Lauf, Mädchen, lauf! - Mirsada Simchen-Kahrimanovic - E-Book

Lauf, Mädchen, lauf! E-Book

Mirsada Simchen-Kahrimanovic

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Beschreibung

Ein kaum beleuchteter Krieg in Europa: Der Balkan-Konflikt aus Sicht einer Zeitzeugin Im Frühjahr 1992 spitzt sich die Lage in der zentraljugoslawischen Republik dramatisch zu. Bosnien-Herzegowina erklärt seine Unabhängigkeit von Jugoslawien. Als Antwort darauf beginnen serbische Einheiten sogenannte »ethnische Säuberungen« unter der bosniakischen Bevölkerung durchzuführen. Die Kriegsverbrechen und Gräueltaten steigern sich ins Unermessliche. Gleich beim ersten Angriff auf ihr bosnisches Dorf wird Mirsada Simchen-Kahrimanovics Vater ermordet. Sie selbst wird mit Mutter und Schwester im Lager Trnopolje inhaftiert. Hier erlebt die 13-Jährige Terror und sexuellen Missbrauch der gefangenen Frauen durch serbische Soldaten. In ihrer Autobiografie berichtet sie von diesem Kindheitstrauma und setzt ein Zeichen für Verständigung und Frieden. - Eine Zeitzeugin erzählt: Biografie einer starken Frau basierend auf ihren Tagebüchern - Die verdrängten Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 1995 und ihre Folgen - Kriegserinnerungen, die prägen: Mitreißender und erschütternder Erfahrungsbericht - Neuanfang in Deutschland: Erlebnisse als Kriegsflüchtling in einem fremden Land - Berührendes Plädoyer für mehr Toleranz zwischen Völkern und ReligionenDer verdrängte Krieg auf dem Balkan: Erinnerungsbuch macht menschliche Schicksale greifbar »›Rennt, rennt‹, riefen uns die Soldaten von draußen in unser Versteck zu, während sie mit den Fäusten an die Fenster hämmerten. Wir rannten aus unserem Keller - direkt in die Hölle: das Konzentrationslager von Trnopolje.« Mirsada Simchen-Kahrimanovic gelingt schließlich die Flucht. In Deutschland baut sie sich erfolgreich ein neues Leben auf - und kann die Erinnerung an den geliebten Vater und den Krieg doch nicht abschütteln. Bis heute rennt sie: jeden Morgen zehn Kilometer. »Lauf, Mädchen, lauf!« ist ihr sehr persönliches und emotionales Memoir. Eine Lebensgeschichte, die durch ihre Standhaftigkeit Mut macht, und ein Buch, das den vergessenen Krieg auf dem Balkan wieder in das öffentliche Bewusstsein rückt.

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Seitenzahl: 147

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Mirsada in Kozaruša vor der Ruine des Hauses, in dessen Keller sie sich vor dreißig Jahren versteckt hatte.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.

© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: SPLENDID. Text- und Webdesign, Göttingen

Karten: Peter Palm, Berlin

Abbildungen im Buch: S. 2, 14, 81/82, 129: Mirsada Simchen-Kahrimanović; 44/45: Arnold & Domnick auf Basis einer Vorlage der Autorin

Satz: Arnold & Domnick, Leipzig

Einbandabbildung: Ievgen Chabanov/Alamy Stock Photo

Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-8062-4549-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4555-4

eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4556-1

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Inhaltsverzeichnis

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Impressum

Inhalt

1 Lauf, Mädchen, lauf!

2 Unterm Kirschbaum

3 Im Keller

4 Auf der Flucht

5 Die Hölle von Trnopolje

6 Gefangen in der Freiheit

7 Ankunft in Deutschland

8 Mein neues Leben

9 Traumabewältigung

10 Heimkehr nach Bosnien

11 Zwiegespräch am Grab

Nachwort von Christian Schmidt, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina

Anhang

Die Jugoslawienkriege zwischen 1991 und 1995

Karten

1 Lauf, Mädchen, lauf!

Nur noch ein paar Meter, Mirsada. Du schaffst das! Ich renne langsam und atme im Einklang mit dem Lauftempo, während über Stuttgart ein Maimorgen im Frühling 2022 anbricht. Auch an diesem Morgen zeigt meine Smartwatch 12 000 Meter an, genau wie gestern, genau wie vorgestern. Ich weiß, so wird es sein, solange ich lebe, solange ich laufen kann. Jeden Morgen zur selben Zeit, dieselbe Distanz. Manchmal denke ich, es wäre gemütlicher und schöner, um vier Uhr morgens im warmen Bett zu liegen, aber ich bin nie ins Zweifeln geraten. Ich habe begriffen: Laufen ist Freiheit! Und Freiheit hat keine Alternative.

Ich möchte mich nicht diesem Albtraum hingeben, der so oft wiederkehrt, der mich an die Wirklichkeit meiner Kindheit erinnert und mich so hilflos macht. Mein Körper ist vor Angst verkrampft. Ich kann keinen Fuß mehr vor den anderen setzen – als hätte ich keine Füße. Stattdessen laufe ich, bis meine Zehen blau sind und mein Körper schmerzt. Nur so kann ich wahrnehmen, dass ich existiere. Durch Laufen besiege ich diese Erinnerung, die sich wie eine feindliche Macht in meine Träume geschlichen und sie erobert hat.

Wenn es regnet, empfinde ich beim Laufen, während mir die Tropfen über das Gesicht rinnen, den Schmerz der Menschen, deren Tod ich mitangesehen habe. Jede Beschmutzung mädchenhafter Unschuld: Sie kamen nachts in den Raum, es war dunkel, weibliche und männliche Körper waren nicht zu unterscheiden; sie bückten sich, torkelnd, betrunken, und suchten einen weiblichen Körper. Dann zogen sie ihn heraus, an Händen, Füßen, Haaren, unter Geschrei. Wir hörten die Mädchen stundenlang schreien. Die Männer lachten, tobten sich aus, wechselten sich ab. Ihren abgrundtiefen Hass und ihre Erniedrigungen unterstrichen die Soldaten mit Worten: »Wir löschen euch aus. Generation für Generation, eines Tages werden nur Serben übrigbleiben.« Am Ende oft ein Schuss …

*

Die Regentropfen in meinem Gesicht sind ihre Tränen. Bäche von Tränen, entsprungen aus dem schlimmsten Schmerz, dem Schmerz bosnischer Konzentrationslager. Ich wollte fliehen, doch ich konnte nicht. Ich musste dort bleiben, in diesem dunklen Raum, in der Ecke eines früheren Klassenzimmers, unter einer Schulbank versteckt. Einfach aufstehen und gehen – daran war nicht zu denken.

Deshalb laufe ich jetzt. Für die Menschen, die mich umgeben, war das anfangs schwer zu begreifen und zu akzeptieren, doch sie haben es hingenommen. Mit den Jahren bleiben uns nur die Nächsten, Liebsten, Treuesten. Bei ihnen bin ich mit der Zeit auf Verständnis und aktive Unterstützung gestoßen. Jetzt sagen sie oft: »Lauf, Mirsada! Du schaffst das!« Denn sie haben verstanden, warum ich laufe. Warum ich einen Teil meines Lebens für mich lebe, doch den größten Teil für jene, die nicht mehr da sind: für meinen Vater, für die vergewaltigten Frauen.

Die Konfrontation mit dem eigenen Schicksal fällt schwer. Ich erinnere mich an die erste Zeit in Deutschland, als ich Freunde finden wollte. Die meisten glaubten, ich bräuchte Hilfe oder Geld und würde deshalb ihre Nähe suchen. Ich war ja schließlich nur ein Flüchtlingskind. Sie konnten nicht verstehen, dass ich Freunde brauchte, gute Freunde, wie ich sie in meiner Heimat hatte. Auch ihnen sagte ich, dass ich laufe, doch niemand konnte verstehen, warum ich das tun musste. Dieses zwanghafte Laufen begleitet mich über all die Jahre.

Als die Sehnsucht nach meinem Geburtsort Kozaruša in Bosnien endlich stärker war als die Angst vor den Erinnerungen an die furchtbaren Erlebnisse dort, kehrte ich in meine Heimat zurück. Doch dort war ich die Frau, die ihre Landsleute und ihre Heimat im Stich gelassen und den Krieg nicht in Gänze erlebt hat. Äußerlich sah mir niemand meine Schmerzen an. Aber jeder konnte merken, dass ich anders war. Sie wunderten sich über mein tägliches Laufen zu früher Stunde. Sie hielten mich für verrückt – alle fragten mich, weshalb ich laufe. Nicht verstanden zu werden, weder in meiner alten noch in meiner neuen Heimat, war sehr schwer für mich. Und doch lief ich immer weiter.

*

Jetzt ist die Lage eine andere: Ich laufe, im vollen Bewusstsein, dass mein Körper und meine Seele nun frei sind. Dass sie sich von dem Joch der Gefangenschaft befreit haben. Dass sie Angst und Schmerz überwunden haben, die ich noch Jahre nach dem Verlassen des Konzentrationslagers mit mir herum-getragen habe. Dass ich, solange ich laufe, nicht gefangen bin oder dazu gezwungen, tagelang, mit abgestorbenen Beinen, auf der Stelle zu hocken; die Schreie jener nicht hören muss, die vergewaltigt, gepeinigt, getötet wurden. Um uns spüren zu lassen und zu zeigen, dass wir weniger wert waren als Vieh.

Obwohl ich an diesem Morgen längst zu Hause sein müsste, laufe ich immer weiter. Die Gedanken kreisen mehr als an anderen Tagen. Es ist ein besonderer Tag, und ich möchte noch ein wenig länger hier bei mir selbst bleiben. Ich möchte über diesen Tag im Mai 1992 nachdenken.

So viele Fragen lassen mich nicht los. Warum wurde mein Vater erschossen? Wurde er vor seinem Tod misshandelt? Musste er lange leiden? Wessen hatte er sich schuldig gemacht? Er gehörte doch nur einer anderen Religion an. Er war Bosniake und Moslem. Diesen Umstand musste er mit seinem Leben bezahlen.

Wenn mich derartige Gedanken überkommen, wenn ich mir das Bild meines Vaters vor Augen führe, dann vermischt sich die Trauer mit einem Lächeln, und ich könnte ewig weiterlaufen, stark und sicher, dass er bei mir ist. Dass er mir die Tränen, die Regentropfen vom Gesicht wischt und zu mir sagt: »Mein starkes Mädchen, du wirst all deine Ängste und Schmerzen besiegen. Ich musste erledigen, wozu ich auf diese Welt gekommen bin, aber du musst das auch. Und vor dir liegen Erfolg und Freiheit! Ich bin glücklich, dass meine Tochter ein besseres Leben lebt!«

Später, wenn ich vom Joggen nach Hause komme, spule ich dieses imaginäre Gespräch in Gedanken wieder und wieder ab. Ich wünsche mir dann, dass mein Vater tatsächlich hier wäre, doch ich weiß, er ist es nicht.

Mir ist klar, dass ich mein Leben jetzt leben, dass ich die Bürde der Vergangenheit ertragen muss und den Verlust, der mein unbeschwertes Leben und das meiner Mutter und Schwester zerstört hat. Das Leben meiner Nachbarn, Verwandten und ihrer Kinder. Das Leben einer ganzen Generation.

In jenem Mai vor dreißig Jahren war ich fest überzeugt, niemand sei stark genug, um eine derartige Last durchs Leben zu tragen. Blutige Bilder, Schreie von Sterbenden oder Leidenden mit Schmerzen, die kein Mensch je ertragen sollte. Hager, klein und schwach, wie ich war, glaubte ich, dass mein Leben an diesem Punkt, an diesem Ort beendet sein würde. Dass alles, was danach käme, lediglich ein Vegetieren sein würde – wie bei einer vertrocknenden Pflanze, die ihre Wurzel, ihre Nahrung, ihre Heimaterde und ihre Heilungschancen verloren hat.

Erstaunlicherweise fühlte ich zugleich einen starken inneren Drang zu überleben – egal wie. Ich dachte, die Rettung aus dem Lager sei die Erlösung und dass ich Glück gehabt hatte, überlebt zu haben. Ungeachtet der Schmerzen, die mir der Anblick all dieser Qualen, Vergewaltigungen und Tötungen bereitet hat, war ich dankbar, dass ich nicht ermordet worden war. Doch später hörte ich mich wohl Hunderte Male sagen, es wäre besser gewesen, wenn auch ich damals mein Leben verloren hätte.

Denn was nach dem Lager kam, war vielleicht noch schwerer! Eigentlich war jeder Tag danach weiter eine Art Gefangenschaft. Nur war ich jetzt die Gefangene meiner Gedanken, die meinen Alltag in ein Lager verwandelten. Ein Lager, aus dem ich nicht entkommen konnte. Die Gedanken, sie sind da und sie gehen nie weg.

Heute, dreißig Jahre nach der letzten Begegnung mit meinem Vater, spüre ich immer noch, dass ein Teil von mir mit ihm verschwunden ist. Vielleicht hätte ich ihn rufen sollen: »Papa!« Vielleicht wäre er umgekehrt? So oft habe ich darüber nachgedacht, und ich bin fest überzeugt, dass er aus Liebe zu uns zu unserem Dorf zurückging, um es zu verteidigen. Ich bin sogar überzeugt, dass er dachte, er könnte die Angreifer durch Worte aufhalten. Ihnen erklären, dass niemand im Dorf bewaffnet sei, dass hier nur Zivilisten lebten, die in Frieden leben wollten.

Mein Vater war ein großer, starker Mann von zweiundvierzig Jahren. Damals, mit meinen dreizehn Jahren, glaubte ich, die ganze Welt passe auf seine starken Schultern, und selbst die Gefahren, die von den Erwachsenen als Krieg bezeichnet wurden, könnten ihm nichts anhaben. Ich war sicher, er würde uns beschützen. Und auch er dachte das, sogar dann noch, als die anderen beschlossen, zu fliehen und das Dorf schutzlos zurückzulassen. Als ihnen klar wurde, dass sie den um ein Vielfaches stärkeren Feind nicht besiegen konnten. Mein Vater blieb. Er glaubte an seine Kraft. Er glaubte an sich. Ich glaubte an ihn.

Ich schaute ihm nach – er lief in Richtung unseres Dorfs. Es ging um die Freiheit, unsere Freiheit, meine Freiheit.

Deshalb renne ich bis heute! Jeden Tag. Ohne Ausnahme. Mit meinen »Waffen«: meiner Liebe, meinem Wissen und meinem Engagement für die Gesellschaft, in der ich lebe.

2 Unterm Kirschbaum

Im Mai 1992 hatte ich gerade die sechste Klasse abgeschlossen, die Sommerferien standen kurz bevor. Diese Zeit ist in meiner Erinnerung immer verbunden mit dem Kirschbaum in unserem Hof. Sobald die Kirschen reif wurden, kletterten wir jeden Tag auf den Baum. Bis ganz oben in die Spitze, wo die größten und reifsten Kirschen hingen. An den Ästen des Kirschbaums hatte mein Vater zwei Schaukeln befestigt, sodass meine Schwester und ich gleichzeitig schaukeln konnten.

Auch andere Kinder aus dem Dorf waren eingeladen, mit uns zu spielen. Oft besuchten uns unsere fast gleichaltrige Cousine Anela und ihr Bruder Ibrahim. Sein Spitzname war Baja. Die beiden wohnten zwei Häuser weiter, und wir waren wie eine kleine verschworene Familie. Besonders Baja bewunderten wir, der für uns wie ein Bruder war. Mit ihm zu spielen, war so interessant und voller Herausforderungen, besonders, weil Baja ein aufgeweckter und etwas ungezogener Junge war. Der auch uns Mädchen die Chance gab, mitzumachen – gleichberechtigt im Spiel Verbote hinter uns zu lassen.

Durch unser Dorf führte ein ziemlich gerader, festgetretener Weg, ideal zum Radfahren, weshalb meine Schwester und ich oft, wenn keine Arbeit im Haus oder auf dem Feld zu erledigen war, mit dem Fahrrad unterwegs waren. Unter dem Kirschbaum und auf den Feldern von Kozaruša lebten wir in unserer kleinen heilen Welt. Unser Dorf Kozaruša liegt im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina, heute in der Republika Srpska, und gehört zur Gemeinde Prijedor. Von Banja Luka, der nächsten Stadt, ist es 42 Kilometer entfernt.

Wir wuchsen auf, wo die Hänge des Kozara-Gebirges in wogende Felder übergehen. Mit unserem Vater unternahmen wir oft Ausflüge in die Berge und durchstreiften die Wälder. Er erzählte uns, was im Zweiten Weltkrieg in den Kozara-Bergen passiert war. Auch in der Schule wurde uns davon berichtet.

Mirsada im Alter von vier Jahren mit ihrer Mutter – das einzige erhaltene Kindheitsbild.

Zwischen 1941 und 1945 hatten sich dorthin Tausende aus den umliegenden Tälern geflüchtet und Schutz in den dichten Wäldern gesucht. In diesen Bergen kämpften die Partisanen gegen die nationalsozialistischen Besatzer, woran bis heute Denkmale erinnern.

*

Wir lebten auf dem Land – so wie Generationen vor uns. Mit meiner sechs Jahre älteren Schwester hütete ich Schafe und Kühe, machte Heu und grub den Gemüsegarten um. Kinder waren hier noch wichtige Helfer bei der Haus- und Feldarbeit. Von klein auf wurden sie darauf vorbereitet, eines Tages den Hof zu übernehmen.

Auf Wunsch unseres Vaters aber sollten wir Mädchen, als nächste Generation der Familie Kahrimanović, mit dieser Tradition brechen. Stets pflegte er zu sagen: »Eure Hauptaufgabe ist es, fleißig zu lernen. Wir möchten, dass ihr die besten Schülerinnen werdet. Eure Mutter und ich erledigen die Feld- und Waldarbeit.« Und wir lernten. Nicht jeden Tag aufs Feld zu müssen, war uns sehr willkommen.

*

An einem unbeschwerten Tag im Mai, ich weiß noch, dass es ein Dienstag war, sagte meine Mutter mit besorgter Stimme zu mir: »Mirsada, du musst in die Schule gehen und dir dein Zeugnis abholen, bevor der Krieg losgeht und du es nicht mehr schaffst!«

Abends sahen wir zusammen fern, die ganze Familie. Besorgt verfolgte Vater die Berichte und Reportagen von den Kriegsschauplätzen in Kroatien. Im Fernsehen sah ich brennende Häuser und überall Tote und Schwerverwundete. Mir war nicht klar, was da los war, trotzdem fragte ich nicht nach. Ich wusste, dass uns allen Gefahr drohte. Ich sah es in Vaters Gesichtsausdruck. Und doch glaubte ich, dass uns schon nichts Böses passieren würde, jedenfalls nichts in der Art der Fernsehbilder.

Dennoch gingen mir die Bilder nicht aus dem Kopf. Ich konnte nicht einschlafen. Meine Gedanken waren bei den kroatischen Kindern, die von Soldaten der jugoslawischen Armee in Kroatien ermordet worden waren. Diese Soldaten waren Teil der offiziellen jugoslawischen Nationalarmee, der JNA. Deren eigentliche Aufgabe war es, unsere multiethnische Nation zu schützen – Muslime, Kroaten und Serben gleichermaßen. Jetzt waren sie zu einer verbrecherischen, zu einer »ethnisch reinen« Armee geworden. Ihre Soldaten wurden bald nur noch »Tschetniks« genannt. Teschtniks, so hatten die deutschen Besatzer im Zweiten Weltkrieg Angehörige von nationalistischen und antikommunistischen serbischen und montenegrinischen Milizen bezeichnet, die unglaubliche Kriegsverbrechen verübt hatten, vor allem an Zivilisten; Schätzungen zufolge ermordeten sie Zehntausende Bosniaken und Kroaten. Und ja: Während der Jugoslawienkriege kämpften serbische Freiwillige erneut unter der Bezeichnung »Tschetnik« und bedienten sich auch wieder der gleichen Symbole.

*

Ich starrte in der Dunkelheit an die Decke und fürchtete mich. Würden sie auch zu uns kommen und uns Kinder hier töten? Jedenfalls nahm ich mir für den nächsten Tag vor, so schnell wie möglich aus der Schule nach Hause zurückzukommen. Es war der letzte Schultag – Zeugnisübergabe. Dass mein Zeugnis ausgezeichnet sein würde und mich dafür eine Belohnung erwartete, wusste ich bereits. Was ich nicht ahnte war, dass dies die letzte Nacht in meinem geliebten Zuhause sein würde.

*

Ich wachte früh auf, schwang mich aufs Fahrrad und radelte zur Schule, schnell wie der Wind. Als berührten die Räder den Schotterweg nicht. Unsere Straßen waren mit grobem Schotter und Steinen belegt, asphaltierte Straßen gab es nicht – und gibt es bis heute kaum. Ich konnte es kaum erwarten, in die Schule zu kommen. Weniger wegen der Zeugnisübergabe und den Klassenkameraden. Nein, ich wollte vor allem Eldar vor den Ferien noch einmal treffen. Er war meine erste große Liebe. Es war das Ende des Schuljahrs, und wir würden uns erst im September, im nächsten Schuljahr, wiedersehen. Ich würde seine schönen braunen Augen vermissen.

Meine Schule lag etwa einen Kilometer entfernt von meinem Zuhause. Vor der Schule stieg ich vom Rad. Die Tür war verschlossen. Es war niemand da, den ich fragen konnte, ob ich mich vielleicht im Tag geirrt hatte. Kein Mensch zu sehen. Also fuhr ich wieder nach Hause. Dort angekommen, erzählte ich meiner Schwester, wie traurig ich darüber war, meinen Schwarm nicht mehr gesehen zu haben. Sie entgegnete: »Sei deshalb nicht traurig, Schwesterherz. Gerade geschieht etwas Furchtbares. Vater sagt, der Krieg hat begonnen.«

Meine Schwester meinte, dass unsere Lehrerin Uciteljiva Marica unsere Zeugnisse hatte verschwinden lassen. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Meine Lehrerin war eine Serbin, aber sie war eine großartige Lehrerin, die mir alles beigebracht hatte, was mich an Bildung bis zu meinem sechsten Schuljahr ausmachte. In Bosnien ist es üblich, dass man in der Grundschule eine Klassenlehrerin für die gesamte Schulzeit hat. Vielleicht wollte sie damit einfach nur vermeiden, dass man anhand unserer Zeugnisse unsere Namen und Anschrift erfahren und uns Kinder so finden und töten könnte. Sie kann nur gute Absichten gehabt haben, dachte ich mir. Meine Schwester wiederholte es aber nochmals mit Nachdruck: »Sie hat eure Zeugnisse aus dem Schulregister rausgerissen, als ob es dich nie gegeben hätte in der Schule!« Ich fing an, mit ihr zu streiten. Meine Lehrerin würde so etwas niemals mit böser Absicht tun.

Ich war verwirrt. In unserem Dorf und in der Region lebten Muslime, Kroaten und Serben seit Generationen friedlich zusammen. Ich versuchte mir klarzumachen, was Krieg bedeutete. In dem Moment hörte ich aus der Ferne ohrenbetäubenden Donner, wie ein herannahendes Unwetter. Doch der Maihimmel war heiter, nicht die kleinste Wolke weit und breit. Vielleicht war das der sprichwörtliche Blitz aus heiterem Himmel?

*