Kugel ins Hirn - Klaus Scherer - E-Book

Kugel ins Hirn E-Book

Klaus Scherer

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Beschreibung

Wie Staatsanwältinnen, Richter, Polizistinnen und verdeckte Ermittler rechten Hetzern auf die Spur kommen: der Kampf gegen Hassrede im Internet als packende, detailreiche Polizei-Reportage. »Hass, Hetze und Lügen im Netz sind Kriegserklärungen. Der Rechtsstaat, die Demokratie sind nicht wehrlos. Doch wir alle müssen es wollen.« – Kulturzeit, 3Sat »Klaus Scherer ist ein leidenschaftlicher Reporter. Und er ist ein wunderbarer Erzähler.« – Ulrich Wickert Das Internet ist voller Hass. Wie aus dem Nichts stürzen sich Hetzer auf ihre Opfer, diffamieren und bedrohen sie. Doch der digitale ist kein rechtsfreier Raum mehr. 2021 trat das Gesetz gegen Hass-Kriminalität im Internet in Kraft. Seitdem verfügen Justiz und Strafverfolger über Werkzeuge, um Hassredner zur Rechenschaft zu ziehen. Dank bester Zugänge begleitet NDR-Sonderreporter Klaus Scherer Fahnder, Verfassungsschützer und Ankläger im Einsatz. Er trifft Täter, die Parlamentarier als »Abschaum« verhöhnen und »ins KZ stecken« wollen, und sieht bei ihren Hausdurchsuchungen zu. Er spricht mit netten Nachbarn, die zugleich Hasstiraden posten, und mit ihren Opfern. Und mit Politikern, denen er vorhält, ihr eigenes Gesetz zu unterlaufen. So führt diese fesselnde True-Crime-Reportage sowohl in den Abgrund rechter Mobilmachung als auch darüber hinaus. »Klaus ist das, was man einen großen Erzähler nennt. Er hat einen wunderbaren Blick für Menschen und deren Geschichten.« – Anne Will Klaus Scherer ist Bestseller-Autor und prämierter TV-Journalist, er erhielt u.a. den Deutschen Fernsehpreis, den Grimme-Preis und den Hollywood Independent Documentary Award. Geprägt von seiner Zeit als Korrespondent in den USA plädiert er in seinem neuen Sachbuch für einen routinierten Rechtsstaat.  Stimmen zur Klaus Scherers mehrfach international ausgezeichneter Fernsehdokumentation »Hass im Netz«: »Eindrucksvoll.« – Süddeutsche Zeitung »Eindrücklich. Sehenswert.« – Redaktionsnetzwerk Deutschland »Sehenswerte Dokumentation.« – Weserkurier

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Seitenzahl: 246

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Klaus Scherer

Kugel ins Hirn

Lügen, Hass und Hetze im Netz bedrohen die Gesellschaft Unterwegs mit Strafverfolgern

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Das Netz ist voller Hass. Wie aus dem Nichts stürzen sich Hetzer auf ihre Opfer, diffamieren und bedrohen sie. Doch der digitale ist kein rechtsfreier Raum mehr. 2021 trat das Gesetz gegen Hasskriminalität im Internet in Kraft. Seitdem verfügt die Justiz über Werkzeuge, um Hassredner zur Rechenschaft zu ziehen. Dank bester Zugänge begleitet NDR-Sonderreporter Klaus Scherer Fahnder, Verfassungsschützer und Ankläger im Einsatz. Er trifft Täter, die Parlamentarier als „Abschaum“ verhöhnen und „ins KZ stecken“ wollen, und sieht bei ihren Hausdurchsuchungen zu. Er spricht mit netten Nachbarn, die zugleich Hasstiraden posten, und mit ihren Opfern. Und mit Politikern, denen er vorhält, ihr eigenes Gesetz zu unterlaufen. So führt diese fesselnde Reportage sowohl in den Abgrund rechter Mobilmachung als auch darüber hinaus. Geprägt von seiner Zeit in den USA plädiert Scherer für einen routinierten Rechtsstaat. Den Kampf gegen erhitzte Rassisten, Antisemiten und Frauenhasser gewinne die Gesellschaft umso leichter, je cooler sie bleibe.

Inhaltsübersicht

Für einen Perspektivwechsel

Kühne Urteile, wachsendes Ausmaß

Rechtsstaat bei der Arbeit

Glauben und glauben lassen

Neu oder nur neu gekleidet?

Alarmismus statt Analyse?

Coolness gegen Überhitzung

Sachsens Rekordschreiber

Menschen und Muslime

Gesetz mit Stolperstart

Auch Medien und Bürger melden

Wortlos am Gartentor

Wenn der Anwalt selber hetzt

Meister der Andeutung

Hetzjagd und Hundepfeife

Form der Anerkennung?

Zündeln im Nahkampf

»Dem ne Kugel ins Hirn«

Anklage und Verteidigung für Strafe

Appellative Zusätze

Wiedervorlage in Osnabrück

Juden, Schwule, Fremde, Frauen

Abschreckende Wirkung

Hitliste des Unsäglichen

Das Gefühl, es bringe etwas

Baerbock im Zielfernrohr

Meinungsfreudig

Strahlkraft der Klugheit

Wolf im Schafspelz

Nächster Halt in Hildesheim

Vom guten Handwerker und bösen Hacker

Gehackt, wie gesagt

Messer im Auto

Da lebe ich

Rechte Scheiße

Das Wort ist viel

Extrem digital

Bunt gemischt

Alles nicht schön

Wer schreibt, bleibt

Bin ich jetzt ein Denunziant?

Tagträume eines Netznutzers

Normales Verfahren

Kuchen und Klimawandel

Woher kommt Moral?

»Hättest am Krebs verrecken sollen«

Nicht noch mehr »Hate«

Rabenmutter, Hurensohn

Nötige Schwere

Zwischenstopp

Die Müll-Abräumer

Gedanken lesen

Bürgerkriegsähnliche Unruhen

Manche verlieren den Glauben

Die Schlachten der Neuen

Löschen, Melden, Schluss

Andere Tonalität

Alles versandet

Verstärker von Unsicherheit

Bildteil

Jenseits von Idar-Oberstein

Heimatklänge

Tapetenmuster aus Tatverdächtigen

Konkrete Anschlagsplanung?

Gute Tage, schlechte Tage

Im Lagezentrum

Wieder ein Kopfschuss

Der Fall Schäuble

Kratzen am Eisberg

Der nächste Anschlag

Nicht einmal ignorieren

Eingaben in Sütterlin

Tatgeneigtheit, Tatvollendung

Keinen Freispruch riskieren

Korrektur angemahnt

Pure Menschenverachtung

Nette Nazis von nebenan?

Falsche Flagge

Aus einer Laune

Smiley oder Fratze

Alles gut?

Ignorieren war gestern

Konjunktivisch getötet

Privilegierte Opfer

Kein Grundrecht auf Hetze

Kugel ist Kugel

Verbal gepustet

Nebenwirkungen und so

Pointierter Ankläger, schlingernder Anwalt

»Dann rollt der Zug«

Belohnte Dreistigkeit?

Trumps Trickkiste

Zwischen Planeten

Begriffe besetzen

Fake-News-Nebel

Gegengift

Beruhigtes Amerika

Bedrohtes Europa

Justiz in Bewegung

Falsche Maßstäbe

Mögliche Massen

Kriegsopfer Wahrheit

Nervöse Nachrichtenwelt

Wir sind so frei

Zurück zur Routine

Toleranz nur wechselseitig

Dank

Quellen

Einleitung

Für einen Perspektivwechsel

Unterwegs mit Strafverfolgern

Es ist früh, finster, still. Eine Wohnstraße im Stadtgebiet Chemnitz. Vor mannshohen Hecken, die den Eingang eines mehrstöckigen Mietshauses säumen, haben Zivilfahrzeuge des Landeskriminalamts angehalten. Lückenlos parken am Straßenrand noch Autos. Erst hinter wenigen Küchenfenstern brennt Licht. Die sechs LKA-Beamten beziehen auf dem Gehweg Position. Tauschen Blicke aus. Alle sind einsatzbereit.

Im Revier hatte das Polizeiteam kurz den Einsatzplan besprochen, dann war es mit Dienstwaffen, schwarzen Taschen und Koffern für die zu sichernden Beweismittel durch die Nacht zur Zieladresse aufgebrochen, vor sich nur die Rücklichter der frühen Pendler und das Farbenspiel der Ampeln.

Punkt sechs, Uhrenvergleich. Hellblaue Plastikhandschuhe überstreifen. Durchsuchungsbeschluss des Ermittlungsrichters griffbereit mitführen. Alles Routine.

Die Papiere zitieren den Online-Eintrag, der das Verfahren ausgelöst hatte. Quelle: Facebook. Vermerk: Orthografie übernommen. »Unsere Kanzlerin«, steht da, »diese würde ich wie es zu alten Zeiten wo unser Führer noch lebte ins KZ stecken.«

Auf den zweireihig angeordneten Klingelschildern links neben der Eingangstür leuchtet die kleine Taschenlampe des Einsatzleiters auf ein Dutzend Namen. Er drückt unten links.

»Ja?«

Die Mieterin klingt verschlafen.

»Guten Morgen, die Kriminalpolizei, wir müssten mal ins Haus«, erklärt der Beamte mit sanfter Stimme. Und schiebt gleich nach: »Wir wollen nicht zu Ihnen.«

Prompt ertönt der Summer. Keine weiteren Fragen. Fast so, als hörte die Frau im Parterre diese Sätze nicht zum ersten Mal. Der Beamte drückt die schwergängige Tür auf, atmet hörbar aus, halb erleichtert, halb angespannt. Er weiß nicht wirklich, was ihn von jetzt an erwartet. Ebenso wenig weiß es mein Kameramann, der das LKA-Team für unsere exklusive ARD-Recherche Hass im Netz in dieser Nacht begleiten darf.

Die Zielperson ist 39, deutsch, männlich. Das örtliche Amtsgericht führt den Fall unter dem Aktenzeichen 200 Js 25828/21. Tatverdacht der Volksverhetzung gemäß Paragraf 130 des Strafgesetzbuches. An einer der Wohnungstüren der oberen Stockwerke läuten die Beamten zunächst, danach klopfen sie lautstark. Als sich die Tür zögerlich geöffnet hat, fällt der nächste Satz, wieder mit der gleichen ruhigen Stimme.

»Wir setzen heute einen Beschluss um, einen Durchsuchungsbeschluss«, erklärt der Einsatzleiter, nachdem er sich dem Bewohner vorgestellt hat. »Können wir uns irgendwo hinsetzen, um kurz darüber zu sprechen?«

Durch die Türöffnung wird ein Stück Flur sichtbar, eine Innentür mit Riffelglas, ein an die Wand gelehntes Schrankteil mit Holzlamellen, der Durchgang zum Schlafzimmer, die Bettkante. Nichts davon erscheint ungewöhnlich. Der Tatverdächtige wirkt kräftig, trägt das Haar kurz rasiert, weißes T-Shirt, blaue Latzhose. Was ihm alles durch den Kopf geht, als der Beamte ihm den Tatvorwurf vorliest, erfahren wir nicht.

»In Ihrem Beitrag schreiben Sie, dass Sie Frau Merkel ins KZ stecken würden«, zitiert der Beamte aus seinen Unterlagen. Danach beginnt das Team in Wohnräumen und Keller nach dem üblichen Beweisgut zu suchen: Computer, Laptop, Smartphones, Datenträger. Die Kamera nimmt davon nichts mehr auf. Ich habe zugesagt, nicht in Privaträumen zu filmen und alle Persönlichkeitsrechte zu beachten.

Das wird das ganze Jahr über gelten, das ich für diese Recherche eingeplant habe. Keine erkennbaren Gesichter, weder von Beamten noch von Tatverdächtigen, Beschuldigten oder Verurteilten. Auch dann nicht, wenn es sich um öffentliche Prozesstage handeln wird und Aufnahmen zulässig wären.

Selbst das müde »Ja?« unserer Türöffnerin muss der Justiziar des Norddeutschen Rundfunks erst durchwinken, bevor es in der Fernsehreportage auf die Tonspur darf. Wäre es eine Aufnahme am Telefon gewesen, ohne Wissen der Sprechenden, es wäre strafbar. Hier aber gilt es als zulässiger Zufall.

Kühne Urteile, wachsendes Ausmaß

In drei ausgewählten Bundesländern hatten Strafverfolger zugesagt, mir für dieses Projekt unter Auflagen die Akten zu öffnen. Unsere Reise zu Hetzern und Hassern wird an weitere Orte in Sachsen führen, mit Eigennamen wie Hohenstein-Ernstthal oder Limbach-Oberfrohna. Zu Beschuldigten und ihren Rechtsbeiständen im niedersächsischen Emsland zwischen Lingen und Leer. Und in großstadtferne Amtsgerichte wie in Peine, Einbeck oder Bersenbrück.

Über fleckigen Dachschindeln unweit des Mainzer Doms sehe ich als erster Fernsehreporter einem verdeckten Ermittler des dortigen Verfassungsschutzes dabei zu, wie er die Kommunikationsnetze der regionalen Neonazi-Szene zu bunten Diagrammen kartiert, als entwerfe er Pop-Art-Tapeten. Zudem werde ich in Landeskriminalämtern und Staatsanwaltschaften auf Fachleute treffen, manche von ihnen voller Elan und Zuversicht, wie in Göttingen und Dresden, manche vorsichtig, wenn nicht sogar entmutigt, nach bitteren Erfahrungen mit einzelnen Amtsgerichten.

Tatsächlich waren es wenige aufsehenerregende Richtersprüche, die der öffentlichen Debatte um Hasskriminalität, wenn sie überhaupt geführt wurde, lange als Koordinaten dienten. Dann kam Sympathie auf für die Grünen-Politikerin Renate Künast, die im Jahr 2019 ein Urteil des Berliner Landgerichts hatte hinnehmen müssen, das nicht nur sie empörte. Darin waren Facebook-Nutzer vor Strafverfolgung geschützt worden, die sie als »Geisteskranke« oder »ein Stück Scheiße« verhöhnt hatten. Es sollte Jahre dauern, bis das Bundesverfassungsgericht die Richter rüffelte.

Pünktlich zum Bundestagswahlkampf 2021 sorgte schließlich ein Chemnitzer Urteil für Aufsehen, das ein Wahlplakat mit dem Aufdruck »Hängt die Grünen« für zulässig befand. Es hielt nur bis zur nächsten Instanz.

Aber auch die Justizkritiker erschienen nicht immer trittsicher, wenn man bedenkt, wie viel Raum nicht nur lokale Medien etwa der sogenannten »Pimmelgate-Affäre« um den Hamburger Innensenator widmeten, bevor sie für alle pennälerhaft peinlich endete. Über Wochen wurde dort der Polizei vorgehalten, dass sie auch gegen den Urheber eines Posts vorging, der den Politiker als »so ein Pimmel« verunglimpft hatte. Bis das Zitat als gesprühter Schriftzug in der ganzen Stadt auftauchte, als sei sie ein einziger Schulhof.

Das wahre Problem wuchs unterdessen im Verborgenen weiter, bis es schließlich eine Dynamik erreichte, die es, wie ein Zeitungskollege schrieb, mit dem Omikron-Pandemievirus hätte aufnehmen können. Ende 2021 ergibt eine europaweite Umfrage, dass über 90 Prozent der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 35 Jahren Hass und Hetze im Internet miterlebt haben. Jeder zweite von ihnen war demnach selbst betroffen.

Im Mai 2022 bestätigt das Bundeskriminalamt einen Höchststand an Straftaten mit politischem Hintergrund. Seit die Kategorie vor zwanzig Jahren eingeführt wurde, habe man dieses Niveau nicht erreicht. Über 55000 Delikte im Vorjahr, die größten Anteile davon entweder durch rechtsgerichtete Täter verübt oder von politisch bisher nicht zu verortenden Verschwörungsfantasten, für die zuletzt eigens das Segment »verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates« eingeführt worden sei.

Die Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger haben sich seit 2017 verdreifacht, auf nunmehr annähernd 4500. »Der Anstieg zeigt eine Verrohung und eine Verachtung von Staat und Demokratie«, sorgte sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser bereits zu Jahresbeginn. Die Hintergründe der Taten seien »vielfältiger und auch diffuser geworden«, ergänzt sie nun. Auch Anstiege bei antisemitischen und homophoben Delikten werden gemessen. Das BKA sieht die Demokratie in Gefahr, »wenn Menschen sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu äußern oder ein Amt zu übernehmen«.

Dabei haben die Behörden auch jene Aktivisten vor Augen, die zuletzt im Großraum Dresden auffielen, sei es durch nächtliche Fackelaufmärsche vor Privatwohnungen von Amtsträgern, sei es durch offene Drohungen im Netz bis hin zu Mordaufrufen.

Einem der Wortführer der dortigen Extremistenszene, dem Chemnitzer Anwalt und Vorsitzenden der Splitterpartei »Freie Sachsen«, Martin Kohlmann, werde ich auf meiner Reise ins Milieu der Hasser und Hetzer deshalb ebenfalls gegenübersitzen. Zumal es derselbe Martin Kohlmann ist, den sich unser Chemnitzer Tatverdächtiger als Rechtsbeistand aussuchte, nachdem er der Kanzlerin mutmaßlich den Tod im KZ gewünscht hatte.

Rechtsstaat bei der Arbeit

Warum diese Reise? Der Hauptgrund war mein Wunsch, Zuschauern und Lesern einmal eine ermutigendere Perspektive anzubieten, als die üblichen Alarmmeldungen dies tun. Dass Verschwörungswahn und Sprachverrohung in sozialen Medien gefährliche Ausmaße erreicht haben, wurde schon öfter berichtet. Ebenso bekannt ist, dass Big-Tech-Konzerne wie Facebook oder Twitter auf Algorithmen setzen, die Aggressionen eher schüren als mindern und den offenen Meinungsaustausch, mit dem sie werben, in absehbar polarisierte Lagerkämpfe treiben, die ihre Klick- und Verweilzahlen erhöhen und damit ihre Gewinne.

Auch die langwierigen Versuche der Bundesregierung, den Messengerdienst Telegram als Tummelplatz von Rechtsradikalen, Systemfeinden und Antisemiten zum Einhalten gesetzlicher Auflagen zu bewegen, ließen sich in der Presse verfolgen. Es gibt fundierte wissenschaftliche Analysen von Verschwörungsnarrativen, allen voran Fake Facts von Pia Lamberty und Katharina Nocun, politische Bestandsaufnahmen wie Matthias Quents Deutschland rechts außen und Erfahrungsberichte Betroffener, wie sie etwa die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger mit Gunna Wendt zusammentrug.

Es gibt aber auch Entwicklungen, die wir weniger wahrnehmen. Dem ARD-Film Hass im Netz: Unterwegs mit Strafverfolgern, der von Hausdurchsuchungen wie in Chemnitz bis zu verdeckten Online-Ermittlungen des Verfassungsschutzes den Alltag von Ermittlern abbildet, hielt der Autor und Justizexperte Ronen Steinke in der Süddeutschen Zeitung zugute, dass darin einmal der »Rechtsstaat at work« sichtbar geworden sei. Weil die Doku den Blick darauf gerichtet habe, »wie das juristische Instrumentarium gegen Hetzer endlich angewandt« werde. Denn das sei neu.

Genau so war der Film gemeint. Weil die Reise zu Hetzern und ihren Opfern, zu Anklägern, Verteidigern und Richtern mehr Begegnungen eröffnete, als der Film Platz bot, weil die Gespräche ausführlicher und oft intensiver waren und weil sich gerade die strittigen Gerichtsverfahren in höheren Instanzen fortsetzten, folgt auf die Fernsehdokumentation nun dieses Buch.

Es bietet zudem die Gelegenheit, auf Wahrnehmungen einzugehen, die zwar neuartig daherkommen, es aber nicht sind. Allein der Begriff »Fake News« beispielsweise, dem vor allem der abgewählte US-Präsident Donald Trump zu einer bedenklichen Popularität verholfen hat, bezeichnet nichts anderes als Lügen und Propaganda. Als solche nähren sie rasch Hass und Hetze. Anders aber, als Trump glauben machen möchte, stammen sie gerade nicht von Qualitätsmedien. Deshalb hat schon der Begriff selbst in den letzten Jahren wohl mehr vernebelt als entlarvt.

Glauben und glauben lassen

Empfindsam dafür haben mich nicht zuletzt die Korrespondentenjahre gemacht, in denen ich zuerst aus dem Fernen Osten und später aus Amerika berichtete. Nie werde ich etwa die Reisen durch Nordkorea vergessen, wo es passieren konnte, dass ich meine offiziellen Aufpasser auf schlangestehende Menschen hinwies und darum bat, sie ansprechen zu dürfen, nur um darauf unisono die Antwort zu erhalten, es seien nirgendwo Menschen zu sehen. Kaum etwas hat mich mehr irritiert, als dass mich nur drei beharrlich leugnende Begleiter schon nach Tagen dazu bringen konnten, an nahezu allem zu zweifeln, was ich gesehen hatte.

Jahre später war es der Washingtoner Medienprofessor und frühere CNN-Reporter Frank Sesno, der mir Studienergebnisse vorstellte, die ich bis heute hilfreich finde. Da ging es dann nicht mehr um die Zensurbemühungen eines Regimes, sondern um die freiwillige Selbstbeschränkung von Wählern auf eine liebgewonnene Wahrnehmung.

»Wir wissen, dass Menschen bei uns den Matratzenladen wechseln, wenn sie auf ihrem letzten Kauf schlecht schliefen«, sagte er. »Sie suchen sich auch einen anderen Wetterkanal, wenn ihnen der letzte nicht mehr zuverlässig erschien. Wir wissen aber noch nicht, ab wann sie auch ihre Wahrnehmung der Politik so mit der Wirklichkeit abgleichen. Wie weit sie längerfristig also auch da glauben, was sie glauben müssten. Oder doch lieber das, was sie nur glauben wollen.«

Tatsächlich ertappte ich mich gerade in den USA zuletzt häufiger bei der Frage, ob denn Menschen, die jeden Zugang zu allen erdenklichen Nachrichtenquellen haben, am Ende ähnlich ahnungslos sein können wie von Staatspropaganda desinformierte Nordkoreaner. Es ist verrückt: Wir könnten die bestinformierten Gesellschaften der Geschichte sein und scheinen zugleich anfälliger für Lug und Trug denn je.

Neu oder nur neu gekleidet?

Wohl kein US-Politiker hat zuletzt Filterblasen seiner Wählerschaft so sehr mit Hass genährt wie Trump. Er war es, der über Barack Obama das Gerücht streute, er habe, um Präsident werden zu können, seine amerikanische Geburtsurkunde gefälscht. Eine Lüge, die rechte US-Wähler schon glaubten, bevor mit Trumps täglichem Twitter-Sperrfeuer der Flächenbrand folgte. Der Zorn auf den Gegner ersetzte so endgültig die Argumente. Wer nicht Freund war, war nun Feind. Die Wahrheit verkam zur Loyalitätsfrage, bis zum beklemmenden Sturm der Trump-Fanatiker auf das Washingtoner Kapitol.

Doch auch die Filterblasen, in denen sich die Lager an eigenen Wahrheiten wärmen, sind nicht wirklich neu. Auch sie hießen in Vor-Twitter-Zeiten nur anders. Mal schreckten sie die Politik als auseinanderklaffende Parallelwelten auf. Mal benannten sie Soziologen als Milieus. Und beschrieben damit zunächst eine Banalität: Die Jugend dachte schon immer anders als die Eltern, Arbeitgeber anders als Gewerkschaften, das noble Westend anders als die städtischen Problembezirke, der Rest der Bundesliga meist anders als der FC-Bayern. Was also hat sich wirklich geändert?

Neu erscheint mir tatsächlich, wie dicht die digitalen Denkblasen sind. Milieus haben ihre Sprache, Zeitungen ihre Tendenz. Aber es gab immer die Chance, dass eine handwerklich gute Geschichte der taz am Ende auch die FAZ erreichte und umgekehrt. Einen Trumpisten jedoch wird keine Quelle der Welt an der eigenen Wahrheitsversion mehr zweifeln lassen. Und auch die von Kriegspropaganda getriebenen Anhänger Wladimir Putins dürften, wie wir seit dessen Überfall auf die Ukraine gelernt haben, kaum noch unabhängige Informationen erreichen.

Soziale Medien mögen in Diktaturen als alternative Nachrichtenquellen gerade jetzt noch immer hilfreich sein. In freien Gesellschaften schienen sie Denkblasen eher noch abzudichten. Für Trumpisten war dann eben auch der Oberste US-Gerichtshof, der Trumps Lüge von seiner angeblich gestohlenen Wiederwahl nicht folgte, Teil einer Verschwörung.

Wesentlich für die Tatsache, dass uns auch hierzulande solcher Verschwörungswahn derart verunsichert, scheint mir aber noch etwas anderes. Etwas, das nicht neu oder neu gekleidet hinzukam, sondern etwas, das der Mehrheit im Lande offenbar verloren ging. Etwas, das wir an jenem Septembermorgen in dem Chemnitzer Mietshaus miterleben konnten: Routine.

Die Routine im Umgang mit Straftaten. Die Routine des Rechtsstaats. Routine gegenüber Propaganda, Lügnern und Sektierern, die sich von keiner Vernunft der Welt mehr überzeugen lassen.

In Zeiten, in denen selbst Wirrköpfe Gehör finden, die unsere Erde wieder für eine Scheibe halten, in denen sich die wohlmeinende gesellschaftliche Mehrheit angewöhnt hat, für jedes Fehlverhalten zuerst die Verantwortung bei sich selbst zu suchen, und in denen im UNO-Sicherheitsrat noch die bittersten Gewissheiten über Kriegsgräuel durch ein Veto der Tätermacht in Abrede gestellt werden, in solchen Zeiten schien mir dieser Blickwinkel hilfreich.

Da im Berufsalltag von Polizei und Justiz bekanntermaßen auch böswillige Menschen vorkommen, hatten Ermittler, Ankläger und Richter notorischen Konsensromantikern den nüchternen Blick auf die reale Welt schon immer voraus. Warum also nicht deren Sicht einmal teilen, anstatt noch angesichts des abwegigsten Irrlichts vor gesellschaftlicher Spaltung zu warnen? Allemal dann, wenn gerade dank aufmerksamer Strafverfolger tatsächlich am Ende das Gute gewinnt. Der freiheitliche, aber wehrhafte Rechtsstaat nämlich. Der »Rechtsstaat at work«.

Wann haben wir diese Routine bloß verloren? Niemand kam am Zeitungskiosk, wo nicht nur taz und FAZ ausliegen, zu dem Schluss, dass er als Leser etwas falsch machte, nur weil andere den Bayernkurier bevorzugten, die Junge Welt oder den Wachtturm. Niemand sorgte sich über Gebühr vor Sekten. Auch weiß man seit Jahren, dass das Leugnen des Holocaust unter Strafe steht, ohne dass deshalb jemand ernsthaft elitäre Bevormundung beklagte.

Bei all dem gab es Routine. Im digitalen Raum aber, den die dafür viel belächelte Kanzlerin einmal »Neuland« nannte, gibt es sie bis heute nicht. Zu jeder noch so kruden angeblichen Weltverschwörung gesellt sich dort nicht nur absehbar eine anfällige Anhängerschaft, sondern auch die wohlwollende Mahnung Dritter, man solle doch auch jene Netznutzer ernst nehmen, dürfe sie nicht ausgrenzen und müsse vielmehr klären, warum sie sich offenbar abgehängt und vernachlässigt fühlten. Keinen freiheitlichen Rechtsstaat würden wir als solchen anzweifeln, weil er Straftaten ahndet und Haftanstalten unterhält. Im Netz dagegen ist noch immer die Annahme verbreitet, allein zügellose Anarchie garantiere hinreichend Freiheit. Gut möglich also, dass die scheidende Kanzlerin so falsch gar nicht lag.

Alarmismus statt Analyse?

Auch die bemerkenswerte Karriere, derer sich eben die Metapher von der angeblich gespaltenen Gesellschaft zuletzt in Titelzeilen und Talkrunden erfreute, scheint mir eine Folge dieses Routine-Verlustes. Schon in Obamas erstem Amtsjahr fiel mir auf, wie gern manche Berichterstatter auf das Bild zurückgriffen, um ja dem Vorwurf zu entgehen, sie seien nicht neutral. Mochte der neue US-Präsident noch so skandalfrei und um Aufrichtigkeit bemüht die Supermacht führen: Der Vorwurf, er sei elitär und seine Politik spalte das Land, verhalf zur gefühlt ausgewogenen Berichterstattung.

 

Mit Blick auf das amerikanische Zwei-Parteien-System mag dies als Wahrnehmung noch erklärlich sein. Inzwischen vergeht aber auch hierzulande kaum ein Nachrichtentag, ohne dass Lobbyisten, Verbandsfunktionäre und auch die Berichtenden selbst vor verhängnisvollen Aufspaltungen warnen, ganz so, als trenne eine mittig sichtbare Kerbe mindestens die Nation.

Da aber in Demokratien Gesetze selten einstimmig auf den Weg gebracht werden, hätten nach gleicher Logik auch die Gurtpflicht in Autos und die Helmpflicht für Mopedfahrer Deutschland gespalten. Lehrer müssten im Geografieunterricht auch eben die These würdigen, wonach die Erde eine Scheibe sei. Und Björn Höcke säße wieder in Talkshows.

Glücklicherweise verloren sich weder die junge Dresdner Staatsanwältin in derlei Selbstzweifeln noch ihre Ermittler-Kollegen in Göttingen und Mainz, die ich besuchte. Stattdessen machen sie sich Tag für Tag an ihre Arbeit, um geltenden Gesetzen Achtung zu verschaffen. Ebenso wie die Chemnitzer LKA-Beamten, die an jenem Morgen ihrem Mitbürger, der den Zeiten des Führers nachtrauert, den Volksverhetzungsparagrafen darlegen. Und der Ermittlungsrichter, der dem zuvor stattgegeben hat.

Deren Perspektive einzunehmen, ja in der verunsicherten Öffentlichkeit dafür zu werben, schließt kritische Distanz und die Selbstverpflichtung zur Nachfrage nicht aus, im Gegenteil. Genau deshalb bin ich Reporter geworden: weil ich fand, dass es in der Welt mehr Fragen als Antworten gibt.

Da lag es nahe, lieber die Fragen zu stellen. Und das tue ich denn auch, in allen Gesprächen dieser Reise.

Coolness gegen Überhitzung

Dass ich als Journalist derart gute Zugänge zur Justiz erhielt, hatte ich nicht wirklich erwartet. Üblicherweise lehnen Strafverfolger Presseanfragen mit knapper Begründung ab. Laufende Ermittlungen, Persönlichkeitsschutz, Vorbehalte der Dienstvorgesetzten.

Hier aber zeigte sich in Vorgesprächen bald, dass die teils neuen Ermittlungseinheiten das gleiche Ziel hatten wie ich: Aufklärung und Prävention in einer bisher vernachlässigten Umgebung. Die Täter sollen lernen, dass Rassenhass und Hetze, Verleumdungen und Drohungen nicht nur draußen auf dem echten Marktplatz bestraft werden, sobald sich dafür Zeugen und Belege finden, sondern auch in ihrer digitalen Zweitwelt.

Mein Eindruck während dieser Reise wuchs, dass nach den Anklägern auch die Richterschaft sich erkennbar um einen klaren Kurs bemüht. Jedenfalls reichte die Zeit, die ich in Justizkreisen für Film und Buch unterwegs war, nicht nur für eine erkennbare Kehrtwende in einem maßgeblichen Fall. Von der ersten amtsrichterlichen Auslegung, wonach ein Netzwerknutzer, der einem Menschen eine Kugel ins Hirn wünscht, auch ein friedfertiges Wachrütteln gemeint haben könnte, bis zur rechtskräftigen Klarstellung, dass Kopfschüsse Menschen gemeinhin töten. Mehr Klartext im Gerichtssaal geht nicht.

Auch sollte ich die Wandlung eines Generalstaatsanwaltes miterleben, der in unserem ersten Treffen noch zur Zurückhaltung mahnt, damit Rechtsradikale nicht auch noch bedenkliche Siege im Gerichtssaal davontrügen. Und schon mehrere Monate und zwei Todesfälle später öffentlich ankündigt, künftig auch schon simple »Likes« unter Mordaufrufen zur Anklage zu bringen.

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Sachsens Rekordschreiber

Das Gesetz gegen Hass im Netz zeigt Wirkung

Als ich im Gebäudekomplex der Dresdner Generalstaatsanwaltschaft und des benachbarten Landeskriminalamts im Frühjahr 2021 die Strafverfolgerin Nicole Geisler erstmals zum Interview treffe, liegt der sächsische Landesrekord in Sachen Hetze bei zwei prall gefüllten Leitz-Ordnern. Darin hat die Ermittlerin die mutmaßlich strafbaren Online-Zitate eines einzigen Nutzers abgelegt, viele davon rot gerahmt, mit Datum, Uhrzeit und Quellen, von der Chatgruppe »Der Islam gehört niemals zu Deutschland & Europa« bis zur Nutzerrunde »Deutsche Freunde Wladimir Putins«.

Der beschuldigte Vielschreiber verfasste beispielsweise am 24. März 2017 um 18:45 Uhr innerhalb der Gruppe »Unser Deutschland patriotisch & frei« den Facebook-Kommentar über Migranten: »Es sind Neandertaler Stinkent faul. Abschaum der Menschheit.« Da die Ermittlungsakten Zitate originalgetreu einschließlich Tipp- und Grammatikfehler wiedergeben, fällt beim Lesen schon mal auf, wie freihändig die Patrioten mit deutschen Rechtschreibregeln umgehen. Um die Abschriften anzufertigen, schalten Beamte oft eigens die Korrektursoftware ab.

Seit einem knappen Jahr ist Staatsanwältin Geisler die Ansprechperson für netzbasierte Hasskriminalität in Sachsen. Gut für uns: Sie spricht fließend juristisch und dennoch allgemeinverständlich. Wer versucht ist, sie wegen ihrer Stimme und Statur als jugendlich wahrzunehmen, korrigiert das, sobald sie die Aktenwälzer ihres Tatverdächtigen auf den Besprechungstisch knallt.

»Das Ermittlungsverfahren steht kurz vor dem Abschluss«, erklärt sie mir lächelnd den Sachstand. »Der Beschuldigte wurde eindeutig als Tatverdächtiger identifiziert. Ich beantrage jetzt einen Strafbefehl beim zuständigen Richter.«

Kurz darauf verlässt das Papier ihren Drucker. Sitz des Amtsgerichts, dem der Strafbefehl zunächst zugeht, ist die Kleinstadt Hohenstein-Ernstthal, eine gute Autostunde entfernt. Unter dem Aktenzeichen Cs 382 Js 21/20 reichen die Tatvorwürfe von Aufforderung zu Straftaten nach Paragraf 111 bis zu Volksverhetzung nach Paragraf 130 des Strafgesetzbuches. Als Strafhöhe hat die Staatsanwältin 130 Tagessätze angesetzt. Bei 25 Euro Tageseinkommen des Tatverdächtigen wären das 3250 Euro. Wenn das Amtsgericht zustimmt.

Aufgefallen war der 64-Jährige durch einen Hasskommentar, der dem flüchtlingsfreundlichen hessischen Landespolitiker Walter Lübcke galt, als dieser noch lebte. »Erschlagen, den Verbrecher«, polterte der Facebook-Nutzer von seinem Wohnzimmer aus. Er war damals nicht der Einzige, der mit Mordfantasien gegen den Kasseler Regierungspräsidenten hetzte, seit dieser die Asylpolitik der Kanzlerin offen befürwortet hatte. Die rechten Netz-Foren waren voll davon. Im Sommer 2019 fand sich denn auch ein Vollstrecker all der Aufrufe, der Lübcke vor dessen Wohnhaus regelrecht hinrichtete, per Kopfschuss aus nächster Nähe.

Für das Bundeskriminalamt war das Attentat Anlass, die sozialen Medien rückblickend nach Tataufforderungen zu durchkämmen, nun, da nach den zahlreichen Übergriffen, die das Land schon zuvor erschüttert hatten, erstmals ein Politikermord gefolgt war. Und damit, für die Öffentlichkeit klarer als je zuvor, eine erschreckend sichtbare Tat auf viele lesbare Worte. An einem sogenannten Aktionstag gegen Hasskriminalität im Netz, den das BKA von da an jährlich durchführen sollte, verfing sich so auch der Vielschreiber aus dem sächsischen Limbach-Oberfrohna im Suchraster der Wiesbadener Fahnder.

Menschen und Muslime

»Die Auslesung des Laptops, den wir bei der Hausdurchsuchung sicherstellten, hat dann über dreihundert weitere strafrechtlich relevante Hasskommentare ans Licht gebracht«, erklärt uns die Staatsanwältin, während sie die Akte durchblättert. Fotos, die das Polizei-Team am Durchsuchungsort aufnahm, zeigen den aufgeklappten Computer auf dem Wohnzimmertisch, das gesicherte »Mobiltelefon der Marke ›emporia‹«, Fernseher, Schrankwand, Polstersessel. Ein Schauplatz, wie er sich unter deutschen Dächern millionenfach findet.

»Es hat sich dann zudem herausgestellt, dass die Hasskommentare zu jeder Uhrzeit abgesetzt worden waren«, fährt die Strafverfolgerin fort, »sowohl früh am Morgen als auch am Nachmittag, am Abend und in der Nachtzeit.«

Weitere rotgerahmte Zitate erlauben Einblicke in die Gedankenwelt des Beschuldigten. Über Migranten schrieb er im April 2017 beim Morgenkaffee die vernichtende Zeile: »Keine Menschen, Muslime eben«. Am 11. Februar 2018 fand er um 01:56 Uhr in der Chat-Gruppe »Gegen die Islamisierung Deutschlands«, dass »Deutsche vor den Schutzsuchenden« selbst »Schutz suchen müssen«.

Zwei Tage später fügte er in der Facebook-Gruppe »Gegen die Islamisierung Deutschlands« hinzu: »Das ist eine von den zwei Sachen die ein Muslim super kann. Jammern und Weltweit Terror verbreiten. Was für ne kranke Bagage«. Unter einem Foto, das die AfD verbreitet hatte, forderte er, der »Staatsschutz sollte also gegen unsere Irren Politiker ermitteln.« Minuten später dann, in der Gruppe »Sei schlau, wähle blau. AfD wirkt«, klagte er, die »Polizei traut sich nichts mehr gegen diesen Abschaum zu unternehmen«.

Wie im Strafrecht vorgesehen gab Staatsanwältin Geisler dem Beschuldigten Gelegenheit, sich zu den Ermittlungsergebnissen zu äußern. »Ich habe ihm umfassend dargelegt, um welche Kommentare und Tatvorwürfe es geht«, sagt sie, »und ihm mitgeteilt, dass er darauf innerhalb von zwei bis drei Wochen antworten könne.«

Tatsächlich enthält die Akte einen danach eingegangenen handschriftlichen Brief, in dem sich der Schreiber, wie sie zitiert, »erschrocken« über sich selbst gezeigt habe. »Ich bin schockiert darüber«, liest sie vor, »was ich für einen Scheiß verzapft habe.« Er habe sich wohl »mit zu vielen falschen Gruppen im Netz reinsteigern lassen«, entschuldigte er sich. Und kündigte an, er werde »nichts schönreden« und auch keinen »Anwalt mit meiner Blödheit belasten«.

Ob die Reue echt ist oder nur vorgespielt, um das Strafmaß zu senken, mag die Staatsanwältin nicht deuten. Dass ein Täter persönlich antworte, sei allerdings ungewöhnlich, sagt sie uns.

»In meinem Alltag kommt es eher vor, dass sich die Personen nicht äußern. Oder sich in der Tat einen Anwalt nehmen, der dann Akteneinsicht beantragt und entweder eine juristische Einlassung verfasst oder sich gar nicht zu den Tatvorwürfen äußert und es gleich auf eine Hauptverhandlung ankommen lässt.«

Um mehr von dem Beschuldigten zu erfahren, sowohl über seine Zeit als Vielkommentierer in rechten Chatgruppen als auch über seine vorgebliche Reue, bitte ich die Staatsanwältin, ihm eine Nachricht zu übermitteln. Darin schlage ich ihm vor, dass er auch mir schildert, wie es zu alldem kam. Vielleicht wolle er ja die Gelegenheit nutzen, auch andere von Straftaten abzuhalten, deren Verfolgung das Gesetz gegen Internet-Hetze nun leichter macht. Anonymität vor der Kamera sichere ich zu. Womöglich, deute ich an, wirke sich ein solcher Appell an seine alten Chat-Gefährten für ihn sogar noch strafmildernd aus.

Gesetz mit Stolperstart

Die jährlichen Aktionstage des Bundeskriminalamts beginnen etwa zeitgleich mit den Bemühungen des Bundestages, den Kampf gegen Hass und Hetze im Netz auch als Gesetzgeber zu flankieren. Unter dem sperrigen Namen »Netzwerkdurchsetzungsgesetz« bringt das Parlament von Oktober 2017 an mehrere Beschlüsse auf den Weg, alle mit dem Ziel, strafbare Inhalte, darunter auch Falschnachrichten, auf den Plattformen sozialer Netzwerke wirksamer zu bekämpfen als bisher.

Die Tatbestände, um die es geht, reichen wie im Falle des sächsischen Beschuldigten von Verleumdung und Beleidigung bis zu Volksverhetzung und öffentlicher Aufforderung zu Straftaten. Vor allem Kommunalpolitiker will das Parlament besser vor Übergriffen schützen. Herabwürdigungen und Drohungen im Netz soll das Gesetzespaket künftig sogar schärfer ahnden als etwa in herkömmlichen Briefen, da Inhalte im Netz länger auffindbar blieben und geteilt werden könnten.

Auch sollen die Betreiber sozialer Netzwerke endlich gezwungen werden, sich um Nutzerbeschwerden zu kümmern und den Aufsichtsbehörden dafür sogenannte Zustellungsbevollmächtigte im Inland zu nennen. Bei Verstößen gegen die Auflagen drohen Bußgelder bis zu 50 Millionen Euro. Zahlreiche Bundesländer richten für Ermittlungen im Zuge des Gesetzes Sonderstaatsanwaltschaften ein.

Von Februar 2022 an müssen Plattformbetreiber mutmaßlich strafbare Inhalte zudem nicht mehr nur löschen, sondern mitsamt der IP-Adresse an eine neue Zentralstelle beim Bundeskriminalamt melden. Dieses soll dann die Beschuldigten identifizieren und die Daten an Strafverfolger in den Bundesländern weiterreichen, zumindest solange kein Kläger diese Praxis stoppt. Das Landeskriminalamt Mainz hält so pro Jahr bundesweit 250000 Meldungen für möglich.

Dass die Pläne teilweise auf eine hartnäckige Wirklichkeit treffen, offenbart sich schon, als aus dem Messengerdienst Telegram Hassnachrichten bekannt werden, die bis zu neuen Mordaufrufen gegen Politiker reichen.

Telegram-Nutzer frohlocken dazu mit Kommentaren wie »Brutal muss sein«.