponenten der liberalen Jugendbegeisterung. Der Schüler Heerens schafft als Praktiker eine neue Geographie von Europa, der Hörer Savignys bereitet einer neuen Rechtsgeschichte den Boden. Den Starken, der so lange gegen den Strom schwamm, faßt und trägt nun die Woge, den erst Verlachten und dann Verlästerten umheult ein vielhunderttausendstimmiger Jubel. So ist es geblieben bis auf diesen Tag, trotz Ungnade, Ächtung und "Versöhnung", avant et après la bouteille. Wenn man zurückblickt auf das im letzten Lustrum Erlebte, auf die fast ununterbrochene Reihe beinahe schon allzu geräuschvoller Huldigungen, dann muß man, um in der deutschen Geschichte dafür ein Beispiel zu finden, des Meisters Martin gedenken, von dem Wilhelm Scherer sagen durfte: "So lange Luther lebte, war er der Mittelpunkt Deutschlands; nach Wittenberg strömten die Schüler von allen Gegenden her, in denen man Deutsch sprach, und erfüllten die Welt mit dem reformatorischen Geiste". Aber Luthers Werk war noch nicht vollendet, er war noch ein Kämpfender; und dem Kämpfer für neue Wahrheit drängt immer die Jugend zu. Die nationale Politik Bismarcks ist zum Abschluß gelangt; seit einem Vierteljahrhundert hat er sein saturirtes Volk stets zur Ruhe gemahnt; seit fünf Jahren war auf fast allen Gebieten sein Leitwort: Quieta non movere; er selbst ist, nach Goethes weisem Greisenrat, in einem gewissen Lebensalter mit Bewußtsein auf einer bestimmten Anschauungstufe stehen geblieben und hält neue Wünsche und Forderungen sich vorsichtig vom Leibe; reformatorische Verkündungen werden die Wallfahrer in Friedrichsruh von ihm nicht vernehmen und den Mann, der den grauen Mantel, den blinkenden Küraß und den goldenen Pallasch des Kaisers trägt, kann auch die Böswilligkeit nicht mehr für einen grimmen Frondeur halten. Und dennoch hat er nicht nur, wie Luther, die Sprudeljugend: er hat sie Alle. Junge und Alte, Männer und Frauen, Freunde und Feinde; Keiner kommt an dem achtzigjährigen, machtlosen Manne vorbei, ohne in Liebe oder in Haß ihm den Tribut zu bezahlen. Wodurch hat er dieses größte unter allen von ihm gewirkten Wundern erreicht? Wie kommt es, daß eine von neuen Gedanken und neuem Sehnen erfüllte Welt für eine Weile still zu stehen scheint, um dem Wort des in der napoleonischen Zeit Gezeugten zu lauschen, dessen Vollbringen doch der Vergangenheit angehört und dessen Rede mit dem Anspruch dieser gewandelten Welt so oft hart zusammenstößt?

... Wenn ich zurückdenke, wie ich selbst ihn lieben lernte, erst von fern und später in der Nähe, dann scheint die Antwort mir nicht gar so schwer. Er ist einfach, – und die kleinen Menschen von heute sind fast sämmtlich ganz abscheulich komplizirt; er ist organisch aus einer gesunden Wurzel erwachsen, in gerader Linie, – und heute herrscht das Gewimmel der künstlich Gepfropften und der Deklassirten; er gibt nie Etwas von sich, das er vorher nicht wirklich besessen hat, keinen Gedanken, den er nicht bis ans Ende gedacht, kein Wort, das er nicht empfunden oder als für das Empfinden der Hörer nötig erkannt hat, – und heute zahlen die Vielzuvielen mit fettiger Scheidemünze und abgegriffenen Kassenscheinen aus aller Herren Ländern; er ist stark und doch fein, – und ringsum sieht der Blick heute nur schneidige Brutalität oder zimperliche Neurasthenie. Und weil er einfach ist, organisch geworden, geradlinig, geistig immer solvent wie nur je ein echter Prinz aus Genieland, weil er nie den festen Boden unter den Füßen verliert und weil der merkwürdigen Mischung eines heißen Temperamentes und einer fast verzärtelt empfindlichen Seele doch nie unheimlich brodelnde Blasen entsteigen: deshalb gewährt er einer gährenden Zeit das Gefühl wohliger Sicherheit, deshalb ist er ein in seinem Wert deutlich bestimmter Faktor und deshalb wünscht Mancher sogar, der öffentlich mit ihm hadert, insgeheim ihm doch noch ein langes Leben. Sein bloßes Dasein schon wirkt beruhigend, wie den Mut der Schiffsmannschaft und die Zuversicht der Passagiere die Gewißheit stählt, daß für den Notfall der alte Kapitän in der Kajüte sitzt, der mit Wind und Wetter Bescheid weiß und bei dem es keine Kursschwankungen und keine gefährlich raschen Impulse zu fürchten gibt. Braucht man noch ausdrücklich daran zu erinnern, daß das Ansehen eines solchen Kapitäns und das Vertrauen in seine untrügliche Weisheit dann gerade am Höchsten steigt, wenn er das "Fehlermachen" Anderen überlassen durfte und vom eigenen Können lange schon keine Probe mehr abzulegen brauchte? Otto Bismarck ist ein viel zu nüchterner Rechner, um nicht ganz genau zu wissen, daß die reine – auch durch den unklugen, aber für den zu Kränkenden ehrenvollen Beschluß einer Reichstagsmehrheit kaum ernstlich getrübte – Polyphonie der Geburtstagschöre nur möglich wurde, weil sie einem Entamteten angestimmt werden, an den die Hoffnung jeden, die Furcht keinen Anspruch mehr hat. Er hat immer das Talent besessen, Glück zu haben, immer zu den geliebten Gotteskindern gehört, denen alle Dinge zum Guten gedeihen. Nie warb er vergebens um Liebe, nie starb oder verdarb ihm ein Kind; und als die herzensgütige und bei aller Derbheit der Formen tiefinnerlich adelige Frau, mit der ihm die schwere Eheprobe so herrlich gelungen war, endlich, nach langem Siechtum, zur Rüste ging, da war es kein wehes Sterben, kein jäher Riß eines schmerzlich umklammerten Bandes, sondern ein stiller, mählich auf leisen Sohlen einherschlürfender Tod, dessen Nahen die friedsam in frohe Hoffnung Gebettete gar nicht ahnte. Dem Günstling des Glückes, den ein hohes geistiges Sehnen doch selten nur zu behaglichem Glücksgefühl kommen ließ, ist auch die Entlassung zum Guten gediehen; den nationalen Politiker traf sie hart, aber dem Menschen wurde sie nützlich; er sah Manches in anderer Beleuchtung, als er von der Bühne in die Proszeniumsloge gestiegen war, und er selbst wurde anders gesehen, seit der Kreis seines Verkehres sich weitete und die Boetticher, Rottenburg, Holstein und Genossen nicht mehr seine Schwelle sperrten. Napoleon hat die Wandlung in anderer Folge erlebt; aber wie der in Malmaison für jeden Landsmann erreichbare Erste Konsul uns menschlich näher ist als der fette Imperator im Prunkpalast, so wird auch kommenden Geschlechtern der Gutsherr von Friedrichsruh und Varzin den "eisernen" Kanzler der Wilhelmstraße verdrängen. Unsere demokratische Zeit erträgt große Männer nicht gern; sie erträgt sie eben, spürt aber stets nach den kleinlichen Malen der Menschlichkeit und ist entzückt, wenn sie an den unbequem Großen Etwas von der gemeinen Art des zweizinkigen Gabeltieres entdecken kann. Daher die unersättliche Gier nach Kammerdiener-Indiskretionen, daher die Verweichlichung und Verzimperlichung der ragenden Reckengestalt Bismarcks, die rührsamen Tränen, die immer wieder aus einer alten Schwäche seiner Augen herausdestillirt werden; daher der rasche Massenerfolg der allerliebsten Philisterbilder des munteren Zeichners Allers, daher der Wunsch, den grausen Oger von früher nun in den behaglich schmatzenden Wolf aus dem Kindermärchen umzufälschen.

Wo ich nur konnte, habe ich nachgeforscht, ob Bismarck sich als Privatmann verändert habe. Kurd von Schloezer, der sein Lob ganze Stunden hindurch singen konnte, sagte mir immer wieder: "Nein, er ist noch heute genau so, wie ich ihn in Petersburg kannte, im Verkehr mit Kaisern und Königen ganz der selbe Mann wie in der Unterhaltung mit einem Spazirgänger, dessen Namen und Stand er nicht kennt". Dieses Urteil hat Ernst Schweninger, der ihn ganz sicher am Besten liebt, mir oft bestätigt; und Franz von Lenbach hat dann mit funkelnden Blick hinzugefügt: "Der? Der lebt ja in einer ganz anderen Welt. Den beirrt gar nichts und wir Alle zusammen kribbeln nur so durch seine Visionen hin". Ich glaube, sie haben Recht; nur in schlechten Theaterstücken habe ichs, ungläubig, erlebt, daß nach dem Szenenwechsel auch die Charaktere sich wandelten; der Schreiber der Briefe an "die Arnimen", an Polte Gerlach und John Lothrop Motley, der Tischnachbar der schönen Eugenie, der Zauberer der Wilhelmstraße, der Verbannte und der vom Winter ungnädigen Mißvergnügens scheinbar Befreite: sie Alle dünken mich eine Person, eine in ihrer Einheitlichkeit starke Individualität, die im Erleben reifte, deren Prägung aber stets unverändert blieb.

Man muß in Berlin, in der säuerlich scharfen Atmosphäre verspäteter Achtundvierziger, aufgewachsen sein, um ganz begreifen zu können, was wir Jungen, noch lange nach dem großen Krieg, uns unter diesem Bismarck so ungefähr vorstellten. Ein Wärwolf ist dagegen ein zierliches, liebenswürdiges Geschöpf. Alles Unglück, so lehrte man uns Tag vor Tag und so stand es ja auch in den Zeitungen, die altkluge Neugier beschnüffelte, kommt eigentlich von Bismarck, dessen ganzes Lebenswerk auf schnöde Gewalttat, auf frivole Rechtsverletzung und frechen Eidbruch gegründet ist, der das arme Volk aussaugt und schindet, an neuen Steuern ein Hundert-Millionen-Projekt nach dem anderen entwirft, nur zu seinem Privatvergnügen und um den fürchterlichen Moloch des Militarismus zu füttern. Er selbst wurde von den freundlichsten Beurteilern etwa so geschildert, wie er im Börsenepos Zolas abgemalt ist: "Un colosse, vêtu d'un uniforme blanc, éclatant et superbe, riant d'un rire large, les yeux gros, le nez fort, avec une mâchoire puissante que barraient des moustaches de conquérant barbare". Auch der an einer anderen Stelle von Zola gewählte Vergleich mit einer treuen Dogge fehlte schon damals nicht; nur pflegten die berliner Epiker die Bissigkeit mit viel härterem Nachdruck als die Treue des Tieres zu betonen. Keine Spur von klug nachspähender Psychologie; man folgerte nach übel apriorischer Sitte: So ist er und so mußte er deshalb handeln, aus solchen Beweggründen; statt zu fragen: "Wie ist er, der so gehandelt hat?" und aus seinem Handeln und Unterlassen ihn dann zu erklären und zu beurteilen. Dahinter kam man ja allgemach, als man älter wurde; aber das Innerlichste der Persönlichkeit blieb Einem doch fern und fremd. Der Mann war zu weit, zu groß, und da in der Nähe Alles ihn nur bäuchlings bestaunte, war auch von den in die Intimität Zugelassenen nichts Rechtes zu erfahren. Er hatte unzählige détracteurs und manchen Béranger gefunden, aber noch keinen Taine, der den Riesen uns klinisch erklärte.

Als wärs gestern gewesen, so genau weiß ich noch, wie mir zu Mut war, als ich zum ersten Male nach Friedrichsruh fuhr. Die Befangenheit war natürlich; ihr gesellte sich aber noch ein banges Zittern vor dem möglichen Verlust einer Illusion; es gibt gar so viele berühmte Männer, die bei näherer Bekanntschaft enttäuschen. Und nun – zu meinem Entsetzen war ich von der Bahn direkt ins Eßzimmer geleitet worden –, nun erhob sich im hellen Schneelicht schwer eine mächtige Gestalt und eine hohe und höfliche Stimme bot gütigen Gruß. Alles an dem Manne ist schön: das gewaltige Auge, die fast mädchenhafte Zartheit der Haut, die den mächtigen Schädel umspannt, die schlanke und frische Hand, die nicht einem Greis, sondern einem soignirten Diplomaten von fünfzig Jahren anzugehören scheint. Er wirkt in dem langen schwarzen Rock, mit dem altväterischen Halstuch, wie ein aus der Goethezeit Zurückgebliebener, der in heiterer Ruhe auf das wirre Treiben ringsum schaut. In der Uniform erscheint er massiger, mythischer, möchte ich sagen; aber von seiner feinen Besonderheit nimmt sie doch Einiges hinweg. Er ist kein Kavallerist wie andere Kavalleristen, ist, trotz Küraß und Ehrenpallasch, im Grunde gar kein Soldat; er erzählte selbst einmal, daß er es nie dahin gebracht habe, bei wichtigen Anlässen nach der Vorschrift adjustirt zu sein, und als der Oberste Kriegsherr im Schloss seinen Generalobersten empfing, da merkte Der viel zu spät, daß er die Achselstücke vergessen habe. Das künstlerische, das tief poetische Element in Bismarcks Natur, das Lenbachs rastlos erneuter Eifer so meisterhaft nachgefühlt hat, ist durch die Uniform vielleicht dem Blick der Betrachter verhüllt worden. Mir trat es bei der ersten Begegnung gleich plastisch entgegen und ich begriff sofort, warum diese Erscheinung oft so falsch und so töricht beurteilt worden ist. Die Synthese fehlte, die Einsicht in das Wesen des Genies, das immer naiv ist und niemals aus komplizirter Berechnung heraus seine Pläne spinnt. Man hat Bismarck zu einem Fabelwesen von ungeheuerlicher Intelligenz und nahezu zarathustrischer Moralinlosigkeit gemacht, zu einem Manne, der Alles weiß und schlau Alles erwägt, der in der Wahl der Mittel aber niemals bedenklich ist. So sieht der Genius durch die Brille der Mittelmäßigkeit aus, der temperamentlosen, kurzsichtigen, spekulativen; so sieht auch der einseitig nach der Verstandesschärfe Gebildete den genialen Menschen: so sah Börne einst Goethe. Ein Stückchen, und wärs nur das winzigste, von einem Künstler muß in Jedem lebendig sein, der menschliche Größe ermessen will. Wenn man Bismarck in seinem Treffen und Fehlen nicht als eine naiv aus dem Instinkt heraus schaffende Persönlichkeit gelten läßt, wird man zu den abenteuerlichsten Irrtümern gelangen. Sybel hat ihn dem Themistokles verglichen, an dem Thukydides die Fähigkeit rühmt, durch die Macht seiner Natur in kurzem Nachdenken sofort das für den Augenblick Erforderliche zu finden. Vielleicht kann man ihn noch besser einem Jäger vergleichen, dem die Witterung das Überlegen und Nachdenken ersetzt. Er hat in seinem langen Leben auf allerlei Hasen und Hirsche und Keiler gezielt, wohl auch oft auf bösartigeres Getier; immer wartete er die Witterung ab, und stieg ihm die unangenehm in die Nase, dann gab es für ihn keine Schonzeit und keine Rücksicht auf noch nicht jagdbares Wild, dann knallten die Büchsen, – und mitunter sah der Jäger erst beim Beschreiten der Strecke, was er da eigentlich niedergeschossen hatte. Nachher kamen dann die Ganzklugen und erfanden ex post einen umständlich schlauen Plan, dessen Einzelheiten der rüstige Waidmann selbst wohl oft genug in heiterem Staunen vernahm.

Otto Bismarck kann so, wie er wirklich ist, in der silbernen Vornehmheit seines Wesens, ohne Retouche bestehen. Narren nur oder Lakaien können leugnen, daß er recht oft gefehlt hat wie ein ganz sterblicher Mensch und daß er von altpreußisch begrenzten Vorurteilen ein reichliches Vätererbe im Blute trägt. Das höchste Glück der Erdenkinder aber hat er erreicht und gewährt: die Persönlichkeit. Er denkt, er spricht, er schreibt wie kein Anderer. Nie hab ich von ihm ein banales Alltagswort gehört, ob er nun von Politik oder von Küchenfragen, von landwirtschaftlichen Sorgen oder von weltgeschichtlichen Ereignissen sprach. Er hat viel gelernt, Mancherlei gelesen und am Meisten erlebt; auf keinem Gebiet ist er fremd und ein wunderbar zähes Gedächtnis gibt ihm die Möglichkeit, bei der leisesten Berührung die angeschlagene Saite gleich fortklingen zu lassen. Und im Lernen, Lesen, Erleben hat er doch die Ursprünglichkeit des Empfindens nicht verloren, die ihn über alle Fährlichkeiten hinwegführt; als ihn im Herbst 1894 der schwerste Verlust traf, hat er sich an das schmale Bett seiner Johanna gesetzt und sich wie ein Kind ausgeschluchzt; er war im Schlafrock, ohne Strümpfe, und saß und weinte still vor sich hin ... Wo ist der Heros von achtzig Jahren, der selbst vor den Allernächsten sich so sehen lassen dürfte? Freilich: Goethe hat Recht, wenn er seine Ottilie in ihr Tagebuch schreiben läßt, der Held könne eigentlich nur vom Helden anerkannt werden, während der Kammerdiener nur Seinesgleichen zu schätzen wisse. Aber hier ist der Held, den auch die Kammerdiener bewundern, der große Mann, auf den auch das Gehudel der Kleinen aus stolzer Einbildung blickt. Ein Bezwingendes ist in diesem stärksten Charmeur, eine geschlossene Einheitlichkeit, der selbst der stumpfe Sinn sich nicht entzieht, und ein kindhafter Adel, den Alles kleidet. Man braucht die schwerfälligen Verstandeskrücken nicht, braucht nicht durch die Erinnerung daran, daß man neben dem Schöpfer und Zerstörer von Reichen sitzt, künstlich die Autosuggestion zu schaffen, um den Mann zu bewundern und herzlich zu lieben, der 1815 geboren wurde und aus dessen Wesen 1895 dennoch kein einziger falscher Ton hervorklingt. Er wird von den Besten geliebt und verdient ihre Liebe, weil, in der sich selbst höchlich bewundernden, schwachgemuten Epoche des Mitleidens mit dem unendlich Kleinen, es Trost und stolze Freude gewährt, zu sehen, wie durch das Walten eines mächtigen Menschen die Grenzen der Menschheit sich weiten können.

Nun ist das hohe Bild uns genommen.

Der alte Herr Moritz Busch, Bismarcks Büschchen, hat am Morgen nach dem Tode des Fürsten im Berliner Lokalanzeiger das Entlassungsgesuch veröffentlicht, das der erste Kanzler des Deutschen Reiches auf den zweimal an einem Tage ihm überbrachten Befehl des Kaisers am neunzehnten März 1890 ins Schloß schickte. Seit dem Kronrat vom vierundzwanzigsten Januar, nach dessen Schluß dem Kaiser hinterbracht wurde, der Kanzler habe die preußischen Minister "vorher festgelegt", und mehr noch seit dem sechzehnten Märzmorgen, wo, als der Kaiser die private Unterredung des Fürsten mit Windthorst hart getadelt und sich die Fortsetzung solchen von ihm nicht kontrolirten Verkehrs mit Abgeordneten entschieden verbeten hatte, das Wort fiel: "Die Macht meines Herrn endet am Salon meiner Frau", – seit diesen Vorgängen war das Verhältnis zwischen Kaiser und Kanzler unhaltbar geworden. Andere Differenzen – über den Wert der Kabinetsordre vom achten September 1852, die dem Präsidenten des preußischen Staatsministeriums die seiner Verantwortlichkeit entsprechende Einflußsphäre sicherte, über die Nützlichkeit einer schnellen Erwiderung des Zarenbesuches, eine zweite Reise nach Rom, die Behandlung der Sozialdemokratie und die Stellung zu Rußland – waren früher schon aufgetaucht, Fürst Bismarck hatte den Eindruck, "daß seine Dienste nicht mehr beansprucht werden", und nur seine Gewissenhaftigkeit, nur das Gefühl, in der Stunde ernster Gefahr und unheilvoller Verwirrung nicht, wie ein empfindlicher Zärtling, von der Fahne desertiren zu dürfen, hielt ihn noch im Amt. Zum Neujahrstag hatte ihm Wilhelm der Zweite geschrieben, er hoffe, den "treuen und erprobten Rat" des Kanzlers sich noch lange erhalten zu sehen. Diese Stimmung schien nun geschwunden; der Kanzler konnte über "kränkendes, unverdientes Mißtrauen" klagen, im Staatsministerium bröckelte es, auch in der Leitung der Reichsgeschäfte stieß der früher Allmächtige auf stille, aber unüberwindliche Widerstände: er mußte merken, daß die Zeit froher, ungehemmter Arbeit für ihn vorüber war. "Wie eine Erleichterung", sagt Professor Horst Kohl im Nachtrag zu seiner Gesamtausgabe der Reden Bismarcks, "begrüßte er daher die Aufforderung zum Rücktritt, die am siebenzehnten März morgens in amtlicher Form und ohne Klausel ihm zuging. Am Nachmittag des selben Tages versammelte er die Minister um sich zu einer letzten Beratung, in der er sie von den Vorgängen der letzten Tage unterrichtete. Der Kaiser, dem von einem der Minister alsbald berichtet ward, was im Ministerrat geschehen war, nahm daraus die Veranlassung, am Abend des siebenzehnten März in einem amtlichen Excitatorium erneut die Einreichung des Rücktrittsgesuches zu verlangen." Hier ist Bismarcks "Gesuch":

Berlin, am achtzehnten März 1890.

Bei meinem ehrfurchtvollen Vortrage vom fünfzehnten d. Mts. haben Eure Majestät mir befohlen, den Ordre-Entwurf vorzulegen, durch welchen die Allerhöchste Ordre vom achten September 1852, welche die Stellung eines Ministerpräsidenten seinen Kollegen gegenüber seither regelte, außer Geltung gesetzt werden soll. Ich gestatte mir, über die Genesis und Bedeutung dieser Ordre nachstehende allerunterthänigste Darlegung.

Für die Stellung eines "Präsidenten des Staatsministeriums" war zur Zeit des absoluten Königthumes kein Bedürfniß vorhanden und es wurde zuerst auf dem Vereinigten Landtage von 1847 durch die damaligen liberalen Abgeordneten (Mevissen) auf das Bedürfniß hingewiesen, verfassungmäßige Zustände durch Ernennung eines "Premier-Ministers" anzubahnen, dessen Aufgabe es sein würde, die Einheitlichkeit