Kristallklare Ewigkeit - Margarethe Alb - E-Book

Kristallklare Ewigkeit E-Book

Margarethe Alb

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Beschreibung

Die große und überaus mächtige Weiße Frau Aeola trug einmal einen anderen Namen. Damals, als sie noch ein menschliches Leben führte. Violante war einstmals die Tochter des Ritters Odo. Wie es sich für ein Fräulein im Jahre 968 gehörte, war ihr Lebensweg vorbestimmt. Sie musste heiraten, um Allianzen zu festigen. Oder doch nicht? Das würde sie, wenn da nicht der Zauber der alten Wesen der Wälder wäre und sie erkannt hätte, dass sie so viel mehr war. Eine Herrin über Teile der Wälder. Wenn sie nicht plötzlich in eine Existenz gezogen würde, die ihr noch kurz zuvor unglaubhaft erschien. Oder, wenn da nicht der Erbe der Nachbarburg wäre. Bonus: Ein wahrhaftiger Liebesbrief Das fantastische Abenteuer der Violante entführt den Leser in die Sagenwelt südlich des Thüringer Waldes. Auf jeden Fall gibt es ein Wiedersehen mit einigen lieben Freunden aus den "Rynestig"-Büchern.

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Worum geht es hier eigentlich?

Die große und überaus mächtige Weiße Frau Aeola trug einmal einen anderen Namen. Damals, als sie noch ein menschliches Leben führte. Violante war einstmals die Tochter des Ritters Odo. Wie es sich für ein Fräulein im Jahre 968 gehörte, war ihr Lebensweg vorbestimmt. Sie musste heiraten, um Allianzen zu festigen. Oder doch nicht?

Das würde sie, wenn da nicht der Zauber der alten Wesen der Wälder wäre und sie erkannt hätte, dass sie so viel mehr war. Eine Herrin über Teile der Wälder.

Wenn sie nicht plötzlich in eine Existenz gezogen würde, die ihr noch kurz zuvor unglaubhaft erschien.

Oder, wenn da nicht der Erbe der Nachbarburg wäre.

Inhalt

Worum geht es hier eigentlich?

Hinweis in eigener Sache

Aeolas Welt

Teil 1- Violante

August, anno 968

September

Oktober

Beinahe November

November

Dezember

Februar

März

Mai

Teil 2: Aeola

Anno 2019

Mai anno 969

Juni

Dezember

Schon wieder Juni

2019

Ein wahrhaftiger Liebesbrief

Bevor ich es vergesse….

Leseprobe: Coatlicue- Das Vermächtnis

1.

2.

3.

4.

Hinweis in eigener Sache

Das geht an alle jene, denen beim Lesen dieses Büchleins der Kamm anschwellen könnte. Ich habe nur aufgeschrieben, was die gute Aeola mir auf die Hand diktiert hat.

Aeolas Geschichte wurde abgewandelt über die Jahrhunderte immer wieder erzählt. Als die Sage vom Haderholz, der Sage von der Sage oder den Kindern der beiden verfeindeten Burgherren, die einander liebten. Aeola selbst vermischt manchmal schon die Wahrheit mit Mythen, da so viele Varianten ihrer Geschichte existieren. Es war mühsam, die Wahrheit herauszufiltern. Daher bitte ich Euch, liebe Leser, seid gnädig mit mir.

Wer jetzt sagen möchte, stopp, das Örtchen am Fuße des Tales gab es anno 986 doch noch gar nicht, oder die ein oder andere geografische Besonderheit liegt doch ganz weit daneben, der verzeih mir, denn keiner von uns ist doch wirklich und wahrhaftig in der Lage, Aeolas Bericht bis zum kleinsten Bestandteil nachzuprüfen. Wem es allerdings möglich ist, in der Zeit zu reisen ohne dabei zwischen den Seiten eines Buches zu stecken, der möge mich gern einladen und eines Besseren belehren, denn dann bin ich gern bereit, diese Geschichte zu korrigieren, bis sie den historisch, geografisch und auch allen anderen belegbaren Tatsachen entspricht.

Jawoll.

Allerdings können wir die Standorte der Burgen auf beiden Seiten des Haderholzgrundes auch heute noch finden. Es gibt sogar Wegweiser dorthin. Wenn man dem Tal vom Ort Seligenthal aus der Silge entlang hinauf in Richtung des Hönberges folgt, dann findet man die Plätze leicht. Und wer zur Ebertswiese und dem angrenzenden Bergsee aufsteigt, der kommt sogar an den Resten der Falkenburg vorbei. Nur nach Aeolas Höhle wird man vergeblich suchen, da diese natürlich magisch verborgen bleiben wird, bis sie höchstpersönlich anderes beschließt.

Eure Margarethe.

PS: Ich gratuliere dem Ort unterhalb des Tales, dort, wo die Silge auf den Fluss Schmalkalde trifft, herzlich zum 700. Geburtstag.

Obwohl vermutlich viel älter, feiert Seligenthal im Jahre 2020 sein Jubiläum und wird die Korken knallen lassen!

Aeolas Welt

Der riesige unterirdische Saal mit den kristallbewachsenen Wänden war in ein warmes Licht getaucht. Unzählige Kerzen, die auf vielarmigen Leuchtern brannten, strahlten dieses bis in jeden Winkel des Raumes. Die Bergkristalle, welche die gesamten Wände bedeckten, warfen unzählige Lichtreflexe und kleine Regenbogenflecken umher. Dabei erzeugten diese ein wahrhaft magisches Ambiente. Ein Bach plätscherte längs durch die gewaltige Geode, direkt an einem Tisch mitsamt Stühlen vorbei, an welchen mindestens dreißig Personen Platz finden konnten, ohne sich eingeengt zu fühlen.

Auf der großen Tafel aus uraltem Eichenholz lagen zwei einfarbige leinene Platzsets, auf denen die Gedecke für ein schlichtes Menü aus Suppe und Brot bereitstanden. Becher, aus denen es nach Eierpunsch duftete, standen neben den Schalen. Die Thermoskanne in der Mitte schien Nachschub des dickflüssigen Getränkes zu enthalten. Außerdem hatte man eine Karaffe gekühlten Weißweines und passende langstielige Gläser aufgedeckt. Das wundervolle, mundgeblasene Set entstammte der Jugendstilzeit. Ranken zogen sich um die Stiele und fantasievolle Blüten öffneten sich auf dem hauchzarten Glas.

Aeola, die einst als grausame, herzenskalte Weiße Frau aus dem Tal der Silge zu zweifelhafter Berühmtheit gelangt war, legte ihren Stickrahmen beiseite.

Sie lächelte warm und erhob sich freudestrahlend, als Janus Schlingmann den Saal betrat.

Doktor Janus Schlingmann. Ihr viel zu lange aus der Ferne geliebter Urenkel und Gestaltwandler der Natternartigen. Endlich hatte er den Weg zu ihr gefunden. Nachdem seine Mutter ein Opfer der neumodischen Hexenjagden geworden war, obwohl sie doch nur als Mensch auf die Welt gekommen war. Ihr Kind hatte man verborgen aufwachsen lassen, da es die Fähigkeiten seines natternwandlerischen Vaters geerbt hatte.

Jan schnupperte und begann breit zu grinsen, als er des Duftes nach dem Eiertrank und der Hühnersuppe mit Eierstich gewahr wurde. Als Halbnatter war das Menü ganz nach seinem Geschmack. Seine Schlangenseite diktierte ihm seit er sich erinnern konnte, den Appetit. Und da rangierten Eier in jeder Form nun einmal ganz weit oben. Direkt vor knusprig getrockneten Mäusen.

Aeola lächelte so breit es ihr möglich war, als sie die Freude in seinem Gesicht erkannte. Sie hätte alles aufgetischt, was im weiten Umkreis erhältlich schien, wenn es ihm nur gemundet hätte. Aber einem von seiner Natur schmeckte eben die klassische Küche der Schlangen am besten. Aeola breitete die Arme aus und ließ zu, dass Jan sich förmlich an sie warf.

Endlich war er bei ihr.

Hier, tief unter dem Hönberg, wo sich seit fast eintausend Jahren ihr Zuhause befand. Diese riesige Geode, wie sie den Saal liebevoll nannte, war das uneingeschränkte Zentrum ihrer eigenen, kleinen Welt gewesen, bis sie sich endlich selber hatte vergeben können. Erst durch diese, eigene Vergebung hatte sich das festgeschmiedete, eiserne Band der Trauer von ihrer Brust lösen können.

Teil 1- Violante

August, anno 968

„Ich werde diesen unerhörten Grobian niemals ehelichen, Vater.“ Violante stampfte wütend mit dem Fuß auf. Das durfte doch nicht wahr sein. Der Vater war offenbar durchgedreht, wenn er glaubte, dass sie das mit sich machen ließ. Niemals würde sie ihre Zustimmung geben, den uralten Fettwanst zum Gemahl zu nehmen.

„Kind, höre mir bitte zu und sei ausnahmsweise einmal folgsam, es ist wirklich wichtig. Das Leben vieler Menschen hängt von dieser Verbindung ab.“

„Und trotzdem lasse ich mich nicht auf diese Weise verschachern, Mutter. Bitte hilf mir doch. Du kannst nicht wollen, dass ich mit dem eine Verbindung eingehe.“ Odo, der gefürchtete, jähzornige Ritter auf seiner Burg oberhalb der Silge erhob sich und schlug mit der Faust auf den Tisch.

„Ich sage, du wirst seine Gemahlin. Und erspare mir dein Lamentieren. Wir brauchen die Einnahmen aus den Stollen und Erhard wird mir einen Teil seiner Anteile im Austausch zu dir überlassen.“ Seine Eheliebste legte ihm beruhigend eine Hand auf den Unterarm. Gerlinda konnte die Anspannung durch den Ärmel seines Hemdes förmlich spüren.

„Du musst doch zugeben, dass Erhard nun wahrhaftig nicht dem Traum eines jungen Mädchens entspricht, Odo. Vielleicht finden wir wegen der Stollen noch eine andere Lösung.

Und wenn nicht, dann lass Violante doch zumindest einige Nächte darüber schlafen.“

Violante saß wie auf Kohlen. Wenn ihr nicht bald ein umwerfendes Argument einfiele, dass ihren Vater schlichtweg von seinem edlen, schwarzen Pferd blies, dann verschacherte der sie tatsächlich noch an den alten Bergwerksvogt. Sie knurrte und schleuderte ihre Stickarbeit gegen die Wand der kleinen Kemenate, welche ihr allein zur Verfügung stand. Der zarte, hölzerne Stickrahmen zerbrach geräuschvoll an der blanken Wand aus lehmverputztem Fachwerk.

„Herrin, versucht doch zumindest, Euren Vater zu verstehen. Er möchte Eure Zukunft gesichert haben. Er ist auch in der Pflicht Eurem Bruder gegenüber.“ Ja, klein Odo musste alles vorgesetzt bekommen. Violante wandte sich ab und steckte sich stumm einen Finger in den Hals. Anna sah es trotzdem.

„Violante. Reißt Euch zusammen. Odo kann doch nichts dazu, dass er ein Bube ist. Es ist nun einmal an Euch, den Beitrag zu leisten, den Euer Vater auswählt. Und zumindest ist der Mann begütert.“ Was so viel hieß, sie würde niemals von trocken Brot leben müssen, nur weil einer der viel gepriesenen Raubzüge fehlgeschlagen war.

Vio verdrehte die Augen. Natürlich nannte der Vater es Einnahmen durch Zölle, die von den durchreisenden Handelsleuten erhoben wurden. Odo brauchte sich überhaupt nicht einbilden, dass Violante ihn nicht längst durchschaut hatte.

Sie akzeptierte, was er tat um zu überleben, denn es war viel besser, als der Krieg, in den er vor einigen Jahren gezogen war. Irgendein Herrscher oder Oberritter hatte ihn einberufen und Odo war dem Befehl gefolgt. Vio erinnerte sich nur zu gut an das Gefühl der Angst und Ohnmacht. Allein der Gedanke, plötzlich ganz ohne Herren da zu stehen, hatte nicht nur sie erstarren lassen. Die Mutter hatte nächtelang oben auf dem Turm gestanden und Ausschau gehalten. Des Tages war sie dann nicht nur einmal vom Schlaf übermannt worden. Violante hatte als einzige Tochter der Herrschaften allzu oft die Tagesgeschäfte auf der Burg übernehmen müssen. Mit dreizehn Jahren war ihr seinerzeit die Tätigkeit als Herrin zugefallen. Aber auch nach der Rückkehr des Vaters hatte sich Gerlinda immer wieder für Tage oder gar Wochen zurückgezogen und ihre tagtäglichen Pflichten auf der Burg scheinbar vergessen.

Damit fielen ihre Pflichten nun seit dem fast ausschließlich Vio zu. Aber das machte ihr überhaupt nichts aus.

Sie fand es nach wie vor wunderbar, die Aufsicht über die Küche zu führen, sich um die Vorräte zu kümmern, oder mit den Bauern und Handwerkern zu verhandeln.

„Violante. Wird’s bald.“ Vio schreckte auf. In ihre Träumereien versunken, hatte sie nicht bemerkt, dass Ludo, der Knappe ihres Vaters die Kemenate betreten hatte. Der schmierige Kerl, der immer nach altem Pferd stank, spielte sich nur zu gern als zweiter Herr der Burg auf.

Und dass, obwohl er doch eigentlich nur der Sohn eines simplen Trödlers war. Sie hob eine Augenbraue ob des ungehörigen Befehlstones an und sah Anna hektisch nicken. Offenbar hatte ihre Gesellschafterin im Gegensatz zu ihr zugehört und vernommen, was Ludo soeben mitgeteilt hatte. Violante verdrehte die Augen, erhob sich und schritt mit erhobenem Kinn zur Tür. Sie schob die Schulter beiseite, an der Ludo sie nach vorn zu schieben gedachte. Der sollte es nicht wagen, sie zu berühren. Vio stolzierte die Treppe hinunter und direkt auf den kleinen Saal zu, in welchem Odo normalerweise dem Branntwein frönte. Wider Erwarten hörte sie schon von Weitem aufgeregte Stimmen viel zu vieler Männer. Sie bereute es nun ganz schrecklich, Ludo nicht zugehört zu haben, denn dann wäre sie nun nicht auf dem Weg ins Blaue gewesen.

„Ah, da ist sie ja schon.“ Odo stand bei einer Gruppe Fremder, die in staubige Kleider gewandet, sich gemeinsam zu ihr drehten. Alle wie sie da waren, begannen schlagartig mit der Musterung Violantes. Sie spürte gierige Blicke auf der Wölbung ihrer Brust, dem Becken und der Kleidung.

Als wollten die Kerle ein Stück Vieh erwerben. Fehlte nur noch, dass sie Vios Gebiss begutachten würden.

„Liebes, ich möchte dir eine Alternative zu unserem Disput anbieten.“ Er wies auf einen der Bewaffneten, der ein besonders farbenfrohes Gewand trug.

Der bärtige Mann mit den schwarzen Locken, die unter seiner Haube hervorschauten, ließ gerade ebenfalls den Blick über sie schweifen. Vio hatte das Gefühl, dass er sie in Gedanken auszog. Diese Art der Begutachtung war ihr, wie gesagt, wohlbekannt. So starrte man, um die Ware genau zu begutachten, die der Vater ihm offenbar vollmundig angepriesen hatte. Ein breites Grinsen zog sich langsam über sein Gesicht, welches einen fast zahnlosen Mund entblößte. Vio atmete stoßend aus.

„Das kann nicht dein Ernst sein, Vater.“ Odo stürzte förmlich auf sie zu. Er griff ihr Halstuch und zog sie dicht vor sein Gesicht. Sein warmer Atem stank ekelerregend nach fettigem Fleisch und Branntwein.

„Und ob es der ist, geliebte Tochter. Entweder der oder Erhard.“

„Lieber bleibe ich Jungfrau oder stürze mich vom Felsen.“

„Du wirst dich entscheiden müssen, Töchterlein, oder ich sorge eigenhändig dafür, dass du als niederste Magd lebenslang in den Stollen schuften wirst.“

„Besser im Berg arbeiten, als einem dieser ekelerregenden Säufer zu Diensten sein zu müssen.“

Eine feste Hand zog Vio von Odo weg.

„Lasst sie zumindest erst einmal durchatmen, Ritter Odo.“ Vio wich zurück und nickte ihrem Retter, ausgerechnet dem zahnlosen Ritter, dankbar zu.

„Euer Vater wurde zu einem Feldzug berufen. Wenn wir wiederkehren, erwarte ich Eure Antwort.“

Vio presste die Lippen zusammen und neigte zustimmend den Kopf. Sie hätte alles getan, um so schnell wie möglich dem Saal zu entkommen.

Innerlich schäumte sie vor Wut. Wie konnte er es wagen, sie schon wieder verschachern zu wollen. Na gut, der neue Bewerber schien zumindest ein wenig Anstand zu haben, aber trotzdem. So ließ sie nicht mit sich umspringen.

Ihre Füße liefen fast von allein in Richtung der Küche. Rollo der Koch war einer der wenigen Männer auf der Burg, denen sie blindlings vertraute. Die warme, stickige Luft einatmend, stieg Vio die wenigen, krummen Stufen in den halb unterirdisch befindlichen, großen Raum hinab. Das Murmeln der drei Küchenmägde und das übliche Streitgespräch Rollos mit seiner Gemahlin Gera, der die Waschtröge unterstanden, übte eine beruhigende Wirkung auf sie aus.

„Violante. Was ist denn mit dir geschehen, mein Kind?“ Gera zog Vios Hände an ihre ausladende Brust.

Hinter ihr legte Rollo die Arme um seine Gattin und sein Kinn auf deren Schulter ab.

„Vater ist geschehen, liebe Gera. Er hat offensichtlich einen neuen Bräutigam für mich gefunden.“

„Ach herrje. Was sagt die Herrin zu den Plänen Herrn Odos?“ Vio zuckte mit den Schultern.

„Ich habe sie heute noch nicht gesehen. Ihre Kammer ist verschlossen und Anna sagte mir, dass sie die Vorhänge noch nicht geöffnet hat.“

„Die Schwermut der Herrin wird vergehen, Kind. Lass sie ruhen und mach dir keine Gedanken. Komm setz dich, ich habe die letzten Frühäpfel zu Mus verkocht. Gera, füll ihr eine Schale davon ab und sorge dafür, dass Violante auch ja alles aufisst.“ Da es schlichtweg unmöglich war, Rollo zu widersprechen und danach unversehrt seiner Wege zu gehen, ließ sie sich auf die lehnenlose Bank sinken und griff nach dem Löffel, den eines der Mädchen ihr reichte.

Nach einer Portion von Rollos göttlich gutem Mus ging es ihr besser. Vio holte ihr Messer aus dem Gürtel und begann, Karotten zu schälen, während sie einen Plausch mit den Mägden begann. Als sämtliches Wurzelgemüse für das Abendmahl geputzt war, fühlte sich Vio einem weiteren Treffen mit Odo wieder gewachsen.

In der Halle war kein Lärm zu vernehmen.

Vio war sich sicher gewesen, dass der Vater mit seinen Gästen eines seiner berüchtigten Gelage abhielt. Aber der Raum war verlassen, nur von fern waren Stimmen zu hören.

Sie trat an eines der schmalen Fenster und entdeckte die Männer, die im Hof ihre Pferde sattelten. Sie wollten doch nicht noch so kurz vor dem Einbruch der Dämmerung aufbrechen?

Eine junge Frau in einem dunkelgrünen Rock, dessen Saum sie in ihren Gürtel gesteckt hatte, rannte über die freie Fläche des Hofes.

Vio verstand, verdrehte wieder einmal die Augen und machte sich auf den Weg.

Der Satansbraten war wieder einmal entwischt. Im Ziegenstall, hinter dem großen Bottich, der zur Tränkung der Hornträger im Winter diente, fand sie den Missetäter. Am Ohr zog sie den kleinen Odo, der ein Ebenbild seines Vaters zu werden schien, aus seinem Versteck.

„Lise, ich habe ihn gefunden!“ Aufatmend übernahm die Amme den Jungen.

„Danke, Herrin. Er macht mich heute wahnsinnig. Der junge Mann hier hat es sich in den Kopf gesetzt, mit den Männern zu reiten. Sein Schwert habe ich ihm bereits abgenommen, aber dann ist er mir entwischt.“

Vio hockte sich auf den Boden und starrte klein Odo so lange an, bis dieser ihren Blick erwiderte.

„Du bist noch zu klein, um so lange auf einem Gaul zu reiten. Die Männer müssen tagelang im Sattel sitzen. Und wenn es dann zu einer Schlacht oder auch nur einem kleinen Kampf kommt, hat keiner Zeit, sich um dich zu kümmern. Du musst noch ein wenig wachsen, bis du groß und erfahren genug bist, um ihnen eine Hilfe zu sein.“

„Aber ich will auch. Ich kann kämpfen. Gestern habe ich dem komischen Mann mit der Kutte in den Hintern gestochen.“

Vio biss sich auf die Unterlippe, um zu vermeiden, laut zu prusten. Sie setzte ein ernstes Gesicht auf.

„Odo, den guten Vater Enzo sticht man nicht. Weder ins Hinterteil, noch sonst wo hin. Und außerdem ist er kein wirklicher Gegner für dich, mein Schatz. Vater Enzo trägt ja nicht einmal ein Schwert bei sich.“

Der „Kuttenträger“ war vor einigen Jahren in der Gegend aufgetaucht und predigte, wo immer er ging und stand, Geschichten von seinem Gott, der alles verzieh. Violante, die an die Geister und Gottheiten der Natur glaubte, stand ihm ein wenig zwiespältig gegenüber. Natürlich kannte sie Bilder von Kirchen und hatte auch die Geschichten um den Sohn des Gottes gehört, der sich für die Menschen geopfert hatte. Aber Gerlinda war Enzos Art zu glauben nie wichtig erschienen und so hatte sie diese ihren Kindern auch nicht nah gebracht. Andererseits hatte Enzo einen großen Schatz im Gepäck, den er nur zu gern Violante zeigte.

Das große, mit herrlich bunten Bildern verzierte Buch war angefüllt mit säuberlich gemalten Buchstaben, die sich zu erstaunlichen Geschichten reihten. Enzo hatte ihr die Bedeutung der Zeichen gelehrt und Vio übte täglich, Worte und sogar ganze Sätze zu schreiben. Noch erstaunlicher fand sie die Möglichkeit, auf dem Pergament zu zählen und sogar zu rechnen. Der Mönch war so freundlich gewesen, sie in der Kunst zu unterweisen, die Vorräte zu notieren und zusammenzurechnen. Nicht, dass auf solch kleiner Burganlage jemand den Überblick zu verlieren drohte. Aber sie stellte es sich schön vor, nach Jahresfrist vergleichen zu können. Sie übergab Odo der Amme und wandte sich de Rittern zu, die abmarschbereit ihre Tiere bestiegen.

„Richte deiner Mutter aus, dass sie den Bauern nicht wieder alles durchgehen lassen soll. Und finde ich den Geldkasten leer vor, dann wird eine von euch als Hexe verbannt werden. Rate mal, für wen ich mich entscheiden werde.“

Vio hielt den Atem an. Das hatte der Vater doch nicht wirklich vor? Aber dessen angespannte Haltung und der hasserfüllte Blick sprachen Bände. Odo würde die widerspenstige Tochter ohne mit der Wimper zu zucken opfern. Allerdings glaubte sie eher, dass er sie auch gegen ihren Willen an Erhard zu verschachern gedachte, als sie zu bannen. Wobei man das bei Odo nicht so genau sagen konnte. Es kam ganz darauf an, welcher Stimmung er war.

September

„Violante, oben auf der Höhe lagert ein fremder Handelsherr mit drei prall gefüllten Wagen. Wenn Herr Odo erfährt, dass wir keinen Wegzoll erhoben haben, dann kann dir keiner mehr helfen.“ Vio erhob sich von ihrem niedrigen dreibeinigen Schemel und streckte den Rücken durch. Mit den Fäusten versuchte sie, die Anspannung in ihrer Wirbelsäule weg zu drücken.

„Wenn die Äpfel dadurch verderben, ist es nicht besser, Johann. Wie soll ich dem Vater erklären, wenn die Speisekammer leer ist?“ Der Jäger zuckte nur mit den Schultern.

„Ich wette um meine Armbrust, dass es dem Herrn wichtiger ist, Gold und Seidenstoffe vorzufinden, als ausreichend Äpfel, die er doch nur verschmäht.“ Wo er recht hatte, hatte er recht. Aber Violante hätte alles lieber getan, als sich auch noch darum zu kümmern.

„Also gut. In Ordnung. Johann, würdest du dafür sorgen, dass auch die Knechte gleich nach dem Sonnenaufgang bereitstehen?“ Der Jäger nickte, während er der Tochter seines Herren einen traurigen Blick schenkte. Vio atmete tief durch. Sie ertrug das Mitleid der Männer nicht.

„Lass das. Ich kenne diesen Ausdruck in deinem Gesicht. Du weißt genau, dass die Burgherrin die Aufgaben ihres Gemahls übernehmen muss, wenn dieser dem Ruf der Herrschenden zu folgen gezwungen ist.“

„Die Herrin schon, aber du bist ein halbes Kind, Violante. Frau Gerlinda sollte sich endlich aus den Kissen erheben und ihre Arbeit tun.“ Vio dachte an die gut beheizte Kammer der Mutter. Seit der Abreise des Ritters hatte sie diese nur zweimal verlassen, um nach klein Odo zu schauen und ihm einige getrocknete Früchte zuzustecken. Die Anfälle von Schwermut überkamen Gerlinda immer wieder einmal und hielten dann oftmals mehrere Wochen an. Einzig ihr Gemahl war dann in der Lage, zu ihrem Wesen vorzudringen. Außerdem rief er mit griesgrämiger Miene nach der uralten Marada, einem Kräuterweib aus den Wäldern. Vio mochte Marada gern, hatte die gutmütige Frau doch immer jede Menge wohlduftender Kräuter im Beutel und unzählige Geschichten im Sinn. Sie beschloss, gleich eine der Mägde ins Dorf zu schicken. Eine der Bäuerinnen war das Bindeglied zu Marada. Man musste nur bei ihr nachfragen, und am nächsten Tag erschien die Kräuterfrau dann zuverlässig auf der eigenen Schwelle.

Kaum, dass es nach der verregneten Nacht dämmerte, fanden sich auch schon die drei verbliebenen Knechte, der Jäger und ausgerechnet klein Odo am Burgtor ein.

„Kleiner, du bleibst zum Kuckuck nochmal hier.“

Johanns Ansprache an den Jungen, die zunehmend lauter durch den Hof schallte, hätte Vio in dessen Alter vollkommen verschreckt, aber der Bube grinste nur breit.

Odo hob das herrschaftliche Näschen zum Himmel und den Zeigefinger belehrend vors Gesicht.

„Du hast mir gar nichts zu sagen, kümmere dich lieber darum, dass es mal wieder Wild auf den Tellern gibt.“ Während die Knechte sich breit grinsend abwandten, schnappte Vio den Schwerenöter wieder mal am Ohr.

„Du bleibst schön hier. Wenn dir etwas passiert, macht Vater uns alle einen Kopf kürzer. Außerdem bist du noch viel zu klein. Deine Kraft genügt längst nicht, um einen der Fettwänster zu bekämpfen, sollten die nicht bereit sein, ihre Zölle zu entrichten.“ Odo stampfte bockig auf.

„Violante. Du bist nur ein Mädchen. Und die können niemals so gut kämpfen wie Jungs. Mädchen dürfen nur im Haus und der Küche arbeiten, aber niemals Männerarbeit tun. Da musst du schon richtige Kerle ihr Werk erledigen lassen.“ Johann brach in wieherndes Gelächter aus.

„Lass das mal meine Frau hören. Kleiner, du hast noch viel zu lernen.“ Aber Odolein gab nicht auf.

„Johann, du kannst das nicht ernst meinen. Immerhin bist du derjenige, der mit mir die Jagdkunst übt. Ich bin ja wohl ein sichererer Armbrustschütze als die da,“ er deutete auf Vio, „es jemals werden könnte.“ Sogar die Knechte kicherten inzwischen laut.

Der Jäger verdrehte verstohlen grinsend die Augen, als der Junge schon wieder mit einem Fuß auftrampelte und die kurzen Arme vor der Brust verschränkte.

„Odo, es ist egal, wie treffsicher du bist. Du bleibst hier. Deine Schwester hat das Sagen.“

„Niemals. Die ist ein Mädchen.“ Vio platzte der Kragen. Dem Kurzen gehörten die Leviten gelesen.

„Odo! Jetzt benimm dich. Du wirst heute das Holz für die Küche stapeln und danach Wasser tragen. Die Frauen wollen waschen. Und wage es nicht, durchzugehen. Höre ich, dass du deine Aufgabe nicht sorgfältig erledigst, gibt es keine Honigkuchen für dich. Rollo und Gera werden mir berichten.“ Lauthals murrend zog der Junge in Richtung des Holzlagers davon.

„Als ob die auch nur einen Baumstamm trifft. Mädchen. Wahrscheinlich verfehlt die sogar die Burgmauer, wenn sie anlegt.“ Lauthals lachend schulterten die Männer ihre Waffen. Violante griff den Köcher mit den kurzen Pfeilen für die zierliche Armbrust ihrer Mutter. Vios Pfeile trafen jedes Ziel. Nicht immer mittig, aber Vio traf. Johann war der beste Lehrmeister gewesen, den sie sich hätte wünschen können. Er hatte sie nie anders als einen Jungen behandelt, wenn er ihr Lehrstunden erteilt hatte. Die beiden Söhne Rollos haten mit ihr in einer Reihe gestanden und auf benachbarte Ziele geschossen. Tapfer hatten die Jungen fast jedes Mal ihre Niederlage eingestehen müssen.

Keiner der Beiden war vor Neid erblasst, eher hatten sie es zum Ansporn genommen, fast schon verbissen zu üben. Heute waren sie alle Drei gute Schützen und konnten es auch im Messerkampf miteinander aufnehmen.

Nur im Wettstreit mit dem Schwert musste Vio zurückstecken, da sie eine etwas kürzere Waffe ihr Eigen nannte. Das lange Schwert war ihr einfach zu schwer und unhandlich.

Mit Rollos Söhnen verband sie eine tiefe Freundschaft. Heinz und Rollo der Jüngere hatten vor nicht allzu langer Zeit die Burg verlassen, um ihr Glück in der Ferne zu suchen. Sie planten, als Knappen ihre Sporen zu verdienen und erhofften sich einen Rittertitel in ferner Zukunft.

Gerlinda sorgte normalerweise zuverlässig dafür, dass die Kinder des Gesindes eine ähnlich gute Ausbildung wie ihre eigenen bekamen, daher schien dieser Traum nicht wirklich unerfüllbar.

Gera, Rollos Eheliebste, trat mit einem großen Korb in den Händen, durch die Tür der Küche nach draußen.

„Ich habe nach Marada schicken lassen, damit sie nach Frau Gerlinda schaut, Violante. Sie wird wohl am späten Abend hier erscheinen, aber spätestens morgen früh.“ Vio nickte ihr dankbar zu. Sie hatte es am Vorabend wahrhaft vergessen, ihren Plan, nach der Kräuterfrau zu schicken, umzusetzen.

Violante fuhr herum, als sich das Getrappel von Hufen näherte. Sie hob eine Augenbraue, als der Stallknecht die Pferde vorführte.

Vio mochte es nicht wirklich, vom Rücken der Tiere aus zu agieren, sie bevorzugte es, auf den eigenen Füßen zu stehen. Aber natürlich hatte es auch seine Vorteile, vom Rücken eines der edlen Tiere auf Fremde herabzuschauen.

Während einer der Männer zurückblieb da er die beiden Pferde am Zügel führte, stiegen Johann und Violante zu Fuß zügigen Schrittes den gewundenen Weg ins Tal hinunter. Sie planten, den Handelszug direkt am Kreuzweg aufzuhalten. Das hatte gleich mehrere Vorteile, wie der Vater immer betonte. Einmal erklärte dieser Standort das Zollrecht der Familie und befand sich außerdem oberhalb des Weges, der das Zuständigkeitsgebiet des Harro von der Falkenburg markierte. Die Bewohner der Burg, die sich auf der anderen Seite des Tals, fast gegenüber der ihren befand, hatten Odo schon vor vielen Jahren den Unfrieden erklärt. Wo immer man aufeinander traf, gab es zumindest ein blaues Auge oder einen ausgeschlagenen Zahn.

Die von da drüben waren ungebildete, schmutzige Taugenichtse. Wenn auch Anna Vio erzählt hatte, dass deren Burgherr trotzdem gemeinsam mit Odo in den Krieg berufen worden war. So ein Nichtsnutz konnte der Widerling von drüben also gar nicht sein. Zumindest zum Kämpfen war er gut genug.

Angeblich war der Ritter ein Mann, der sein Messer noch vor dem Munde reden ließ. Odo hatte ihnen oft genug berichtet, dass Harro nach seinem Bruder gestochen hatte, nur weil der im Waldgebiet der Falkenburg auf Pilzsuche gewesen war. Violante bückte sich und pflückte einige vollreife Himbeeren von einem niedrigen Zweig, der über den Pfad hing. Sie schob sich die süßen Früchte in den Mund und genoss den reichhaltigen Geschmack.

Die frühen Stunden des Tages waren ihre liebste Zeit, um durch den Wald oder über die Wiesen im Tal zu streifen.

Johann streckte eine Hand aus und gebot Vio damit, inne zu halten.

Ihr stockte auf wohlbekannte Weise der Atem, als im Unterholz Ästchen knisterten und Laub raschelte. Was auch immer es war, es näherte sich schnell. Allerdings war es zu flink und geschickt, um ein Mensch oder gar ein Reiter zu sein. Die Pferde hinter ihnen schnaubten und eine fast gespenstische Stille trat ein.

Johann griff um Vios Oberarm und drückte zu. Mit dem Kinn deutete er ins Gesträuch abseits des Weges. Sie stierte förmlich in die Büsche. Dann breitete sich ein breites Grinsen auf ihrem Gesicht aus. Die Geweihstangen eines riesigen Hirsches brachen langsam durch das Gestrüpp. Das gewaltige Tier spähte aufmerksam auf den Weg und schob mit dem Geweih einige störrische Altholzäste beiseite.

Mit stolz erhobenem Haupt trottete er ungerührt von den Menschen auf die andere Seite. Der alte Hirsch wusste ganz genau, dass ihm von den Menschen der Wälder kein Leid drohte.

Gerlinda, Gera und auch die Frauen aus den umliegenden Dörfern achteten peinlich genau darauf, dass dieser Vater aller Hirsche am Leben blieb.

Eher riskierten sie, Hunger zu leiden, aber ihm durfte kein Härchen gekrümmt werden. Aus Erzählungen wusste Vio, dass sogar sein toter Leib, wenn ihn das Alter besiegte, tabu war.

Der Anführer der Hirsche war sozusagen heilig. Wenn auch Enzo das anders sah. Der Kirchenmann sprach, wann immer es auf die alten Bräuche kam, von Aberglauben und Missachtung der Regeln Gottes. Violante schüttelte allein beim Gedanken daran, den Kopf. Was Enzo berichtete war schön und gut. Sie glaubte gern an seinen Gott, der ein Leben auch nach dem Tode versprach und den Einhalt der Sitten predigte. Es war nichts falsch daran, die Moral über gewisse Vergnügungen zu stellen, aber in den Wäldern würde der Glaube an die alten Götter und die Wunder der Natur immer überdauern. So wie eben die Verehrung des größten Hirsches.

Der Weg wurde flacher und Johann winkte Vio und die beiden Knechte zu sich. Der Kreuzweg befand sich nur wenige Windungen des Pfades weiter vor ihnen.

Während Vio und der Jäger sich auf die Pferde schwangen, gingen ihre beiden Begleiter vor. Sie würden sich im Strauchwerk am Rand der Straße verbergen und ihnen ein Zeichen geben, wenn sich die Wagen des Handelsmannes näherten. Noch schien alles ruhig zu sein. Ein Eichhörnchen stromerte durch die Wipfel der alten Buchen, ärgerte dabei offensichtlich einige Amseln, die aufgeregt mit ihm zu zanken begannen.

Vio lehnte ihren Oberkörper gegen den Hals ihrer treuen Stute. Die Braune locker umarmend, lauschte sie dem Treiben des morgendlichen Waldes. Der Wind ließ das Laub rascheln, einige Spatzen stritten sich noch lauter als die Amseln und ein Raubvogel kreischte hoch oben in der Luft. Irgendwo in der Ferne schrie ein Eichelhäher.

„Es geht los.“ Johann nickte und richtete sich im Sattel auf. Sie lenkten die Pferde langsam bis zur Kreuzung. Der Jäger und Violante platzierten sich gerade so außerhalb der Sichtweite eines jeden, der die Straße entlangkommen würde. Vio fiel es schwer, still zu halten. Ihr Sattel war relativ neu und sie fand einfach noch nicht die ideale Sitzposition. Das nächste Mal würde sie eine gefaltete Decke unterlegen, wenn sie denn diesen dämlichen Sattel überhaupt weiter nutzte. Eigentlich bevorzugte Vio das Reiten auf dem blanken Pferderücken. Sie mochte es, den warmen, sehnigen Körper des Tieres zwischen den Schenkeln zu spüren.

Ihr langer Rock aus braun gefärbtem Leinen war weit genug geschnitten, um bequem zu reiten, das kurze, lederne Wams eigentlich eher eine Art Weste, die den Oberkörper ein wenig schützte. Ihre Cotta, das Untergewand, pflegte sie bis zu den Oberschenkeln seitlich einzuschneiden, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen.

Violante musste sich immer wieder sagen lassen, dass sie sich gefälligst edler kleiden sollte, aber das Leben auf solch kleiner Burg erforderte nun einmal die Mitarbeit eines jeden Bewohners, einschließlich der Fräuleins und der Hausherrin.

Ein leiser Pfiff gab ihnen das Signal, auf den Hauptweg zu reiten und sich mittig aufzubauen. Es war immer von Vorteil, möglichst eindrucksvoll aufzutreten. Johann nickte Vio zu und beide hoben die Armbrüste auf Hüfthöhe, bereit, anzulegen.

Der erste von drei mit Planen überspannten Wagen rumpelte auf sie zu.

„Halt!“

Der bärtige Kutscher zog am Zügel und die beiden Pferde kamen kurz vor Johann und Vio zum Stehen.

Der Jäger gab dem Fremden mit seiner Armbrust einen Wink, abzuspringen.

Violante ließ ihr Pferd einige Tritte nach vorn machen.

„Im Namen von Odo, dem Ritter der Burg über diesem Wege, fordere ich den ihm zustehenden Wegzoll ein. Wer ist der Handelsherr?“

Ein in feines Leder gewandeter, drahtiger Mann warf die Zügel des zweiten Wagens einem Gehilfen zu und trat vor.

„Ich bin Carol aus Nürnberg, Handelsmann und Hausherr. Der Zug ist der meine.“

Violante nickte ihm zu.

„Willkommen, Herr Carol. Ein hundertstel Teil Eurer Waren und Münzen gehört nach altem Brauch und Recht uns. Ich bitte Euch, mir den uns zustehenden Teil umgehend auszuzahlen.“

Ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken verneigte sich Carol und hob blitzschnell einen Arm. Aus jedem der Wagen sprangen drei bis an die Zähne bewaffnete Knechte.

„Jungs!“ Auf Vios Ausruf stürzten die beiden Männer aus dem Gebüsch und überwältigten im Handumdrehen zwei ihrer Gegner von hinten. Sie hatten den Befehl, ihre Gegner festzusetzen, aber nur dann zu töten, wenn es sich nicht ändern ließ. Ein Handelszug, der seiner Gehilfen beraubt wurde, war am Ende.

Und Kaufherren, die sich daraufhin dazu entschieden, andere Wege zu nehmen, brachten den Rittern der kleinen Burgen, die auf die Zölle angewiesen waren, überhaupt nichts. Natürlich sprach nichts gegen einen guten Raubzug hin und wieder. Das meinte zumindest Odo, aber auf die Dauer war es einfacher, den Händlern einen kleinen Teil ihrer Ware abzunehmen.

Noch während Vio ihren ersten Pfeil abschoss, erwischte ein kleines Messer ihren Arm. So ein verflixter Dreck.

Da war doch glatt einer ein wahrer Scherzbold, der unter die Messerwerfer gegangen zu sein schien. Sie rollte die Schulter und beschloss, dass dieser Kratzer sie nicht wirklich schwächte.

Wütend zog sie einen neuen Pfeil aus dem Köcher und legte auf den Kaufmann an. Johann sorgte währenddessen dafür, dass zwei weitere Knechte in die Knie gingen und fluchend versuchten, Pfeile aus ihren Oberschenkeln zu ziehen.

Carol zog seinerseits ein Kurzschwert aus der Scheide und versuchte, nach Vios Pferd zu stechen. Die treue Stute bäumte sich auf die Hinterbeine und trat mit den Vorderhufen nach dem Mann. Der Mistkerl erwischte das Tier mit der Spitze der Klinge an einem Bein und Vio sprang wutentbrannt ab. Sie zog nun ihrerseits das Schwert und stürmte auf Carol zu. Zum Glück hielt dieser nur eine kurze Waffe und führte nicht das gewaltige Langschwert der meisten Ritter. Sie hob ihre Klinge und suchte einen sicheren Stand.

Der Kaufmann stand offenbar gut im Training. Wieder und wieder parierte er ihre Schläge.

Vio, die ihren rechten Arm kaum noch spürte, biss sich auf die Zähne und wirbelte im Kreis herum, um den Schwung für einen guten Hieb zu nutzen. Diesen Schwerttanz hatte sie von Kindesbeinen an trainiert. Odo hatte größten Wert daraufgelegt, dass auch sie in der Lage war, sich zu verteidigen. Mit der Geburt klein Odos hatte er dann aber endlich den ersehnten Erben gehabt und Vio seinem Knappen sowie Johann überlassen. Die Klingen trafen laut klingend aufeinander. Für Beobachter musste es aussehen, als ob sie sich ineinander verhakt hätten. Langsamen Schrittes umkreisten sie mit gekreuzten Klingen einander. Im Hintergrund hörte Vio ihre Leute mit den Handelsknechten kämpfen. Carol trat einen Schritt zur Seite und Vio hatte Mühe, seinen Hieb zu parieren. Sie spürte inzwischen, wie das Blut an ihrem Arm hinablief. Das verflixte Messer steckte nach wie vor in der Wunde. Das Mistding sorgte dafür, dass bei jeder Bewegung eine Welle glühenden Schmerzes durch ihren Leib fuhr. Sie wusste, dass die anderen endlich mal hin machten sollten, denn allzu lange hielt sie nicht mehr durch. Ein weiterer Ausfall Carols brachte sie zum Stolpern. Mühsam fing Vio sich und hob gerade noch rechtzeitig ihre Waffe mit beiden Händen, um einen finalen Hieb abzuwehren.

Spitze Schreie schallten durch das Tal. Viel zu viele Stimmen mischten sich zu einem misstönenden Geräuschteppich. Vio schwang das Schwert, löste sich durch die Bewegung von ihrem Gegner und fiel nach vorn, als der nächste Hieb ausblieb. Carol war vor ihren Augen verschwunden.

Sie landete dadurch ziemlich unelegant auf den Knien und sackte aufgrund des Schwunges mit der Nase in den Dreck der Straße. Eine fremde Stimme fluchte und sie wurde umgehend auf kräftige Arme gehoben. Während der Schmerz sie zu übermannen drohte, verklangen die Geräusche der kämpfenden Männer.

Sie hörte Johann Befehle rufen und das Trappeln von Hufen. Zu vielen Hufen, da ja eigentlich nur Johanns Pferd auf allen vier Hufen stand. Vio versuchte, sich aufzurichten.

„Nun halt schon still, Weib. Das Messer muss erst aus deinem Arm.“ Die tiefe Stimme sprach beruhigend auf sie ein. Sie wurde auf dem feuchten Gras abseits der Straße abgelegt.

„Lass dein Schwert los.“

Schwert? Ach ja, sie hielt den mit Leder umwickelten Griff immer noch fest umklammert. Langsam lockerte Vio ihre Finger, was von einer erneuten Schmerzenswelle begleitet wurde. Sie schluckte trocken und presste die Augenlider noch fester über die Augäpfel. Es war egal, wer ihr da gerade zur Hilfe kam. Ihr vernebeltes Hirn befahl nur, endlich dieses bescheuerte Messer loszuwerden.

„Gut so. Warte, gleich wird es besser.“ Vio riss nun doch die Augen auf, als sie gleich mehrere Paar Hände ergriffen und auf dem Boden fixierten.

Zwei Burschen, halbe Kinder noch, drückten sie fest auf die Wiese, während ein junger Mann darauf konzentriert war, ihren Ärmel aufzuschneiden, ohne das Messer dabei zu berühren.

Trotz des Schmerzes und des Unwohlseins kam Violante nicht darum, ihn zu mustern. Schulterlange blonde Haare ringelten sich in großzügigen Locken um ein kantig geschnittenes Gesicht. Das bartlose Kinn zierte ein tiefes Grübchen.

Lange, helle Wimpern bedeckten Augen von der Farbe des Sommerhimmels. Er hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengekniffen und eine steile Falte verlief über die Stirn bis zur Nasenwurzel. Der Ärmel rutschte über Vios Arm nach unten.

„Ich hole es jetzt raus. Willst du ein Stück Holz?“

Vio schüttelte den Kopf und biss gleichzeitig die Zähne fest zusammen. Außer dem Arm würde ihr später auch noch der Kiefer tierisch schmerzen.

Aber niemals würde sie die Schwäche eingestehen, sich ein Beißholz zu wünschen.

Sie atmete tief ein und nickte ihm zu. Ihr entfuhr ein Keuchen, als er die Klinge entfernte und ein Tuch auf die Wunde presste. Vio ließ die Luft entweichen und gab den Armen, die sie in sitzende Haltung aufrichteten, gerne nach. Auf dem Kreuzweg herrschte ein totales Chaos. Einige Handelsknechte saßen gefesselt an Bäume gelehnt, während der Kaufmann verschwunden war. Einer der Wagen war umgestürzt und der Inhalt diverser Truhen hatte sich über den Weg und bis auf die angrenzende Wiese ergossen. Offensichtlich handelte der Fremde mit Hausrat und Geschirr aus Silber und Zinn. Einige Ballen farbigen Leinens hatten sich entrollt und bildeten ein buntes Streifenmuster am Wegesrand. Gewebte Bänder hingen über die Wagenwand und bunte Garnrollen kullerten umher.

Johann reichte Vios Retter die Hand.

„Wir haben herzlich zu danken, Herr Gernot.“ Gernot? Johann kannte die Männer? Woher? Violante runzelte die Stirn. Eigentlich bildete sie sich ein, die Bauern und Handwerksleute aus den Dörfern und auch aus der nah gelegenen Stadt zu kennen.

Gernot wandte sich vom Jäger ab und grinste sie an.

„Du bist also Odos Tochter, wenn ich mich nicht täusche? Das der Gauner so eine bezaubernde Maid hervorgebracht hat, ist ja beinahe unvorstellbar.“

Vio sah zwischen Johann und Gernot hin und her. Beide glucksten auf, als Johann vortrat.

„Violante, darf ich dir Gernot, den Sohn Harros vorstellen?“ Ihr rutschte das Herz in die nicht vorhandene Hose. Der Blonde gehörte zu den Erzfeinden Odos von der Burg auf der anderen Seite des Tals. So ein Mist. Wenn der Vater davon Wind bekam, würde er sie eigenhändig richten. Sie stöhnte.

„Johann, sag den Knechten, dass das alles unter uns zu bleiben hat. Wo ist der Handelsherr?“ Der Jäger zuckte mit den Schultern.

„Hat zwei der Pferde Gernots geschnappt und ist mit einem seiner Helfer abgehauen.“ Gernot sah auf.

„Macht euch keine Gedanken, wir nehmen uns zur Entschädigung einfach drei Wagenpferde. Und ich würde sagen, dass es nur recht ist, die Beute zu teilen.

Da Odo genauso wie mein Vater im Krieg weilt, liegt die Entscheidung bei uns. Oder glaubst du, verehrte Violante, dass deine Mutter eine andere Ansicht vertritt?“ Vio verdrehte die Augen. Mutter hatte seit Tagen nicht einmal nach dem Wetter gesehen. Geschweige denn, eine eigenständige Entscheidung getroffen.

„Also gut, wir teilen. Seht nach, was in den einzelnen Wagen ist und teilt alles auf. Ich nehme an, dass ihr mir nachseht, wenn ich hier hocken bleibe?“ Mit einem unguten Grummeln im Bauch beobachtete sie, wie die Männer die Gefährte entluden, die Waren sichteten und zwei Haufen aufschichteten.

Hoffentlich gelang es ihnen, das Geschehen vor dem Vater geheim zu halten. Johann und den beiden Knechten vertraute Vio blind, aber es musste nur jemand ein Gerücht hören oder eine der Bauersfrauen vorbeikommen, um die Katastrophe auszulösen.

„Soll ich dir helfen?“ Violante stand, der Verzweiflung nahe, vor Johanns Stute. Sie kam mit dem verletzten Arm einfach nicht auf deren Rücken. Gernot fackelte nicht lange und legte die Hände um ihre Taille. Mit einem kräftigen Schwung hob er sie an und ließ sie in den Sattel sinken. Noch bevor Vio sich bedanken oder auch nur einen Pieps von sich geben konnte, hatte er sich auch schon hinter sie auf den Rücken des Tieres geschwungen und nach den Zügeln gegriffen.

Mit einem leisen Schnalzen seiner Zunge bedeutete er dem Pferd, sich in Bewegung zu setzen.

Als wäre er regelmäßiger Gast auf der Burg Odos, lenkte Gernot die Stute den Weg hinauf.

Vio versuchte, sich in Gernots Umarmung soweit zu drehen, dass sie einen letzten Blick auf ihre und Gernots Männer erhaschen konnte. Immerhin waren die Ritter, deren Herren, bis aufs Blut verfeindet. Da sollte zwischen den Leuten der Burgen doch einiges an Loyalität ihren Herren gegenüber existieren, aber sie arbeiteten Hand in Hand. Offenbar war es ausschließlich der seit Generationen geschürte Hass ihrer Gebieter aufeinander, der sie voneinander getrennt hielt.

„Weißt du, sie sind teilweise eng verwandt, sogar Brüder sind unter unseren jeweiligen Knechten.“ Das war ihr neu. Hinter einer Biegung holten sie eine Frau ein, die eine große, geflochtene Kiepe, einen Rückenkorb, den Berg hinauf schleppte.

„Frau Marada, warte.“ Gernot übergab die Zügel an Violante und ließ sich vom Pferd gleiten.

„Gib mir den Korb.“ Marada erfasste mit einem Blick die Lage.

„Na, wenn das mal nicht eine eher ungewöhnliche Entwicklung ist.“ Schmunzelnd ließ sie sich ihr Gepäck abnehmen.

„Was ist mit deinem Arm passiert, Violante?“

„Keine Bange, verehrteste Marada, das ist nur ein kleiner Messerstich. Das verheilt von allein.“

„Gernot, ich habe Violante gefragt.“ Vio schmunzelte, obwohl der Ritt sie beinahe an ihre Grenzen gebracht hatte, denn der Arm brannte wie Feuer.