Lache Bajazzo - Artur Hermann Landsberger - E-Book

Lache Bajazzo E-Book

Artur Hermann Landsberger

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Beschreibung

Carl Holt braucht die Einsamkeit der Berge und die Ruhe vor seiner Familie. Nur in der ländlichen Abgeschiedenheit kommen die Ideen für seine Stücke. Aber an diesem Abend muss er auf die Bühne des Berliner Theaters – das Publikum rast nach der Premiere seines neuen Stückes. Es ist der Durchbruch des bis dahin noch unbekannten Dichters. Zu seinem Entsetzen hört er, wie Verleger und die Leitung des Theaters mit unlauteren Mitteln den Erfolg noch steigern – sie wittern das große Geschäft mit ihm. Angeekelt will er nur noch unter einfachen Menschen sein, die sich geben wie sie sind, und wenn es Dirnen oder Verbrecher sind. Sein Freund Werner überlegt nicht lange – es geht in die Spelunke "Zum schwarzen Ferkel". Der Abend wird sein Leben für immer verändern. Unter dem Gejohle der Zuschauer singt die schwarze Agnes mit einer Lieblichkeit und Anmut, dass es um Carl geschehen ist. Alles wird sie ab jetzt von ihm bekommen, bis aus seinem Leben fürs Theater eine Schmierenkomödie wird, die das, was ihm einmal lieb war, zerstört.-

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Artur Hermann Landsberger

Lache Bajazzo

Ein moderner Hexensabbath

Roman

Saga

Ebook-Kolophon

Artur Hermann Landsberger: Lache Bajazzo. © 1916 Artur Hermann Landsberger. Originaltitel:. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2015 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2015. All rights reserved.

ISBN: 9788711488478

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com - a part of Egmont, www.egmont.com.

Dem Andenken Sigmar Mehrings

Erstes Buch

„Das Leben insgesamt ist des grossen Ernstes nicht wert. Trotzdem ...“

(Plato – Nietzsche)

Erster Teil

Erstes Kapitel

Die Schlussszene des letzten Aktes ging zu Ende. Euphorion lag tot in Helenas Armen. Von Schmerz zerrissen klagte die Mutter. Faust nahm das Kind und bettete es unter Blumen, die wie das ewige Leben rings emporblühten. Dann trat er wieder an Helena heran. Der gleiche Schmerz einte beide. Faust und Helena standen umschlungen. Mächtig klang das Lied der Liebe, die Welt und Zeiten überdauert.

Ergriffen sassen die Hörer. Schwer lag auf allen der gewaltige Eindruck.

Vor Helena und Fausten, die jetzt die hingebende Liebe selbst schienen, senkte sich der Vorhang.

Das Publikum blieb unbeweglich. Die Erhabenheit dieser Liebe und ihr gewaltiger Ausdruck nahmen ihm den Atem.

„Schlafmütze!“ brüllte Faust, als der Vorhang eben gefallen war, Helena an.

„Blödian!“ erwiderte Helena wütend.

„Zweimal hast du mir das Stichwort wieder falsch gebracht.“

„Und zweimal bist du wieder von der falschen Seite aufgetreten.“

„Schlamperei!“ rief Faust.

„Grobian!“ erwiderte Helena.

Der Bann, der auf den Hörern lag, löste sich; man atmete tief auf, räusperte sich, bewegte die Füsse, rückte sich zurecht – dann brach ein Sturm des Beifalls durch das Haus.

„Vorhang auf!“ brüllte der Regisseur, und die schweren seidenen Portieren rauschten auseinander.

Im selben Augenblick lagen sich Faust und Helena wieder in den Armen. Wieder schienen sie die hingebende Liebe selbst. Wieder sassen die Menschen ergriffen und klatschten Beifall.

Das dauerte etwa zehn Sekunden. Dann gab der Regisseur ein Zeichen. Der Vorhang schloss sich und das Bild verschwand.

Das Publikum klatschte.

„Estella von Pforten!“ schrien die meisten.

„Blöde Gesellschaft!“ schalt Faust verächtlich hinter dem geschlossenen Vorhang und trat ab.

Estella von Pforten aber, die im bürgerlichen Leben Mieze Krüger hiess, raffte ihr griechisches Helenagewand auf und schwebte nach vorn. „Vorhang auf!“ schrie sie erregt, und da es ihr nicht schnell genug ging, so brüllte sie wütend in die Kulissen: „Verdammte Schlamperei!“

Im selben Augenblick öffneten sich die Portieren und Helena, alias Mieze Krüger, erschien und verbeugte sich. Sie tat ergriffen und erschöpft, zwang sich ein paar Tränen in die Augen und schwankte geschickt in den Knien, so dass man glaubte, sie müsse jeden Augenblick zusammenbrechen.

Sie tat es nicht.

Aber das Publikum raste. Teils in Bewunderung, teils aus Anteilnahme. Tränen flossen, Blumen flogen. „Hoch Estella von Pforten!“ riefen Hunderte von Stimmen.

Mieze Krüger war gerade entschlossen, in Ohnmacht zu fallen, als vom ersten Rang her grell eine Stimme nach dem Dichter rief. Andere folgten, und schon hielten sich die Rufe nach Estella und dem Dichter die Wage.

Kaffern! dachte Mieze Krüger, und auf Helenas Stirn zeigte sich eine Falte.

In den Kulissen wurde jetzt für einen Augenblick der Schoss eines Gehrocks sichtbar.

Das genügte, um den Ruf nach dem Dichter zu verhundertfachen.

Und es erschien die Hälfte eines hochgewachsenen Mannes, der, wie es schien, nicht ganz sicher stand, immer wieder zurück hinter die Kulissen strebte, jedoch von irgendeiner Kraft, die man nicht sah, ständig nach vorn getrieben wurde.

Mieze Krüger übersah sofort die Situation. Erschien jetzt der Dichter, so teilte sie Faustens Los und war ausgeschaltet. Des Dichters Erscheinen aber liess sich nicht mehr verhindern. Also entschloss sie sich zu einem Kompromiss. Mit würdevollen Schritten ging Helena auf den Gehrock zu, streckte mit königlicher Gebärde den Arm nach ihm aus und zog – den Dichter, der wie im Traume alles mit sich geschehen liess, auf die Bühne. Sie stellte ihn vorn an die Rampe, wo sie eben noch gestanden und ihren Triumph gefeiert hatte, auf, liess ihn los und wies mit grosser Geste, unter der sie ihren Groll verbarg, auf ihn als den, dem allein alle Ehren gebührten.

Das brachte ihr und dem Dichter neuen Beifall; erhöhte aber zugleich ihre Beliebtheit.

Zehnmal noch öffnete sich der Vorhang und schloss sich wieder; zehnmal noch wiederholte Helena Krüger, die längst an keine Ohnmacht mehr dachte, ihre Gebärde. Und der Dichter stand und verbeugte sich, fortgesetzt, in denselben Zwischenräumen, gleichviel ob der Vorhang auf oder geschlossen war.

Ihm war zumute, als wäre es Nacht und er stände am Meer, dessen dunkle Wellen ihm unaufhörlich entgegenrollten. Und so oft sich der Vorhang schloss, glaubte er sich in die Tiefen gezogen, seine Knie zitterten, in seinen Ohren brauste es und mit jedem Augenblick deutlicher fühlte er das Bewusstsein für das schwinden, was eigentlich mit ihm vorging.

Der Vorhang hatte sich längst zum letzten Male geschlossen, Faust war bereits auf dem Wege zu seinem Stammtisch, von Helena fielen eben mit Hilfe der Garderobiere die letzten Reste königlicher Würde – da stand der Dichter noch immer, blass wie der Tod, auf der Bühne und verbeugte sich.

*

In der Direktionsloge reichten sich Brand Vater und Sohn die Hände.

„Wir haben ihn durch!“ sagte der Alte, und der Sohn, dem Jugend, Leidenschaft und Verstand in den Augen stand, strahlte über das ganze Gesicht und sagte:

„Endlich!“

Sie stürzten zur Bühnentür und liefen die Treppe hinauf. Oben an der Estrade lehnte der Direktor und nahm die Glückwünsche seiner Freunde entgegen. Je nach ihrer Stellung und ihrem Einfluss gab er ihnen die Hand und dankte ihnen oder er lächelte nur und sagte garnichts.

Als Brands an ihm vorüberkamen, rief er ihnen zu:

„Das gibt hundert ausverkaufte Häuser.“

„Also??“ fragte der Alte und blieb stehen. Der Direktor ging auf ihn zu.

„Falls Sie mir Holtens nächstes Stück zur Uraufführung überlassen, bringe ich bis zum Frühjahr nächsten Jahres seine sämtlichen Dramen heraus.“

„Wieviel Prozente?“

„Zehn.“

„Besetzung?“

„Bestimmen Sie, Holten und ich.“

„Wer entscheidet?“

„Ich, als der Direktor.“

Brand schüttelte den Kopf.

„Dann Sie, der Verleger!“

„Lassen Sie mich raus, Holten muss allein entscheiden,“ erklärte Brand.

„Mir auch recht!“ sagte der Direktor und streckte dem Alten die Hand hin.

„Einverstanden!“ sagte Brand und schlug ein.

Dann nahm er seinen Sohn unter den Arm und verschwand mit ihm hinten im Bühnenraum.

Der eiserne Vorhang schloss sich eben.

„Wo ist der Dichter!“ rief er dem Maschinenmeister zu.

„Keine Ahnung,“ erwiderte der, „ich habe ihn zuletzt auf der Bühne gesehen.“

„Werner,“ sagte Brand zu seinem Sohne, „sieh auf der Bühne nach, ich warte hier.“

Auf der Bühne war es fast dunkel. Nur durch die seitwärtigen Kulissen fiel ein matter Lichtschein auf die Bühnenlandschaft, die jetzt echter wirkte als zuvor im Lichte der unzähligen Glühkörper.

Gespensterhaft hob sich von der Landschaft der Schatten eines Mannes ab, der, die Augen weit aufgerissen, vor sich hinstarrte, scheu den Kopf zur Seite wandte und sich zu orientieren suchte.

„Holten!“ rief Werner und stürzte auf die Gestalt zu, „wo steckst du denn?“ Dann ergriff er seine beiden Hände, schüttelte sie kräftig und sagte: „Tiefer hat keine Dichtung in den letzten Jahren gewirkt.“

Holten sah ihn mit verträumten Augen an.

„Bist du’s, Werner?“ sagte er und erwiderte den Druck seiner Hände. „Gut, dass du kamst. Meine Gedanken, die waren, scheint’s ...“ und dabei fuhr er sich mit der Hand über die Augen; „du meinst also, es wird ...“

„Es ist!“ rief Werner. „Ja, Holten, du bist ja wieder in einer ganz anderen Welt! So wach doch auf! Du hast einen beispiellosen Erfolg gehabt.“

„Das also war’s!“ sagte Holten. „Ich hatte mich verloren. Der Lärm und die Menschen. Du verstehst, wenn man aus seinen Bergen kommt!“

„Ich verstehe dich,“ erwiderte Werner. „Aber du musstest einmal aus deinen Bergen heraus. Dreissig Jahre kennt man nun den Dichter Holten, ohne etwas von dem Menschen zu wissen.“

„Also ein Erfolg!“ wiederholte Carl noch immer verträumt und schüttelte den Kopf. „Wie sonderbar!“

„Ich habe das gewusst!“ sagte Werner. „Ich hätte dich sonst nicht aus deiner Bergeinsamkeit gerissen, wo ich wusste, was für eine Ueberwindung dich das kostete!“

„Mit dir, Werner, ist der gute Stern in mein Leben getreten!“ sagte Carl und drückte ihm die Hand: „Ich hatte es im Gefühl, als du das erstemal bei uns da oben warst.“

„Wenn es doch so wäre!“ sagte Werner. „Ich wäre glücklich.“

Und Carl, der sich nun ganz wieder in die Welt der Tatsachen zurückgefunden hatte, sagte nochmals:

„Also ein Erfolg! Ich hätte es nicht geglaubt. Als ich zu Beginn des Abends all die aufgeputzten Menschen sah, da hätte ich mich am liebsten auf und davon gemacht. Ich hielt es nicht für möglich, dass es einen Zusammenhang zwischen ihnen und meinem Werke geben könne. – Und darauf, auf das Sich-einfühlen kommt ja am Ende alles an.“

„Hallo! Kommt ihr endlich?“ rief der alte Brand und polterte auf die Bühne. Er klopfte Carl auf die Schultern und sagte: „Alter Junge! Jetzt ist das Eis gebrochen. Von heute ab gibt’s nicht nur einen berühmten Romancier Carl Holten, sondern auch einen berühmten Dramatiker dieses Namens.“

„Du glaubst das wirklich?“ fragte Carl und sah ihn mit erstaunten Augen an.

„Kind, das du bist!“ erwiderte Brand. „Nach einem derartigen Erfolge würde jeder andere an deiner Stelle erwarten, dass alle Welt vor ihm auf die Knie fiele und Hosianna riefe. Statt dessen stehst du da, träumend und befangen, wie eine Kommunikantin nach dem Abendmahl.“

„Es liegt in alledem auch etwas Wunderbares,“ sagte Carl.

Im selben Augenblick hörte man laut die Stimme des Direktors.

„Also nicht vergessen, Fräulein von Pforten, mit Rücksicht auf den Abendschoppen und den Appetit des Publikums fällt von morgen ab die ganze zweite Szene des ohnehin zu langen dritten Aktes fort.“

Und Fräulein Krüger erwiderte:

„Dazu hat man sich nun wochenlang das dumme Zeug in den Schädel gequält.“

Der alte Brand lachte laut auf, aber Werner sah das Entsetzen in Carls Gesicht.

„Das redet die dumme Person ja nur so dahin, ohne sich was dabei zu denken,“ sagte er teilnahmsvoll.

Aber Carl war zumute wie einem Priester, der mit ansehen musste, wie man das Allerheiligste entweihte. Und dass die Schändung von dem ausging, dessen Obhut es anvertraut war, vertiefte den Schmerz.

„Helena!“ sagte er traurig vor sich hin; und das schöne Bild, das er sich in seinem Geiste errichtet, das er Monate mit sich herumgetragen hatte und das hier zur Wirklichkeit erwacht war, brach zusammen.

„In die Luft!“ entschied der alte Brand – „unter fröhliche Menschen!“

„Nur das nicht!“ wehrte Carl ab. „Nur keine Menschen; ich habe genug!“

„Glaubst du etwa,“ fragte Brand, „wir werden dich in dieser Verfassung allein lassen?“

„Ich will nach Haus!“ erwiderte Carl.

„Morgen mittag, wie vereinbart; nicht eine Stunde früher. Erstens gibt’s morgen noch tausenderlei Geschäftliches zu erledigen.“

„Damit verschon’ mich!“ bat Carl.

„Gut, aber heute abend gehörst du der Welt und wirst dich feiern lassen.“

„Unter gar keiner Bedingung!“ erklärte Carl.

„Du wirst es!“ entschied Brand, „und zwar bitt’ ich mir aus, dass du zu allem, was man dir sagt, ein freundliches Gesicht machst; auch wenn dir manches übertrieben und unwahr erscheint.“

Carl sah ihn hilflos an und seufzte.

„Du bist das deinem Erfolge schuldig,“ fuhr Brand fort. Und war seine Sprache auch bestimmt und liess sie auch keinen Widerspruch aufkommen, so zeigte die Wärme seines Tons doch deutlich, dass aus ihm nichts anderes als Sorge und Interesse für den Dichter sprach.

„So ein Erfolg hat auch seine unangenehmen Seiten,“ vermittelte Werner.

„Und das muss wirklich sein?“ fragte Carl, als er an Brands Seite die kleine Treppe, die von der Bühne zur Garderobe führte, hinabstieg.

„Ich kenne dich,“ sagte der Alte, „und nehme auf deine Wesensart jede Rücksicht. Unbequemlichkeiten aber, die zur Ausnutzung deines Erfolges nötig sind, musst du dich unterziehen.“

Ein Theaterdiener kam ihnen entgegen.

„Der Herr Direktor lässt sagen, dass er in seinem Auto am Bühnenausgang auf Herrn Holten wartet.“

Carl, dem man ansah, wie ungern er dieser Aufforderung folgte, sagte:

„Ich komme.“

Vor dem Bühnenausgang hatte sich eine grosse Menschenmenge angesammelt. Als Holten an der Seite der beiden Brands, weniger in Gedanken an seinen Erfolg als voller Unbehagen vor der Feier, die ihm bevorstand, aus dem Theater trat, brach die Menge in lauten Jubel aus.

„Hoch Holten! Bravo! Hoch!“ riefen Hunderte von Stimmen, und alles drängte an ihn heran, schwenkte Hüte und Tücher und sperrte den Weg zu seinem Wagen.

Auch Werner stimmte in den Jubel ein. Der alte Brand, der ein paar Schritte auf die Treppe hin zurücktrat, sah schmunzelnd auf die Menschen, die sich in immer grössere Ekstase schrien.

Carl stand erfreut da, nahm verlegen den Hut ab, nickte schüchtern wie ein Kind und hätte doch am liebsten jeden Einzelnen an sein Herz gedrückt.

Plötzlich packten ihn ein paar junge Leute unter die Arme und hoben ihn zur Freude aller anderen in die Höhe.

„Reden!“ rief eine kräftige Stimme, und der alte Brand schüttelte teilnahmsvoll den Kopf und dachte: Armer Holten.

Der aber fühlte sich, obschon seine Lage reichlich unbequem war, wie in den Olymp gehoben.

„Ruhe!“ riefen viele Stimmen – der Lärm brach, wie durchschnitten, plötzlich ab – und Carl Holten sprach:

„Ich bin zu bewegt, um viel zu sagen. Aber ich bin sehr glücklich – und danke Ihnen.“

Wieder erhob sich lauter Jubel, und sie trugen ihn durch die Menschen hindurch zu dem Auto des Direktors, der gelangweilt in seinem Wagen lehnte und über eine zweite Besetzung des heutigen Stückes nachdachte.

Als man Carl unter Hochrufen, die immer lauter wurden, in das Auto hob, gab es auf der Welt wohl kaum einen Menschen, der glücklicher war als er.

Er sass kaum, da sagte der Direktor:

„Vor dem Mumpitz hätte ich Sie ja gern bewahrt, lieber Holten; aber es macht sich ganz nett, wenn morgen in den Blättern eine Notiz darüber steht.“

Carl fuhr zusammen.

„Vor was für einem Mumpitz?“ fragte er.

„Na, vor den Ovationen! Oder glauben Sie etwa, meine Regie endet mit dem Schluss des letzten Aktes? Für die Strassenszene, die doch gewiss echt und lebendig war, zeichne ich ebenfalls verantwortlich.“

Carl riss den Mund auf; seine Augen standen still.

„Wie? – Sie haben ... Sie!?“

„Natürlich habe ich,“ erwiderte der Direktor – „oder glaubten Sie etwa ...?“ und er sah ihn erstaunt an. „Um eins werden die Lokale geschlossen; jetzt ist es halb zwölf – und da meinen Sie, die Leute werden sich mit leeren Magen mitten in der Nacht da aufstellen? Ne! So weit reicht der Kunstenthusiasmus der Berliner denn doch nicht.“

Carl hätte weinen mögen.

„Im übrigen, lieber Holten,“ fuhr der Direktor fort, „Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht. Sie hätten sie nicht besser machen können, wenn Sie vorbereitet gewesen wären.“

Carl biss die Lippen zusammen, um nicht laut aufschreien zu müssen. Wie Kolbenschläge fielen die Worte des Direktors auf ihn nieder. Er drückte sich tiefer in seine Ecke und liess die Schläge auf sich niederprasseln, unfähig sich gegen sie zu wehren. Wäre es nach seinem Gefühl gegangen, er hätte sein Manuskript zurückgefordert und jede weitere Aufführung verboten. Was hätte er darum gegeben, wenn er jetzt, statt neben dem Direktor zur Siegesfeier seines Triumphes zu fahren, in der Bahn gesessen hätte, das Manuskript in der Tasche, um es morgen früh mit liebevollen Händen wieder an seinen alten Platz zu legen.

Dort in dem schweren alten Eichenschrank hätte es neben seinen anderen Werken ein würdigeres Dasein geführt als jetzt, wo es sich allabendlich vor lieblosen Menschen prostituierte.

Der Direktor berechnete inzwischen die Einnahmen von hundert ausverkauften Häusern, und das Ergebnis stimmte ihn so heiter, dass er Carl vergnügt auf die Schultern klopfte und sagte:

„Sie werden staunen, wenn Sie die erste Abrechnung zu Gesicht bekommen.“

Als sie bei Borchard ankamen, fragte Carl:

„Kann man wohl jetzt noch ein Telegramm aufgeben?“

„Selbstredend,“ erwiderte der Direktor.

„Ich hätte dann nämlich gern meiner Frau ein paar Worte ...“

Der Direktor gab ein Zeichen; ein Page brachte Formular und Tinte, und Carl schrieb:

Frau Cläre Holten, Tutzing, Bayern.

Ich bin mit meinen besten Gedanken bei Dir, fühle mich einsam und zähle die Stunden bis zu meiner Rückkehr.

Carl.

Den Erfolg zu erwähnen, kam ihm gar nicht in den Sinn; dabei wusste er nicht etwa, dass Brand an Frau Clara Holten bereits ausführlich über den Verlauf des Abends berichtet hatte.

Sie hatten ihre Garderobe noch nicht abgelegt, als aus dem Restaurant ein kleiner runder Herr im Frack herausgestürzt kam und mit ausgebreiteten Armen auf den verdutzten Carl Holten losging.

„Mein lieber Holten,“ rief er schon von weitem, ergriff Carls beide Hände, schüttelte sie und sagte: „Meinen aufrichtigsten Glückwunsch! Endlich einmal wieder ein grosser Theaterabend!“

Und statt Carls, der über die Begrüssung eines Menschen, den er gar nicht kannte, so erstaunt war, dass er nicht einmal „Danke“ sagte, erwiderte der Direktor:

„Sie geben nach dem heutigen Abend also zu, Herr Geheimrat, dass man nicht durchaus ins Metropoltheater gehen muss, wenn man sich amüsieren will.“

„Fangen Sie nicht wieder das alte Thema an,“ rief der Geheimrat. „Wenn ich bei einer unberufen fünfaktigen griechischen Tragödie nicht einschlafe, dann sagt mir mein Verstand: da muss was dran sein.“

„Tiefe und Dauer Ihres Schlafs,“ sagte der Direktor spöttisch, „das ist allerdings ein zuverlässiger literarischer Massstab.“

„Sie bleiben eben ein unverbesserlicher Idealist,“ erwiderte der Geheimrat und wandte sich an Carl. „Aber, nicht wahr, Holten, Sie begreifen, dass ich, der ich tagsüber in ernsten Geschäften stecke, mich des Abends lieber an dem Anblick einer jungen Operettendiva aufmuntere, statt mich vier Stunden lang in schwerfüssigen Jamben über den Seelenzustand Helenas unterrichten zu lassen, der mir im Grunde genau so gleichgültig ist, wie etwa der Seelenzustand irgendeines meiner Kassenboten.“

„Das begreif’ ich durchaus,“ erwiderte Carl, „nur verstehe ich nicht, warum Sie dann statt in die griechische Tragödie nicht lieber in eine der vielen Operetten gehen.“

Da lachte der Geheimrat laut auf und klopfte Carl vor Vergnügen auf die Schultern:

„Ausgezeichnet! Ich wusste gar nicht, dass es griechische Tragöden mit so viel Humor gibt! Was sagen Sie dazu, Direktor? Malen Sie sich aus: eine Sensationspremiere in Ihrem Theater und mein Platz in meiner Loge leer.“

„Nicht auszudenken!“ erwiderte der Direktor ironisch.

„Was würden die Leute sagen?“

„Zunächst mal würden die tollsten Gerüchte über Ihren Gesundheitszustand in der Stadt kursieren,“ sagte der Direktor, „und die nächste Folge wäre, dass an der morgigen Börse die Aktien Ihrer Bank um zehn Prozent fielen.“

„Sehr richtig!“ sagte der Geheimrat, „und die zweite Folge wäre ein Skandal mit meiner Frau, im Vergleich zu dem dieser Kurssturz eine Lappalie wäre.“

Carl, der vom gesellschaftlichen Leben Berlins nichts wusste, fehlte für den Zusammenhang dieser Dinge jedes Verständnis. Sich in diese Welt hineinzufühlen, schien ihm undenkbar. Ihm war die Kehle wie zugeschnürt, zentnerschwer lag es ihm auf der Brust, und schon im Begriff, das für die Feier reservierte Zimmer zu betreten, erwog er noch allen Ernstes die Möglichkeit einer Flucht.

Im selben Augenblick nahm ihn der Geheimrat, als wären sie seit Jahren die besten Freunde, auch schon unter den Arm und sagte:

„Morgen mittag sind Sie natürlich mein Gast. Meine Frau freut sich schon auf Sie. Sie treffen nur die beiden Brands, den Direktor und ein paar Freunde.“

„Sie verzeihen,“ erwiderte Carl und blieb stehen, „es liegt wohl an mir, aber ...“

„Wie? Was?“ fragte der Geheimrat.

„Ich meine ... ich entsinne mich nämlich gar nicht ... wie war doch Ihr Name?“

„Also Holten,“ prutschte der Geheimrat los, „Sie sind köstlich! Direktor, was sagen Sie dazu? Ein Phänomen! Ein Tragöde, der gleichzeitig Humorist ist.“

Aber wenn das auch sehr belustigt klang, so stand ihm die verletzte Eitelkeit doch deutlich auf dem Gesicht geschrieben. So deutlich, dass der Direktor vermittelte und sagte:

„Lieber Herr Geheimrat, es ist ein Vorrecht der Dichter, zerstreut zu sein.“ Und zu Carl gewandt fuhr er fort: „Sie waren mit Ihren Gedanken gestern natürlich ganz wo anders, als ich Ihnen während der Generalprobe Herrn Geheimrat Weber vorstellte.“ Und da er wusste, dass der das gern hörte, so fügte er hinzu: „Herr Geheimrat Weber ist als Industrieller und als Mäzen eine der bekanntesten Persönlichkeiten Berlins; die literarischen Tees seiner kunstverständigen Gattin sind ebenso geschätzt wie seine Sammlung alten Porzellans und seine Galerie alter Meister, unter denen besonders die Porträte Lippis Erwähnung verdienen. Ferner ...“

„Halten Sie keine Vorlesung, lieber Direktor,“ unterbrach ihn der Geheimrat. „Was Herrn Holten weit mehr interessieren dürfte als mein altes Porzellan ist, dass ich Hauptaktionär Ihres Theaters und somit indirekt wenigstens einer der Faktoren bin, denen er Aufführung und Erfolg seiner Tragödie verdankt.“

Carl stieg der Ekel auf. Und als er jetzt den kleinen Saal betrat und etwa dreissig geputzte Menschen aufsprangen, ihn umringten und in die Hände klatschten, da glich er mehr einem Delinquenten, der vor seiner Aburteilung stand, als einem Dichter, den ein auserwählter Kreis von Gästen zum Gegenstand einer Huldigung machte.

Zunächst nannte man Carl dreissig verschiedene Namen, dann schüttelte man ihm dreissigmal die Hand und sprach ihm ebenso oft in allen möglichen Variationen Glückwunsch und Bewunderung aus.

Schliesslich sass er und nahm bald darauf wahr, dass er rechts die Frau des Geheimrats Weber, links Estella von Pforten zur Nachbarin hatte. Beide redeten auf ihn ein, ohne dass er auch nur einen Satz im Zusammenhange verstand. Und ihm gegenüber äugte eine dekolletierte Dame derart ungeniert zu ihm hinüber, dass er die Füsse unter den Stuhl zog und kaum mehr aufzusehen wagte.

Links versicherte Estella von Pforten, dass ihr das Studium keiner Rolle je ähnlichen Genuss bereitet habe wie die Rolle der Helena, und rechts beteuerte Frau Geheimrat Weber, dass es überhaupt nur zwei Dinge gäbe, die für sie das Leben lebenswert machten; das eine sei der Verkehr mit prominenten Persönlichkeiten und das andere der Neid ihrer Freundinnen, die ihr diesen Verkehr, wie überhaupt ihre ganze soziale Stellung nicht gönnten.

Carl begnügte sich mit der Frage:

„Ihre Freundinnen sind das?“

„Ja! Die Wenigen, vor denen man keine Geheimnisse hat. Das heisst: dies oder jenes gibt’s für eine Frau in unseren Kreisen ja immer, was ein Dritter nicht zu wissen braucht.“

Und nach dem Blick zu urteilen, mit dem sie ihn umfing, schien sie sich irgend etwas Bestimmtes dabei zu denken. Carl, der nicht weiter darüber nachdachte, erriet es nicht.

Dann hielt irgendwer einen Toast auf ihn, der heiter, gescheit und fesselnd war; hier und da freilich stark an Wilamowitz erinnerte. Für Carl waren diese Minuten, so ungern er an sich im Mittelpunkt einer Rede stand, eine Wohltat, nur begriff er nicht, warum die Damen jedesmal, wenn der Redner eine griechische Sentenz in griechischer Sprache brachte – und das geschah fast nach jedem zweiten Satze – empfindsam die Köpfe senkten und verständnisinnig lachten. Ja, einmal, als der Redner mit einem Homerischen Verse die Kunst feierte, mit der Carl die Stimmung der Landschaft festhielt, drückte Estella von Pforten seine Hand, errötete und flüsterte:

„Was sagen Sie dazu?“

Und das gab denn auch den Anlass, aus dem Carl einmal wenigstens an diesem Abend aus sich herausging und laut auflachte; als nämlich Werner ihm später dies Rätsel löste und sagte:

„Sehr einfach! Die Damen vermuteten natürlich hinter jedem griechischen Satz eine Cochonnerie, taten selbstredend, als verstünden sie sie, erröteten pflichtgemäss und lachten.“

Dem Redner dankte der alte Brand in Carls Namen als dessen Freund und Verleger und versprach, dass dieser Abend, an dem man zum ersten Male „halboffiziös“ dem Dramatiker Carl Holten huldige, einmal literarhistorische Bedeutung erlangen werde. Dann nämlich, wenn das dramatische Werk dieses gottbegnadeten Dichters einmal als Ganzes abgeschlossen zur Beurteilung stehen werde. Und der Tag, dafür verbürge er sich, werde kommen. Nur bäte er – und da setzte das Verständnis der meisten Festteilnehmer aus – der Wesensart Holtens Rechnung zu tragen und ihn nach diesem Abend wieder sich selbst, der Einsamkeit und seinen Bergen zu überlassen. „Dieser Dichter darf nicht, wie so viele vor ihm, ein Opfer seiner Erfolge werden; darf nicht als Zier- und Renommierstück von Salon zu Salon gereicht werden. Ein Adler, den man in einen Käfig sperrt und mit Zucker füttert, wird sich, auch wenn man ihm eines Tages die Freiheit wiedergibt, zu keinem Flug in die Wolken mehr emporschwingen. Stören Sie nicht seinen Flug, indem Sie seine Schwingen lähmen. Lassen Sie ihn unbehindert auf seinen Höhen und in seinen Bergen leben, suchen Sie ihn nicht in Ihre Welt herabzuziehen, in der er doch ewig ein Fremder bliebe.“ Dann wandte er sich wieder an Carl und schloss: „Und nun, Königsadler, erhebe dich zu neuen Flügen! Wir werden, die Herzen offen, den Blick dir zugewandt, abseits stehen und, deinem Fluge folgend, zu dir emporschauen.“

Carl stand auf und reichte dem alten Brand die Hand. Und die Dame ihm gegenüber sagte nicht eben leise zu einer anderen:

„Er mag ja als Dichter bedeutend sein; aber soviel habe ich schon heraus: viel anzufangen ist mit ihm nicht.“

Ueberhaupt bekam die Stimmung jetzt etwas Gezwungenes. Carl, den man nach dem heutigen Erfolge als neue Errungenschaft gesellschaftlich hoch gewertet hatte, war nach Brands Rede nur noch eine imaginäre Grösse. An historischen Reminiszenzen lag diesen Wirklichkeitsmenschen ebenso wenig wie an der Perspektive, die Brand gab und die im Grunde nichts anderes als ein undiskontirbarer Wechsel auf die Zukunft war.

Und wenn man bisher über nichts anderes als über den Dichter und sein Werk gesprochen hatte, so wagte man nun, sich auch anderen Dingen zuzuwenden. Besonders Estella von Pforten wurde Gegenstand der Unterhaltung. Man pries ihre schauspielerische Leistung als Helena, und ein junger Assessor verstieg sich sogar zu der Behauptung:

„Diese Tragödie mag ja literarisch ’ne sehr achtbare Leistung sein; Leben hat se jedenfalls erst durch das Spiel von Fräulein von Pforten bekommen.“

Estella strahlte. Und alles blickte entsetzt zu Holten hinüber. Der sah den jungen Assessor freundlich an und dachte gerade: endlich mal einer, der, unbekümmert um die Wirkung, ausspricht, was er denkt, als Werner dem Redner in die Parade fuhr und sagte:

„Wie können Sie das Spiel von Fräulein von Pforten beurteilen, Herr Assessor, wo Sie heute abend in der Herrnfeldpremiere waren?“

Alles lachte laut auf, Estella senkte den Kopf und dachte: Tölpel! und Frau Geheimrat Weber vervollständigte den Eindruck, den diese Szene auf Carl machte, indem sie ihm zuflüsterte:

„Sie müssen nämlich wissen, dass dieser Assessor sich seit Wochen vergebens um die Gunst Fräulein von Pfortens müht. Die findet aber, dass ihre finanziellen und künstlerischen Interessen bei ihrem jetzigen Freunde besser aufgehoben sind.“

Von den Lügen, die hier im Laufe des Abends die Luft schwängerten und Carl den Atem benahmen, war das die einzige, der man zu Leibe rückte. Und wenn man auch über die Abfuhr, die sich der Assessor holte, gelacht hatte, so bereute man das im nächsten Augenblicke auch schon wieder. Denn, was dem Assessor heute widerfuhr, das konnte genau so gut morgen jedem von ihnen widerfahren. Davor eben schützte einen jene gesellschaftliche Konvention, zu der sich jeder stillschweigend bekannte und gegen die man nur verstiess, wenn man Revolutionär, von Natur taktlos oder schlecht erzogen war.

Das wenigstens war der Standpunkt, den ein Freund des Assessors mit vielen Worten Werner gegenüber vertrat und den der generell auch gelten liess, dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall er aber ablehnte.

Carl war unfreiwilliger Zeuge dieser Unterredung als er gleich nach dem Essen den ersten günstigen Augenblick benutzte, um sich unauffällig zu entfernen.

Werner und der junge Mann standen auf dem Flur, der zur Garderobe und von da aus auf die Strasse führte. Hut und Mantel hätte er im Stich gelassen, um von hier fort zu kommen. Aber an diesen beiden musste er vorüber.

Er versuchte es; aber Werner sah ihn schon von weitem, liess den Herrn stehen, ging auf Carl zu und fragte:

„Nanu? wohin so eilig?“

„Lass mich! bitte! ich halt’s nicht mehr aus!“ erwiderte Carl und wollte an ihm vorbei.

„Gut! ich komme mit dir!“ rief Werner.

„Wirklich?“ fragte Carl und war erfreut.

Die Garderobiere reichte die Sachen. Carl griff hastig nach Hut und Mantel und trat ins Freie.

Den Hut in der Hand stand er auf der Strasse, der Wind fegte ihm durchs Haar; er lehnte den Kopf zurück und sah zu dem schwarzbewölkten Himmel, streckte breit beide Arme aus und sagte:

„Endlich!“

„Siehst du denn nicht, dass es giesst?“ rief ihm Werner zu. „Setz den Hut auf!“

Aber Holten schüttelte den Kopf.

„Die Kleider möchte ich mir vom Leibe reissen!“ rief er, „und mich stundenlang von Wind und Regen durchpeitschen lassen! – Ja, geht es dir denn nicht ebenso?“ wandte er sich an Werner – „Hältst denn du das aus? erstickst denn du da nicht?“

„Ich kenne es nicht anders,“ sagte Werner, „aber ich sehe ein, du kannst das nicht.“

„Nie!“ versicherte Carl.

Sie stiegen in einen Wagen.

„Wo willst du hin?“ fragte Werner.

„Lass den Wagen öffnen und dann ins Freie!“

„Undenkbar! bei dem Wetter!“ erwiderte Werner, „du holst dir den Tod!“

„Dann irgendwo anders hin! Nur fort von hier und unter Menschen, die sich geben, wie sie sind.“

Werner lächelte.

„Das gibt es nicht.“

„Dann in eine Spelunke!“ rief Carl. „Meinetwegen unter Dirnen und Verbrecher! aber Naturlaute muss ich hören.“

Und Werner überlegte, stieg in den Wagen und rief dem Chauffeur zu:

„Zum schwarzen Ferkel!“

Zweites Kapitel

Im schwarzen Ferkel

Der Wind peitschte den Regen an die Wagenfenster. Die Tropfen liefen in langen Strähnen die Scheiben entlang, so dass man nicht erkennen konnte, wo man sich befand. Das grelle Licht, das plötzlich aufblitzte, kam vom Friedrichstrassenbahnhof her, unter dem das Auto eben hindurchraste. Rechts und links spritzte es aus den Pfützen die Wagentüren hinauf, und ein paar Weiber liefen kreischend mit hochgeschürzten Röcken über den Damm. Dann verschwand die Helle wieder; man sah hier und da die Bogenlampen der grossen Hotels, deren Licht wie der Schein des Mondes hinter Wolken verschwamm.

Mit unverminderter Geschwindigkeit ging es über die Weidendammerbrücke, man streifte das Rad einer Droschke, die ins Wanken kam. Die Insassen schrien auf, der Kutscher schimpfte niederträchtig und ein Schutzmann, der triefend unter einer Laterne stand und in seinem langen Mantel aus Gummi wie ein Seehund glänzte, wühlte in der Tasche seines Rockes, aus der er mit gewichtiger Miene sein Wachtbuch zog.

Das Auto fuhr in die Elsasserstrasse und hielt auf der linken Seite vor einem jener alten Häuser, die da wie die Riesen stumpfsinnig und unterschiedslos in den Himmel wachsen.

Sie stiegen aus und liessen das Auto warten. Neben dem Haustor führte eine schmale Tür auf einen Gang, der zur Garderobe hergerichtet war. Werner warf ein Zweimarkstück hin. Eine alte Frau riss die verklebten Augen auf, staunte, nahm ihnen Hüte und Mäntel ab, schimpfte aufs Wetter und sagte, als Carl um die Garderobemarke bat:

„Aber Herr Iraf, ich kenne Ihnen doch. Sie brauchen doch keene Marke.“

Carl sah sie gross an.

„Sie – mich?“ fragte er allen Ernstes, „das muss wohl ein Irrtum sein.“

Werner musste lachen und sagte:

„Leugne nicht, Carl, du bist hier Stammgast.“

Nun war auch Carl im Bilde und sagte heiter:

„Ach so!“

„Siehste Carle!“ sagte die Alte, „de bist erkannt,“ dann öffnete sie eine alte verstaubte rote Plüschgardine und rief: „Emil! besorch’ mal ne jute Mittelloge for’n Irafen Koks mit Jefolge.“

Ein alter Mann mit krummem Rücken und abgeschabter grüner Livree kroch heran.

„’S wird schwer sein,“ sagte er und musterte Carl und Werner. Die Alte zwinkerte mit den Augen und zeigte ihm verstohlen das Zweimarkstück. „Aber ’s wird sich schon machen lassen.“ – Er bog den Rücken noch krummer, schob die Plüschportieren auseinander und sagte: „Bitte, Herr Iraf!“

Ein Dunstgeball von Rauch, Schweiss und schlechtem Parfüm, der von jedem der Tische aufkroch und sich an Decke, Wänden und Möbeln festsetzte, hing über dem Saal. Schwer, dick, dumpf, wie eine fest zusammengeballte Masse kroch es heran, und man hatte das Gefühl, sich daran zu stossen, wenn man tiefer in den Saal trat. Der fasste hundertfünfzig Personen und war überfüllt.

„Rauche!“ sagte Werner und steckte Carl, der den Atem anhielt, eine Zigarette in den Mund.

Der alte Mann nahm Carl bei der Hand und sagte:

„So!“

und schob sich und hinter sich Carl, dem wieder Werner folgte, durch den Saal. Es ging, da sie an Tische und Stühle stiessen, nicht ohne Stösse, Knüffe und ranzige Bemerkungen ab. Aber schliesslich standen sie doch vorn, vor einer primitiven Holzbühne, deren schmutziger Vorhang geschlossen war und von der ein paar Stufen in den Saal führten.

Der alte Mann sah sich der Reihe nach genau die Leute an, die vorn an den ersten Tischen sassen. Dann sagte er zu Carl und Werner:

„Warten Sie ’n Augenblick, ich bin gleich wieder da.“

Er ging an einen der vorderen Tische, an dem zwei junge Kerle mit einem nicht mehr jungen Mädchen sassen, heran, beugte sich zu ihnen und redete leise auf sie ein. Allem Anschein nach machte er ihnen einen Vorschlag. Der eine der beiden Burschen schien auch gleich bereit, darauf einzugehen; aber das Mädchen stellte eine Reihe von Fragen. Schliesslich nickte auch sie mit dem Kopfe. Und der Alte kam wieder zu Carl und Werner zurück.

„Die Herrschaften da,“ sagte er und wies auf den Tisch, an dem er eben verhandelt hatte, „sind so freundlich, for Ihnen zusammenzurücken.“

Werner sah Carl an, der ganz unter dem Eindruck dieses neuen Bildes stand. Wie ungeheuerlich kontrastierte das von dem, dem er eben glücklich entronnen war.

Wieder nahm der Alte Carls Hand und schob ihn an den Tischen der ersten Reihe vorbei zu dem Mädchen und den beiden Kerlen, die keinen Blick von ihm und Werner liessen, ihre Stühle zusammenschoben und Platz machten.

„Aber wir wollen nicht stören,“ sagte Carl.

Die Drei sahen ihn an.

„Ne doch!“ sagte das Mädchen, „davon kann gar keene Rede sind. Kommen Se man hier nieder!“ und sie fasste Carl bei der Hand und zog ihn auf einen Stuhl. „So! An meine jrüne Seite! Det is der beste Tisch von die janze Bude.“

„Sehr freundlich!“ sagte Carl und meinte es auch so.

„Det will ick meinen! Na und Sie olle Stange,“ wandte sie sich an Werner, „heben Se doch den dicken Heinrich da nebenan aus die Fotölje; der is schon blau und merkt nich, wenn er ’ne Etage tiefer rückt!“

Aber der Alte hatte schon einen Stuhl zur Hand, auf den sich Werner setzte.

Dann winkte Werner eine Kellnerin heran. Und das Mädchen an ihrem Tisch, das beide mit einer Ungeniertheit und Gründlichkeit musterte, die beispiellos war, stiess Carl mit dem Ellenbogen an, wies auf ihr leeres Glas und die der beiden Kerle und sagte:

„Na, Iraf – wie wär’s denn?“

Carl begriff nicht, was sie wollte, aber Werner sagte zu der Kellnerin:

„Fünf Dunkle!“

und einer der beiden Kerle gab dem Mädchen durch Zeichen zu verstehen, dass nicht der Alte, sondern Werner „derjenige welcher“ war.

Hinten am Ausgang begann man an ein paar Tischen zu trampeln. Andere folgten dem Beispiel und in wenigen Augenblicken waren sämtliche Beine des Saals in Bewegung.

Carl war über diese ungenierte und kräftige Willensäusserung belustigt und trampelte zu Werners Vergnügen kräftig mit.

„Die Vorstellung hat wohl noch gar nicht begonnen?“ fragte er das Mädchen.

Die fühlte sich verulkt und sagte:

„Aber jewiss doch! Wenn der Vorhang uff jeht, denn fängt de jrosse Pause an.“

„Sei doch nich so dreiste, Ida!“ sagte der Kerl, der neben ihr sass.

„Was? for das dunkle Bier lass ick mir doch nich dumm machen. Bei mir muss eener erst mit Schampus ranfahren, denn kann er mir erzählen, in Himmel is Jahrmarkt, denn jlob ick’s ooch. Aber von wejen det eene Dunkle? Ne, Männeken,“ und sie wollte das volle Glas gerade umstülpen und ihm auf die Hose giessen, als der Kerl rechts mit einem schnellen Ruck nach ihrer Hand griff, sie festhielt und sagte:

„Dir hab’n se woll mit de Muffe geschmissen, seh dir bloss vor, Ida, saj ick dir.“

Ida geriet in Wut und wollte sich eben auf ihren Kerl stürzen, als jemand auf ein altes Klavier, das links der Bühne stand, loshackte. Sofort legte sich Idas Wut, schwanden die giftigen Falten um ihren Mund, bekamen die toten Augen einen leichten Glanz, öffneten sich die schmalen Lippen, hoben und senkten sich die schweren Brüste, ging ein Zucken durch den ganzen Körper – und sie glitt, wie magnetisiert, auf ihren Stuhl zurück, hakte die feisten Arme in die ihrer Nachbarn und gröhlte mit einer Stimme, die hart und rauh wie die Töne eines verrosteten Grammophons klang, im selben abgehackten Tempo, in dem die steifen Finger des Klavierspielers auf die Tasten schlugen, den Refrain mit:

Träume der Jugend, ihr mein höchstes Glück,

Träume der Jugend, wann kehrt ihr zurück.

Ach, ihr zerrannet, mein Herz ist öd und leer,

Sehnt sich zu träumen noch einmal so sehr.

Und auch die beiden Kerle hakten sich ein; der eine fasste Werner unter den Arm und Werner schloss sich an Carl. Dann lehnten sich alle zurück, bildeten einen geschlossenen Kreis und sangen aus Leibeskräften den Refrain mit.

Und wie an diesem Tische, so war’s an allen anderen. Jedes Denken war ausgeschaltet. Was hier herrschte, war ausschliesslich der Trieb. Dieser holperige Kasten, der noch dazu von einem Dilettanten misshandelt wurde, besass eine Macht über diese Menschen, die ohnegleichen war.

Wie leicht, dachte Werner, müssen diese Menschen zu leiten sein, wenn man in ihrer Sprache zu ihnen spräche; und Carls Dichterauge suchte diesen Menschen in die Seele zu schauen, die sich hinter dem primitiven Ausdruck ihres Gefühls verbarg.

Plötzlich ertönte ein Klingelzeichen; im selben Augenblick brachen Klavierspieler und Publikum mitten im Refrain ab. Es wurde ganz still im Saal. Der Vorhang ging auf und aus einer schmutzigen Kulisse, die unglaubwürdig genug eine Gebirgslandschaft vorzutäuschen suchte, trat der alte Mann im Frack und verkündete:

„Ich bitte das verehrliche Publikum um Aufmerksamkeit für die Hauptnummer des Programms und zwar ‚Das Schäferspiel‘, Ballett in einem Akt mit Gesang und Tanz, ausgeführt von Fräulein ‚Sybilla‘ genannt ‚die Lilie vom Manzanares‘.“

Das Publikum trampelte und rief:

„Sybilla!“

Eine nicht mehr junge, grässlich gepuderte und bemalte, faltenreiche, spindeldürre Soubrette mit langem, blondem, offenem Haar trat auf, lächelte geziert wie ein junges Mädchen, hob mit je zwei Fingerspitzen ihren an sich schon kniekurzen Rock, spreizte und verbeugte sich.

Das Publikum trampelte und klatschte.

Der alte Mann, der noch immer auf der Bühne stand, verkündete weiter:

„Fräulein Elfrida, genannt ‚die Perle des Ganges‘, Star des Orpheums in Kiel, seit zwölf Jahren zum ersten Male wieder in Berlin.“

Abermals trampelten die Leute und riefen:

„Elfrida!“

Und Elfrida, die Perle des Ganges, schwebte, zwei Zentner schwer, auf den Fussspitzen auf die Bühne; ein übler Geruch von Schweiss und Moschus und schlechtem Puder stieg Carl, der unmittelbar vor der Bühne sass, in die Nase.

Endloser Jubel brach los.

Elfrida war als Baby gekleidet, trug Wadenstrümpfe, ein ganz kurzes Hängekleid, das vorn weit ausgeschnitten war und die klobigen Brüste ungehindert hervorquellen liess. Elfrida teilte mit ihren fleischigen Armen, die sich nicht einmal nach den Knöcheln hin verjüngten, vielmehr dort eine Reihe tiefer Falten schlugen, nach allen Seiten hin Kusshände aus.

Das Publikum raste.

Der alte Mann im Frack trat ab, der Klavierspieler schlug wieder auf die Tasten. Elfrida, die Perle des Ganges, hob mit einem mächtigen Satz das rechte Bein. Carl zitterte vor dem Augenblick, wo sie es wieder niedersetzen würde. Sybilla, die Lilie vom Manzanares, machte eine lächerlich affektierte Armbewegung, wies auf Elfrida, verzog den Mund erst, öffnete ihn dann und sagte:

Seht dort Elfrida, die Perle des Ganges,

Königin des Tanzes und des Gesanges.

Wenn sie zum Tanze das Bein erhebt,

Das Herz jedes Mannes zittert und bebt.

Im selben Augenblick schnellte auch Sybilla eines ihrer Stockbeine wie ein Signal in die Höhe und Elfrida, die zu Carls Entsetzen noch immer auf einem Beine stand, wies mit der fleischigen beringten Hand auf sie und sang:

Seht Sybilla, die Lilie vom Manzanares,

Seht den Schmelz der Gestalt, die Fülle des Haares,

Wer ihr naht, der liebt, drum nehmt euch in acht,

Ihre Liebe hat vielen schon Unglück gebracht.

Dann reichten sich die Perle des Ganges und die Lilie vom Manzanares die Hände, das Schäferspiel begann. Zuerst kam ein sentimentaler Gesang, dann Zoten, eindeutig und plump, am Schluss ein Verstellen der Beine, ein unrhythmisches Heben, Senken und Verzerren des Körpers, was Tanz bedeuten sollte, und Elfrida und Sybilla traten unter dem jubelnden Gejohle der begeisterten Menge ab.

„Scheusslich!“ sagte Werner und Carl erwiderte:

„Widerwärtig, aber psychologisch interessant.“

„Nicht wahr,“ sagte Ida und stiess Carl an, „da kribbelt’s einen orntlich in die Knie. Wenn Se wollen, mit die Perle vom Ganges kann ick Ihnen bekannt machen; mit die war ick zusammen in Konfirmationsstunde.“

Der alte Mann stand schon wieder auf der Bühne und sagte etwas, was Carl infolge des Lärms nicht hören konnte. Er sah nur, dass aller Augen wieder auf die Bühne gerichtet waren und dass im selben Augenblick auch schon ein auffallend hübsches und junges Mädchen aus der Kulisse trat.

„Bravo!“ rief der Kerl, der neben Werner sass und klatschte in die Hände. Auch viele andere klatschten jetzt und riefen dem jungen Dinge, das ungezwungen, keck und heiter an die Rampe trat, aufmunternde Worte zu. Aber mit dem Jubel wie die Perle des Ganges und deren Partnerin wurde sie nicht begrüsst.

„Jeden Se acht,“ sagte das Mädchen am Tisch, „das is de schwarze Agnes, een dolles Ding. Vor sechs Wochen war se noch in Fürsorge, und heute fadient se siebenundzwanzig Märker de Woche, ausser was se sich nebenbei macht.“

Carl liess kein Auge von ihr; er hörte auch nicht, was das Mädchen am Tische sagte; er sah sie nur immer an und erkannte, dass es die Lieblichkeit und Anmut in Menschengestalt war. Auch auf das, was sie sang, hörte er nicht. Aber er folgte ihren Bewegungen und sah, wie sich der junge Körper unabsichtlich in den Hüften wiegte, sah ihre gazellenhafte Schlankheit und Gewandtheit, sah die zarten Knöchel an den feinen Händen und den schmalen Füssen, sah unter dem weissen Hals die straffe Brust, die knospengleich verriet, wie wenig sie vom Leben wusste, und sah ein Gesicht, in dem zwei schwarze Augen träumten, als wenn in ihnen eine grosse Sehnsucht nach dem Leben schliefe.

„Die fällt ja völlig aus dem Rahmen,“ sagte Werner und wandte sich an Carl, der, die Augen weit aufgerissen, da sass und auf die Bühne starrte.

„Was tut se?“ sagte das Mädchen am Tisch. „Ick saje Ihnen, beleidjen Se die schwarze Agnes nich, sonst kriegen Se’s mit den da zu tun!“ und sie wies auf den Kerl, der neben Werner sass.

Die schwarze Agnes sang erst ein Lied, das gewiss genau so rührselig oder zotig war, wie die Lieder der beiden anderen. Aber sonderbar! Hatten ihm die gepfefferten und aufdringlich gebrachten Spässe der anderen bedrückt und körperlich wehgetan, so wich angesichts dieser Erscheinung, ohne dass er darauf achtete, was sie sang, alles, was ihn beschwerte und niederdrückte. Es war das wie, von dem diese reinigende und befreiende Wirkung ausging.

Und dass ihr Vortrag sich inhaltlich nicht wesentlich von dem der anderen unterschied, bewies der Beifall, der nach jedem Vers lärmend einsetzte.

„Die möchte ich tanzen sehen!“ sagte Carl ohne ernste Absicht vor sich hin.

„Das Vajnüjen kenn Se haben,“ sagte der Kerl, der neben Werner sass.

„Wie?“ wandte sich Carl zu ihm um. „Sie meinen, sie wird noch tanzen?“

„Wenn ick will – und Sie zahlen – warum nich?“

„Wirklich? Das liesse sich machen?“ fragte Carl ganz erregt und wandte sich an Werner: „Weisst du, dafür bliebe ich noch einen Tag länger in Berlin.“

„Nanu!“ sagte Werner erstaunt und sah jetzt erst, dass Carl völlig unter dem Eindruck dieses Mädchens stand.

„Dazu brauchen Se Ihre Reise janich zu vaschieben,“ sagte der Kerl. „Bis morjen früh is noch de halbe Nacht.“

„Liegt dir sehr viel daran?“ fragte Werner.

„Unendlich viel! Mehr als du überhaupt ahnen kannst.“

„Carl, Carl!“ drohte Werner scherzhaft, „du bist kein Jüngling mehr.“

„Ich war es nie!“ erwiderte Carl. „Aber ich glaube, ich könnte es trotz meiner Jahre noch mal werden.“

„Also,“ wandte sich Werner an den Kerl, „wollen Sie das in die Hand nehmen?“

Das Mädchen am Tisch gab ihm einen Wink und sagte:

„Mach doch, Otto!“

Und Otto hielt Werner unter dem Tisch die flache Hand hin.

Werner griff in die Tasche, holte ein Fünfmarkstück heraus, sagte: „Da!“ und legte es Otto in die Hand. Der besah es, verzog den Mund und schüttelte den Kopf. Das Mädchen hob sich ein wenig in die Höhe, beugte sich über den Tisch und sah auf Ottos Hand, in der das Geldstück lag.

Sie prutschte los, machte zu Werner hin ein Zeichen, dass er wohl nicht ganz richtig im Kopfe sei und sagte:

„Hab’n Sie ’n Schimmer von die schwarze Agnes.“

Werner, der Carls Interesse sah, legte ein zweites Fünfmarkstück drauf. Wieder besah es Otto und schüttelte den Kopf. Wieder hob sich das Mädchen in die Höhe und beugte sich über den Tisch – diesmal mit dem ganzen Oberkörper – und schlug wütend von unten gegen die Hand Ottos, so dass die nach oben schnellte und beide Geldstücke in einem mächtigen Bogen durch den Saal flogen.

Irgendwo kreischte ein Weib, ein paar Menschen fielen übereinander her, jemand schwang einen Stuhl, Gläser klirrten, Stimmen dröhnten, Schläge fielen dumpf und kurz, irgendwer schlug zu Boden – dann brach der Lärm plötzlich ab.

„Sau!“ sagte Otto und schlug Ida die Faust ins Gesicht. Die verzog keine Miene. Keiner tat auch nur einen Blick nach der Stelle, von der der Lärm kam.

Aber Carl war aufgesprungen; kerzengerade stand er da, die Lippen zusammengepresst, starr den Blick nach dem Tisch gerichtet, von dem der Lärm kam, keine Spur von Scheu war mehr an ihm. Sein Ausdruck war straff, scharf, bestimmt. Plötzlich huschte ein Schatten über seine Stirn. Es war der Augenblick, in dem die Gläser klirrten. Carl schaffte sich rücksichtslos Bahn, stiess rechts und links alles beiseite, stand an dem Tisch, beugte sich über einen Stuhl, riss ihn mitsamt einem Weib, das sich an ihn klammerte und schrie, in die Höhe, hielt ihn fest, als ein Schlag dumpf seinen Kopf traf, und trug ihn, selbst erstaunt über seine Kraft, hinaus, über den dunklen Flur, auf die Strasse.

Werner sah es mit an und wusste keine Erklärung. Er warf ein Zehnmarkstück auf den Tisch und folgte Carl.

Der stand bei strömendem Regen ohne Hut und Mantel mitten in der Nacht auf der Strasse und hielt in seinen Armen ein junges Weib, das er mit Leidenschaft ohnegleichen an sich drückte.

*

Keiner sprach ein Wort.

Werner winkte das Auto heran, öffnete den Schlag und Carl barg seine Beute mit grosser Sorgfalt in den Wagen.

Werner nannte dem Chauffeur seine Wohnung.

„Wo bringst du mich hin?“ fragte müde eine weiche Stimme, die Werner zu kennen glaubte.

Es waren die ersten Worte, die einer von ihnen sprach.

Carl beugte sich über sie, schob das Tuch zurück, das sie sich hastig über Gesicht und Kopf geschlagen hatte, und sagte sanft:

„Zu mir, mein Vögelchen!“

Jetzt sah Werner zwei grosse schwarze Augen und erkannte sie wieder. Eine weisse Hand strich die Haare aus der Stirn. Ein feines, schmales Gesicht kam zum Vorschein.

Die schwarze Agnes war es, die neben Carl sass.

„Wer bist du?“ fragte sie, und unter ihrem Tuch kam das verstaubte Soubrettenkleid zum Vorschein.

„Ein Dichter,“ erwiderte Carl.

Sie sah ihn gross an, lächelte, fuhr ihm mit der Hand durchs Haar und sagte:

„Komisch! – Wo hast du deinen Hut?“

„Ich weiss nicht – is dir nicht kalt?“

Sie schüttelte den Kopf, nahm seine Hand und führte sie an ihr Gesicht.

„Da! Fühle, wie ich warm bin – so glühe ich am ganzen Körper.“

„Hat man dich sehr geschlagen?“ fragte Carl.

„Ja!“

„Weshalb?“

Agnes lachte verschmitzt und wies auf ihre Hand, die sie fest geschlossen hielt.

„Was hast du da?“

„Aber nicht fortnehmen,“ sagte sie und spreizte die Finger. Es war das Fünfmarkstück, das das Mädchen am Tisch dem Kerl neben Werner aus der Hand geschlagen hatte.

„Ich sah, wie du von der Bühne aus an den Tisch stürztest – du wirbeltest förmlich.“

„Ja, ich bin flink.“

„Willst du, dass ich dir zu dem Gelde was hinzutue?“

Agnes fiel Carl um den Hals und küsste ihn ins Gesicht.

„Bitte! Bitte!“

„Später!“

„Nein, jetzt!“ Sie liess ihn wieder los. „Du hast es versprochen! Jetzt gleich! Oder ...“ Und sie machte sich an der Tür des Wagens zu schaffen.

Carl griff ängstlich nach ihr und zog sie zurück.

„So komm!“

Er griff in die Tasche und holte eine Handvoll Silber heraus.

Agnes stand vor ihm. Werner kümmerte sie gar nicht.

„Gib! Gib!“ rief sie und leerte hastig seine Hände. Dann schlang sie die Arme wieder um seinen Hals und sagte:

„Ich habe dich lieb! – Sag, du bist wohl sehr reich?“

„Wozu brauchst du das Geld?“ fragte Carl.

„Für ein neues Kleid – um nicht so herumzulaufen!“ und sie wies auf das abgenutzte Kostüm. „Aber die Kerls sind ja so schäbig – und dann ...“ sie unterbrach plötzlich und sagte: „Na! – bex!“

„Ich will dir ein neues Kostüm kaufen – das heisst, dahin, in diese Gesellschaft solltest du nicht mehr ...“

Was er weiter sagte, ging in Agnes’ Jubel unter.

„Wirklich!“ rief sie, „das willst du tun?“

Und wie sie jetzt in diesem engen Raum ihrer Freude Ausdruck gab, wie sie die Arme hob, die Hände bewegte, wie unzählige Nuancen ihr Gesicht belebten, wie ihr ganzer Körper nur noch einer Verkündung höchsten Glücksgefühls glich, das mit anzusehen war ein Genuss sondergleichen.

„Sieh nach der Uhr!“ sagte sie endlich.

„Es ist eins vorbei.“

„Also noch sieben Stunden. Um acht werden die Geschäfte geöffnet. Kennst du Baruch am Alexanderplatz? Da gehen wir hin. Du, aber der ist teuer. Dafür hat er aber die schönsten Kostüme! Ja, und lumpen wirst du dich doch nicht lassen. Otto sagt, da kaufen sogar die richtigen Schauspielerinnen aus den grossen Theatern.“

Wieder verwischte der ästhetische Anblick das Hässliche ihrer Rede so vollkommen, dass man nicht einmal das Gefühl hatte, wenn sie doch schweigen wollte.

„Was sagst du dazu?“ fragte Carl mit einem Blick auf Agnes seinen jungen Freund.

„Ich bin, wie du, voller Bewunderung,“ erwiderte Werner, „trotzdem staune ich über dich.“

„Weil du meine jahrelange Sehnsucht nicht kanntest.“

„Wonach hast du dich gesehnt?“ fragte Werner.

„Danach!“ sagte Carl und riss Agnes an sich.

Wie ein Jüngling, dachte Werner und schüttelte den Kopf, als er Carls Rausch und Begeisterung sah.

Als das Auto hielt, fragte Agnes:

„Wo sind wir hier?“

Werner sagte:

„Bei mir.“

„Wo ist das?“

„Im Tiergarten.“

Agnes sah zum Fenster.

„Aber da stehen ja Häuser,“ sie beugte sich nach vorn. „Oh!“ rief sie voller Bewunderung, „das ist ja ein Palast! Wohnst du hier?“

„Ja!“

„Bist du auch Dichter?“

Werner nickte.

„Verdient man als Dichter denn so viel Geld?“ fragte sie, als sie jetzt in ihr Tuch gehüllt, das Carl besorgt am Halse festhielt, vor dem Hause stand.

„Das Haus gehört meinem Vater.“

Werner schloss die Haustür auf.

„Ich gehe voraus!“ sagte er.

Carl und Agnes blieben stehen.

Plötzlich lag die weite Diele hellerleuchtet vor ihnen.

Agnes hielt sich die Hände vor die Augen, zitterte in Carls Armen und rief ängstlich:

„Was ist das?“

„Blendet’s dich?“ fragte Carl.

„Nein!“ rief Agnes, deren Augen sich an die Helle gewöhnten, und staunte den Raum an. „Gehört das alles dir? – Oder was bist du hier?“

„Ich wohne hier zusammen mit meinem Vater,“ sagte Werner. „Gefällt’s dir hier? Sonst gehen wir da hinein; da ist es wohnlicher.“

Er öffnete die Tür und ging voraus. Agnes folgte an Carls Hand mit aufgerissenen Augen – wie ein Kind, dem man von einem Wunderlande erzählt. Sie wagte kaum, die Füsse aufzusetzen und hielt Carls Hand so fest, dass der unwillkürlich den Druck erwiderte.

Werner, der ihr Erstaunen sah und es als Freude deutete, öffnete Portieren und Türen, die in die Nebenzimmer führten und erleuchtete alle Räume.

Carl nahm ihr das Tuch ab.

Wie eine Bettelprinzessin stand sie in all dem Reichtum. Sie rührte sich nicht vom Fleck. Ihre Augen gingen die Decken und Wände entlang, hingen an Bildern, Statuen und Möbeln, sahen zu den schimmernden Kronen auf, hefteten sich auf die Gobelins und Perser, sahen staunend all die Pracht, leuchteten hell auf und füllten sich dann mit Tränen.

„Was ist dir?“ fragte Carl besorgt.

Agnes biss die Lippen aufeinander. Ein harter, herber Zug trat um den Mund, sie ballte die Faust, krampfte die Finger, stampfte mit den Füssen auf, zitterte am ganzen Körper und sagte mit einer Stimme, die wie die eines unartigen Kindes klang:

„Ich will ... ich will!“

„Was willst du?“ fragte Carl.

Sie sah ihn mit Augen, die noch voll Tränen standen und doch schon wieder lachten, an, warf sich auf eine Chaiselongue, auf der ein schwerer seidener Perser lag, dehnte und streckte sich, rief Carl zu:

„Komm!“ Carl trat zu ihr heran. „Hier – so!“ zog ihn zu sich herab, so dass er kniend vor ihr sass, und spielte wieder in seinem vollen Haar.

„Ganz grau bist du, Onkelchen – altes Onkelchen! – Aber ich hab dich lieb.“ Dann betrachtete sie sich, fuhr mit der Hand über ihr Kleid und sagte:

„Pfui! die ollen Fetzen! – Willst du, dass ich sie runterreisse?“

„Morgen, Vögelchen, morgen!“ sagte Carl. „Wir müssen erst neue kaufen.“

„I was!“ rief Agnes übermütig. „Heute!“ Und zu Carls Erstaunen zerrte sie mit ihren Füssen den Rock herunter, öffnete die Taille, hob sich kaum hoch, schlüpfte heraus, warf die Sachen in weitem Bogen ins Zimmer, tastete den Körper, dessen ganze Schönheit erst jetzt voll zur Geltung kam, mit ihren weissen Händen ab, sagte zu Carl:

„Zieh mir die Schuhe aus!“

dehnte und streckte sich voller Behagen, hob an beiden Seiten den seidenen Perser, der bis über den Boden reichte, hoch, und wickelte sich darin ein; nur den Kopf und die weissen Arme liess sie draussen.

Werner, der des eigenartigen Besuches und der späten Stunde wegen den Diener nicht wecken wollte, war selbst hinausgegangen, um Champagner zu holen, mit dem er eben wieder ins Zimmer trat.

Als Agnes es sah, fuhr sie wie der Blitz auf, strahlte über das ganze Gesicht, warf die Arme hoch und rief:

„Champagner! – her! her! Ich verdurste!“

Sie jauchzte vor Freude laut auf, als der Pfropfen knallte, und stürzte das erste Glas, das Werner ihr reichte, ehe er Carl und sich noch eingegossen hatte, in einem Zuge herunter.

„Mehr! mehr!“ rief sie und streckte Werner das leere Glas hin, das er füllte, und das sie im selben Tempo heruntergoss. Dann jauchzte sie laut auf und rief:

„Kinder! ist die Welt schön!“

„Kennst du sie denn?“ fragte Carl, der sich ein Kissen herangerückt hatte und neben der Chaiselongue zu ihren Füssen sass.

Agnes lachte; sie verstand ihn nicht.

„Da ich doch lebe, muss ich sie doch kennen,“ sagte sie.

„Ich meine die ganze Welt da draussen – weisst du, die Berge und die Seen und all, die fremden Völker, zu denen man Tage und Wochen reist, um zu ihnen zu gelangen.“

„Ja, aber dazu gehört doch Geld, viel Geld – das können doch nur die Reichen.“

„Möchtest du das?“

Ihre Augen glänzten.

„Ja!“ sagte sie lebhaft. „Wenn ich reich wäre!!“

„Was tätest du dann?“

Agnes sah ihn an und lachte, dann setzte sie das volle Glas an und trank es aus.

„Das täte ich! Alle Tage! Und dann hätte ich eine Wohnung wie diese.“ Sie sah sich um. „Vielleicht auch anders, weisst du, nicht so schwer, das macht traurig; mehr schlanke Möbel und Schränke aus Glas und viel viel Vasen und Gläser.“

Werner öffnete die zweite Flasche.

„Gib mir die Propfen! sonst glaubt’s mir die dicke Ida morgen nicht.“ Sie besah den Korken. „Du, is das ’ne feine Marke?“ Sie buchstabierte: Mo – ett et Schandon.“

„Gewiss,“ sagte Werner. „Soll ich dir ein paar Flaschen davon schicken?“

„Ja!“ rief sie freudig – zog dann aber, noch ehe sie den Mund wieder geschlossen hatte, die Stirn in Falten, schien nachdenklich und sagte schnell:

„Nein, nein, lass; ich will nicht!“

„Aber ich tue es gern.“

„Wozu?“ sagte sie fast ärgerlich. „Ich will nicht – es hat ja doch keinen Sinn. Ihr wisst ja nicht ... Wenn das so wäre, ja!“ – und dabei wies sie wieder auf den Glanz der Wohnung. „Aber da oben,“ und dabei streckte sie verzweifelt die Arme aus und rief: „Ach wenn das doch nicht wäre!“ Sie richtete sich jetzt ganz auf und stand, nichts am Körper als Hemd und Strümpfe, auf der Chaiselongue: „Aber ich will nicht, will nicht – helft mir doch! du! du!“ rief sie und warf sich an Carls Hals. „Du musst mir helfen!“

Werner war von der Traurigkeit, die in jeder Bewegung lag und sich wie ein Schatten, den man mehr fühlte als sah, auf den ganzen Körper übertrug, erschüttert. Er musste an Chopin denken, wie ihn die Derp tanzte. Hier, bei Agnes empfand er die Wirkung, schon weil sie unbewusst war und nicht durch den Verstand ging, verhundertfacht.

„Willst du nicht tanzen?“ fragte er ganz unvermittelt.

Sie liess Carl los und sah ihn an.

„Willst du’s?“ fragte sie, und Carl sagte:

„Bitte!“

„Wirst du mir helfen?“

Carl nickte.

„Spiel!“ rief sie Werner zu.

„Was soll ich spielen?“

„Was du willst.“

„Aber ich muss doch wissen, was du tanzen willst.“

„Das weiss ich selbst nicht.“

„Wie?“ fragte Werner.

„Das hängt davon ab, was du spielst.“

„Soll es traurig sein oder heiter?“

„Heiter! Denn ihr wollt mir ja helfen!“

Und Werner ging an den Flügel und spielte ...

Agnes zog von einem der Tische eine Decke herunter und warf sie sich über. Wie einen langen Schal band sie sie fest um ihren Leib und liess sie lose über die Beine fallen, so dass sie bis zu den Knien bedeckt waren. Brust und Schultern blieben entblösst. Dann zuckte im Takte der Musik der ganze Körper ein paarmal heftig zusammen – und Agnes tanzte, dass Lust und Fröhlichkeit sich auf Tische, Stühle und Bilder übertrugen und alle Zimmer lebendig wurden.

Und Carl stand mit leuchtenden Augen am Flügel, den Kopf ein wenig nach vorn gestreckt, den Mund, um den ein Lächeln spielte, leicht geöffnet, die Arme halb erhoben, die Finger in Bewegung und merkte nicht, wie ein Gefühl in ihm erwachte, emporwuchs, über ihn Macht ergriff, ihn schliesslich ganz erfüllte.

Werner, der ohne Noten spielte, und mit seinen Augen an Agnes hing, folgte ihrem Tempo, raste über die Tasten und hielt erst inne, als sie plötzlich laut aufschrie, die Arme hochwarf und vor Carl zusammenstürzte.

Drittes Kapitel

Carl reiste am nächsten Tage nicht.

Eine ganze Woche lang blieb er in Berlin. Und als er am Abend des neunten Tages vor seinem Coupé stand und der Schaffner an ihn herantrat und sagte: „So steigen Sie doch ein! Wir fahren ab,“ da schloss er Agnes, trotz den vielen Menschen, die ihm das Geleite gaben, in die Arme, küsste sie und drückte sie an sich.

„In zehn Tagen!“ sagte er, und die Tränen, die ihm in den Augen standen, und der Ausdruck seines Mundes, um den sich scharf jedes seiner Gefühle prägte, zeigten, wie ihm ums Herz war.

Das Zeichen ging in die Höhe; der Zug setzte sich in Bewegung.

Carl nickte den anderen flüchtig zu und sprang behende wie ein Jüngling in den Zug, riss das Fenster herunter, beugte den Oberkörper heraus und winkte mit beiden Armen Agnes zu, als wenn er sie noch in letzter Minute zu sich emporziehen wollte.

Und Agnes lächelte und nickte, trippelte noch ein paar Schritte neben dem Zug her und rief ihm, als die Maschine schon aus der Bahnhofshalle fuhr, mit ihrer weichen Stimme zu:

„Denk an dein Vögelchen!“

Und wer ihn so sah, wusste, dass er an nichts anderes denken würde. –

„Wie ausgewechselt seit ein paar Tagen,“ sagte der Direktor.

„Ja! die Weiber!“ rief der Geheimrat, lachte und hielt sich den Bauch.

Der alte Brand stand in Gedanken, schüttelte den Kopf und sagte:

„Mir gefällt das nicht!“

„Philister!“ sagte der Direktor und klopfte ihn auf die Schulter. „So gönnen Sie ihm doch diese harmlose Eskapade.“

„Wenn es das wäre,“ erwiderte Brand, „vom Herzen gern! Aber ihr kennt ihn nicht! Wie seine Dichtung, so ist der ganze Mensch. Tiefgründig – schwerblütig – gradlinig!“

„Was heisst das, gradlinig?“ fragte der Geheimrat.

„Dass er seiner ganzen Natur nach unkompliziert ist, dass es die tausend Nebenstrassen, die unser Leben erst bunt und abwechslungsreich machen, für ihn nicht gibt. Nicht geben kann, da er in seinem Handeln ebenso primitiv ist wie in seinem Gefühl. Und darin liegt auch seine beste Kraft: in dieser Einheit. Ein Guss das Ganze. Da ist, wenn’s sich um das Gefühl handelt, kein Bruch, kein Sich-teilen, kein Kompromiss möglich!“

Der Geheimrat verzog das Gesicht.