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Nicht für alle waren die fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik eine Zeit des Aufbruchs. In kirchlichen Heimen wurden viele Kinder jahrelang unter unvorstellbaren Bedingungen gedemütigt, geschlagen und eingesperrt. Die Autorin verliert mit drei Jahren ihre Mutter im Kindbett und wird mit ihren drei Brüdern aufgrund der darauffolgenden Alkoholsucht ihres Vaters in das Kinderheim »Heilig Kreuz« eingewiesen. In ihrer Autobiografi e kehrt sie zurück in die Vergangenheit, an die Orte ihrer Kindheit. Schmerzhafte Erinnerungen an eine Zeit der »Fürsorge« liebloser Erzieher und Ordensschwestern werden wach, werfen aber gleichzeitig die Frage auf, gab es keinen anderen Weg als die Heimunterbringung? War diese menschenverachtende, von Prügeln, Zucht und Ordnung geprägte Zeit wirklich die einzige Alternative? Authentisch und einfühlsam erzählt sie über die Zeit vom Verlust der Eltern, Trennung der Geschwister und jahrelanger grausamer Heimerfahrung. Voller Wärme beschreibt sie die Erfahrungen mit anschließender Pfl egschaft und Adoption und über das Glück, eine neue Familie gefunden zu haben. Stets spürt sie dabei der Frage nach, welche Bedeutung Freiheit und Selbstverwirklichung in ihrem Leben heute haben und zeigt, dass es keine einfachen Antworten darauf gibt.
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Seitenzahl: 298
Veröffentlichungsjahr: 2021
Lebensgepäck
Christa Heuermann
Christa Heuermann
L E B E N S G E P Ä C K
Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?
Eine Autobiografie
Dieses Buch ist ein Stück meiner Reise durch die Zeitgeschichte der 60er-Jahre. Es geht um das Leben meiner Familie in einer Zeit, in der die Bundesrepublik-Deutschland Wirtschaftswunderland war, in der viel von Aufbau, Entwicklung, Familiensinn gesprochen wurde.
Jahrelang bin ich vor meiner eigenen Geschichte davongelaufen, bis ich wusste, wenn ich sie aufschreibe, könnte ich sie neu (er) finden. Meine Familie brach aus tragischen Gründen auseinander, – niemand hatte Schuld. Ich gehörte zu den Kindern, die sich schon sehr früh eine eigene Welt erschufen mit wenig ausgeprägtem Urvertrauen. Meine Geschichte zählt zu den verdrängten Geschichten der Heimkinder der 60er-Jahre. In kirchlichen Heimen wurden wir Kinder jahrelang unter heute unvorstellbaren Bedingungen gedemütigt und unsere Menschenrechte wurden mit Füßen getreten.
Dieser dauernde Kampf, das Beobachten des Lebens der anderen, das Dazugehören-Wollen hatte mich in meinen ersten Lebensjahren viele Grenzerfahrungen machen lassen. Jeder von uns hat auf seiner Reise durch sein Leben einen unsichtbaren inneren Koffer bei sich. Mit kostbaren und schmerzhaften Erinnerungen, aber auch mit all den Kleinigkeiten, die uns täglich umgeben. Das ist der »wahre« Koffer, den wir immer in uns tragen. Mein Lebenskoffer ist gefüllt mit Gedanken und all dem, was für mich im Leben wichtig ist und was unzertrennlich zu mir gehört. In diesem Buch geht es um »Festhalten« und »Loslassen«. Manches meiner Erinnerungen und Erfahrungen, besonders die prägenden und einschneidenden Erlebnisse lagen schon ganz lange unten im Koffer, weil im Laufe meines Lebens immer wieder Neues obendrauf gepackt wurde. Doch es muss auch mal aufgeräumt werden. »Ballast abwerfen« könnte man es nennen. Mit diesem Buch habe ich begonnen, Stück für Stück etwas von dem Gepäck abzuwerfen, was überflüssig ist, mich aber stets davor bewahrt hat »abzuheben«.
© 2021 Christa Heuermann
Umschlag: Klaus Heuermann
Für alle Bilder von Privatpersonen liegen Einverständniserklärungen vor. Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN: 978-3-347-30268-6 (Paperback)
978-3-347-30269-3 (Hardcover)
978-3-347-30270-9 (e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d- nb.de abrufbar.
Christa Heuermann wurde 1950 geboren.
Die Autorin lebt mit ihrem Mann in Georgsmarienhütte in der Nähe von Osnabrück. Sie hat nach ihrer Ausbildung als Krankengymnastin und nach der Erziehungszeit zweier Söhne, Sozialpädagogik studiert und anschließend lange Jahre als Fachlehrerin für sozialpflegerische und sozialpädagogische Berufe an einer Berufsbildenden Schule gearbeitet. »Lebensgepäck« ist ihr erstes Werk.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Leben in der Baracke
Leben im Kinderheim
Kinderheimproblematik und Geschwisterbeziehung
Wege aus dem Heim
Leben in der Pflegefamilie
Jugendzeit
Leben meiner Geschwister
Kindheit prägt
Familiengründung
Pflegemutter Hedwig
Erwachsenen-Adoption
Abschied
Nachwort
Dieses Buch ist ein Geschenk an meinen Mann, meine Söhne und meine Schwiegertöchter.
Vorwort
Und da komme ich und behaupte: Jeder kann schreiben.
Wer einen Bleistift halten kann, der schreibe. Alles, was man braucht, ist der besagte Bleistift und ein Stück Papier. Und schon kann man Welten erschaffen, die die Realität umsortieren, Erinnerungen begradigen, sich zum Lachen bringen, ein Stück Leben planen, mit allem anderen fertig werden, sich zu Tränen rühren.
(Milena Moser)
Zu meinem Geburtstag habe ich vor ein paar Jahren ein Schreibbuch, »Christa schreibt«, mit goldenem Namen verziert, von meinen Söhnen Marcus und Lars und meinen beiden Schwiegertöchtern, Maria und Karina, geschenkt bekommen. Etwas irritiert hielt ich das Buch in meinen Händen, doch mein Sohn erklärte mir ihr »Geschenkkonzept« genauer. Sie hatten sich an meine eigenen Aussagen in der Vergangenheit erinnert, in denen ich irgendwann einmal den Wunsch äußerte, Dinge aufzuschreiben. Schreib doch mal über diese Zeit, forderten meine Kinder mich auf. Alles liegt in der Macht des Schreibenden, Autobiografisches, Gedanken oder Fiktives. Dieses »Leerbuch« sollte den symbolischen Startschuss darstellen, und nach Möglichkeit nicht »leer« bleiben. »2020« – ein Jahr voller Ereignisse, ich wurde im Dezember 70 Jahre alt und die Corona-Pandemie hatte uns seit fast einem Jahr im Griff. Voller Elan startete ich nun mein neues »Projekt« und fing an zu schreiben.
Leben in der Baracke
So bitte ich darum, meine Arbeit, mein Schreiben nicht zu missachten, vielmehr mir Lob zu spenden nicht für das, was ich schreibe, sondern für das, was ich weglasse.
Zurück in die Vergangenheit!
Wer bin ich?
Was war mein bisheriger Lebensweg?
Warum jetzt Rückblick?
Geboren bin ich am 9. Dezember 1950. Auch anderen Menschen ist nicht so viel an Erinnerungen an die erste Zeit ihres Lebens vergönnt – und so ist es auch bei mir. Doch wann beginnt man damit, sein Leben zu erzählen und wie?
Ob es in diesem Winter sehr kalt war oder mild, ich weiß es nicht, überhaupt – »Ich weiß es nicht« – ist sicher der meist verwendete Satz in meinen frühen Aufzeichnungen.
Ganz sicher weiß ich nur, je älter ich werde und je länger der Anfang zurückliegt, je mehr und je deutlicher werden die Bilder in mir. Lange Zeit habe ich mich gefragt, will ich diese Bilder wirklich sehen und ihnen auch eine Berechtigung geben? Ja, ich möchte die Geschichte meines Lebens erzählen und versuchen, die Jahre Revue passieren zu lassen, damit sie für meine Familie und deren Nachkommen nicht in Vergessenheit geraten, ob es mir gelingt, ich weiß es nicht.
Was bedeutet es für mich, in Gedanken den Weg zurückzugehen? Man sagt, beim Schreiben ist man viel allein, vielleicht stimmt das, aber man trifft auch immer wieder »alte Bekannte«, an die man sich Jahrzehnte lang nicht erinnert hat.
Viele Ereignisse verschwinden nach gewissen Zeitabständen und Lebensabschnitten aus meinem Gedächtnis. Alle erlebten Ereignisse, wie der Verlust von Vater und Mutter, Verlust der Familie, Heimunterbringung, Trennung von den Brüdern, ja, der Verlust von Zugehörigkeit bleiben lebenslang in meinem Gedächtnis. Unabhängig davon, wo ich mich befinde, immer trage ich diese Erinnerungen in mir.
Einiges wird mich sicher glücklich machen, denn es gibt verschüttete Situationen, die mir eine Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen in meinem jetzigen Leben aufzeigen, anderes wird sehr schmerzhaft sein, stoße ich doch an Punkte, die ich bis heute verdrängt hatte, die aber immer in mir lauerten.
Warum ich bei all dem Erlebten heute so eine relativ stabile Persönlichkeit geworden bin, muss an den mir mitgegebenen Genen oder an der Liebe in den ersten drei Jahren meiner Familie liegen.
Zu dem Zeitpunkt bestand sie aus meinem Vater Johann (48), meiner Mutter Gertrud (29), meinen Brüdern Hans (3), Bernhard (2) Erwin (1) und meiner Stiefschwester Felizitas (8) aus der ersten Ehe meiner Mutter. Als die Kriegsflüchtlinge aus Schlesien nach Cloppenburg kamen, wurden sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. So erging es auch meinen Eltern.
Das Gebiet am damaligen Rennplatz, Garreler Weg 2, eine Barackensiedlung, die damals typische Bezeichnung für eine Anhäufung von Holzbaracken, sollte ihre neue Heimat werden.
Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem Schlafraum, in der wir – sieben Personen untergebracht waren. Es gab ein großes Ehebett und zwei Eisenbetten an der Wand. Für etwas Wärme sorgte ein eiserner Ofen, der mit Kohle beheizt wurde. An Kälte kann ich mich in dieser Zeit nicht erinnern, wohl aber an wohlige Wärme innerhalb dieser Holzwände. Die Unterkunft war aus heutiger Sicht primitiv. Außer den Betten gab es kaum Möbel oder andere Einrichtungsgegenstände. Man hatte ja auf der Flucht nicht mehr mitnehmen können, außer das, was man am Leibe trug und was in ein kleines Köfferchen passte. Aber den Nachbarn ging es genauso und man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir mussten nicht hungern, denn die Verpflegung bekamen alle Vertriebenen mit ihren Familien aus dem St. Josefs-Krankenhaus in Cloppenburg.
Dort wurden ich und meine vier Brüder geboren, fünf Kinder, immer im Abstand von einem Jahr. Wir hatten uns und unsere vier Wände, wohin wir uns zurückziehen konnten. In dieser Barackensiedlung waren die hygienischen Verhältnisse aufgrund der gemeinschaftlich genutzten sanitären Einrichtungen äußerst schlecht. Sie bestanden aus einem Plumpsklo und einem Brunnen auf dem Hof.
Das hölzerne Toilettenhaus stand ca. zehn Meter vom Haus entfernt und wurde von drei Baracken genutzt. Im Sommer stellte diese Situation nicht das größte Problem dar, wenn man einmal von den Wartezeiten absah – es war mehr der Winter und die dunklen Abende oder Nächte, die jeden Gang zur Toilette für mich zum Horrorgang werden ließen.
Vielleicht stammt daher heute noch der Wunsch, »alles so lang wie möglich hinauszuschieben« und dann »alles schnell zu erledigen«, und immer war dies mit der Angst behaftet, jemand zieht einen von unten in das offene Plumpsklo. Das wöchentliche Baden am Samstag fand nach mühseligem Aufheizen des Wassers auf dem Kohleherd in der Küche statt. In diesen ersten Jahren meines Lebens müssen mir meine Eltern einiges an Werten wie z. B Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit und Liebe vermittelt haben. Ansonsten kann ich mir nicht erklären, wie alles, was nach dieser Zeit kam, mich nicht für alle Zeiten geschädigt hatte, denn es folgte eine Zeit, die an Schwere nicht zu beschreiben war.
Vage, verschwommene Erinnerungen dieser Zeit ziehen manchmal in kurzen Bildern an mir vorbei. Ich sehe einen kleinen, fast glatzköpfigen Mann in einem weißen Unterhemd mit maritimen Motiven an den Oberarmen tätowiert und eine kleine, etwas pummelige Frau mit schwarzen Kirschaugen und langen schwarzen Haaren, die zum Zopf geflochten sind und mit einer Kittelschürze gekleidet, vor einer grau angestrichenen Holzbaracke stehen.
Von diesen Baracken gab es »Am Rennplatz« in Cloppenburg, mehrere einfach zusammengezimmerte, hintereinander aufgereihte Schuppen. In jeder Reihe waren ca. fünf ganz kleine Wohnungen. Alle Familien um uns herum waren wie meine Eltern »Vertriebene« und hatten mindestens drei Kinder. An ihrem Dialekt konnte man, wenn diese Menschen sprachen, erkennen, dass sie nicht aus Cloppenburg stammten. Viele kannten sich aus ihren Heimatdörfern und von ihren gemeinsamen Fluchtwegen.
Es gab einen großen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Familien. Aufgrund der beengten Wohnungen spielte sich vieles im Freien ab. Alle hatten nur sehr wenig und Reichtümer hatte niemand aus der Heimat mitnehmen können. Einiges war auf der Flucht verloren gegangen. Aber man hatte noch die Gemeinschaft. Abends traf man sich auf dem Hof und dann wurde auf dem Akkordeon, auf dem mein Vater spielte, musiziert und es wurde gesungen und aus der fernen Heimat erzählt.
Mein Vater war 19 Jahre älter als meine Mutter, die zur damaligen Zeit noch in erster Ehe verheiratet war. Ihr erster Mann galt als verschollen, was immer das in der damaligen Zeit bedeutete – ich hab es nie erfahren. Sie wurde am 20. Oktober 1922 und mein Vater am 1. August 1904 in Schlesien geboren. Aus ihrer ersten Ehe stammte die 8-jährige Tochter Felizitas (genannt – Litze).
Viele Bilder vermischen sich mit realen Bildern und überlieferten Erzählungen. Sicher ist, dass meine Eltern sehr gesellige Menschen waren, die gerne feierten. Auf Fotografien, die irgendwo einmal im Nachlass meines Vaters auftauchten, ist zu erkennen, dass Weihnachten z. B. im Kreise einer großen Familie gefeiert wurde.
Die Fotos, die aus dieser Zeit stammen, zeigen mich, meinen Bruder Hans, meinen Vater, meine Mutter und viele Onkel und Tanten. Was ich aus dieser Zeit mitbekommen habe, weiß ich nicht, doch mein Wunsch, immer in geselliger Runde zu sein, kann auf dies Zeit zurückgehen.
Vielleicht hat dieser Wunsch aber auch einen ganz anderen Grund das »Kinderheim Heilig Kreuz«, in Stapelfeld – was mein weiteres Leben bestimmte. Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Alleinsein mehr alles geschah in einer »Gruppe« – doch dazu später.
Alles war im Aufbruch in dieser Zeit, kurz nach dem Ende des Krieges wurden Maurer zum Aufbau der Stadt gebraucht. Mein Vater hatte eine feste Arbeitsstelle am St. Josefs-Krankenhaus in Cloppenburg und baute ab 1950 mit an dem Kinderheim »Heilig Kreuz« in Stapelfeld, das im Laufe unseres Lebens eine große Rolle spielen sollte. Durch diese regelmäßige Arbeit waren wir finanziell versorgt. Wenn Papa abends nach Hause kam, hatte er immer die Henkelmänner mit Essen für uns alle dabei. Wenn auch ärmlich und alles ein wenig anders als bei Menschen, die nicht aus ihrer Heimat vertrieben waren, war unser Familienleben nicht unglücklich.
Es wurde jedoch durch die Geburt meiner Brüder, Bernhard (1952) und Erwin (1953), immer enger in der grauen Baracke. Anderen Familien ging es genauso, man hatte eben viele Kinder und die mussten satt werden. Mein Vater züchtete Hauskaninchen und das vor dem Haus ein nacktes, abgezogenes Kaninchen hing, war keine Seltenheit. Hunger mussten wir, glaube ich, nicht leiden. Außerdem hatten wir einen Hund, einen weißen Spitz. Sein Name war Molly.
Auf unseren nächtlichen Touren, von denen ich später schreibe, saß er häufig mit in meinem Fahrradkörbchen.
Des Weiteren hatte die ganze Barackengemeinschaft ein Hausschwein, das in einem Holzverschlag von unseren Abfällen lebte und gemeinsam geschlachtet wurde. Hausschlachterei war in den 50er-Jahren üblich. Es war zwar verboten, aber es hielt sich niemand dran, man war froh, dass man zu Essen hatte.
Es gibt Bilder in meinem Kopf und auch Fotos, auf denen mein Vater mit einer langen Metzgerschürze und einem großen Messer in der Hand ein vor sich hängendes Schwein verarbeitete.
Vielleicht wäre in den folgenden Jahren alles gut so weitergegangen doch ein böses, einschneidendes Ereignis veränderte den Verlauf unserer Familie.
Meine Mutter wurde ein weiteres Mal schwanger. Sie war zu dieser Zeit 32 Jahre alt und hatte von 1949 bis 1954 fünf Kinder geboren. Ich war noch zu klein, um diesem Ereignis in der Erinnerung Bedeutung beizumessen. Meine Erinnerung setzte erst zu einem späteren Zeitpunkt brutal wieder ein. Diese Bilder trage ich bis heute in mir. Obwohl ich damals erst drei Jahre alt war, sehe ich noch heute das Bild vor mir – meine Mutter in der Leichenhalle im Cloppenburger Krankenhaus. Sie war ganz weiß, blutleer (heute, weiß ich, sie hatte bei der Geburt viel Blut verloren). Sie war eine junge, gesunde Frau, die ein Baby bekommen sollte. Komplikationen und der starke Blutverlust führten ganz unerwartet und plötzlich zum Tod von Mutter und Kind. Es war ein Junge, Paul – und meine Mutter hielt dieses Kind auf dem Totenbett in ihren Armen, ebenfalls weiß und blutleer. Meine Mutter hatte vom Nasenbluten noch getrocknetes Blut unter der Nase. Das Baby sah aus wie eine kleine Porzellanpuppe. Noch heute sehe ich manchmal dieses Bild, – es erinnert mich ein bisschen an »Schneewittchen im Sarg«. Beide sind am gleichen Tag verstorben.
»Gib Mama noch einen Kuss, Pippi«, hörte ich meinen Vater sagen.
Woher mein Vater die Kraft nahm, mit seinen beiden ältesten Kindern am Sarg seiner toten Frau zu stehen, ist mir vollkommen unverständlich.
Damit setzt erst mal die Erinnerung an ein unfassbares Geschehen aus. Die Leichenhalle vor dem Cloppenburger Krankenhaus sollte mich noch viele Jahre später, als ich schon in meiner Pflegefamilie war, wie ein Magnet anziehen. Oft bin ich viele Jahre später, als ich bereits bei meinen Pflegeeltern lebte und ein eigenes Fahrrad besaß, zu dieser Tür gefahren und habe durch das Schlüsselloch geschaut. Es war irgendwie gruselig und erschreckend, doch es hat mich nicht abgehalten hinzufahren – ich war auf der Suche nach etwas, was ich auch bis heute nicht verarbeitet habe.
Nach dem Tod meiner Mutter sind mir keine Erinnerungen oder Gefühle an sie geblieben, die ich heute beschreiben könnte. Viele Jahre später, im Jahr 1971, als meine Schwägerin Karin in dem St. Josefs-Krankenhaus ihr erstes Kind zur Welt brachte, wurde sie von einer schon älteren Stationsschwester gefragt, ob sie mit den Irmers aus den 50er-Jahren verwandt sei. Sie erinnere sich noch genau an die lang zurückliegende, schmerzliche Geschichte der Gertrud Irmer, meiner Mutter, die bei der Geburt ihres fünften Kindes starb und vier kleine Kinder mit dem Vater allein zurückließ. Man fand sie damals verblutend im Badezimmer.
Das Leben sollte weitergehen. Ein Witwer mit vier kleinen Kindern!
Natürlich konnte das nicht gut ausgehen.
Was sollte geschehen mit der Familie Irmer?
Die familiäre Situation des Johann Irmer:
Hans, geboren am 31.01.1949, Christa (ich), geboren am 09.12.50, Bernhard, geboren am 20.07 1952 und Erwin, geboren am 05.07.1953. Ab dem 29. August 1954 hatten wir vier Kinder nun keine Mutter mehr. Für unsere Betreuung musste eine Lösung gefunden werden. So etwas wie Inobhutnahme, Pflegefamilien o. Ä. gab es damals noch nicht.
Man sprach von einer vorübergehenden Lösung. Was aber sollte vorübergehen? Die Verhältnisse konnten nicht ohne Weiteres geändert werden. Es gab keine Verwandten, die sich zusätzlich zu ihren eigenen Kindern noch vier weitere dazu genommen hätten und dazu noch so kleine.
Erwin war ein Säugling und Bernhard ein Kleinkind. Felizitas kam zu ihren Verwandten aus der ersten Ehe meiner Mutter. Ich habe sie erst Jahre später als junge Frau wiedergesehen.
Eine neue Ehefrau für den Witwer Johann Irmer war weit und breit nicht in Sicht. Wer hätte sich das denn auch angetan?
Mein Vater wurde so mit einem Schlag vom Familienvater zum einsamsten Menschen der Welt. Er konnte diese Welt nicht mehr verstehen. Die Ehefrau gestorben, mit uns kleinen Kindern vollkommen überfordert, verlor er den Halt – und griff immer mehr zum »Tröster« Alkohol.
Ein Kreislauf begann – mein Vater trank, weil er allein war und weil er sich Ablenkung versprach, aber das Erwachen am nächsten Tag machte seine Situation nicht besser. Ein vollberufstätiger Mann mit vier kleinen Kindern, das war schier unmöglich zu bewältigen, er war hilflos und total überfordert. Als die Last für unseren Vater immer größer wurde, suchte er sich abends ein Ausbrechen aus dem Elend der Doppelbelastung. Inzwischen wurden auch die Behörden durch Familienangehörige und Nachbarn auf den tragischen Schicksalsschlag aufmerksam gemacht.
Die Hilfsbereitschaft war zwar groß und mein Vater hatte bestimmt sein Bestes versucht, es allen Recht zu machen. Es war nur eine Frage der Zeit und die Familie galt als »sozial auffällig«. Heute würde man sagen »asozial«.
Vom Jugendamt wurde eine sogenannte »Fürsorgerin« Fräulein Stärk beauftragt, sich um uns und die Familie zu kümmern. Von Anfang an war uns Kindern und unserem Vater diese Frau verhasst. Allein schon ihr Aussehen und ihr Auftreten – heute würde man sagen, sie war ein Dragonerweib, machte uns Kindern angst.
Groß, von kräftiger Statur, strenger Haardutt, eine »Glasbausteinbrille«, immer schwarze Säcke als Kleidung, so habe ich diese Frau in Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, mit welchem Ziel und Zweck wir von Fräulein Stärk »überwacht« wurden, denn der Tagesablauf lief zunächst einmal wie gewohnt weiter. Unser Mittagessen holte unser Vater weiterhin in Henkeltöpfen aus der Großküche des Cloppenburger Krankenhauses. Eine Mitarbeiterin vom Jugendamt (Fräulein Thea) kam, um den Ablauf des Tages zu koordinieren, d. h. Waschen, Putzen, Einkaufen.
Es gab aber auch noch ein paar Nachbarn, die für uns da waren. Es war jedoch vorgezeichnet, dass das nicht lange gut gehen konnte. Vom Jugendamt kam Fräulein Stärk nun immer öfter, um nach dem Rechten zu sehen. Wir spielten ihr jedes Mal Theater vor, waren sauber, wenn auch ärmlich gekleidet, Papa brachte uns Essen und abends waren wir in unseren Betten. Die Abstände der Behördenbesuche wurden immer kürzer. Zu diesem Zeitpunkt wurden meine beiden jüngeren Brüder bereits in das »Kinderheim Heilig Kreuz« in Stapelfeld bei den Thuiner Ordensschwestern untergebracht. Fräulein Stärk hatte eine Zwangsunterbringung wegen Vernachlässigung der Kinder angeordnet. Uns beiden, meinen Bruder Hans und mich hatte man meinem Vater gelassen – anscheinend wurde ihm zugetraut, dass er seinen Alltag wegen der Kinder vielleicht doch noch in den Griff bekommt.
Mein Vater hatte gute Freunde, die ihm auch sicher zur Seite standen. Ein besonderer Freund war Otto Kühn. Er hatte seine Frau Emma und zwei Töchter im Teenageralter. Das Besondere an der Familie Kühn war, dass sie eine Kneipe in Cloppenburg hatten.
Nun war es ja früher nicht unüblich, nach der Arbeit noch einmal ums Eck zu gehen und mit Freunden ein Bier zum Feierabend zu trinken. Gerade bei Handwerkern vom Bau war das gang und gäbe. Doch hier begann dann die Problematik, die mein Vater bis zu seinem Tod begleitete. Aus den ersten Entspannungsbieren bei »Onkel Otto« wurden jeden Abend mehr und mehr »Trostbiere«. Wenn das Geld knapp wurde oder ganz ausblieb, konnte »angeschrieben werden«. Onkel Otto war da nicht so kleinlich.
Mein Bruder Hans und ich waren auf diesen Zechtouren immer dabei. Im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl bei den Kühns.
Wir wollten immer in Papas Nähe sein und wurden bis dahin nie allein zu Hause gelassen. An diesen Abenden erlebten wir komplettes Familienleben bei Familie Kühn, der wir Kinder leidtaten. Sie verwöhnten uns und wir spürten, dass Papas Stimmung abends nach ein paar Bier immer besser wurde und er nicht nur traurig war. Er konnte gut singen, das war noch aus den Zeiten, als er bei der Marine war. Mein Vater war dass, was man heute eine »Stimmungskanone« nannte. Er konnte an guten Abenden die ganze Kneipe mit seiner Stimmung anstecken. Die ersten Wochen und Monate genossen mein Bruder und ich die täglichen Ausflüge in die Kneipe. Aber immer häufiger folgten bald auf die schönen Abende gewaltige Abstürze. Unser Vater war schon bald jeden Abend »sternhagelblau«.
Wenn ich meine Gedanken so weit zurückverfolge, sehe ich uns, meinen Vater und ein Fahrrad. Dieses Fahrrad hatte einen Gepäckträger mit Fußstützen und vorne an der Lenkstange ein geflochtenes Körbchen, dies war mein Platz. Molly, unser kleiner weißer Spitz, fuhr immer mit mir im Körbchen. Hinten saß mein Bruder. So fuhren wir jeden Abend los nach »Kühns«. Der Hinweg klappte in der Regel ganz gut, aber der Rückweg mit den vielen Bieren und Schnaps intus, war meist eine »Höllenfahrt«.
Ich erinnere mich genau daran, dass so manche Fahrt buchstäblich im Graben endete. Wir Kinder trugen selbstverständlich leichte Verletzungen davon und das fiel natürlich auch anderen auf. Doch noch meldete niemand etwas den Behörden. Ich hatte immer Angst vor diesen nächtlichen Fahrten und wollte nicht mehr in mein Körbchen einsteigen. Von diesem Zeitpunkt an fuhren Papa und Hans abends ohne mich los.
Ich musste allein in der Baracke bleiben und da weiß ich nicht mehr, was schlimmer war, die furchtbaren Nachtfahrten mit dem total betrunkenen Papa oder das Alleinsein in dem abgelegenen Haus im Dunklen. Außerdem war es doch immer so lustig bei »Kühns«. Wir zwei Kinder wurden von allen Gästen in der Gastwirtschaft verwöhnt, es gab Schokolade und Brause. Um Papas Tresenplatz war immer beste Stimmung. Solche Gäste hatte der Wirt gerne – aber immer mehr zog er meinen Vater in die Abhängigkeit vom Alkohol. Die nächtlichen Heimfahrten wurden immer gefährlicher. Es dauerte daher nicht lange, bis »Fräulein Stärk« unsere Schrammen, Beulen und blauen Flecke entdeckte. Plötzlich kippte die gute Stimmung um. Es wurden Nachforschungen angestellt und die Menschen, die unserem Vater bis dahin Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit und ein Klarkommen mit der Situation bescheinigt hatten, konnten dies nun nicht mehr aufrecht halten und die Augen vor dem verschließen, was sich täglich bei uns abspielte.
Die nächtlichen Fahrten hörten dann erst einmal auf, dafür fuhr mein Vater nun ohne uns an den Wochenenden in die Kneipe und ließ uns allein – tagelang, nächtelang. Ich kann heute verstehen, dass er aus seinem häuslichen Elend flüchten musste – er war massiv mit allem überfordert.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis wieder Beschwerden kamen. Nun hieß es, die Kinder werden sich allein überlassen – Tag und Nacht. Sie sind ohne Aufsicht in der Baracke, wo sich alles Mögliche rumtrieb. Und so war es auch. Wir waren immer allein und hatten Angst. Aber noch mehr Angst hatten wir davor, auch ins Heim zu kommen. Deshalb verhielten wir uns ruhig und passten uns der Situation an.
Jeder Besuch der »Fürsorgerin« brachte uns Höllenqualen. Oft sind wir weggelaufen, haben uns versteckt und dachten, wenn sie uns nicht findet, kann sie uns auch nicht ins Heim stecken. Aber immer wieder wurden wir gefunden und spürten, dass es nicht mehr lange gut gehen konnte. Daher überlegten wir uns eines Tages, dass »Fräulein Stärk« weg muss. Aber wie? Ganz schnell hatten wir einen Plan, den wir dann auch tatsächlich umsetzten.
Als »Fräulein Stärk« wieder einmal ihre Nase in alles (sprich in einen unserer Schränke) steckte, stießen wir sie hinein und schlugen die Eisentür zu. Es war ein Schrank, den man heute als großen Spind bezeichnen würde. Das Vorhängeschloss, das an der Tür hing, hakten wir ein und – weg war »Fräulein Stärk«.
Alles Klopfen und Schimpfen nützte nichts, sie blieb im Schrank, bis unser Vater nach Hause kam. Nun ging der Ärger erst richtig los. Mit dieser Aktion hatten wir es uns mit »Fräulein Stärk« verdorben und die ganze Geschichte unserer »Befreiung« von Fräulein Stärk hatte nun zur Folge, dass man erkannte, dass es so nicht weitergehen konnte. Wir Kinder galten nunmehr nicht mehr nur als verwahrlost, sondern auch noch als gemeingefährlich.
Eine Lösung für die Familie Irmer musste her, und zwar umgehend.
Der Vater, Witwer mit zwei kleinen Kindern, unzumutbare Wohnverhältnisse, dazu ein »Trinker«, der auf dem Bau als Maurer auch jeden Tag seinen Alkohol bekam und überhaupt die ganze Situation lief aus dem Ruder.
Jetzt wurde von Amtswegen auch eine Heimunterbringung der Kinder Hans und Christa Irmer angeordnet.
An dieser Stelle muss ich einmal sagen, dass genau dieses »Fräulein Stärk« meinen gesamten Lebensweg bis zu ihrem eigenen Tod begleitete. Sie hatte mich und meine Brüder ins Heim gebracht, sie war aber auch die Frau, die es viele Jahre später schaffte, mich gegen alle Widerstände und gegen alle Vorschriften in meine Pflegefamilie zu vermitteln.
Frau Stärk, (sie hatte zwar nie geheiratet, aber aus Fräulein wurde Frau), Spitzname »Panzer«, wie wir sie heimlich nannten, war jahrelang meine und auch die Betreuerin meiner Brüder.
Sie begleitete mich die vielen Jahre der Pflegschaft bei Familie Große-Holthaus, bis zu meiner Volljährigkeit mit 21 Jahren. All die Jahre hatte ich ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Frau, es entwickelte sich im Laufe der vielen Jahre eine Hassliebe. Hatte ich doch gehofft, sie nach meiner Mündigkeit nicht mehr sehen zu müssen, erledigte sich dies jedoch ganz schnell, da sie sich inzwischen mit meiner Pflegemutter angefreundet hatte und die beiden sich näher kamen. Die Freundschaft der beiden hielt bis zu ihrem Tod.
Hier komme ich immer wieder ins Nachdenken: »Gab es damals wirklich keine andere Lösung als die Heimunterbringung?« Mein Vater hatte sich doch bemüht, dennoch hatte man ihm die Kinder aus den Händen gerissen.
Heute, als Mutter zweier Söhne, frage ich mich, wie konnten die Ämter so etwas zulassen. Immer wieder fühle ich mich auch heute in bestimmten Momenten in meine Kindheit zurückversetzt. Verdrängtes tauchte plötzlich verstärkt wieder auf. Im Frühjahr, als die ersten Corona-Fälle auftraten, entwickelte ich ganz plötzlich große irrationale Ängste. Meist war es mir gelungen, Dinge von früher nicht hochkommen zu lassen. Aber in Angst machenden Träumen erinnerte ich mich plötzlich an schmerzhafte Dinge, die ich nicht vergessen hatte.
Erinnerungen lassen sich nie ganz löschen, die Vergangenheit holte mich in den Albträumen wieder ein und ich wachte mit Herzrasen auf. In diesen Nächten sah ich Menschen, die schon lang verstorben waren, als Vision vor meinem Bett stehen (Paralyse).
Diese nächtlichen Bilder verschwanden nach einiger Zeit wieder, ich bekam meine Angst und mein Herzrasen wieder in den Griff.
Aber etwas war in mir angestoßen worden, ich wollte mehr wissen, das Wissen weitergeben, mich mitteilen. Ich hatte so vieles verschüttet, jetzt wollte ich nachforschen, fragen, Antworten bekommen.
Vor einiger Zeit habe ich im Jugendamt in Cloppenburg angerufen, um mich nach der Akte der Familie Irmer zu erkundigen.
»Nichts mehr da!«, hieß es.
Auch bei verschiedenen anderen Ämtern und Behörden hab ich versucht, Erkundigungen über meine Familie einzuholen.
Die meisten Archive haben die alten Akten vernichtet. Auch in den Klöstern gibt es aus der dunklen Vergangenheit der »schwarzen Pädagogik« keine Unterlagen mehr. Man wollte mit den vergangenen Geschichten die alten Schwestern nicht mehr belasten. Für mich war es von großem Interesse zu verstehen, warum und weshalb wir alle ins Kinderheim kamen, wie die Begründung und der Ablauf des Jugendamtes war.
Erst vor wenigen Tagen bekam ich durch Unterlagen, die nach dem Tod meines Bruders Hans auftauchten, verschiedene Dokumente in die Hände.
Durch diese Unterlagen, die nach dem Tod unseres Vaters bei meinem Bruder blieben, bekam ich vieles mir bisher Unbekanntes über unsere Familie zum ersten Mal zu sehen.
Eine Kopie des Beschlusses für die Heimunterbringung ist im Bildteil dieses Buches zu finden.
Am meisten schockierte mich die Begründung des Vormundschaftsgerichtes in Cloppenburg.
Beschlüsse vom Jugendamt Cloppenburg
Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt hatte das Amtsgericht Cloppenburg auf Antrag des Kreisjugendamtes meinem Vater im Juli das Aufenthaltsbestimmungsrecht für seine vier Kinder entzogen und dem Jugendamt in Cloppenburg übertragen mit der Begründung, das das leibliche Wohl der Kinder gefährdet ist. Dieses wollte mein Vater, nachdem er das Krankenhaus wieder verlassen hatte, auf keinen Fall akzeptieren. Deshalb ging er vehement gegen diesen Beschluss des Jugendamtes vor und hatte Erfolg. Im September des gleichen Jahr wird dieser Beschluss durch das gleiche Gericht wieder aufgehoben.
Wortlaut:
I. Der Antrag des Kreisjugendamtes Cloppenburg … auf Entziehung des Sorgerechts… für seine Kinder …, wird zurückgewiesen. II. Es wird die Unterbringung der Kinder zu 1 bis 4 durch das Jugendamt in ein Kinderheim angeordnet, bis der Vater Johann Irmer den Nachweis geführt hat, dass er eine ordentliche Haushälterin gefunden hat, die für längere Zeit in seinem Haushalt bleiben wird. III. Dem Vater bleibt es überlassen, seine Kinder in einer anderen ordentlichen Familie unterzubringen, wo die Erziehung und Pflege der Kinder übernommen wird.
Gründe:
Aufgrund des Antrages des Kreisjugendamtes Cloppenburg vom 5. Juli auf Entziehung des Sorgerechts des Johann Irmer über seine Kinder ist durch Beschluss des Amtsgerichts Cloppenburg, … dem Vater Johann Irmer für vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht über seine Kinder entzogen worden.
Da – nach der glaubhaften Darstellung des Jugendamtes der Vater sich nicht ausreichend um seine Kinder bekümmerte und sich auch eine Zeit lang im Krankenhaus aufhalten musste, sind die Kinder seit dem 24. Juni im Kinderheim in Stapelfeld untergebracht. Der Vater hatte sich mit dieser Regelung für die Zeit seines Krankenhausaufenthaltes einverstanden erklärt. Eine anderweitige und auch auf längere Zeit bestimmte Unterbringung der Kinder lehnte der Vater jedoch entschieden ab.
Die in dem Antrag des Kreisjugendamtes aufgeführten Tatsachen, die noch durch den glaubwürdigen Bericht des kath. Fürsorgevereins gestützt werden - reichen aber nicht aus, das dem Vater gemäß §1627 BGB zustehende Sorgerecht für seine Kinder entziehen zu können. Wenn auch Johann Irmer in letzter Zeit in stärkerem Maßedem Alkohol zuspricht, so kann ihm doch keineswegs der Vorwurf gemacht werden, er habe seine Kinder in so starker Weise vernachlässigt, dass sie sich völlig selbst überlassen seien. Es ist lediglich festgestellt, dass die Kinder nur zeitweilig und in der Zeit einen ungepflegten und vernachlässigten Eindruck gemacht haben, in der keine Haushälterin im Hause war.
Solange eine Haushälterin bei dem Vater Johann Irmer beschäftigt war, waren auch die Wohnverhältnisse in der primitiven Barackenwohnung ordentlich gewesen. Direkten Mangel haben die Kinder weder in Bezug auf Essen noch auf Kleidung gehabt. Wie die Zeuginnen Frau Kühn und Frau Grönewald ausführen, habe Irmer immer gut für Essen gesorgt.