Leben ohne Maske - Knut Wagner - E-Book

Leben ohne Maske E-Book

Knut Wagner

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Beschreibung

Wolfgang Bruckners Traum ist es, Theaterdichter zu sein. Die Voraussetzungen sind ungünstig: ein missratenes Abitur, politische Reglementierung im Sozialismus der DDR. Nach einer Lehre als Autoschlosser und einem kurzen Gastspiel auf der Großbaustelle Schwedt beginnt er als Notlösung ein Lehrerstudium. Doch der Versuch, am Theater zu landen, misslingt. Stattdessen verschlägt es ihn in die tiefste Provinz Thüringens. Er kann sich nicht einleben, wo seine Frau zu Hause ist, und er bringt kein Verständnis für die Ansichten seines Schwiegervaters auf, der in den dörflichen Traditionen und Gepflogenheiten fest verwurzelt ist. Dennoch geschieht Unerwartetes: Obwohl Wolfgang seinem Lehrersein nur widerwillig nachgeht, macht er beruflich Karriere. Obwohl er große Angst vor Hunden hat, richtet er Doggen ab. Und August Stillmark, der Werkzeugmacher und Kirmestrompeter, wird mit 56 Jahren Trompetenlehrer an der Musikschule. Nach dem Tod seines Schwiegervaters entscheidet sich Wolfgang, seiner Berufung zu folgen: Ihm gelingt sogar der Sprung ans Theater, an das bekannte Haus in Meiningen. Aber seine Revue bleibt unaufgeführt. Statt Revue Revolution: In die Herbstereignisse 1989 hineingezogen, kämpft Wolfgang Bruckner für Presse- und Meinungsfreiheit.

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Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte Dateien sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Impressum:

© Verlag Kern GmbH, Ilmenau

© Inhaltliche Rechte beim Autor

1. Auflage, Oktober 2020

Autor: Knut Wagner

Layout/Satz: Brigitte Winkler, www.winkler-layout.de

Bildquelle Titelmotiv: © piai | stock.adobe.com

Foto Autorenportrait: Sascha Willms

Lektorat: Anke Engelmann

Sprache: deutsch

ISBN: 978-3-95716-328-8

ISBN E-Book: 978-3-95716-308-0

www.verlag-kern.de

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Nachdruck, Übersetzung, Entnahme von Abbildungen, Wiedergabe auf fotomechanischem oder ähnlichem Wege, Speicherung in DV-Systemen oder auf elektronischen Datenträgern sowie die Bereitstellung der Inhalte im Internet oder anderen Kommunikationsträgern ist ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags auch bei nur auszugsweiser Verwendung strafbar.

Der Abdruck des Gedichtes „Sozialistischer Biedermeier“ erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Irene Bartsch.

Knut Wagner

Leben ohne Maske

Dieses Buch ist unserem Sohn gewidmet.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Dank

Erster Teil (1965 - 1967)

Auftritte im Studentenkeller

Zweiter Teil (1967 bis 1969)

Eine Frau fürs Leben

Dritter Teil (1969 bis 1971)

Theatertraum I

Vierter Teil (1971 bis 1974)

Lebenskrise

Fünfter Teil (1974 bis 1976)

Nirgends zu Hause

Sechster Teil (1976 bis 1978)

Karriere wider Willen

Siebenter Teil (1978 bis 1980)

August Stillmarks Tod

Achter Teil (1980 bis 1987)

Zum Schreiben berufen

Neunter Teil (1987 bis 1989)

Theatertraum II

Zehnter Teil (Herbst 1989)

Rebellion und Aufbruch

Prolog

Dieser Roman ist keine historische Abhandlung. Aber er ist auch keine reine Fiktion.

Vieles beruht auf tatsächlichen Begebenheiten. So flossen die Auftritte als Student im Jenaer Rosenkeller, das Coburg-Gastspiel des Meininger Theaters 1988 und die Herbstereignisse in Schmalkalden 1989 in die Romanhandlung ein. Auch griff ich auf Sagenhaftes, heimatgeschichtliche Dokumente und ein Stück überlieferter Familiengeschichte zurück.

Manches ist ausgedacht; und anderes ist auf der Grundlage tatsächlicher Begebenheiten „weitergedacht.“

Dichtung und Wahrheit sind ununterscheidbar verwoben. Am Ende steht etwas, was man als „authentische Fiktion“ bezeichnen könnte.

Dank

Ich danke meiner Frau für das Verständnis, das sie mir und meinem Schreiben in den zurückliegenden Jahren entgegenbrachte. Denn sie war es, die mir den Rücken frei hielt, damit ich ungestört Vormittag für Vormittag an diesem Roman schreiben konnte.

Auch habe ich meiner Mutter zu danken, dass sie bereit war, mit mir nach Schlesien zu fahren und mir mein Geburtshaus zu zeigen. Ohne diese Erfahrung wäre es nicht möglich gewesen, über meine Herkunft und die Vertreibung zu schreiben.

Erster Teil (1965 - 1967)

Auftritte im Studentenkeller

1. Kapitel

Nach einem missratenen Abitur, einer Lehre als Autoschlosser und einem kurzen Gastspiel auf der Großbaustelle Schwedt war Wolfgang froh, dass er Germanistik und Geschichte studieren konnte. Und für ein gutes Omen hielt er es, dass die Uni, an der er mit seinem Lehrerstudium begann, Friedrich Schiller hieß. Denn sein Lebenstraum war es, Theaterdichter zu werden.

Wolfgang Bruckner war zwanzig Jahre alt, als er im Oktober 1965 in der Kaffeestube der Uni Jena der Dinge harrte, die da kommen sollten.

Er saß mit dem Rücken zur Fensterfront, die in den quadratischen Innenhof zeigte, und hatte die Tische, die Tür und den Kaffeeausschank im Blick. Gelangweilt rührte er in seinem zuckersüßen Kaffee und sah der breithüftigen Frau hinterm Ausschank zu, wie sie an der fauchenden Kaffeemaschine herumhantierte und einem alten Mann mit Baskenmütze und dicker Brille ein Stück Quarkkuchen auf einen Glasteller schaufelte. Bei diesem Mann, einem Literaturprofessor, wird Wolfgang drei Jahre später in einer Klassik-Vorlesung sitzen und Professor Müller wird keinen Hehl daraus machen, was er vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten in die CSSR hält. „Ich bin gegen jede Art von Gewalt“, wird er sagen, und von diesem mutigen Bekenntnis wird Wolfgang so begeistert sein, dass er sich beim Beifallbekunden fast die Knöchel wund klopft.

Die Frau hinterm Tresen war freundlich. Und sinnlich ist sie auch, dachte Wolfgang. Dann gab er das Beobachten der Leute auf, griff nach seinem Campingbeutel, dessen Reißverschluss beim Aufmachen etwas klemmte und zerrte die Zeitschrift „Theater der Zeit“ hervor.

In der jüngsten Ausgabe stand ein ausführlicher Bericht über die 7. Arbeiterfestspiele, an denen er mit dem Arbeitertheater Schwedt teilgenommen hatte.

„Der Dramatische Zirkel des Erdölverarbeitungswerks Schwedt spielte im Frankfurter Kleist-Theater ‚Menschen in Bewährung‘. Uns tritt entgegen, was uns im Leben wie in der Kunst schon manchmal begegnet ist: der Arbeitsbummler und die gute Brigade, die nicht mit ihm fertig wird, das Neuerer-Kollektiv und einige verständnislose Mitarbeiter in der Betriebsleitung, die aus formalen Gründen und mangelnder Verantwortungsfreudigkeit eine technische Entwicklung boykottieren, und das liebende, strebsame Mädchen, das den Liebsten an eine andere, weniger wertvolle Dame zu verlieren droht.

So dargestellt, wäre es leicht, sofort über jede Figur den Stab der sozialistischen Moral zu brechen.“

Neu an der Geschichte sei, konstatierte der Theaterkritiker, dass den Beweggründen der „schwarzen Schafe“ nachgegangen würde und die Fäden so miteinander verknüpft seien, dass man von keiner Gestalt behaupten könne, sie sei absolut „weiß“ oder „schwarz“.

Jeder habe seine Bewährungsprobe, mancher bestehe die eine und versage doch bei der anderen, las Wolfgang, als plötzlich jemand „Mensch, Bruckner!“ sagte.

Es war Ulli, Ulli Flick, den er seit sieben Jahren nicht gesehen hatte. Im Februar 1958 waren Bruckners von Muldenburg in Sachsen nach Erfurt gezogen, und so lange war es her, dass sie sich nicht mehr gesehen hatten.

Wolfgang war hoch erfreut über diesen Zufall und schloss das „Theater der Zeit“. „Meine Lieblingslektüre“, sagte er und Ulli hockte sich neben Wolfgang an den runden Fünfer-Tisch: „Von hier aus habe ich die Tür am besten im Blick“, sagte er. Er studiere Jura und warte hier auf drei Weiber aus dem Ernteeinsatz, die er zum Kaffeetrinken eingeladen habe, fuhr er fort. „Es ist nämlich Sitte“, sagte Ulli, „dass die Erstsemester Germanistik/Geschichte mit dem Drittsemester Jura zusammen in den Ernteeinsatz fahren.“

„Da müssten die Weiber, auf die du wartest, ja in meiner Seminargruppe sein“, sagte Wolfgang. „Ich bin nämlich auch Erstsemester Germanistik/ Geschichte.“

„Und warum warst du dann nicht mit im Ernteeinsatz?“

„Weil ich mir beim Fußballspielen an der Ostsee den linken, kleinen Zeh gebrochen hatte“, sagte Wolfgang und erzählte Ulli ausführlich, wie es dazu gekommen war: „Wir waren ziemlich blau, als wir am letzten Urlaubstag Fußball spielten, und in meinem Besoffensein zog ich meine Schuhe aus. Ich spielte barfuß, und bei einer Fußabwehr als Torwart haute mir jemand, der den Ball nicht richtig traf und seine Lederturnschuhe angelassen hatte, den kleinen, linken Zeh weg. Erst beim Aufstehen merkte ich, dass es ein offener Bruch war. Nach einer Nacht im Rostocker Krankenhaus trat ich mit einem Gipsfuß die Heimreise an.“ Deshalb konnte Wolfgang weder an der feierlichen Immatrikulation Ende August noch am Ernteeinsatz teilnehmen.

„Sechs Wochen hinkte ich in die Unfallchirurgie und ließ den Zeh Woche für Woche röntgen“, sagte Wolfgang. „Das einzig Gute an dieser beschissenen Situation war, dass ich beim Röntgen Rehberg traf, den ich von der Oberschule her kannte. Er studierte Medizin in Jena und machte gerade ein Praktikum in der Unfallchirurgie. Er erzählte mir, dass er im Herbst von Jena nach Leipzig wechseln und seine Bude in der Mühlenstraße aufgeben würde. Und da ich noch keine Unterkunft hatte, fragte ich ihn, ob ich sein Zimmer kriegen könne. Er wusste zwar nicht, ob seine Wirtin das Zimmer wieder vermieten würde. Aber irgendwie bekam er sie rum.“ „Du kannst froh sein, dass du die Bude bekommen hast“, sagte Ulli. „Sonst wärst du in der ehemaligen Nudelfabrik mit acht Mann auf einem Zimmer gelandet.“

„Ich bedauere trotzdem, dass ich nicht mit im Ernteeinsatz war“, erwiderte Wolfgang. „Wir hätten viel Zeit zum Quatschen gehabt.“

„Aber das können wir ja nachholen“, sagte Ulli. „Am besten heute Abend in der ‚Weintanne‘. Oder hast du was anderes vor?“

„Nein“, sagte Wolfgang, und Ulli beschrieb ihm den Weg.

Dann beäugte er misstrauisch die Zeitschrift „Theater der Zeit“ und meinte: „Müsstest du nicht die ‚Lehrerzeitung‘ lesen?“

„Eigentlich ja“, sagte Wolfgang. „Aber darüber können wir ja heute Abend noch reden.“

Wenig später griff Ulli in seine Jackentasche und legte einen Stoß Fotos auf den Tisch. „Schnappschüsse aus dem Ernteeinsatz oben in Mecklenburg“, sagte er, und während er Wolfgang die Fotos zeigte, erklärte er: „Das ist Edda.“ Er deutete auf ein Mädchen mit langen Haaren und einem sinnlich-breiten Mund.

„Ein Kumpel durch und durch. Kein Kind von Traurigkeit, wenn du weißt, was ich meine“, sagte Ulli.

„Und das ist Doris. Sie ist eigentlich rothaarig. Auf Schwarz-Weiß ist das nicht zu sehen. Etwas slawischen Einschlag, ungemein ehrgeizig, und sie glaubt, sie könne einen verführen, indem sie ein Klein-Mädchen-Gesicht und Kulleraugen macht.“

Das ganze Gegenteil sei Christa, die alle nur Biene nennen würden, erklärte Ulli und tippte auf eine bildschöne, schwarzhaarige junge Frau, die zwischen den Kartoffelfurchen stand und direkt in die Kamera lächelte. Selbst in dem schlabbrigen Trainingsanzug sah sie noch verdammt gut aus, fand Wolfgang, und Ulli sagte: „Es ist unheimlich schwer, an sie ranzukommen. Total kühl, sag ich dir.“

Als die drei Studentinnen, die Ulli hinreichend beschrieben hatte, wenig später in der Kaffeestube auftauchten, wusste Wolfgang schon, wie sie hießen und wer sie waren. Eigentlich brauchten sich Doris aus Gera, Biene aus Karl-Marx-Stadt und Edda aus Potsdam gar nicht mehr vorzustellen.

Als Ulli sagte, dass Wolfgang zu ihrer Seminargruppe gehöre, staunten sie nicht schlecht, und Edda sagte: „Du bist also der Gesuchte.“

„Ein gebrochener Zeh hat ihn vorm Ernteeinsatz bewahrt“, sagte Ulli und zeigte den dreien die Fotos, die er von ihnen während der Arbeit auf dem Feld und beim Saufen am 7. Oktober gemacht hatte.

„Am Tag der Republik haben wir gesoffen wie die Löcher“, sagte Ulli.

„Mehr als das!“ Edda tat mächtig geheimnisvoll.

Doris fragte, ob sie mal das „Theater der Zeit“ haben könne, und vertiefte sich sofort in den Artikel über das Treffen der Studentenbühnen in Erfurt.

Als Wolfgang ihr eröffnete, dass er im Arbeitertheater Schwedt mitgespielt habe, sagte Doris: „Wir brauchen noch Männer für die Massenszenen.“

Biene, die einen äußerst vornehmen Eindruck machte, sagte: „Wir drei sind nämlich in der Studentenbühne“, und wedelte mit dem Probenplan, den sie sich gerade geholt hatten. Und Doris versuchte Wolfgang zu ködern, indem sie dem Stück, in dem sie die weibliche Hauptrolle spielte, Wichtigkeit verlieh: „Es ist die Geschichte eines Mannes, der sein Gesicht verliert. Doch mit der Erkenntnis seiner Selbstentwürdigung vollzieht sich in ihm eine grundlegende Wandlung.“

Das Stück, von dem Doris sprach, hieß „Die Lederköpfe“, und geschrieben hatte es ein gewisser Georg Kaiser.

Obwohl Wolfgang weder das Stück noch den Autor kannte, sagte er: „Ich werde’s mir überlegen.“

„Wir hoffen auf dich“, sagte Edda.

„Und ich erwarte dich heute Abend in der ‚Weintanne‘“, sagte Ulli.

Wenig später überquerte Wolfgang den Holzmarkt und holte seinen Koffer im Westbahnhof ab.

In der Mühlenstraße angekommen, klingelte er bei seiner Wirtin und ließ sich die Wohnungsschlüssel geben. „Sie haben noch mal Glück gehabt“, sagte sie. „Nach Ihnen werde ich das Zimmer nicht mehr vermieten“, und es schien, als habe sie ein schlechtes Gewissen, dass sie ihm eine Kellerwohnung anbot, die im Winter sehr kalt und sonst immer etwas feucht war.

Von einem kellerdunklen Treppenabsatz, der ebenerdig hinaus auf den Hühnerhof führte, ging links eine schmale, niedrige Tür ab, die in eine kleine Küche führte.

Die Größe der Küche schätzte Wolfgang auf etwa vier Quadratmeter. Mit schnellem Blick überflog er das Mobiliar: ein schmales Küchenbüfett, ein kleiner, schwarzer Kanonenofen, ein Kleinsttisch mit geschwungenen Füßen und zwei zierliche Stühle aus Holz.

Neben dem angerosteten Metallausguss mit dem schmucklosen Wasserhahn darüber, der einzigen Möglichkeit zum Waschen, befand sich ein schmales Fenster, unter dem es sich die Ameisen bequem machten.

Durch einen ausgeblichenen Türrahmen, bei dem die Tür fehlte, betrat Wolfgang das Wohn- und Arbeitszimmer.

Er stellte den Koffer und den Campingbeutel in der Mitte des Zimmers ab und schmiss sich in voller Montur übermütig auf die breite Kastenmatratze. Auf dem dicken, unbezogenen roten Federbett machte er Probeliegen. Er legte die Hände unter seinen Kopf und ließ das Zimmer auf sich wirken.

Vom Kopfteil der Liege aus konnte Wolfgang sehen, wie die Nachmittagssonne durch das Geäst der Obstbäume von nebenan schien und das warme Oktoberlicht durch zwei Fenster ins Zimmer fiel. Zwischen den sonnenbeschienenen Fenstern stand eine Kommode, und an der Wand über der Kommode hing ein leeres Bücherregal.

Mit dieser Aussicht beendete er sein Probeliegen. Er spürte, dass es sich nicht besonders bequem auf der harten Bettkante saß, und stellte fest, dass der kleine, braune Kachelofen, der das ganze Zimmer heizen sollte, nur einen reichlichen Meter vom Kopfteil der Kastenmatratze entfernt war.

Er starrte auf die gegenüberliegende Stubenwand: auf den dunkelbraunen Kleiderschrank, die bläulich gestrichene Holztür, die direkt in den Hühnerhof hinaus führte, und das Fenster, von dessen Rahmen der weiße Lack in großen Flocken abblätterte. Der einzige Stuhl, den es in diesem Zimmer gab, stand vor dem abgelederten, schwarzen, schweren Schreibtisch, den man genau hälftig zwischen die Tür und das Fenster gestellt hatte.

Wolfgang hätte sich überglücklich schätzen müssen, dass er eine eigene Bude hatte. Aber was er sah, fand er ziemlich beschissen. Dennoch begann er, sich häuslich einzurichten.

Er packte den Campingbeutel aus, in dem sich die Turnschuhe, der Trainingsanzug und fünf Bücher befanden: „Der große Duden“, „Wege zum Gedicht“, ein Bildband über Renoir und die Frauen, „Die deutsche Geschichte in einem Band“ und „Literatur im Überblick“.

Als Wolfgang den Duden mit dem blauen Einband auf das Hängeregal zwischen den zwei Fenstern stellte, die in Nachbars Garten gingen, musste er daran denken, wie er sich in der neunten Klasse von einer Fünf in Rechtschreibung auf eine Drei hochgearbeitet hatte. Mit dem Buchstaben A beginnend, schrieb er den Duden ab. Beim Wort Fatalismus angekommen, hörte er mit dem Dudenabschreiben auf, weil er es inzwischen auf eine Drei gebracht hatte. Und Wolfgang konnte sich gut daran erinnern, dass die Fünf in Rechtschreibung ihn nicht davon abgehalten hatte, zu erklären, dass er später einmal Schriftsteller werden wolle, und er führte Gerhart Hauptmann an, den großen Schlesier und Nobelpreisträger, der in Rechtschreibung auch eine Fünf gehabt haben solle. Zu jener Zeit las Wolfgang nur ungern, was ihm keinen Spaß machte und seinen gegenwärtigen Intentionen nicht entsprach. Er verehrte die Expressionisten und schrieb wirre und wilde Gedichte. Er schwärmte für „Baal“ und Hermann Hesse und alles, was vital und rotweintrunken war, zog ihn magisch an.

Wolfgang griff nach dem Buch „Wege zum Gedicht“ und musste daran denken, wie die Trommern ihn zur Teilnahme an einem Lyrikwettbewerb überredet hatte.

Nachdem Wolfgangs „Der Arbeiter“ in der Betriebszeitung abgedruckt worden war, hatte es sich bis in die Berufsschule herumgesprochen, dass Wolfgang Gedichte schrieb, und die dicke Trommern war von Wolfgangs Veröffentlichung so begeistert, dass sie ihn nach dem Unterricht zu sich bestellte.

Die Trommern, die Deutsch und Staatsbürgerkunde gab und – politisch gesehen – rot bis auf die Hosen war, meinte, dass er unbedingt am Lyrikwettbewerb „Jugend und Alltag“ teilnehmen müsse, der gerade für Schüler und Lehrlinge ausgeschrieben worden sei. „Ich arbeite in der Jury mit“, sagte sie. „Und es wäre unheimlich gut, wenn unsere Schule durch dich vertreten würde.“

Wolfgang schaffte es dank der Trommern auf einen der Podestplätze im Lyrikwettbewerb, und Peter Pollatschek, ein junger Schauspieler, trug Wolfgangs Gedicht auf der Abschluss-Matinee vor.

Am Ende des musikalisch-literarischen Programms wurden die Preisträger nach vorn gebeten. Kurt Steiniger, ein Lyriker, der sich mit Kindergedichten einen Namen gemacht hatte, gratulierte Wolfgang zu seinem Erfolg und drückte ihm das Buch „Wege zum Gedicht“ in die Hand. Als die Trommern nach Veranstaltungsschluss erfuhr, dass Wolfgangs „Arbeiter“ in der Anthologie „Das Lied des Volkes wird geschrieben“ erscheinen sollte, fiel sie ihm um den Hals. Sie vergaß, dass sie seine Lehrerin war, und drückte ihn eine ganze Weile liebevoll und innig an ihren fülligen Körper.

Als Wolfgang den Bildband über Renoir auf das oberste Brett des schmalen Wandregals stellte, flatterte ihm ein kleiner Zeitungsausschnitt entgegen, der ihm als Lesezeichen gedient hatte. Es war ein kleiner Zweispalter, der mit „Themen waren gut durchdacht“ überschrieben war und Wolfgang nochmals an seinen ersten literarischen Erfolg erinnerte.

Über die Matinee anlässlich des Lyrikwettbewerbs schrieb die Journalistin, die wie Nana Mouskouri aussah und während der Veranstaltung in der ersten Reihe neben Wolfgang gesessen hatte: „Dass nicht nur Erwachsene etwas von Gedichten verstehen, bewiesen die Teilnehmer einer Veranstaltung, die unter dem Motto ‚Jugend und Alltag‘ stand. Die Schüler und Lehrlinge zeigten in ihren Gedichten oft eine gedankliche Tiefe, die vom gründlichen Durchdenken ihrer Themen herrührte. Zu den wirklich vielversprechenden Begabungen, die sich vorstellten, zählt unbestritten Wolfgang Bruckner, ein 19-jähriger Autoschlosser.“

Wolfgang entschied sich, diesen kleinen Zeitungsartikel als Merkzettel an die Tür des hohen, schweren Kleiderschranks zu heften. Auf Augenhöhe, damit er nicht vergaß, warum er in Jena Germanistik und Geschichte studierte.

Als wolle er seinem Wunsch, Theaterdichter zu werden, Nachdruck verleihen, trennte Wolfgang aus dem Buch „Literatur im Überblick“ vorsichtig das Jugendbildnis des zwanzigjährigen Schiller heraus und brachte es mit einer Reißzwecke über der Erstrezension an, in der er als vielversprechende Begabung bezeichnet worden war.

Als Wolfgang die „Deutsche Geschichte in einem Band“ neben den Duden, die „Wege zum Gedicht“, und die „Literatur im Überblick“ stellte, erinnerte er sich daran, wie widerwillig er dieses historische Machwerk gelesen hatte, als er sich auf seine Aufnahmeprüfung an der Uni in Jena vorbereitet hatte.

Vom Geschichtsunterricht bei Doktor Landgraf wusste er, dass bei Leistungskontrollen immer die richtigen Allgemeinplätze und Schlagwörter gefragt waren, und so prägte er sich die Stellen ein, mit denen er auf jeden Fall punkten konnte: „Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik unter Führung der Arbeiterklasse, im Bündnis mit der Bauernschaft, der Intelligenz und allen anderen Werktätigen, haben den Weg gezeigt, der den realen Entwicklungsbedingungen entspricht. Das ist der Weg der demokratischen Herrschaft des Volkes. Das ist der einzige deutsche Weg, der den Interessen des Volkes entspricht.“

Als die Bücher, die Wolfgang mitgebracht hatte, den rechten Platz auf dem Hängeregal an der Fensterwand gefunden hatten, fiel ihm zu guter Letzt eine arg kastrierte Europakarte im DIN-A-3-Format in die Hand.

Unmittelbar nach dem 13. August 1961 war Wolfgangs Frust so groß gewesen, dass er sich die Karte gegriffen und die Ostblockstaaten, in die er hätte reisen können, weggeschnitten hatte. So waren auf der arg beschnittenen Europakarte nur noch die Länder zu sehen, die Wolfgang nicht bereisen konnte: BRD, Österreich, Italien, Griechenland, Jugoslawien und Albanien.

Wie eine schematische Darstellung eines Bergprofils, das stufenweise und gezackt von rechts unten nach links oben verlief, sah die Landkarte aus, die Wolfgang mit Reißzwecken an der Tür anbrachte, die zum Hof hinausging.

Am Schreibtisch sitzend, fiel der Blick ganz genau auf diese eigenartig zurechtgeschnittene Landkarte, und sie würde Wolfgang täglich daran erinnern, dass es ihm wohl nie vergönnt sein würde, sich die Welt anzusehen.

Schneller als gedacht war er mit dem Kofferauspacken fertig, schneller als gedacht hatte er seine Lieblingsschallplatten von „The Who“, den „Beatles“, Charles Aznavour, Esther und Abi Ofarim und Krugs „Jazz und Lyrik“ aus den Handtüchern und der Bettwäsche gewickelt und auf der Kommode abgelegt, auf der ein kleines Transistorradio und der Wecker standen, und schneller als gedacht hatte er seine Unterwäsche, den Schlafanzug, das Wechselhemd und seinen geliebten Rollkragenpullover im Kleiderschrank untergebracht.

Es schien, als habe alles seinen Platz gefunden. Aber Wolfgang fühlte sich beschissen, wenn er daran dachte, dass diese Kellerwohnung für vier Jahre sein Zuhause sein sollte, und er war froh, dass er sich mit Ulli in der „Weintanne“ verabredet hatte und nicht den ersten Abend alleine in dieser trostlosen Bude verbringen musste.

2. Kapitel

Durch einen dunklen, schweren Windfang betrat Wolfgang die „Weintanne.“ Es war eine geräumige, etwas düster wirkende Kneipe.

Rechts von der Theke war die Gaststube, in der ein paar Stammtisch-Brüder ihr Bier tranken und, vor sich hinpaffend, einen zünftigen Skat droschen. Links von der Theke war die Weinstube, in der an diesem Abend so gut wie niemand saß, und so fiel es Wolfgang nicht schwer, einen Platz zu finden, von dem aus er das ganze Kneipengeschehen gut überblicken konnte.

Auf Ulli wartend, bemerkte er, dass gleich links neben der Theke eine Wendeltreppe mit hellen Holzstufen und einem schwarz gestrichenen Metallgeländer in den ersten Stock ging. Die enge, steile Treppe führte zu den Privaträumen des Gaststättenehepaares und zu Ullis Zimmer, das sich ebenfalls direkt über der Kneipe befand.

Vor der ersten Stufe der Wendeltreppe lag eine gelbe Dogge auf einer kleinen, blauen Kinderdecke. Obwohl sie zu schlafen schien, achtete sie darauf, dass kein Fremder unerlaubt in die Privaträume kam, und Wolfgang, der eine unheimliche Angst vor Hunden hatte, dachte an den blinden Fendrich aus dem Hinterhaus, der an warmen Tagen die Werkstattfenster weit offen hatte und sich jedes Mal furchtbar darüber aufregte, wenn sie als Kinder durch den Vorderhof tobten. Wenn er abends mit seinem Schäferhund den Hinterhof betrat und sie gerade Haschen spielten, übte er Rache: Er hetzte seinen Hund auf sie.

Als Ulli die Wendeltreppe herunter kam, machte er einen großen Schritt über die schlafende Dogge und kam schnurstracks auf Wolfgangs Tisch zu.

Ulli bemerkte gleich, dass in Wolfgang irgendetwas vorging, und er fragte: „Is was?“

„Ich habe deinen Mut bewundert“, sagte Wolfgang.

„Welchen Mut?“

„Wie du über den Hund hinweggestiegen bist.“,

„Der kennt mich doch.“

„Ich hätte trotzdem Angst, über ihn hinwegzusteigen. Auch wenn er mich kennen würde“, erwiderte Wolfgang.

Die Fenster der Weinstube wurden indirekt beleuchtet, und man hatte den Eindruck, dass es draußen heller Tag war. Deshalb und durch den Wein, den Ulli und Wolfgang tranken, verloren sie völlig das Gefühl für die Zeit. Sie entsannen sich ihrer Heldentaten, auf die sie noch immer sehr stolz waren.

„Weißt du noch, in der siebenten Klasse, als wir vor die Schulleitung zitiert und regelrecht verhört wurden?“, sagte Ulli.

„Obwohl uns der Direktor gegenüber saß, gaben wir nicht zu, was Lehrer Hilbich schon lange zugegeben hatte“, sagte Wolfgang. „Drei Tage hielten wir durch, dann sagten wir, was eh schon jedem bekannt war.“

„Weil der Wirt nicht bereit gewesen war, an uns die Zigaretten zu verkaufen, hatte Hilbich Karl vorgegeben, sie seien für ihn, und der Wirt hatte uns daraufhin die gewünschten Zigaretten verkauft“, erinnerte sich Ulli. „Und weil wir versucht hatten, ein moralisch nicht einwandfreies Verhalten eines Lehrers zu decken, bekamen wir einen Verweis.“

„Den Wortlaut des Briefes, der den Eltern per Einschreiben zugestellt wurde, habe ich noch genau im Kopf.“

Wolfgang, der ein phänomenales fotografisches Gedächtnis besaß, kniff die Augen zusammen und sagte den Brieftext, den er vor sich sah, wie ein Gedicht auf: „Ich muss Sie leider von einem Vorfall während des Wandertages der Klasse 7a am Montag, dem 16. September 1957, in Rochsburg in Kenntnis setzen. Ihr Junge hat mit acht anderen Schülern der Klasse im Gasthof zehn Zigaretten und eine Schachtel Streichhölzer gekauft. Jeder gab dazu zehn Pfennige. Ihr Junge und die übrigen Schüler haben dann im Wald eine Zigarette geraucht. Ich bin gezwungen, Ihrem Sohn für dieses Verhalten einen Verweis zu erteilen und diesen in die Schülerpapiere einzutragen. Bitte wirken Sie ebenfalls erzieherisch auf Ihr Kind ein, damit so etwas nicht wieder vorkommt. Reißland. Direktor.“

„Der Verweis war schlimm“, sagte Ulli. „Aber viel schlimmer wäre es gewesen, wenn Reißland von unserem Austritt aus dem Gruppenrat Wind bekommen hätte.“

Wolfgang erinnerte sich noch ganz genau an jenen Morgen, als Ulli ihn auf dem Schulweg gefragt hatte, ob er Radio gehört hätte und wüsste, was in Ungarn los sei.

„Ich hatte mit meinem Vater bis in den späten Abend hinein alle möglichen Nachrichtensender gehört und am nächsten Morgen erzählte ich dir, dass die Russen in Ungarn mit Panzern Leute niederwalzen, und du warst darüber genauso empört wie ich“, sagte Ulli.

„Und als Fräulein Schmalz die Klasse betrat, versuchte sie, einer Ungarn-Diskussion aus dem Weg zu gehen. Man könne nicht viel darüber sagen, meinte die Schmalzen. Aber aus dir sprudelte nur so heraus, was du von den westlichen Nachrichtensendern gehört hattest“, spann Wolfgang die Geschichte weiter. „Und nachdem du Frage auf Frage gestellt hattest, sprach Fräulein Schmalz plötzlich von Konterrevolution. Aber keiner von uns wusste, was unter Konterrevolution zu verstehen war. Denn in Geschichte waren wir erst beim Faustkeil.“

„Als die Schmalzen uns weiszumachen versuchte, dass in Ungarn Feinde am Werk wären, die das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten, erklärten wir unseren Austritt aus dem Gruppenrat,und der kleine Herbst, der ‚Eine schöne Ordnung ist das, die Menschen niederwalzt‘ in die Klasse gebrüllt hatte, schloss sich uns an“, sagte Ulli, der damals ihr Wortführer gewesen war.

„Fräulein Schmalz sagte, wir sollten uns das noch einmal gut überlegen. Nächste Woche sei Pioniernachmittag, und da könne man nochmals in Ruhe darüber reden“, erinnerte sich Wolfgang.

„Dass die Schmalzen den Austritt aus dem Gruppenrat nicht an die große Glocke hing, lag vielleicht daran, dass sie eine Woche später in den Westen ging“, sagte Ulli, und süffisant lächelnd fügte er an: „Vielleicht lag es aber auch daran, dass du ihr Lieblingsschüler warst. Sie hielt dich ja für eine poetische Begabung, und ich kann mich noch genau daran erinnern, wie wir uns anhören mussten, was du über einen ‚Nachmittag im Lustgarten‘ geschrieben hattest.“

„Aber mir war es unheimlich peinlich, als die Schmalzen meine Schreibkünste pries und ich meinen Aufsatz als gelungenes Beispiel für eine Schilderung von vorn bis hinten vor der ganzen Klasse vorlesen musste“, sagte Wolfgang.

Auf drei Seiten hatte er beschrieben, was er kurz vor einem Gewitter gesehen und empfunden hatte. Mit der drückenden Schwüle, dem fernen Gewittergrollen, dem aufkommenden Wind, der die Blätter der Büsche und die Zweige der Bäume zauste, hatte sein Aufsatz begonnen, und mit dem Verfinstern des Himmels und dem Tiefflug einer Amsel, die aufgeregt Zuflucht im Gebüsch suchte, hatte er geendet.

„Hatte sie nicht recht, als sie von deiner poetischen Begabung sprach?“

„Mag sein“, wiegelte Wolfgang ab und versuchte, das Thema zu wechseln. Auf einem der bunten Glasfenster war eine üppige Frau mit gelben Weintrauben im Haar zu sehen, und Wolfgang, der eine Vorliebe für vollbusige Frauen mit einem breiten Hintern hatte, fragte neugierig nach der dicken Frau Fendrich aus dem Hinterhaus.

„Die dicke Frau Fendrich ist noch dicker geworden“, sagte Ulli. Er konnte sich denken, warum Wolfgang nach ihr fragte, und als wolle er sich vergewissern, ob seine Annahme richtig sei, sagte er: „Weißt du noch, wie wir zwischen den Bretterstapeln standen und ihr beim Duschen zusahen?“

„Ich habe das Bild noch genau vor Augen“, sagte Wolfgang und erinnerte sich an jenen Abend, als er und Ulli, auf einem Bretterstapel der angrenzenden Tischlerei stehend, aufgeregt zusahen, wie Frau Fendrich das Licht im Badezimmer anmachte und sich in Fensternähe auszuziehen begann.

Wolfgang hockte zwischen den hoch aufgeschichteten Brettern und hoffte, Frau Fendrich möge die Gardine nicht zuziehen. Er sah, wie sie milchfarbig und dickbeinig unter der Dusche stand und das Wasser auf ihren fülligen Körper prasselte, bis die Badezimmerscheiben völlig mit Wasserdampf beschlagen waren.

„Von jenem Moment, da ich die dicke Frau Fendrich unter der Dusche gesehen hatte, kam ich nicht mehr los von ihr, und sie erschien mir sogar im Traum“, sagte Wolfgang. Er hatte ihre schweren Brüste, ihren stark behaarten Unterbauch und ihre dicken, fleischigen Oberarme vor Augen, und in seinen Knabenträumen ergoss er sich in die wuchtigen Schenkel von Frau Fendrich.

Die dicke Frau Fendrich war die erste Frau, die Wolfgang und Ulli nackt gesehen hatten, und nach der dritten Flasche Rotwein legten sie ihre pubertären Kindheitserinnerungen ad acta, und Wolfgang erzählte Ulli, wie es ihm nach seinem Umzug im Februar 1958 in Erfurt ergangen war.

„Als ich nach Erfurt kam, sächselte ich, und ich wurde von meinen Mitschülern ausgelacht, sobald ich den Mund aufmachte“, sagte Wolfgang. „In Muldenburg war ich gewohnt gewesen, unter den besten Schülern zu sein.“

„Der beste Junge“, warf Ulli ein, und Wolfgang sagte: „In Erfurt hingegen gehörte ich plötzlich zu den schlechtesten Schülern der Klasse. Selbst in Lieblingsfächern wie Geschichte, Russisch und Sport versagte ich. Obwohl ich glaubte, in Russisch sehr gut zu sein, bekam ich in der ersten Leistungskontrolle gleich eine Fünf. Ich bekam die erste Fünf in meinem Leben, und das in Russisch, wo ich immer auf Eins gestanden hatte. Frau Segler, so hieß die Russischlehrerin, fand das nicht sonderlich tragisch, denn fast alle Jungen der Klasse standen in Russisch auf Vier. Aber für mich brach eine Welt zusammen. Ich weinte, als ich nach Hause kam, und meine Mutter versuchte, mich zu trösten. Aber sie konnte das Schluchzen und Weinen, das den ganzen Nachmittag lang anhielt, nicht eindämmen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du eine solche Memme warst“, warf Ulli ein. „Wenn der alte Burmeister, der zwei Stockwerke unter uns wohnte, nicht gewesen wäre, wäre ich wohl nie auf die Oberschule gekommen“, sagte Wolfgang. „Er war pensionierter Mathematiklehrer und gab mir in einigen Fächern Nachhilfeunterricht.“

„Schwierigkeiten, auf die Oberschule zu kommen, hatte ich nicht“, sagte Ulli. „Ich war der beste Junge in der Klasse, und Eichhorn, der gleich neben uns wohnte und Direktor der Erweiterten Oberschule war, ließ sich seine maßgeschneiderten Anzüge, die er brauchte, bei meinem Vater machen. Von daher spielte es keine Rolle, ob ich Arbeiterkind war oder nicht. Wenn du verstehst, was ich meine.“

„Und ob“, sagte Wolfgang. Er war ein Arbeiterkind. Und nur deshalb war er mit seinem mäßigen Notendurchschnitt auf die Oberschule gekommen.

„Das Abitur habe ich mit 1,8 gemacht“, sagte Ulli. Aber seinem Vater und ihm sei klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, einen Studienplatz für Jura zu bekommen.

„Also ließ mein Alter seine Beziehungen spielen und besorgte mir nach dem Abitur eine Arbeit im Archiv der Kreisstaatsanwaltschaft“, erzählte Ulli. „Der Kreisstaatsanwalt, der sich wie Eichhorn all seine Anzüge von meinem Vater schneidern ließ, war der Meinung, durch meine Tätigkeit im Archiv, seine Befürwortung und eine wohlwollende Beurteilung über mich stünden die Chancen für ein Jurastudium nicht schlecht. Und wie er es vorausgesagt hatte, kam es. Jetzt bin ich schon im zweiten Studienjahr. Aber das weißt du ja.“

„Bei mir lief nichts nach Plan“, sagte Wolfgang, „und mit meinem Vater lag ich ständig im Clinch. Besonders nach meinem missglückten Abitur. Meine Prüfung in Geschichte schaffte ich nämlich erst im zweiten Anlauf, und von meinem Vater bekam ich ständig zu hören, was für ein Versager ich doch sei.“

Da er nach dem missglückten Abitur nicht gewusst habe, was er machen sollte, sei er notgedrungen Autoschlosser geworden, meinte Wolfgang. „Als der Berufsberater mir eine anderthalbjährige, verkürzte Lehre als Autoschlosser anbot, dachte ich an die weißen Monteure an den Boxen berühmter Rennstrecken und sagte ‚Ja‘“, erklärte Wolfgang.

„Kann ich verstehen“, sagte Ulli. Denn er entsann sich plötzlich wieder jener Zeit, als sie wie besessen Autogramme von Motorradrennfahrern und Formel-I-Größen gesammelt hatten. Vom kleinen Muldenburg in Sachsen aus schickten sie ihre Wünsche nach Autogrammen in die große Welt. Sie schrieben an Juan Manuel Fangio in Buenos Aires, an Stirling Moss in der Londoner Buckingham Street und an Rudolf Carriciola in Lugano.

„Aber schon nach wenigen Wochen hatte ich die Schnauze gestrichen voll von meiner Autoschlosserlehre, weil mein Traum von den weißen Monteuren an den berühmten Rennstrecken der Welt auf mein Werkstattleben nicht zutraf“, sagte Wolfgang. Auch der Lehrmeister sei ihm mächtig auf die Nerven gegangen. „Wenn ich mal einen dieser beschissenen Bohrer, die nichts taugten, abbrach, sagte er seinen Lieblingssatz zu mir: ‚Jesus musste sterben, und du lebst.‘“

„Ziemlich originell“, sagte Ulli sarkastisch.

„Fand ich nicht“, sagte Wolfgang. „Von Anfang an wollte ich die Lehre schmeißen und ließ mich in der Schule hängen. Als mein Vater mitbekam, dass meine Leistungen in Werkstoffkunde, Fachrechnen und Fachzeichnen mangelhaft waren, tobte er und bestand darauf, dass ich meine Lehre unter allen Umständen zu Ende mache.“

Als er ein halbes Jahr später sein Facharbeiterzeugnis erhalten habe, erzählte Wolfgang, habe er mit einem Mal zu den besten Lehrlingen gehört, und schon während der Feierstunde im festlich geschmückten Rathaussaal habe sein Vater Zukunftspläne für ihn gemacht. Er habe gemeint, Wolfgang müsse unbedingt Kraftfahrzeugingenieur werden.

„Für meinen Vater war das Zeugnis ein Beweis, dass sein Sohn kein Versager war“, sagte Wolfgang. „Für mich jedoch war es weiter nichts als ein notwendiger Abschluss, der es mir erlaubte, eigene Wege zu gehen.“

Auf dem engen Gang zur Toilette ging Ulli hinter Wolfgang her, und als Sohn eines gefragten Maßschneiders fiel ihm sofort auf, dass Wolfgangs Klamotten – die weiche, schwarze Lederjacke, der braune Rollkragenpullover aus Kaschmir und die extra angefertigte Schlaghose aus Glenchek-Stoff – teuer gewesen sein mussten.

Kurze Zeit später, Ulli und Wolfgang saßen wieder an ihrem Tisch in der Weinstube, sagte Ulli: „Tolle Klamotten hast du. Die müssen ganz schön Schmott gekostet haben.“

„Den hab‘ ich in Schwedt gemacht“, sagte Wolfgang. „Pro Monat einen Tausender und mehr.“

„Schwedt klingt gut“, sagte Ulli, „irgendwie aufregend.“

„Klingt nach Großbaustelle des Sozialismus, nicht wahr“, antwortete Wolfgang ironisch.

„Eher nach Knast“, sagte Ulli. „Wenn ich recht informiert bin, kommen alle die nach Schwedt, die während ihrer Armeezeit verknackt werden.

Sie müssen im Stickstoffwerk arbeiten, habe ich gehört.“

„Kann sein“, sagte Wolfgang. „Ich jedenfalls war Motorenschlosser im Erdölverarbeitungswerk. Und auf der Suche nach dem großen Abenteuer war ich in einem ausgefliesten, wohltemperierten Glashaus gelandet, das sich ‚Klopfraum‘ nannte.“

„Erzähl!“ Ulli trank einen Schluck Rotwein und richtete sich auf eine längere Geschichte ein.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte Wolfgang. „Tag für Tag stand ich vor einem lärmenden Einzylinder, dessen Hubraum ich ab und an mit einer Kurbeldrehung veränderte. Ich hatte verbleite und unverbleite Benzinsubstanzen zu prüfen. Stinklangweilig war das.“

Im Theaterspielen habe er den einzigen Ausweg aus diesem Dilemma gesehen, meinte Wolfgang und griff nach seinem Rotwein.

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich, auf der Suche nach dem großen Abenteuer, als Kleindarsteller in einem Produktionsstück enden würde, das im Erdölverarbeitungswerk spielt“, sagte Wolfgang zu Ulli. „Ende Juni dann traten wir mit dem Stück ‚Menschen in Bewährung‘ bei den Arbeiterfestspielen auf. Die Uraufführung war im Kleist-Theater Frankfurt/Oder. Und mit großem Pomp bekamen wir beim anschließenden Empfang von Willi Stoph, dem Ministerpräsidenten, die Goldmedaille überreicht. Walter Ulbricht konnte an diesem Tag leider nicht kommen.“

„Hab ich mir gedacht“, witzelte Ulli. Er erhob sein Glas und sagte: „Auf deinen Neubeginn in Jena. Und auf alle Weiber, die wir kennen und lieben.“

Ulli und Wolfgang prosteten sich zu. Aber erst, als der Wirt kam und abkassieren wollte, merkten sie, wie betrunken sie waren.

Als Ulli aufstand und seinen Stuhl laut nach hinten scharrte, sagte er: „Zum Klöße-Essen aber kommst du doch.“ Denn an jedem Wochenende kamen Ullis Eltern nach Jena und aßen mit ihrem Sohn Grüne Klöße, nach dem bewährten Rezept von Ullis Mutter, und irgendeinen Sonntagsbraten.

„Auf jeden Fall“, sagte Wolfgang.

Eine Woche später wurde Ulli geext: Während des Ernteeinsatzes hatte er am Tag der Republik mit drei anderen Jungen seiner Seminargruppe im Suff eine Ulbricht-Briefmarke an den Türrahmen geklebt und sie bespuckt.

Davon aber ahnte Wolfgang nichts, als er volltrunken durchs nachtdunkle Jena lief. Wenn ich es recht bedenke, dachte er, hatte ich während meiner gesamten Schulzeit nur einen einzigen Freund, und das war Ulli. Fast den ganzen Heimweg über sinnierte Wolfgang über das Thema Freundschaft, und er musste unwillkürlich an Melzer Bernd denken.

Bruckners und Melzers wohnten Tür an Tür, und Wolfgang konnte sich noch genau daran erinnern, als Melzer Bernd, der ein Jahr älter war als er, eines Tages bei ihm klingelte und fragte, ob er „Am Fuße der Blauen Berge“ sehen könnte, eine amerikanische Westernserie, die damals im Westfernsehen lief. „Wir sehen kein Westfernsehen“, sagte Wolfgang, obwohl bekannt war, dass auf dem Boden unterm Dach eine Westantenne installiert worden war. Wolfgang log Melzer Bernd an, weil sein Vater das so wollte, denn Westfernsehen war verboten. Also tat Wolfgang, was sich für den braven Sohn eines SED-Funktionärs gehörte: Er wahrte den Schein und log.

Jeder heuchelte sich, so gut es ging, durchs Leben, dachte Wolfgang. Die anbefohlenen Wahrheiten zählten, und die betete er vor, wenn er in der Schule nach irgendwas gefragt wurde. Nur im stillen Kämmerlein legte er den offiziellen Meinungsmantel ab und gehorchte, wie die meisten, seiner Vernunft, um nicht zu verblöden. Er hörte Radio Luxemburg, sah „Panorama“ und las, wenn er Gelegenheit dazu hatte, was verboten war. Auf dem nächtlichen Heimweg in die Mühlenstraße stellte er erschrocken fest, dass er durch die Schule, die Eltern und den Staat zum Lügner erzogen worden war. Das Verleugnen war zu einer Art Gesellschaftsspiel geworden, an dem sich jeder mehr oder weniger beteiligte.

Allein seinem Vater gab er die Schuld, dass er in der Erfurter Zeit keinen Freund wie Ulli mehr gefunden hatte, und er hasste seinen Vater.

Jeden Hausaufsatz, den er schrieb, musste er seinem Vater vorlegen, und es geschah nie, dass sein Vater damit einverstanden war. Wolfgangs Aufsatz war so eine Art Vorlage für seinen Vater, und er arbeitete ihn in seinem Sinne gehörig um.

Es entstand eine „unreine Fassung“, die Wolfgang fein säuberlich abzuschreiben hatte, und während des Abschreibens saß sein Vater neben ihm und achtete streng darauf, dass Wolfgang keine Fehler machte. Aus Angst stellten sich bei Wolfgang Flüchtigkeitsfehler ein, und sein Vater wurde fuchsteufelswild.

Wenn sich Wolfgang verschrieb, musste er den gesamten Text nochmals abschreiben. Wolfgang hatte das Gefühl, alles falsch zu machen und ein Versager zu sein.

Total kaputt kam Wolfgang gegen drei Uhr nachts in seiner Kellerwohnung an. Besoffen, wie er war, schaffte er es gerade noch, sich die Lederjacke und die Schuhe auszuziehen. Er warf sich auf das dicke Federbett und war froh, dass das Karussellfahren in seinem Kopf nach kurzer Zeit nachließ. Aber gegen die Träume, die ihn in seinem Betrunkensein heimsuchten, war er machtlos.

Zuerst zwang ihn Ulli, über die zähnefletschende Dogge zu steigen, dann biss sich der Schäferhund, den der blinde Fendrich nach ihm schickte, an seiner kurzen Lederhose fest, und schließlich kreiste der Traum nur noch um Hasso, einen scharfen bissigen Schäferhund, der dem alten Scholl gehört hatte.

Wolfgang lag im Gras einer Waldlichtung, von großen, dunklen Fichten umgeben. Er war ein kleiner Junge, und seine Großmutter, die Reisig zum Feuermachen sammelte, war im Dickicht verschwunden. Wolfgang hatte Angst, sie könne nicht wiederkommen, und seine Angst nahm zu, als plötzlich Hasso, der wildernde, rotbraune Schäferhund, neben ihm auftauchte. Er jagte, ein Reh hetzend, an Wolfgang vorbei. Dann gab es einen lauten Knall, der ihn in panische Angst versetzte, und Wolfgang schrie nach seiner Großmutter. Aber statt der Großmutter erschien der angsteinflößende Förster, der den Todesschuss auf Hasso abgegeben hatte.

Als Wolfgang erschrocken aufwachte, hatte er noch den Todesschuss und das letzte Aufheulen des Hundes im Ohr und merkte, dass er einen mächtigen Brummschädel hatte. Bei dem Versuch, sich auf die Bettkante zu setzen, wurde ihm speiübel. Aber kotzen musste er nicht. Es war neun Uhr morgens, und für zehn Uhr hatte Hetzel, der Sekretär der FDJ-Grundorganisation, zu einem ersten Treffen eingeladen.

Wolfgang erhob sich ganz langsam, tastete sich an den Stuhl heran, über dessen Lehne seine verknitterte Schlaghose hing. In der Tasche endlich fand er die recht zerknitterte Einladung, auf der stand, was da zwei Stunden lang verhandelt werden sollte. Seine Kopfschmerzen wurden nicht besser, als er las: „Liebe Jugendfreundin, lieber Jugendfreund! Dein Jugendverband wird dich während deines Studiums mit Rat und Tat unterstützen, erwartet jedoch von dir gleichfalls viele Anregungen und eine stetige Bereitschaft zur aktiven Mitgestaltung der Tätigkeit der FDJ an der Universität. Wir sehen unsere Hauptaufgabe darin, dass wir alle Persönlichkeiten werden, die ihre Fähigkeiten und Talente in den Dienst des Sozialismus stellen, die nicht vor Schwierigkeiten zurückschrecken und stets einen parteilichen Standpunkt beziehen.“

Wolfgang, dem der Alk vom Vorabend noch immer ziemlich zusetzte, sagte laut vor sich hin: „Diese Veranstaltung werde ich mir klemmen.“

Da er nicht vorhatte, ein Vorzeige-FDJler oder gar FDJ-Sekretär zu werden, wanderte die Einladung des FDJ-Hochschulsekretärs Hetzel, einem Oberassistenten des Germanistischen Instituts, in den leeren Papierkorb neben dem Schreibtisch.

Wolfgang entschied sich an diesem verkaterten Morgen dafür, sein erstes Studienjahr mit einem Lyrikseminar am Nachmittag und nicht mit einer FDJ-Pflichtveranstaltung am Vormittag zu beginnen.

3. Kapitel

Obwohl sich Wolfgang nach dem Abend in der „Weintanne“ geschworen hatte, sich nie wieder zu besaufen, folgte schon bald das nächste Besäufnis: die erste Seminargruppen-Fete im Mädchenheim.

Die drei Doppelstockbetten, die sonst den meisten Platz im Raum einnahmen, waren fachmännisch zerlegt worden, und mit den sechs Matratzen hatten die Mädchen drei Zimmerecken gemütlich ausgelegt. Auf dem einzigen Tisch, der an die Wand in Türnähe geschoben worden war, stand ein großer Eimer mit einem Gebräu aus Prima-Sprit und Kirschlikör, und aus dem Lautsprecher eines alten Schallplattenspielers war die Stimme von Esther Ofarim zu hören, die unentwegt ihre Hits sang.

Die Mädchen und Jungen der zwölfköpfigen Seminargruppe hockten grüppchenweise auf den Matratzen, diskutierten laut und kämpften dabei gegen die laute Musik an.

„Jetzt wird nicht mehr herumgesülzt. Jetzt wird getanzt“, sagte Edda und griff nach Wolfgang, der neben ihr lag, und zerrte ihn zu den Klängen von „Ich werde Sehnsucht haben, Sehnsucht nach dir“ in die Mitte des Zimmers, und beim Tanzen und Knutschen unter der dreiarmigen Stubenlampe, die mit rotem Krepp-Papier verhangen war, bahnten sich kurze Lieben und lebenslange Freundschaften an.

Bisher wusste Wolfgang nur, dass Edda aus Potsdam stammte und nach dem Abitur als Hilfskraft im Krankenhaus gearbeitet hatte. Und er wusste, was er sah, wenn er ihr im Seminar gegenüber saß: Sie hatte schulterlanges Haar, katzengrüne Augen, ein ovales Gesicht, eine hohe, breite Stirn und einen schmallippigen, breiten Mund. Und an ihrem Mienenspiel war leicht abzulesen, ob sie mit dem Gesagten einverstanden war oder nicht.

Während Edda und Wolfgang engumschlungen unter der rot verkleideten Stubenlampe tanzten, sang Doris, der das Gebräu aus Prima-Sprit und Kirschlikör mächtig in den Kopf gestiegen war, völlig zugedröhnt: „Du bist fortgegangen, so hat alles angefangen.“

Daraufhin löste sich Edda plötzlich aus Wolfgangs Umarmung, warf ihre grau-grünen, ausgelatschten Pumps, die ihr beim Tanzen lästig geworden waren, durch das Zimmer, und nur noch in Strümpfen tanzend, meinte sie beschwipst zu Wolfgang, der sie erstaunt ansah: „Ich halte es mit der Greco. Ich bin, wie ich bin.“

Obwohl Edda kein Wort Französisch verstand, geschweige denn sprechen konnte, hatte sie ein Faible für französische Literatur und französische Chansons.

Und so schrie sie, den Tanz mit Wolfgang unterbrechend, allein in der Mitte des Zimmers stehend: „Kann denn keiner von euch Flaschen Französisch? Ich will endlich wissen, wonach ich tanze.“

„Wenn ihr einen Moment still seid, kann ich euch den Text übersetzen“, sagte der schwule Nunweiler, der keinen Tropfen Alkohol angerührt hatte und das Betrunkensein der anderen verabscheute.

Während sich die Schallplatte, auf der Charles Aznavour zu hören war, langsam und knackend drehte, übersetzte der hoch sensible Nunweiler: „Was ist aus denen geworden, die die Freiheit verteidigen wollten? Sie hatten ihre Kinder, ihre Eltern gern, und erst recht den Wein und die Liebe. Aber ihnen fehlte die Freiheit. Doch sie waren zu schwach: Als sie aufbrachen, standen ihnen nach wenigen Schritten Polizisten mit Pistolen gegenüber.“

Obwohl alle ziemlich besoffen waren, hatte nach der Nunweilerschen Übersetzung von Aznavours „Liberté, Liberté“ keiner mehr Lust zu tanzen. Irgendwie war die Stimmung hin. Nur Edda konnte von den französischen Chansons nicht genug bekommen und legte von der Greco „Die toten Seelen der Dichter“ auf.

Der dicke Höhn, der von Wolfgangs Gedichten wusste, sagte, ganz heiser vom Schreien: „Auch wir haben eine Dichterseele unter uns“ und prostete Wolfgang mit dem Sprit-Kirschlikör-Gebräu zu.

„Du?“, sagte Edda überrascht. Sie ging zum Plattenspieler und machte ihn aus.

„Was also hat uns Wolfgang Bruckner zu sagen?“, grölte der dicke Höhn, der von der Armee her das Saufen gewohnt war. „Dein Auftritt, Poet“, brüllte Höhn. Und da Wolfgang schon ziemlich voll war, fiel es ihm nicht schwer, einige seiner Gedichte vorzutragen.

Eines hieß: „Verlange nicht, dich zu vergessen“ und war einer zigeunerhaft aussehenden Schallplattenverkäuferin gewidmet, die Wolfgang als Oberschüler platonisch geliebt hatte.

Edda gefielen Wolfgangs Gedichte, und Wolfgang fand Edda so aufreizend schön, dass er nicht müde wurde, sie auf dem Weg vom Mädchenheim in die Weigelstraße alle paar Meter abzuknutschen.

Als er das erste Mal Eddas Zimmer in der Weigelstraße betrat, war es draußen ungemütlich kalt. Es war ein verdammt trister Abend, und Edda war froh, dass Wolfgang sie besuchte.

Edda hatte einen weiten, grünen, sackähnlichen Strickpullover an. Auf dem Tisch stand eine Kanne Tee und auf dem Sofa lag eine Katze.

Draußen plätscherte der Regen vom Dach auf die Terrasse unterm Fenster, und Edda schien in einem Stimmungstief zu stecken.

„Bist du auch der Meinung von Doris, dass ich die Heidlern zu stark attackiert habe und zu boshaft zu ihr war?“, fragte sie etwas schuldbewusst und spielte auf ihren Ausbruch im Philosophieseminar „Dialektischer Materialismus“ an.

„Vielleicht bist du etwas zu weit gegangen, als du sagtest, die Heidlern sollte erst einmal Sartres ‚Existentialismus ist ein Humanismus‘ lesen, damit sie wisse, worüber sie überhaupt rede“, sagte Wolfgang. Und er erinnerte sich, dass dieser Bemerkung, mit der sich Edda den Unmut der kleinen, bebrillten Philosophin zugezogen hatte, bereits ein heftiger, lautstark geführter Wortwechsel vorausgegangen war.

Edda hatte der Heidlern, die das Seminar leitete, vehement widersprochen, als diese den Existentialismus als subjektiven Idealismus abzutun versuchte. Edda vertrat, aufsässig, wie sie war, die Meinung, der Existentialismus sei ein Marxismus, bei dem der Mensch und nicht die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Geschichte im Mittelpunkt der Betrachtung stünden.

„War es falsch, was ich gesagt habe?“, wollte Edda wissen.

„Etwas diplomatischer hättest du schon sein können.“

„Diplomatie ist nicht meine Stärke“, sagte Edda. Sie war eine extreme Verfechterin des Existentialismus, hielt Camus‘ „Pest“ und Sartres „Der Ekel“ für zwei der wichtigsten Bücher, die man unbedingt gelesen haben musste, und tendierte in allem, was sie tat, zum Underground. Deshalb verwunderte es nicht, dass sie Wolfgang eine Taschenbuch-Ausgabe aus einem Westverlag über die Beat-Generation zeigte, die sie gerade las.

Wolfgang jedoch hatte noch nichts von Allen Ginsberg oder Jack Kerouac gehört, und die Beatniks, wie diese Schriftsteller genannt wurden, waren für ihn böhmische Dörfer.

Edda hielt das für eine unverzeihliche Wissenslücke, und sie beschrieb umfassend, was es mit den sogenannten Beatniks auf sich habe, die Ende der 50er Jahre die Gesellschaft und den Literaturbetrieb in Amerika aufgemischt hätten. „Sie rebellierten gegen das satte, selbstzufriedene Leben der Spießer und empfanden die gesellschaftlichen Verhältnisse als einengend und steril“, sagte sie, „und was ich an ihnen so mag, ist ihre Vorliebe für soziale Außenseiter und sozial Gestrandete.“

Als Vagabund habe Kerouac die USA durchstreift, „und die Menschen, die er beschreibt, sind immer auf der Suche nach ihrem Platz im Leben und nach ihrer inneren Selbstbestimmung. Das macht ‚On the Road‘, Kerouacs Sensationserfolg von 1957, so lesenswert und wertvoll für mich.“ Von der DDR-Gegenwartsliteratur, die sie lesen mussten, hielt Edda hingegen so gut wie nichts. „Christa Wolfs ‚Geteilter Himmel‘ mag ja noch gehen“, sagte sie. „Aber Kants ‚Aula‘, ich bitte dich.“

„Ich finde auch, dass es ein geschwätziges Buch ist, und wenn ich höre, wie selbstgefällig Kant daraus vorliest, könnte ich kotzen“, sagte Wolfgang.

„Aber bitte nicht hier!“

Schon am ersten Abend, den Wolfgang und Edda in trauter Zweisamkeit miteinander verbrachten, hatten sie ein solches Vertrauen zueinander, dass sie sich erzählten, was sie bisher keinem anderen gesagt hatten.

Edda erklärte, dass sie Lektorin an einem Verlag werden wolle. Auf keinen Fall werde sie später einmal vor eine Klasse treten, sagte sie. Ihr fehle einfach das Verständnis für die unteren Klassenstufen. Und Wolfgang vertraute ihr an, dass er dieses Lehrerstudium nur angefangen habe, weil er sonst keine Chance gehabt hätte, Germanistik zu studieren. Obwohl er sich anschicke, Lehrer zu werden, hasse er seit seiner Oberschulzeit die Lehrer, besonders Doktor Landgraf, der ihn im Abi durch die Geschichtsprüfung fallengelassen hatte. Er wolle Theaterdichter werden, sagte Wolfgang.

„Stückeschreiber, meinst du“, sagte Edda. „Kann ich mir denken. Die Gedichte, die du schreibst, sind ja nicht schlecht.“

In Geschichte tue er, was er tun müsse, um durch die Prüfungen zu kommen, sagte Wolfgang, und in Germanistik hole er sich das nötige Rüstzeug, um Schriftsteller zu werden.

In der Stube war es kalt, und Edda rieb ihre zur Faust geballten Hände aneinander. Dann gab sie Wolfgang Bücher von Václav Havel und Pavel Kohout mit auf den Weg. Und als sie ihn hinunter an die Tür brachte, für einen Moment lang in der zugig kalten Einfahrt stand und sich von ihm verabschiedete, sagte sie: „Kohout oder Havel müssten wir spielen. Und nicht die ‚Lederköpfe‘“.

Mitte November, während der Proben zu den „Lederköpfen“, begannen sich Edda, Biene, Wolfgang und Mike Mutzke mächtig zu langweilen. Sie waren als Dienerinnen und Meuterer besetzt. Aber die Massenszenen, in denen sie mitspielten, würden erst im Februar geprobt, erklärte ihnen der beleibte, rothaarige Kuhnert, der die Regie führte. Und sein Argument, wenn man auch nicht selbst auf der Bühne stehe, müsse man von Probe zu Probe an der Entwicklung des Stücks teilnehmen, zog weder bei Biene und Edda noch bei Wolfgang und Mike, die irgendwie die Lust am Theaterspielen zu verlieren schienen.

Edda hatte keine Lust mehr, für Doris bei Texthängern die Souffleuse zu spielen, und Biene genügte es nicht, durch nervige Terminabsprachen für ein störungsfreies Proben auf der Mensa-Bühne oder im Arbeitsraum des Germanistischen Instituts zu sorgen. Auch Wolfgang und Mike fanden es ungemein ätzend, nur gefragt zu sein, wenn Bröml seinen großen Auftritt als Stadthauptmann hatte und der rustikal zurechtgezimmerte Königsstuhl zur rechten Zeit auf die Bühne getragen werden musste.

Alle hatten es irgendwie satt, dass sie Abende lang auf den Proben herumsaßen, wo es für sie so gut wie nichts zu tun gab. Sie fanden es unbefriedigend, bei den Proben mucksmäuschenstill zuhören zu müssen, wie Doris oder Bröml ihre großen Monologe abließen. Denn Kuhnerts Augenmerk galt in dieser Phase nur den Hauptdarstellern und den Monologen, an denen herumgefeilt wurde, bis dem Regisseur die Puste ausging und die Darsteller total kaputt gespielt waren.

Nach einer der abendlangen Proben fassten sich Edda, Biene, Wolfgang und Mike ein Herz und teilten Kuhnert unverhohlen mit, dass die gegenwärtige Situation sie anstinken würde.

Kuhnert war kurzzeitig irritiert, dann begriff er, dass sie sich unterfordert und nicht-gebraucht fühlten, und er sagte: „Gut, dann macht ihr eben bis zu den Endproben der ‚Lederköpfe‘ Programmarbeit.“ Programmarbeit könne nicht schaden. Dabei könne man nur lernen, sagte er und fragte provokant: „Habt ihr schon eine Idee?“

„Wie wäre es mit einem Heine-Abend?“, konterte Edda geschickt.

Kuhnert ging auf den Vorschlag ein und innerhalb von sechs Wochen stampften sie einen Heine-Abend aus dem Boden.

„Was mir vorschwebt, ist ein ausgeflippter Salonlöwe Heinrich Heine, der sich im Salon der Rahel Varnhagen auf Kosten seines Freundes Adalbert von Chamisso über die Romantik lustig macht, scharfzüngig über das Spießertum herfällt und sich abfällig über unglückliche Lieben äußert“, erklärte Edda, als sie Wolfgang, Biene und Mike in ihr Vorhaben einweihte. Weder der politische Dichter des „Weberlieds“ noch der melancholische Schwerenöter, der, an Syphilis erkrankt, seine Matratzengruft nicht mehr verlassen könne, wären für sie von Interesse.

Das Programm könne überall dort aufgeführt werden, wo ein Podest vorhanden sei, auf dem ein Tisch und drei Stühle Platz hätten, sagte Edda, und die Besetzung der Rollen sei für sie klar.

Biene hatte pechschwarze, lange Haare, die sie zu einem Dutt zusammengebunden hatte, und vom Profil her sah sie etwas jüdisch aus. Biene mache einen vornehmen Eindruck und sei eine belesene Frau, die ihre Kritik in einem leicht ironischen Unterton anbringen könne, sagte Edda. Von daher sei die Rolle der Gastgeberin, die in ihrem Salon Chamisso und Heine empfange, Biene wie auf den Leib geschrieben.

„Als Rahel Varnhagen hast du die Aufgabe, den Gästen ab und an Rotwein einzuschenken und das Publikum darüber zu informieren, was es über die Freundschaft zwischen Chamisso und Heine wissen muss“, sagte Edda zu Biene. „Viel Text kommt da nicht auf dich zu. Aber du bist es, die die Geschicke des Abends lenkt, und du bist es, die vermittelnd eingreift, wenn Heine und Chamisso hart aneinander geraten.“

Michael Mutzke, genannt Mike, war etwas kleinwüchsig. Sein wohl gescheiteltes Haar, das streng nach hinten gekämmt war, glänzte pomadig. Er wirkte äußerst naiv und hatte ein bleiches, rundes Kindergesicht.„Das romantische Schwärmen nimmt man dir ab“, sagte Edda zu ihm. „Deshalb schlage ich vor, dass du den Chamisso spielst und Wolfgang den Heine.“

Die Rollenverteilung war klar, und der Text bestand aus einer Aneinanderreihung von Zeilen aus Heine-Gedichten, die einen abendfüllenden, aber rasant vorgetragenen Dialog ergaben.

Für einen gewissen Wein-Nachschub war im Salon der Varnhagen durch Biene gesorgt, und so steigerte sich Wolfgang, von der Studentenkelleratmosphäre und dem Rotwein inspiriert, in die Rolle des Heinrich Heine hinein.

In seiner Ironie und seinem Spott war Wolfgang nicht zu übertreffen, er spielte den kleinen Mike als Chamisso total an die Wand. „Das Gespräch auf der Paderborner Heide“, das eine ernsthaft gemeinte Abrechnung mit der Literatur der Romantik sein sollte, geriet zur Farce und wurde zu den Glanzpunkten des Abends. Chamissos Schwärmereien wurden durch Heines sarkastische Erwiderungen zunichtegemacht und dem Gelächter preisgegeben.

Mike: „Hörst du nicht die fernen Töne, / wie von Brummbass und von Geigen?“

Wolfgang: „Ei, mein Freund, das nenn ich irren, / Von den Geigen hör ich keine, / Nur die Ferklein hör ich quirren, / Grunzen nur hör ich die Schweine.“

Mike: „Hörst du nicht das Waldhorn blasen? / Jäger sich des Weidwerks freuen? / Fromme Lämmer seh ich grasen, / Schäfer spielen auf Schalmeien.“

Wolfgang: „Ei, mein Freund, was du vernommen, / Ist kein Waldhorn noch Schalmeie, / Nur den Sauhirt seh ich kommen, / Heimwärts treibt er seine Säue.“

Den Schlusspunkt unter das Programm aber setzte Wolfgang mit Heines „Wanderratten“. Nur im Licht des grellen Punktscheinwerfers stehend, das Publikum in Dunkel getaucht, deklamierte er: „Es gibt zwei Arten von Ratten. Die hungrigen und die satten. Die einen bleiben vergnügt zu Haus. Die anderen wandern aus.“ Diese Verse, einfach so ins Publikum hineingesprochen, verfehlten ihre Wirkung nicht. Zuerst Schweigen, dann ein unerwartet großer Beifall. Edda, Biene, Wolfgang und Mike freuten sich über den Erfolg.

Hetzel, der im Clubrat war, tobte. Dass der Schwerpunkt des Abends nicht auf dem politischen Dichter des Weberlieds gelegen habe und „Das Wintermärchen“ mit seinen politischen Botschaften völlig unter den Tisch gefallen sei, könne nicht akzeptiert werden, erklärte er. Heine hätte eine andere Wirkung erfahren müssen. Der große Beifall am Ende der Vorstellung? Der habe nicht viel zu bedeuten. Platt aufs Heute übertragen, hätten die Leute in die „Wanderratten“ hineingeheimnist, was Heine gar nicht beabsichtigt habe, und dass mehr Publikum gekommen wäre als sonst, habe wohl an dem provokanten Titel „Ich hatte einst ein schönes Vaterland“ gelegen, der mehr als irreführend gewesen sei.

Wolfgang habe eine beeindruckende schauspielerische Leistung hingelegt, sagte Edda. Sie saßen an der Bar des Studentenkellers und Edda griff nach einem großen Humpen Frischbier, der ihr über den Tresen zugeschoben wurde.

4. Kapitel

Die Aufführung der „Lederköpfe“ war ein großer Erfolg, und auf der Premierenfeier, die feucht-fröhlich bis in die frühen Morgenstunden andauerte, gab jeder irgendetwas zum Besten. Doris und Bröml sangen bis zum Erbrechen „Wenn die Igel in der Abendstunde“, und Wolfgang erzählte, wie das Arbeitertheater Schwedt zu seiner Goldmedaille gekommen war.

„Weil das Stück noch nicht fertig geschrieben war, sollten wir nicht für die Arbeiterfestspiele nominiert werden“, erzählte Wolfgang. „Aber da erschien plötzlich Hans-Peter Minetti, den ich als Achtjähriger im Thälmann-Film bewundert hatte, auf einer der Abendproben.“

Minetti war in der Programmkommission der Arbeiterfestspiele, und er war nach Schwedt gekommen, weil ihn sein Freund Gerhard Winterlich, der Leiter des Arbeitertheaters, darum gebeten hatte. Winterlich kannte Minetti vom Schauspielstudium in Weimar her, und er wollte wissen, ob sein Stück für eine Teilnahme an den Arbeiterfestspielen tauge.

„Minetti, der Mitglied des ZK der SED war, zeigte sich nach der Probe beeindruckt und versprach, sich dafür einzusetzen, dass wir ins Festprogramm aufgenommen würden“, erzählte Wolfgang. „Minetti sagte, dass er auf der nächsten ZK-Tagung darüber sprechen wolle, wie ökonomische Probleme, die in Wirklichkeit noch nicht gelöst seien, auf der Bühne bereits gelöst würden. Und als Beispiel dafür werde er ‚Menschen in Bewährung‘ anführen. Nach Minettis Rede auf dem 9. Plenum des ZK der SED waren wir aus dem Schatten des Kulturhaussaales ins Licht der Öffentlichkeit getreten, und Minetti sorgte dafür, dass wir für die Arbeiterfestspiele nachnominiert wurden.“

„Freunde im ZK muss man haben“, sagte Kuhnert, und der Stadträtin für Kultur, die Wolfgangs Rede vergnügt zugehört hatte, kam ein Gedanke. „Was hältst du davon“, sagte sie zu Kuhnert, „wenn wir euch zu den nächsten Arbeiterfestspielen delegieren würden?“

Kuhnert war begeistert: „Wir müssten nur ein passendes Stück finden.“

„Das dürfte doch keine große Schwierigkeit sein“, sagte die Stadträtin für Kultur mit ihrer verrauchten Stimme.

Bei der nächsten Aufführung der „Lederköpfe“ in der Mensa saß die Stadträtin mit zwei Mitarbeitern der Gewerkschaft Kunst im ausverkauften Zuschauerraum. Nach der Vorstellung bat Kuhnert alle Darsteller, sich im Saal einzufinden. Die Stadträtin für Kultur eröffnete allen Anwesenden, dass die Studiobühne, auf Grund ihrer gezeigten Leistungen, für die Arbeiterfestspiele vorgesehen sei. Sie sagte, mit Blick auf die zwei Herren, die sie mitgebracht hatte, dass im Vorfeld die Wahl auf Alexej Nikolajewitsch Arbusows „Der weite Weg“ gefallen sei.

Bei Arbeiterfestspielen seien Uraufführungen gefragt und Arbusows Stücke würden derzeit von fast jedem Theater gespielt, gab Wolfgang zu bedenken. Kuhnert hingegen war begeistert. Für die Studentenbühne sei es ungemein wichtig, eine große Inszenierung zu machen, die zudem noch großzügig gefördert würde. Allerdings sehe er ein, dass man das Stück nicht so spielen könne, wie es vorliege. Er denke da an eine eigene Bearbeitung.

Hetzel erklärte, das sei eine gute Möglichkeit, sich mal einem breiten Publikum zu präsentieren, und die Mehrheit stimmte dem Vorschlag der Stadträtin für Kultur zu.

Doch Edda und Wolfgang waren nur schwer davon zu überzeugen, dass „Der weite Weg“ das richtige Stück sei. Es spielte 1935, als in Moskau die Metro gebaut wurde.

Verärgert über das Abstimmungsergebnis vom Vorabend saß Wolfgang am nächsten Morgen in der Kaffeestube der Uni, als plötzlich Edda hereinschneite und ihm zu seinem großen Erfolg gratulierte. Als sie Wolfgangs verdutztes Gesicht sah, musste sie lachen. „Du erhältst den Lyrikpreis der Friedrich-Schiller-Universität in diesem Jahr“, sagte sie. „Hier ist der Beweis.“

Sie reichte ihm die druckfrische Uni-Zeitung über den Tisch:„Auf den Innenseiten in der Mitte.“

Auf der rechten Seite war die Ehrentafel der Preisträger abgedruckt, auf der Wolfgang seinen Namen las. Auf der linken Seite standen zwei Gedichte von ihm: „Mahnung“ und „Alltäglich“. Thema des einen war der Vietnam-Krieg, Thema des anderen der Atomtod.

„Schade, dass man nur deine politischen Gedichte abgedruckt hat“, sagte Edda.

Mitte Juni war die Auszeichnungsveranstaltung, die sich Edda nicht entgehen ließ. Die Veranstaltung fand im kleinen Kreis statt, und der Clubraum des Kulturbundes mit seinen wenigen Plätzen war völlig ausreichend.

Nachdem jeder Preisträger drei seiner Gedichte vorgetragen hatte, überreichte Doktor Schütt die Preise. Wolfgang erhielt ein Medaillon, auf dem der junge Schiller zu sehen war.

„Als Ansporn für die weitere literarische Arbeit“, sagte Schütt, den Wolfgang von seiner Aufnahmeprüfung her kannte.

Nach dem offiziellen Teil saßen Wolfgang und Edda mit den anderen Preisträgern zusammen. Es wurde viel geredet und gesoffen. Von einem Jurymitglied habe er erfahren, dass Doktor Schütt das Zünglein an der Waage gewesen sei, sagte Lüttke, für den es nur zum zweiten Preis gereicht hatte. „Wenn er nicht für dich gestimmt hätte, hätte ich die Nase vorn gehabt“, konstatierte er etwas beleidigt.

„Doktor Schütt scheint mein Glücksbringer zu sein“, sagte Wolfgang. Nach seinem Reinfall an der Schauspielschule in Schöneweide hatte er sich in einem Anflug von Verzweiflung und Größenwahn an der Uni in Jena beworben und war im April 1967 zu seiner Überraschung zur Eignungsprüfung eingeladen worden.

Für Wolfgang war es ein Glücksfall, dass Doktor Schütt der Hauptprüfer war. Schütt war Sprachwissenschaftler, gab Seminare in Mittelhochdeutsch, hielt Vorlesungen in Wortbildung, und ein Steckenpferd von ihm war das Theater.

Bevor er mit dem Prüfungsgespräch begann, blätterte Doktor Schütt in den Bewerbungsunterlagen, und die Vier in Geschichte schien ihn zu irritieren.

„Sie wissen, dass es nicht einfach werden wird, mit diesem Zeugnis Geschichte zu studieren“, schickte er voraus, und der Regionalgeschichtler Doktor Brunnengräber, der als Zweitprüfer neben Schütt saß, nickte bestätigend.

„Ich weiß.“ Auf Schütts Frage, wo er jetzt arbeite, antwortete Wolfgang:

„Im Erdölverarbeitungswerk Schwedt. Da bin ich Motorenschlosser, und in meiner Freizeit spiele ich Theater.“

Wolfgang erzählte begeistert, wie Gerhard Winterlich, Schauspieler und Regisseur aus Dresden, auf die Großbaustelle Schwedt gegangen sei und ein Stück über das Erdölverarbeitungswerk schreibe, in dem Wolfgang mitspiele.

„Da wissen Sie ja besser über den Bitterfelder Weg Bescheid als ich“, Doktor Schütt lächelte und zog genüsslich an seiner Zigarre. Anscheinend mochte er Proleten, die Theater spielten und Schriftsteller, die den Bitterfelder Weg beschritten. Doktor Brunnengräber war mit Wolfgangs Antworten, die für einen Zweitfächler in Geschichte ausreichend zu sein schienen, zufrieden. Wolfgang hatte seine Aufnahmeprüfung bestanden.

„Doktor Schütt scheint auf Autoschlosser wie mich zu stehen“, sagte Wolfgang zu Lüttke. Mit seinen 34 Jahren studierte Lüttke Philosophie.

Davor war er Baggerfahrer im Braunkohlentagebau gewesen und hielt sich, wenn er besoffen war, für den größten Lyriker der Jetzt-Zeit. Ständig versuchte er, Edda anzumachen, und wurde nicht müde, ihr sein Gedicht „Schenkel, geworfen ins All“ ins Ohr zu blasen.

So auch jetzt. Edda fand Lüttkes Annäherungsversuche widerlich und bat Wolfgang: „Lass uns gehen.“

„Jetzt schon?“ Wolfgang unterhielt sich gerade angeregt mit dem Chefredakteur der Universitätszeitung, der sich der Landschaftslyrik verschrieben hatte.