Ladyparts - Deborah Copaken - E-Book

Ladyparts E-Book

Deborah Copaken

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Beschreibung

Mal wahnsinnig komisch, mal anklagend: Deborah Copakens Memoiren sind ein schonungsloses Inventar des weiblichen Körpers und der weiblichen Körperpolitik.

Was bedeutet es, im Amerika des 21. Jahrhunderts mit weiblichen Organen zu leben? Wieso wird man nur aufgrund dieser Organe nicht gesehen, nicht fair bezahlt und nicht angemessen medizinisch behandelt? Deborah Copaken erzählt von persönlichen, gesundheitlichen und politischen Krisen und deckt dabei den Sexismus in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft auf, vom Gesundheitswesen bis zum Dating. Copaken war Kriegsfotografin in Afghanistan, Israel und Simbabwe. Doch abseits dieser Schauplätze kämpft sie eine andere, unsichtbare Schlacht, im ganz normalen Alltag: die Schlacht mit und für ihren Körper. Denn in einem weiblichen Körper zu leben, kann mitunter blutig und gefährlich sein, andererseits aber auch wunderschön. Eine packende weibliche Biografie in Körperteilen, die zeigt: Das Persönliche ist politisch.

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Seitenzahl: 811

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Zum Buch

Was bedeutet es, im Amerika des 21. Jahrhunderts mit weiblichen Organen zu leben? Wieso wird man nur aufgrund dieser Organe nicht gesehen, nicht fair bezahlt und nicht angemessen medizinisch behandelt? Deborah Copaken erzählt von persönlichen, gesundheitlichen und politischen Krisen und deckt dabei den Sexismus in sämtlichen Bereichen der Gesellschaft auf, vom Gesundheitswesen bis zum Dating. Heraus kommt ein schonungsloses Inventar des weiblichen Körpers und der weiblichen Körperpolitik – mal wahnsinnig komisch, mal anklagend, aber immer radikal ehrlich.

Copaken war Kriegsfotografin in Afghanistan, Israel und Simbabwe. Doch abseits dieser Schauplätze kämpft sie im Alltag eine andere, unsichtbare Schlacht: die Schlacht gegen und für ihren Körper. Denn in einem weiblichen Körper zu leben, kann auch im Amerika des 21. Jahrhunderts mitunter blutig und gefährlich sein, andererseits aber auch wunderschön.

Zur Autorin

DEBORAHCOPAKEN, geboren 1966, ist Journalistin, Kriegsfotografin, Drehbuch- und New-York-Times-Bestsellerautorin. Für ihren Roman The Red Book war sie 2013 für den Women’s Prize for Fiction nominiert. Als Drehbuchautorin schrieb sie an der Serie Emily in Paris mit, als Fernsehjournalistin bei ABC News gewann sie einen Emmy. Copaken lebt in Brooklyn.

Deborah Copaken

LADYPARTS

Memoiren eines Frauenkörpers im 21. Jahrhundert

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz und Nina Lieke

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Ladyparts: A Memoir« bei Random House, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Das Motto (»Ihre Seelen wollten sie retten …«) stammt mit freundlicher Abdruckgenehmigung aus: Upton Sinclair: Der Dschungel. Roman. Aus dem Englischen von Ingeborg Gronke. Zürich: Unionsverlag, 2013, S. 264.© 2013 by Europa Verlag AG, Zürich © by Unionsverlag 2014

Deutsche Erstausgabe Juli 2024

Copyright der Originalausgabe © 2021 by Deborah Copaken

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

This translation published by arrangement with Random House, an imprint and division of Penguin Random House LLC

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Illustration von Ella Laytham und unter Verwendung eines Motivs von: © Getty Images/Harry Adam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

AB · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-29156-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Für Sasha, wieder&in Erinnerung an Nora

»Vor allen Dingen sei deine eigene Heldin, nicht das Opfer.«

Nora Ephron

»Ihre Seelen wollten sie retten, dabei konnte jeder, der kein ausgemachter Esel war, doch sehen, dass ihren Seelen nichts weiter fehlte, als dass sie keine menschenwürdige Existenz für ihre Körper hatten finden können.«

Upton Sinclair, Der Dschungel

Inhalt

Anmerkung der Autorin

Vorwort

Teil 1: VAGINA

1 Feuerwerk

Teil 2: GEBÄRMUTTER

2 Lunch mit Nora, Freds

3 An jenem klaren blauen Morgen

4 Lunch mit Nora, East Hampton

5 Empathie

6 Fluchten

7 Lunch mit Nora, E.A.T.

8 Wo ist der Ehemann?

Teil 3: BRUST

9 Erdrutsch

10 Chiaroscuro

11 Ja, und …

12 Health Today

13 In flagranti

14 Sie haben das große Los gezogen!

Teil 4: HERZ

15 Inwood

16 Geld

17 Am Ruhepunkt der sich drehenden Welt

18 Fehlender Durchblick

19 Unerwidert

20 Die Kirche der verirrten Herzen

21 Lunch mit Ken Kurson

Teil 5: GEBÄRMUTTERHALS

22 Ein indirektes Tinder-Date

23 Durkheim

24 Public Relations

25 Private Relations

26 Wiedereinstieg

27 Younger

28 ENFP

29 Little Buddha

30 Blutiger Muttertag

31 Krankenhäuser sind nicht mein Fall

32 Mein Tag vor Gericht (Mein Nachmittag im Krankenhaus)

Teil 6: GEHIRN

33 Kopf leer

34 #MeToo

35 Geistige Gesundheit

36 Hat jemand was gesagt?

Teil 7: LUNGE

37 Wünsch dir was

38 Der Preis von Sauerstoff

39 Feuerwerk reloaded

Dank

Endnoten

Anmerkung der Autorin

Das menschliche Hirn ist kein Tonbandgerät. Was beim Schreiben von Memoiren ein Nachteil ist. Habe ich jedes gesprochene Wort auf diesen Seiten eins zu eins transkribiert? Nein. Unmöglich. Mit Ausnahme von E-Mails, die dokumentiert sind, und Zitaten aus Studien sind alle Dialogpassagen durch den Zerrspiegel meiner – zum Teil traumatischen – Erinnerung gefiltert, wo sie einen tiefen, aber subjektiven Eindruck hinterlassen haben. Habe ich mich trotzdem bemüht, jeden Satz zwischen den Anführungszeichen, meine eigenen Äußerungen eingeschlossen, nach bestem Wissen und Gewissen wahrheitsgemäß wiederzugeben? Ja. Auf jeden Fall.

Daneben habe ich viele Namen geändert oder weggelassen (z. B. »mein Ex«, »mein Sohn«, »meine Tochter«, »der Schauspieler«, »die PR-Firma«) und identifizierbare Merkmale unterschlagen, um niemandes Privatsphäre zu verletzen, denn alle Personen und Unternehmen, über die ich hier spreche, sind real, nicht fiktiv. Jede Szene in diesem Buch hat tatsächlich so stattgefunden, ohne Verdichtung der Ereignisse, Zeitverschiebungen oder Änderungen des narrativen Bogens. Dabei wurde jede Szene – wenn nicht anders gekennzeichnet, etwa während meiner Bewusstlosigkeit – ausschließlich aus meiner eigenen Perspektive geschildert. Ich bin die Person im Krankenbett, nicht die, die das Bett schiebt oder zusieht, wie es im OP verschwindet. Will sagen: Das hier ist mein Blutbad. Meine Geschichte. Die Flecken auf dem Boden sind echt, aber die Interpretation ist, wie bei jedem Rorschach-Test, allein meine.

Vorwort

Die Idee zu diesem Buch kam mir im Sommer 2018 unter der Dusche, ein Jahr nach meinem Nahtod-Erlebnis infolge einer Vaginalstumpf-Dehiszenz*. Als ich an meinem narbenübersäten Oberkörper hinunterblickte und ihn im Geiste in seine Teile zerlegte – wie ein Metzger, der eine Kuh betrachtet, oder ein Werber vor #MeToo eine junge Praktikantin –, fiel mir auf, dass jedes defekte Teil von mir nicht nur für das zeitliche Kapitel meines Leben stand, in dem es mich im Stich gelassen hatte, sondern dass die Teile in der Summe auch eine seltsam passende Erzählstruktur ergaben: Organ für Organ, Schnitt für Schnitt, jede Diagnose eine treffende Metapher für die parallel stattfindenden Umbrüche in meinem Leben.

Nämlich: In denselben Stunden, als mir die Gebärmutter entfernt wurde, starb meine geliebte Mentorin und Ersatzmutter an Krebs, und meine Tochter bekam das erste Mal ihre Tage. In dem Monat, als ich einen Knoten in meiner Brust entdeckte, wurde ich erst alleinerziehende Mutter meiner Kinder und dann Herbergsmutter einer bunten Kommune in Harlem. Als ich gerade wieder den Sprung ins Dating-Gewässer wagte, geriet mein Herz aus dem Rhythmus. Als die ersten Interessenten auftauchten, machte mein Gebärmutterhals dicht. Während ich an meiner Wiedergeburt arbeitete, versuchte meine Vagina mich umzubringen. Und mein Gehirn musste um den halben Globus reisen, um zu lernen, wie man die Lautstärke herunterdreht, nachdem seine sterbliche Hülle fast den Löffel abgegeben hatte. Und am Ende meldete sich auch noch meine Lunge zu Wort – die im ursprünglichen Entwurf nicht vorkam –, als Mahnung an uns alle, besonders in den USA, dass das Recht zu atmen nicht selbstverständlich ist.

Mit anderen Worten, die Narben, die meinen weiblichen Körper bedecken, lieferten die Struktur einer Geschichte, die darum bettelte, geschrieben zu werden, Körperteil für Körperteil, wie die Punkt-zu-Punkt-Bilder, die, wenn man die Zahlen in der richtigen Reihenfolge verbindet, einen Elefanten, einen Schneemann oder ein Hündchen ergeben. Nur dass dabei ich herauskäme. Mehr noch, dachte ich, als ich mich an jenem Morgen abtrocknete und anzog, wenn ich meinen Körper in seine Teile zerlegen und objektivieren würde, ohne die übliche Misogynie, hätte ich eine Art Mikroskop, durch das sich die Komplexität der ganzen Welt betrachten ließe. Nicht nur die Schnitte, Narben und gelegentlichen Bananenschalenausrutscher, sondern auch die Freuden, Triumphe und Lachanfälle, die bei den unzähligen Werkstattbesuchen nebenbei entstehen. Denn was sich zunächst wie ein ständiges Wegducken vor dem Niederschlag eines endlosen Shitstorms anfühlte, kam mir plötzlich wie das schicksalhafte Geschenk einer extrem großzügigen Muse vor – Hier, Deb, nimm noch eins! Und noch eins! Juhu! Und der schlichte Akt dieser Umdeutung gab mir unversehens einen Regenschirm, mit dem ich mich schützen konnte. Und die Struktur, ihn zu beschreiben.

Diesen Heureka-Moment hatte ich schon einmal erlebt, im Café Xando, das nicht mehr existiert, Ecke Broadway und West 76th Street, im Mai 1998 gegen 7.30 Uhr morgens. Ich hielt den Doppelbuggy mit meinen damals ein- und zweijährigen Kindern fest, als mir plötzlich die Idee kam, wie ich meine traumatischen und chaotischen Erfahrungen als Kriegsfotografin in Krisengebieten ordnen könnte. Mir fiel auf, dass in jeder meiner Erinnerungen nicht nur ein Ort zu sehen war – Afghanistan, Israel, Rumänien, Zimbabwe, die UdSSR –, sondern im Hintergrund auch eine männliche Figur: ein Schurke, ein Liebhaber, ein guter Samariter, ein schwieriger Freund, ein Ehemann, mein erstgeborener Sohn. Ich fischte einen Stift aus der Handtasche. Fand eine Serviette. Ich drehe Laura Mulveys male gaze um,[1] dachte ich, als ich die Namen der Männer auf der Café-Serviette notierte, und gebe jedem Kapitel meines Lebens als selbstständige Frau in der Welt und im Krieg den Namen eines Mannes (oder kleinen Jungen), der im Off steht. Ich bin das sehende Subjekt. Die Männer sind das Objekt – meiner Zuneigung, meiner Wut, meiner Lust, meiner Dankbarkeit, meiner Liebe. Der female gaze, schrieb ich darunter, zweimal unterstrichen: die tägliche Erinnerung daran, wie ich meine Geschichte deuten will.

Ladyparts ist das Gegenstück und die Fortsetzung dieses weiblichen Blicks, diesmal auf meinen eigenen Körper gerichtet. Nicht um meine Identität auszulöschen, wie der männliche Blick es tun würde, sondern um sie mir zurückzuholen.

In den zwanzig Jahren, die seit Shutterbabe† (deutsch: Das Abenteuer leben) vergangen sind,[2] sind mein Körper und ich durch eine relativ hohe Zahl narrativer Schlaglöcher gerumpelt: medizinisch, familiär, finanziell, beruflich, emotional, und hoppla, wer rechnet mit sowas? Plötzlich stand das FBI vor meiner Tür. Oft sah ich mich gezwungen, mich hartnäckig, lautstark und teils unter großen persönlichen Opfern zu wehren, während ich gleichzeitig vier Abstürze auf einmal auffing: den der Medienindustrie, den meiner Ehe, den meiner Gesundheit und den der amerikanischen Mittelklasse.

Ist meine Stimme vom vielen Schreien etwas schrill geworden? Darauf kannst du Gift nehmen. Ich weiß, ich spreche für viele Frauen in den USA, wenn ich sage: Wir sind es leid! Wir sind es leid, dass die Care-Arbeit am Ende immer auf uns zurückfällt. Wir sind es leid, dass Konzerne Gesetze brechen und die Regierung die Bedürfnisse arbeitender Familien ignoriert. Wir sind es leid, für unseren »Ton« kritisiert zu werden, wenn dieses Wort als Waffe verwendet wird, um uns zum Schweigen zu bringen. Wir sind es leid, weniger Geld zu verdienen als Männer, beim Sprechen unterbrochen zu werden, willkürlich gefeuert zu werden und in der Menopause, wenn wir gerade zur Hochform auflaufen, aussortiert zu werden. Wir sind es leid, ganze Arbeit zu leisten, ohne ganz gewürdigt zu werden. Wir sind es leid, uns reinhängen zu müssen, während wir rausgedrängt werden. Wir sind Geheimhaltungsverträge, Grapscher, Datenlücken und Versorgungslücken leid. Wir sind es leid, von der Forschung vernachlässigt zu werden.

Wir sind Schlagzeilen wie diese leid, aus der ersten Woche nach dem annus horribilis 2020, als im Schwarzlicht eines neuen Virus die riesigen Löcher im Sicherheitsnetz unseres Landes zum Vorschein kamen: »Die US-Wirtschaft hat im Dezember 140 000 Jobs verloren. Alles Frauen.« Und wir sind die Folgen leid, die das alles für unsere Psyche, unsere beruflichen Entscheidungen, unsere Lebensqualität, unser Konto und unsere Gesundheit hat.

Denn selbst wenn die Zahl meiner Operationsnarben ungewöhnlich hoch ist, sind die einzelnen Diagnosen ungewöhnlich? Nein. Bin ich eine Ausnahme? Nein, im Gegenteil. Ich bin jederfrau: geboren mit weiblichen Organen in einer Welt, die uns aufgrund dieser Organe übersieht und überhört, unterbezahlt und untererforscht und unterversorgt und unterfinanziert und uns nicht die gleichen Rechte garantiert.

Also. Willkommen in meinem Körper! Hereinspaziert. Ich führe dich herum.

* Falls du diese Diagnose googelst, wovon ich abrate, hafte ich nicht für entstehende Traumata. Ich habe es am Tag nach meinem Krankenhausaufenthalt getan und werde die Bilder nicht mehr los. Ernsthaft. Sei gewarnt. Ich verspreche, dass ich die relevanten Details in diesem Buch zwar nicht geschmackvoll, aber mit genug komischer Distanz beschreibe, um die Sache hinter uns zu bringen.

† Ich wollte das Buch »Shuttergirl« oder »Develop Stop Fix« nennen, aber man sagte mir, der Titel sei nicht meine Entscheidung. Traurig, da es in Shutterbabe darum geht, den männlichen Blick umzukehren, nicht vor ihm zu kapitulieren, aber, hey: Hier bin ich wieder, bei Random House. Zwanzig Jahre, sieben Bücher, drei Verlage und eine #MeToo-Bewegung später. Heute sitzen andere am Ruder. Schwamm über den Sexismus.

Teil 1VAGINA 2017

Sechs Jahre zuvor …

Teil 2 GEBÄRMUTTER 2011 – 2012 (mit zwei Ausflügen ins Jahr 2001)

3 An jenem klaren blauen Morgen

11. September 2001

An jenem klaren blauen Morgen, als ich mit meiner damals vierjährigen Tochter auf dem Dach stand, ihre speckigen Beinchen um meine Hüften geschlungen, und ihren Fragen auswich, während wir zusahen, wie feste Masse in zwei Zwillingswolken aufging – »Fliegt das nächste Flugzeug in unser Haus?« (Nein, das passiert nicht, versprochen …), »Wo ist Daddy?« (Der ist bestimmt gerade auf dem Heimweg …), »Was passiert jetzt mit den Kindern?« (Welche Kinder?), »Die Kinder von den Leuten im Feuer?« –, erschütterte mich gleichzeitig auch die Implosion meiner Familie. So furchtbar der Gedanke war, dass der Vater meiner Kinder es nicht aus seinem Büro direkt gegenüber von dieser Fackel aus Stahl und verkohltem Fleisch geschafft hatte, fragte sich eine leise schamerfüllte Stimme tief in mir, wie sich eine von außen herbeigeführte Erlösung von unseren zermürbenden Konflikten anfühlen würde.

Die Telefonleitungen waren überlastet. Der Nahverkehr stand still. Während der ersten chaotischen Stunden, nachdem die Flugzeuge ins World Trade Center gerast waren, hatte ich keine Nachrichten von ihm. Dafür wurde mein Postfach von E-Mails geflutet, mehr, als ich beantworten konnte, viele davon zu schlimm, um sie zu verarbeiten. Ted Hennessy, ein Freund einer Kollegin, hatte in einem der Flugzeuge gesessen. Carlton Valvo, der Vater von Dante, einem Zweitklässler aus der Grundschule meines Sohns, war in den Türmen gefangen. Mike Pescherine, der Onkel von Max, dem besten Freund meines Sohns, saß auch dort drin. Ja, antwortete ich Max’ Eltern Tom und Maria. Ich würde später mit den Kindern und etwas zu essen vorbeikommen, um ihnen beizustehen. Vielleicht schaffte es Mike irgendwie aus den Trümmern, wer weiß? In den ersten Stunden war diese Art von magischem Denken noch möglich. Dass ein Mensch einen Brand, gefolgt von einem Sturz aus dem hundertsten Stock, überleben könnte. Vor ein paar Wochen hatten wir alle zusammen zu Abend gegessen. Mike hatte zwischen Hauptgang und Dessert stolz verkündet, dass seine Frau Lyn ihr erstes Kind erwartete.

Ich klappte den Laptop zu. Es war zu viel. Der Rauch zog stadtaufwärts, in unsere Wohnung. Er roch sauer, toxisch. Ich schloss die Fenster, dann schnallte ich meine Tochter in den Fahrradsitz, um den Film, den ich von den brennenden Türmen gemacht hatte, persönlich bei meinem Fotoagenten vorbeizubringen, der dringend Bildmaterial der Ereignisse suchte.

Als ich auf dem Fahrradweg am Hudson River den amöbenhaften Strom weißgesichtiger Gestalten sah, der mir von der Südspitze Manhattans entgegenkam, fühlte ich mich wie damals im Krieg, so vertraut wirkten der Marsch und das Ausmaß des Traumas, die vor Gewalt fliehende Menschenherde und der im Hintergrund aufsteigende Rauch. Ich wollte anhalten und Fotos machen, aber meine Tochter war im Fahrradsitz eingeschlafen, die Kameratasche auf ihrem Schoß, und das Fahrrad wäre umgefallen, wenn ich es abgestellt hätte, um auf einen Baum zu klettern und zu fotografieren. Stattdessen prägte sich das Bild so tief in mein Gedächtnis ein, dass ich seitdem nie wieder am Hudson River entlangfahren kann, ohne diese staubbedeckten Geister zu sehen.

»Verdammt, tut mir leid. Ich hatte vergessen, dass du ein kleines Kind hast«, flüsterte Jeffrey, mein Agent, als ich das Fahrrad mit dem schlafenden Kind aus dem Lastenfahrstuhl schob und ihn bat, das Rad festzuhalten, während ich den Film aus der Tasche kramte. Ich entschuldigte mich, dass ich nicht weiter in Richtung Downtown gekommen war, ins Herz des Chaos. Ich musste noch meinen Sohn von der Schule abholen. Seine Lehrerin hatte vorgeschlagen, dass wir die Erstklässler bis Schulschluss dort ließen, um ihnen keine Angst zu machen, aber langsam kamen mir Zweifel.

Ich sprang aufs Fahrrad und strampelte stadtauswärts, so schnell ich konnte, weg von dem, was sich später als toxische Luft entpuppte. Doch was sollte ich mit meiner vierjährigen Tochter machen, die immer noch im Fahrradsitz schlief? Die Grundschule war zu weit weg, um zu Fuß zu gehen. Ihren Buggy hatte ich verschenkt. Unsere Babysitterin saß drüben in Brooklyn fest. Die Stadt war im Lockdown, denn weder Subway, noch Taxi, Auto oder Bus fuhren. Auf dem Fahrrad konnte ich nur ein Kind mitnehmen. Es fühlte sich an wie das Logikrätsel mit dem Bauern, der einen Fuchs, ein Huhn und einen Getreidesack über den Fluss bringen muss, aber nur einen Platz im Boot hat.

»Wo ist er?«, fragte ich laut, als ich an der Intrepid vorbeifuhr, dem Museumsschiff, das mein Mann so liebte. Inzwischen liefen mir Tränen übers Gesicht, und über mir heulten Kampfjets. Ich meinte damit: Wo ist mein Ehemann in diesem Moment? Ist er tot? Lebt er?, aber auch: Wo ist er, immer?

Im Frühjahr 1995, zwei Wochen vor dem Geburtstermin unseres ersten Kindes, wollte er unbedingt die Intrepid mit mir besichtigen, den ehemaligen Flugzeugträger aus dem Zweiten Weltkrieg, der als Museum am Ufer des Hudson River liegt. Im Einsatz hatte das Schiff fünf Kamikaze-Angriffe und einen Torpedoeinschlag überlebt. Ich hingegen überlebte kaum die steile, schmale Treppe aufs Deck. Auf halber Strecke blieb ich stehen, vor Schmerz gekrümmt und außer Atem, weil die Gebärmutter gegen meine Lunge drückte. »Ich kann nicht mehr«, ächzte ich. »Tut mir leid. Geh ruhig ohne mich. Ich setze mich unten auf die Bank und warte.«

»Nein!«, sagte mein Ehemann sichtlich verärgert. »Du hast es mir versprochen!« Er liebt Militärmuseen. Am Anfang fand ich seine Leidenschaft für Geschichte und Waffen süß und sah mir auf gemeinsamen Städtereisen alle Militärmuseen mit ihm an, auch wenn sie mich nicht besonders interessierten, denn darum geht es in einer Ehe, dachte ich. Um Kompromisse.

Weil ich ihm zwischen den Tourist*innen auf der Schiffstreppe keine Szene machen wollte, schleppte ich mich bis hinauf aufs Deck, dann setzte ich mich auf den Boden und wurde prompt allein gelassen. (Bänke gab es nicht, jedenfalls sah ich keine.) Ich überlegte, ob ich an diesem schönen Maisonntag wieder hinuntersteigen und mich an den Fluss setzen sollte, aber dann dachte ich, mein Mann würde sich nur kurz umsehen und bald zu mir zurückkommen. Stattdessen besichtigte er das Schiff von oben bis unten alleine, was Stunden dauerte, während ich hochschwanger auf dem Deckboden saß und wartete. Und wartete. Und wartete. Wo ist er?, fragte ich mich. Tragbare Telefone gab es erst drei Jahre später. Die Bauchkrämpfe – vermutlich Übungswehen – wurden von Minute zu Minute stärker. Oder waren es die richtigen Wehen? (Ja, es waren die richtigen.)

»Wo warst du?«, fragte ich, als er endlich zurückkam, und schluckte die Tränen hinunter.

»Wieso? Ich habe mir das Museum angesehen«, sagte er.

Zwei Stunden später platzte im Rockefeller Park, einer aufgeschütteten Grünanlage im Schatten der Zwillingstürme, meine Fruchtblase.

Als ich sechs Jahre später von der Fotoagentur zurückkam, hob ich meine schlafende Tochter aus dem Fahrradsitz, legte sie ins Bett und versuchte, irgendjemanden aufzutreiben, der auf sie aufpassen konnte, solange ich meinen Sohn abholte. Das Telefonnetz war immer noch überlastet. Und während die Elternratgeber in meinem Regal gute Tipps hatten, wenn es ums Einschlafen, Gemüse und Wutausbrüche ging, stand in keinem davon, wie man bei einem Terrorangriff ein Kind von der Schule abholt, während das andere schläft.

Dann, zum Glück: ein Vater aus der Nachbarschaft, der klingelte und fragte, ob ich Hilfe bräuchte. Ich bedankte mich, bat ihn, auf mein schlafendes Kind aufzupassen, und sprang auf das Fahrrad meines Mannes, an dem ein Tandemanhänger für ältere Kinder festgemacht war. Auf dem Weg nach Osten durch Manhattan lief in meinem Kopf in Endlosschleife R.E.M.s »It’s the End of the World as We Know It«. Die auto- und menschenfreie Stadt lag funkelnd unter dem kobaltblauen Himmel, zwischen dem Heulen der Sirenen in unheilvolle Stille getaucht. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, dass ich die Schönheit bemerkte und genoss.

»Du bist zu spät«, sagte mein Sohn mit zitternder Unterlippe, als ich endlich vor ihm in die Knie ging und ihn umarmte. Es war erst kurz nach Mittag, aber er war einer der letzten Erstklässler*innen, die abgeholt wurden. Anscheinend hatten alle anderen Eltern auch beschlossen, nicht bis zum Schulschluss zu warten.

»Tut mir leid, Liebling«, sagte ich und schluckte die Tränen hinunter. »Ich bin gekommen, so schnell ich konnte.«

»Max’ Onkel ist in dem Hochhaus. Und Dantes Daddy.«

»Ich weiß. Ich habe es gehört. Das ist schrecklich.« Ich hielt ihn fest, als er zu schluchzen begann.

»Geht es Daddy gut?« Erst letzte Woche hatte ihn mein Sohn in seinem Büro gegenüber vom World Trade Center besucht. Sie waren zusammen hinaufgefahren, um die Aussicht aus dem Restaurant Windows on the World zu sehen.

»Daddy geht es gut«, versicherte ich ihm und behielt für mich, dass ich seit Stunden nichts von ihm gehört hatte. Die Handynetze waren seit den Anschlägen zusammengebrochen, aber warum rief er nicht vom Festnetz im Büro oder von einer Telefonzelle**