Leberkoma - Olaf Hönicke - E-Book

Leberkoma E-Book

Olaf Hönicke

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Beschreibung

Im Alter von 11 Jahren wird der Autor vom Bruder eines Mitschülers missbraucht und versucht diesen Missbrauch zunächst durch Sport, später durch Drogen zu kompensieren. Mit 13 Jahren wird er deutscher Jugendmeister im Wasserball, probiert mit 15 Jahren Ephedrin und beginnt mit 16 Jahren im Rahmen eines Schüleraustausches mit der Universität von Baltimore Marihuana zu rauchen. 2 Jahre später kommen Heroin und Kokain dazu. Mit 22 Jahren ist der Autor polytoxikoman, zu Heroin und Kokain kommen noch Barbiturate hinzu. Im September 1993 versagt seine Leber – nur eine Lebertransplantation kann ihm jetzt noch das Leben retten. Eine unglaubliche Geschichte über Sucht, Drogen, Fußball, Liebe und ein Leben im Zeichen von Abhängigkeit, Krankheit und Bewältigungsstrategien. Der Autor, geboren am 8. April 1969, wächst in Hannover im Stadtteil Linden-Süd auf. Seine Eltern sind einfache, ehrliche Arbeiter: der Vater Dachdecker, die Mutter Friseurin und Vorarbeiterin in einem Reinigungsunternehmen. Der Vater spielt Fußball im Verein, die Wochenenden werden auf dem Sportplatz oder im Vereinsheim verbracht. Nach der Schule macht Olaf Hönicke seine Hausaufgaben in der Kneipe, in der seine Großmutter arbeitet. Alkohol ist dabei allgegenwärtig und die erste Droge, die er schon als Kind wahrnimmt und auch zuerst konsumiert. Später kommen diverse weitere Drogen dazu. Heute lebt Olaf Hönicke, seit 26 Jahren mit einer neuen Leber und seit 10 Jahren glücklich verheiratet, in einem kleinen Häuschen am Mittellandkanal in Hannover, geht zweimal wöchentlich zur Dialyse und wartet auf eine neue Niere.

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Seitenzahl: 273

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Leberkoma

Inhaltsverzeichnis
Die unglaubliche Geschichte einer Sucht
Leberkoma (1993)
Rückblende (1969 - 1982)
Lebertransplantation (1993)
Missbrauch (1979)
Wasserball (1980)
Ederhof (1993/94)
Baltimore (1986)
Neustart (1994)
Zurück aus Baltimore (1986)
Berufsleben (1996)
Pat (1986)
Schädelspalter (1996)
Y viva España (1987)
Rückfall (1997)
Grundwehrdienst (1988)
Reha auf Föhr (1998)
Erstkontakt (1989)
Grüner Daumen (1998)
Unehrenhaft (1989)
Aus biologischem Anbau (1998)
Ausbildung (1990)
Besuch beim Nephrologen (1999)
Kurz vor der Therapie (1990)
Eine neue Bleibe (1999/2000)
Kalter Entzug (1991)
Hochzeitsglocken (2000-2003)
Daytop (1991)
Neue Mitbewohner (2003)
Therapiegeflüster (1991)
Alte Liebe, neu entdeckt (2003)
Volle Kanne Rückfall (1991)
Verdrängungsstrategie (2003/2004)
Voll drauf (1991)
Gewinne, Gewinne, Gewinne ... (2003)
Amsterdam (1991)
Gewinne, Gewinne, Gewinne … 2. Teil (2003/2004)
Es geht bergab (1991)
Partnersuche online (2004/2005)
Do-it-yourself-Entzug (1991/1992)
Internet-Techtelmechtel (2005)
Eine neue Dimension der Abhängigkeit (1992)
Niereninsuffizienz (2005)
Therapieversuch, Teil 2 (1992)
Ein Spätsommer mit 96 (2005)
Verzweiflung (1992)
Neue Wege (2006)
Ein neuer Anlauf (1992)
Tapetenwechsel (2006)
Nochmal Gas geben (1992)
Die Polizei, dein Freund und Helfer (2006)
Entgiftung, mal wieder (1992)
Vertrauensfrage (2006)
Daytop - der zweite Versuch (1992)
Leaving Lehrte (2007)
Finale, oho (1992)
Patchwork (2007)
Auf Kurs Selbstzerstörung (1992)
Eosinophile Alveolitis (2007/2008)
Kontrollverlust (1992/1993)
Die Liebe meines Lebens (2008)
Selbsthass (1992)
Mallorca (2008/2009)
Abwärtsspirale (1992/93)
On-/Off-/On-Beziehung (2009/2010)
Ganz unten (1993)
Die eigenen vier Wände (2010/2011)
Hepatitis B (1993)
Hallo, Tumor! (2011)
Bad Oexen (2011)
Hallo Tumor, die zweite! (2011)
Hermann (2011)
Kopenhagen (2011)
Alltag ist ein guter Tag (2012/2013)
Mach῾s gut, Lilly! (2014)
Ein Haus am Kanal (2015)
Multiple Sklerose (2015)
Umzugsfreuden (2015)
Neue Lebensqualität (2016)
Adieu Arbeitsleben (2017)
Gute Reise, Hermann! (2017)
Bobby (2018)
„Silberhochzeit“ (2018)
Ist-Zustand/Epilog (2019)

Die unglaubliche Geschichte einer Sucht

Im Alter von 11 Jahren wird der Autor vom Bruder eines Mitschülers missbraucht und versucht diesen Missbrauch zunächst durch Sport, später durch Drogen zu kompensieren.

Mit 13 Jahren wird er deutscher Jugendmeister im Wasserball, probiert mit 15 Jahren Ephedrin und beginnt mit 16 Jahren im Rahmen eines Schüleraustausches mit der Universität von Baltimore Marihuana zu rauchen.

2 Jahre später kommen Heroin und Kokain dazu. Mit 22 Jahren ist der Autor polytoxikoman, zu Heroin und Kokain kommen noch Barbiturate hinzu. Im September 1993 versagt seine Leber – nur eine Lebertransplantation kann ihm jetzt noch das Leben retten.

Eine unglaubliche Geschichte über Sucht, Drogen, Fußball, Liebe und ein Leben im Zeichen von Abhängigkeit, Krankheit und Bewältigungsstrategien.

Über den Autor

Leberkoma (1993)

„Ihr Sohn hat vielleicht noch zwei, höchstens drei Tage zu leben, wenn wir innerhalb dieses Zeitrahmens keine neue Leber für ihn finden. Er ist im Leberkoma, seine Leber versagt. Wir haben vernarbte Einstichstellen an beiden Armen entdeckt. Ist ihr Sohn drogenabhängig? Sollte dies der Fall sein, haben wir hier ein Problem“, sagte der diensthabende Arzt der Medizinischen Hochschule in Hannover meinem Vater, der das erst mal schlucken musste. Na klar, keine Frage. Eine neue Leber für einen 24-jährigen Junkie – ganz ehrlich: Das hat doch was von Perlen vor die Säue werfen. Da musste erst mal die Ethikkommission tagen. Mein Glück war, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon ein halbes Jahr clean war und in einer ambulanten Therapie steckte, die mir die Lust auf Opiate und Opiatderivate unter Zuhilfenahme eines Opiatblockers nahm. Und glauben Sie mir, ich habe es als polytoxikomanischer Hardcorejunkie, der ich damals war, natürlich ausprobiert: Opiatblocker funktionieren. Eine frustrierende Erkenntnis damals für mich.

Diese Tatsache, also die mit der Therapie, und ein Gespräch mit meinen lieben Eltern, die versicherten, dass sie mich weiterhin unterstützen werden, überzeugten die Ärzte, sodass ich eine gute Sozialprognose bekam: die Voraussetzung für mein zweites Leben, sollte die MHH eine passende Leber für mich finden. Ansonsten würden Sie, geneigter Leser, dieses Buch heute nicht in den Händen halten.

Doch wie kam es überhaupt zu diesem meinem größten Dilemma, das, wie sich später herausstellte, eine zweite Chance für mich war, nachdem ich vorher alles daran setzte, mein Leben zu zerstören?

Rückblende (1969 – 1982)

Am 8. April 1969 wurde ich in Hannovers Stadtteil Linden-Süd, einem Stadtteil mit hohem Gastarbeiteranteil, wie man damals sagte, nach einer schwierigen Steißgeburt geboren. Im Nachhinein betrachtet war das wohl schon ein kleiner Wink des Schicksals. Selbst am Tag meiner Geburt musste ich schon von der Norm abweichen. Wer kommt denn schon verkehrt herum auf die Welt? Laut Statistik nur drei Prozent aller Geburten. Aber das war noch nicht alles. Meine Hüftgelenke mussten aufgrund einer Fehlstellung sehr früh operativ umgestellt werden. Nach dieser OP lag ich ein knappes halbes Jahr im Gipsbett, bevor ich dann im Kindergarten und in der Vorschule oft zur Krankengymnastik musste und lange Zeit mit einer vorsintflutlichen Metallschiene zur Stabilisierung der Hüfte herumlief. Das war kein Geschenk für so einen labilen und sensiblen kleinen Jungen, der ich damals war. Kinder können grausam sein, wenn andere Kinder anders sind. Mein Selbstvertrauen litt sehr unter dieser Geschichte. 

Als ich 1976 eingeschult wurde, war ich meine Schiene los, musste aber noch weiter zur Krankengymnastik. Ich war ein guter Schüler, hatte jedoch Konzentrationsprobleme und spielte oft den Klassenclown. Zu Beginn der 4. Klasse musste ich auch des Öfteren die Klasse wechseln, da ich ständig den Unterricht störte. Auch verabredete ich mich immer wieder zu Prügeleien nach Schulschluss, die mal so und mal so ausgingen.

Meine Eltern, zu denen ich heute ein sehr gutes Verhältnis habe, waren ziemlich jung, als sie mich bekamen, meine Mutter 21 Jahre, mein Vater 23. Für die Zeit damals aber ganz normal. Meine Mutter arbeitete als Friseurin und Vorarbeiterin in einer Reinigungsfirma, mein alter Herr als Dachdecker. Er spielte recht erfolgreich Fußball im Verein, und wir verbrachten die Wochenenden während meiner Kindheit oft auf dem Fußballplatz oder im Vereinsheim. Alkohol floss dabei immer in rauen Mengen, sowohl im Verein als auch bei Partys zu Hause oder bei der Verwandtschaft. Es waren halt die wilden Siebziger. Im Nachhinein betrachtet war das alles nicht so prickelnd für meine Sozialisation. Auch meine Affinität zum Glücksspiel, später dann zu den Sportwetten, wurde hier geweckt. Denn während meine Eltern Siege feierten oder Niederlagen ertränkten, stand ich am Flipper oder durfte auch mal einen „Heiermann“ in den Geldautomaten stecken, um dann beim ersten Mal gleich eine Serie zu gewinnen. 

Meine Eltern stritten sich früher häufig zu Hause, besonders, wenn sie was getrunken hatten. Teilweise so schlimm, dass Sachen flogen und auch mal Handgreiflichkeiten im Spiel waren. Für so einen harmoniebedürftigen Jungen, der ich damals war, war das ziemlich schlimm. Meiner Meinung nach waren meine Eltern damals zu jung, um ein Kind zu bekommen und zu wissen, welche Verantwortung damit einhergeht. Für mich war das übrigens immer ein Grund, keine Kinder in die Welt zu setzen. Ich habe viele Jahre große Probleme damit gehabt, Verantwortung für mich selbst zu übernehmen. Wie sollte ich es dann schaffen, Verantwortung für ein Kind zu übernehmen? 

Nach der Orientierungsstufe erhielt ich eine Empfehlung fürs Gymnasium, wo sich meine Leistungen im Mittelmaß einpendelten. Ich fing an, im Schwimmverein, in dem mein Cousin Wasserball spielte, zu schwimmen. Die Krankengymnasten meinten, es wäre gut für meine Hüftgelenke, und so schwamm ich ein Jahr lang 2-mal die Woche. Irgendwann wurde es mir zu langweilig, immer nur Bahnen zu ziehen. Idealerweise war ein Freund meines Vaters gerade dabei, eine Jugendwasserballmannschaft aufzubauen, und ich wurde ein Teil dieser Mannschaft.

Eine große Liebe meiner Kindheit, die später durch das Wirken Martin Kinds und die immer stärker werdende Eventisierung des Fußballs sehr abkühlte, war Hannover 96. Schon sehr früh nahmen mich meine Eltern damals mit ins Niedersachsenstadion. Mit 11 Jahren stand ich dann bereits allein in der Fankurve, wo ein Mitglied der „Roten Wölfe“ auf mich aufmerksam wurde. Sie trafen sich vor den Spielen immer in einer Kneipe am Schwarzen Bären in Linden, und sie bräuchten noch so eine Art Maskottchen für ihre Truppe. Einerseits erfüllte mich das mit Stolz, andererseits hatte ein Maskottchen für mich immer was Süßes, Niedliches, und das wollte ich nun überhaupt nicht sein. Egal, ich hatte meinen Platz gefunden.

Den Höhepunkt meiner damals noch jungen Fanlaufbahn stellte ein Spiel gegen Schalke 04 im April 1982 dar. Ich hatte damals natürlich eine Kutte, so wie jeder vernünftige Fan, der was auf sich hielt. 96 spielte damals in der 2. Liga und das Stadion war brechend voll. Die Roten verloren 0:1 durch ein Tor von Abramczyk. An dem Tag kletterte ich vor dem Spiel über den Zaun auf das Spielfeld, rannte unter großem Gejohle der 52.000 Zuschauer zum Anstoßkreis, legte meine Kutte auf den Punkt und fing an zum Fußballgott zu beten. Ein beliebtes Ritual in den Bundesligastadien damals. Zu der Zeit wurde bei Flitzern noch nicht so ein Aufriss gemacht wie heute. Ich wurde lediglich vom Platz gebeten, sollte wieder über den Zaun zurück auf meinen angestammten Platz. Das war eine große Sache für mich und ließ mich beinah vor Stolz platzen.

Lebertransplantation (1993)

Am 3. September 1993 brachte mich mein Vater in die Medizinische Hochschule Hannover, am 6. September kam die für mich lebensrettende Nachricht: Eurotransplant hatte eine passende Leber für mich. Die Stiftung Eurotransplant mit Sitz in Leiden, Niederlande, ist als Serviceorganisation verantwortlich für die Verteilung von Organen in acht europäischen Ländern.

Es konnte also losgehen. Ich bekam von alldem natürlich nichts mit, ich lag ja im Koma. Die OP dauerte 8 Stunden, ich hatte zwei Herzstillstände, musste reanimiert werden und lag danach noch eine Woche im künstlichen Koma. Dann kam der Tag, an dem ich aus dem Koma erweckt wurde. Ich hörte die Krankenschwester zu mir sagen: „Es ist alles gut, versuchen Sie ruhig zu bleiben. Sie hatten eine schwere OP, Sie haben eine neue Leber erhalten.“ Ich öffnete langsam die Augen, versuchte etwas zu sagen, was mir nicht gelang, da ich noch intubiert war. Langsam schaute ich mich um. Um mich herum standen überall Maschinen und diverse Schläuche, Zugänge und ein Katheter steckten in meinem Körper. Außerdem war mein Bauch mit einem Verband bedeckt. Am liebsten wäre ich gleich wieder ins Koma gefallen. Die Situation überforderte mich. Das Letzte, woran ich mich noch erinnerte, war, dass es mir irgendwie komisch ging, bevor ich ins Leberkoma fiel. Das hing damit zusammen, dass die Leber während des Versagens Giftstoffe nur noch unzureichend verstoffwechselt, und so Giftstoffe, unter anderem Ammoniak, freiwerden, die zu einer zunehmenden Verschlechterung mentaler Prozesse und motorischer Fähigkeiten führt, bevor dann das Leberkoma eintritt. 

Doch damit nicht genug. Die eigentliche Transplantation sollte nicht mein letzter Aufenthalt im OP sein. Am nächsten Tag bekam ich hohes Fieber, es war von Nachblutungen die Rede sowie einer Pilzinfektion in der Lunge. Ich wurde also noch mal operiert, nur diesmal mit dem kleinen, aber feinen Unterschied, dass mein Bauch diesmal nicht mehr zugenäht wurde, sondern offen blieb. Als mir das dann zugetragen wurde, wollte ich nicht mehr. Ich wollte nicht mehr leben. Meine Vorstellungskraft, je wieder ein halbwegs normales Leben zu führen, geschweige denn irgendwann wieder halbwegs gesund zu werden, reichte einfach nicht aus. Nach diversen Gesprächen mit Ärzten und auch den Schwestern und Pflegern, die für mich zuständig waren, war ich zumindest so weit, zu kämpfen und zu versuchen, irgendwie wieder auf die Beine zu kommen. Mein offener Bauch wurde ein- bis zweimal am Tag gespült und dann wieder abgedeckt. Ich blieb zwei Monate auf der Intensivstation. Es ging mir nach und nach besser. Allerdings hatte ich diverse Kilos verloren. Als ich kurz vor Weihnachten 1993 nach weiteren vier Wochen auf der Normalstation die MHH verließ, wog ich knapp 50 kg. Bei 1,80 m Körpergröße war das nicht mehr wirklich viel. Auf der Normalstation riskierte ich dann auch endlich einen Blick auf den offenen Bauch; ich konnte und wollte mir das Elend während der zwei Monate Intensivstation nicht angucken. Die Flächen des Bauches, die schon verheilt waren, waren von einer dünnen Hautschicht überzogen, unter der man die Blutgefäße sehen konnte. Der Rest sollte noch weitere drei Monate brauchen, bis alles komplett zugeheilt war.

Weihnachten verbrachte ich zu Hause, bevor es im Januar für ganze 6 Wochen zur Anschlussheilbehandlung nach Lienz in Osttirol ging. In den Ederhof, ein Reha-Zentrum für junge Erwachsene und Jugendliche vor oder nach einer Transplantation, gegründet 1992 von Prof. Dr. Ina Pichlmayr und ihrem Mann Prof. Dr. Rudolf Pichlmayr, einem der führenden Transplantationsmediziner seiner Zeit, der den Begriff Transplantationsmedizin mit prägte und 1997 viel zu früh verstarb. Ich erinnere mich heute noch an die Visiten mit ihm. Er war eine äußerst charismatische Erscheinung, strahlte sehr viel Ruhe aus, und seiner Entourage konnte man den Respekt in ihren Gesichtern ansehen, den sie vor ihm hatten. Zurückblickend bin ich heute sehr froh, dass ich von dem Pichlmayr-Team transplantiert wurde. 

                                  Missbrauch (1979)

Im Alter von 10 Jahren, ich ging gerade in die 4. Klasse, übernachtete ich bei einem Schulfreund, der einen 19-jährigen Bruder hatte. Es wurde Skat gespielt und Bier getrunken. Irgendwann nachts wurde ich sehr müde und mir wurde schwindelig, also ging ich ins Bett. In der Nacht wurde ich wach, weil sich der Bruder neben mich ins Bett legte. Ich solle keine Angst haben und es einfach geschehen lassen, ansonsten würde er meinen Eltern vom Biertrinken und verbotenen Zigarettenrauchen erzählen. Es wäre alles ganz normal, er mache das mit seinem Bruder, meinem Schulfreund, auch immer. Das passierte danach noch weitere 2- oder 3-mal, dann trennten sich unsere Wege. Ich ging aufs Gymnasium, er auf die Hauptschule. Meinen Eltern erzählte ich nie was davon. Ich machte das irgendwie mit mir selbst klar. Und verdrängte diese Geschichte, bis es irgendwann mit Anfang 30 wieder aus meinem Unterbewusstsein herausbrach.

Ich traf den Bruder irgendwann mal beim Einkaufen. Er sah mich nicht, aber ich sah ihn. Ich war zu perplex, um in welcher Art und Weise auch immer zu reagieren. Danach ärgerte ich mich, weil ich nichts gemacht hatte, ich hätte ihm doch zumindest eine scheuern sollen. Heute weiß ich es besser. Die arme Wurst wäre es nicht wert gewesen, mir die Finger schmutzig zu machen. Trotzdem bin ich mir sicher, dass auch das ein Mosaikstein war, der mir den Weg in die Sucht mit geebnet hat, denn natürlich hatte dieser Missbrauch tief in meinem Unterbewusstsein Spuren hinterlassen.

Wasserball (1980)

1980 fing ich an Wasserball zu spielen. Ein Bekannter meiner Eltern war Wasserballtrainer und baute eine neue Jugendmannschaft auf. Hier erhielt ich zum ersten Mal so was wie Bestätigung und Anerkennung. Mein Vater hätte wohl gerne gesehen, dass ich in seine Fußballfußstapfen trete, ich hatte aber zwei linke Füße. Außerdem waren meine Hüftprobleme eine Behinderung fürs Fußballspielen. Ich trainierte fleißig Wasserball, so 3- bis 4-mal die Woche. Dazu kamen am Wochenende dann noch Turniere. 1982 hatte unser 1969er-Jahrgang in der C-Jugend respektable Ergebnisse gegen 1968er-Jahrgänge erzielt. 1983 wurde dann unser Jahr. Die 68er-Jahrgänge waren zu alt für die C-Jugend. Wir hingegen durften noch ein weiteres Jahr C-Jugend spielen. Ich erinnere mich an ein Testspiel unserer C-Jugend gegen die A-Jugend meines Cousins, das wir mit 21:3 gewannen. Wir wurden erst Niedersachsenmeister, dann Norddeutscher Meister und letztlich sicherten wir uns dann den Deutschen Meister. Ich kann mich erinnern, dass wir gegen den SC Wedding in der Vorrunde spielten und die Vorgabe hatten, was fürs Torverhältnis zu tun, da wir das Spiel gegen Spandau noch nicht gewonnen hatten. Der Torwart der Weddinger hatte Abwurf nach einer unübersichtlichen Situation, die ich dann leider entgegen allen Regeln des Fair Plays ausnutzte. Ich sagte ihm, er solle mir den Ball geben, da wir Ecke hätten. Ob er denn den Pfiff nicht gehört hätte? Er gab mir den Ball, nur um ihn kurz danach wieder aus dem Tornetz zu holen. Heute schäme ich mich für diese Aktion, die damals für einen großen Lacher im gut gefüllten Stadionbad sorgte. Da war ich 14 Jahre alt. Das Spiel gegen Spandau endete unentschieden 7:7 und wir wurden deutscher Meister aufgrund des besseren Torverhältnisses. Das Training wurde weiter intensiviert und mit 15 spielte ich für zwei Länderspiele gegen Holland in der B-Jugendnationalmannschaft. 

Zusätzlich zur Bestätigung und Anerkennung hatte das Schwimmen einen weiteren Benefit für mich: Meine Hüftprobleme hatten sich so weit erledigt, dass eine zuvor angedachte weitere OP an der Hüfte überflüssig war. 1985 wechselte ich zusammen mit unserem Torwart den Verein. Aus der List in Hannover wechselten wir zum damaligen Konkurrenten nach Linden, deren 1. Herren in der Bundesliga spielten. Heute haben die beiden Vereine fusioniert und dem einstmaligen Titelabonnenten Spandau Berlin den Rang abgelaufen. 

Irgendwann brachte unser Keeper dann „Effies“ mit, Ephedrintabletten, die man damals, 1985/86, noch frei in der Apotheke kaufen konnte. Das war nach Alkohol die zweite bewusstseinsverändernde Substanz, die ich zu mir nahm in meinem Leben. Wir nahmen die Tabletten vor einem Spiel und spielten wie aufgedreht. Und wir liebten das Gefühl, es war, als würden sich unsere Nackenhaare aufstellen. 

Mit 16 merkte ich dann, dass meine Freizeit einfach zu kurz kam. Training, Spiele am Wochenende, Abitur – dazu dann noch das aufflammende Interesse am anderen Geschlecht. Irgendwas musste sich ändern, dachte ich, und beschloss, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, besonders meines Vaters, dem Wasserball Adieu zu sagen. Meine Leistungen in der Schule waren so mittel. Ich versuchte immer, mit einem Minimum an Aufwand das Maximale herauszuholen. Ich hatte Sport- und Französisch-Leistungskurs sowie Religion und Bio als Prüfungsfächer, eine abenteuerliche Zusammenstellung. Es war 1986 und die Schule bereitete eine Auslosung für einen Schüleraustausch nach Baltimore vor. Das wäre was, dachte ich mir – einmal nach Amerika. Heute, mit dem Hinterwäldler Trump als Präsident, könnte mich nicht mal ein kostenloser Trip in die Staaten reizen.

Ederhof (1993/94)

Weihnachten 1993 verbrachte ich also zu Hause. Mein Bauch war immer noch nicht ganz zugewachsen; ich konnte die immer kleiner werdende Wunde jetzt selber spülen und verbinden. Es sah sehr wild aus. Einen Schönheitspreis würde ich damit nicht mehr gewinnen. Ich mußte außerdem Unmengen an Medikamenten in mich reinstopfen: Cortison und Immunsuppressiva gegen die Abstoßung der neuen Leber, dazu noch diverse andere Mittelchen. 

Im Januar war es dann so weit. Meine Eltern fuhren mich nach Lienz in Osttirol zur 6-wöchigen Reha. Der Ederhof wurde 1992 von Ina und Rudolf Pichlmayr gegründet und war früher ein Bergbauernhof. Das Team des Ederhofs kümmerte sich sehr herzlich um jeden einzelnen Patienten. Wir unternahmen viel zusammen und man wurde auf das Leben mit dem neuen Organ vorbereitet. Die 3 Monate im Krankenhaus hatten bei mir Spuren hinterlassen. Ich war in einer depressiven Grundstimmung, weil ich mir nicht vorstellen konnte, je wieder Fuß zu fassen in der Gesellschaft. 4 Jahre Einzelkampf in der Drogenszene waren nicht spurlos an mir vorübergegangen. Die meisten meiner Mitpatienten waren vor ihrer Transplantation schon längere Zeit krank gewesen, sie waren vorbereitet auf ihre Transplantation, sie hatten sie regelrecht herbeigesehnt, um endlich wieder ein normales Leben führen zu können. Ich jedoch habe meine Gesundheit durch meinen extremen Drogenkonsum weggeworfen und einen hohen Preis dafür bezahlt. Andererseits bin ich mir heute sicher, dass ich es ohne die Lebertransplantation nicht geschafft hätte, von den harten Drogen loszukommen. Ich wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit, wie so oft damals, wieder rückfällig geworden, was ich ja selbst mit der neuen Leber nochmal wurde, aber dazu später mehr. 

In der ersten Woche im Ederhof war erst mal Ankommen angesagt. Ich war schon immer ziemlich introvertiert und zurückhaltend, hatte Probleme, auf andere Menschen zuzugehen, sicher auch bedingt durch meine Vita. Zum Glück kannte ich zwei Frauen, die zur gleichen Zeit wie ich in der MHH transplantiert wurden. Wir unternahmen also einiges zusammen und es entwickelte sich etwas mehr als Freundschaft zwischen mir und einer der beiden. 

Nachdem mein Liebesleben in den letzten 4 Jahren komplett auf Eis lag, meine ganze Liebe galt während derer ja den Drogen, war ich ziemlich unbedarft im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht. Das sollte auch noch ein paar Jahre so weitergehen, denn ich war ein emotionaler Krüppel, der die letzten Jahre nur an sich gedacht hatte. Die Beziehungen, die ich, als ich 16 Jahre alt war, hatte, scheiterten ziemlich schnell aufgrund meines Drogenkonsums oder den Umständen, die damit einhergingen.

Es war Januar, in den Lienzer Bergen lag Schnee und die Sonne strahlte von einem azurblauen Himmel. Die Höhenluft sorgte dafür, dass sich auch mein Appetit wieder einstellte, und wir nahmen das ein oder andere Sonnenbad, gut eingepackt in dicken Klamotten. Die 6 Wochen näherten sich dem Ende, meine Eltern sind nach der 5. Woche  wieder nach Lienz gekommen und wollten noch eine Woche urlauben, bevor sie mich wieder mit nach Hause nahmen. Diesen Urlaub hatten sie sich auch verdient, nachdem sie soviel mit mir mitmachen mussten. Mein Leben hing während der Transplantation ja das ein oder andere Mal am seidenen Faden.

Es näherte sich das Ende meines Reha-Aufenthalts, ich hatte mein Gewicht von 50 auf 56 Kilo geschraubt und hatte eine Freundin, die zwar am Bodensee wohnte, aber egal – immerhin ein Anfang. Wir verabschiedeten uns und planten natürlich ein Treffen; sie wollte mich in Hannover besuchen.

So schön das alles war, jetzt stand ich vor der nächsten großen Herausforderung. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sich mit der Transplantation auch meine Sucht erledigt hätte, aber mir wurde klar, dass es jetzt erst richtig schwer werden würde. Ich wohnte wieder bei meinen Eltern in der alten Umgebung, wo sämtliche Drogenkumpels noch unterwegs waren. Das musste sich schnellstens ändern. Ich war 24 Jahre alt, wollte so schnell wie möglich eine eigene Wohnung und musste mich langsam auch mal beruflich orientieren. Alle meine Freunde aus Abiturzeiten hatten natürlich schon was erreicht, was mich im Vergleich zu ihnen minderwertig erschienen ließ.

Meine „Freundin“ vom Bodensee besuchte mich in Hannover und es war mir mega-peinlich. Ich hatte nur ein Minizimmer in der 3-Zimmer-Wohnung meiner Eltern, das man durchs Wohnzimmer erreichte. Vorher hatten wir 2 Wohnungen auf einer Etage in einem Mehrfamilienhaus, eine 2- und eben die 3-Zimmer Wohnung, die zusammenhingen dank eines Mauerdurchbruchs. Zu meinem 17. Geburtstag wurde der Durchbruch wieder geschlossen und ich hatte meine erste eigene Wohnung, zwar neben der Wohnung meiner Eltern, aber egal – es war meine Wohnung! Als meine Sucht später immer schlimmer wurde und ich kaum noch zu Hause auftauchte, mussten meine Eltern die Wohnung aufgeben, und sie wurde anderweitig vermietet.

Als wäre mir das Minizimmer nicht schon peinlich genug gewesen, hatten meine Eltern an dem Abend Besuch und feierten feuchtfröhlich. Augen zu und durch. Mein Besuch und ich hörten beinah alles aus dem Nebenzimmer und es war total peinlich. An Fummeln oder Sex war natürlich auch nicht zu denken, wenn nur zwei Meter entfernt und nur getrennt von einer dünnen Wand die eigenen Eltern mit Gästen Party machen. Egal. Irgendwie überstand ich dieses peinliche Szenario und mein Besuch verschwand am nächsten Tag wieder Richtung Bodensee. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass das unser letztes Zusammentreffen war. Es wurde Zeit für Arbeit und eine eigene Wohnung.

Baltimore (1986)

Ich hatte meine Eltern überzeugen können, dass ich unbedingt am Schüleraustausch nach Baltimore teilnehmen musste, so ich denn ausgelost wurde. Das war gar nicht so einfach, denn der ganze Spaß kostete ca. 1.500 Mark für vier Wochen, was eine Menge Kohle für meine Eltern war. Sie sollten es als Investition in meine Zukunft sehen, ich würde schließlich meine Englischkenntnisse verbessern. Da ich damals irgendwas mit Sprachen machen wollte, ich hatte ja auch noch Französisch-Leistungskurs, war die Sache geritzt. Jetzt musste ich nur noch ausgelost werden. Die Anzahl der Bewerber war doppelt so hoch wie die Anzahl der Plätze, daher musste das Los entscheiden. Es war wohl Schicksal, dass ich ausgelost wurde, denn der Baltimore-Aufenthalt war quasi der Beginn meiner Drogenkarriere.

Wir sollten bei Studenten der University of Baltimore untergebracht werden und waren während des fast zehnstündigen Fluges natürlich gespannt, was und vor allem wer uns am Flughafen erwartete. Wir landeten im Frühjahr 1986, im April, in Baltimore und wurden von unseren Studenten in Empfang genommen. Mein Student hieß John, er war zwanzig Jahre alt, zu dem Zeitpunkt also vier Jahre älter als ich. Er hatte lange Haare, zerrissene Jeans und eine John-Lennon-Brille auf der Nase. Sein Vater war eine Zeit lang in Deutschland stationiert und er konnte sehr gut deutsch sprechen, was mir ganz gelegen kam, denn während der ersten Wochen traute ich mich nicht so richtig, englisch zu sprechen, da ich Angst hatte, mich zu blamieren mit meinem Schulenglisch.

Wir verstauten meinen Koffer in Johns Privat-Pkw und fuhren los in Richtung Baltimore-City. Ich dachte, wir führen schnurstracks zu seinem Elternhaus, doch John sagte, er müsse noch was in der City besorgen. Nach zwanzig Minuten kamen wir in einem Viertel an, das ziemlich heruntergekommen aussah und überwiegend von Schwarzen bevölkert wurde. Er hielt an einer Ecke an, woraufhin auch schon ein Typ mit einem Baltimore-Orioles-Cap ankam, dem hiesigen Baseballverein. John gab ihm einen Zwanzig-Dollar-Schein und erhielt dafür eine Tüte mit Marihuana, wie ich nur kurze Zeit später erfahren sollte. Jahre später sollte ich diese Ecke von Baltimore in der großartigen HBO-Serie „The Wire“ wiedersehen.

Danach fuhren wir zu einer Freundin von ihm, die direkt in Baltimore wohnte. Sie hatte gerade ein Paket ihrer Eltern aus Köln bekommen, das unter anderem eine ziemlich große Wasserpfeife beinhaltete. Okay, warum nicht. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich lediglich Erfahrungen mit Alkohol, was irgendwie nicht so meins war, und Ephedrin gemacht. 

Wir waren insgesamt zu viert und die Wasserpfeife machte die Runde. Ich war von dem Flug eh schon ziemlich müde, das Gras ließ mich nur noch müder werden, aber auf eine angenehme Art und Weise. Es wurde viel gelacht, man näherte sich an. John merkte, dass ich sehr müde war, und so machten wir uns, drei Stunden nach der Landung, auf den Weg zu Johns Elternhaus. Das lag fünfzig Meilen von Baltimore-City entfernt, sehr schön gelegen in einem kleinen Waldstück. 

Dort angekommen, stellte ich mich kurz bei seinen Eltern vor, die mich sehr warmherzig aufnahmen, um kurz darauf in einen komatösen zwölfstündigen Schlaf zu fallen.

Am nächsten Morgen hatte ich einen Bärenhunger und nach einem ausgiebigen Frühstück machten John und ich uns in seinem Wagen auf den Weg zur Uni. Die Sonne lachte, ich war gestärkt und ausgeschlafen. Alles war schön. Auf der Hälfte der Strecke hielt John an und stopfte sich eine Purpfeife voll mit Gras, die er entzündete und dann auch an mich weiterreichte. Ja gerne, dachte ich. Die gestrige Erfahrung hatte mir sehr gut gefallen. Danach ging es weiter über den Highway in Richtung Universität. Ich fühlte mich gut und musste an „Easy Rider“ denken.

Bei der Uni angekommen, verabschiedete John sich zu seinen Vorlesungen, während ich mich mit meinen Mitschülern und unserem Englischlehrer traf. Wir hatten den Vormittag zur freien Verfügung, und ich entschloss mich dazu, mit einem Mitschüler auf dem Unigelände Tennis zu spielen.

Abends lief dann eine Willkommensparty, auf der es hoch herging. Das muss man den Amis lassen. Feiern konnten sie. Später kamen dann noch diverse Ausflüge (Washington, Chesapeake Bay) dazu. Ich hatte eine wirklich gute Zeit und mein Englisch verbesserte sich auch. Es verging dann kein Tag mehr, an dem ich nicht Gras geraucht habe während der ersten drei Wochen. Es gab mir ein gutes Gefühl und ich überlegte schon während meines Aufenthaltes dort, wie ich in Hannover an Gras kommen könnte. 

Nach drei Wochen Baltimore hieß es dann Abschied nehmen, die letzten fünf Tage ging es nach New York, wo wir im YMCA unterkamen und die Stadt erkundeten. 

Neustart (1994)

Nach dem Besuchsfiasko mit meiner Reha-Freundin vom Bodensee musste unbedingt eine eigene Wohnung und eine Ausbildung oder Arbeit her. Während den Anfängen meiner Heroinsucht und nach meinem Grundwehrdienst hatte ich schon mal eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann angefangen, die dann aber abgebrochen, um in Therapie zu gehen. Ich informierte mich beim Arbeitsamt und erhielt die Möglichkeit einer Umschulung zum Großhandelskaufmann, die 18 Monate Schule sowie ein halbjähriges Praktikum in einem Betrieb beinhaltete. Außerdem suchte ich mir eine Wohnung, was dank der Tatsache, dass mir meine Eltern schon früh Anteile einer Wohnungsbaugenossenschaft gekauft hatten, kein Problem war. Es wurde eine kleine, aber feine 2-Zimmer-Wohnung im Stadtteil Vahrenwald. 

Die Umschulung war stinklangweilig und unterforderte mich maßlos. Es dauerte nicht lange und ich scannte meine Mitschüler ab. Ich fand 3 Leute in dem Kurs, mit denen ich was anfangen konnte, und die – wie ich – meine Leidenschaft für Marihuana teilten. Denn Transplantation hin oder her, süchtig oder nicht, vom Gras konnte und wollte ich nicht lassen. Zumal mir ein Pfleger in der MHH damals sagte, dass es eine immunsupprimierende Wirkung hätte. Also genau wie die Tabletten, die ich gegen die Abstoßung meiner neuen Leber nahm. Das passte doch.

Mit dem Unterricht nahmen wir es nicht so genau, wir schwänzten öfter, um dann den Vormittag Gras rauchend und Computerspiele zockend bei mir zu verbringen. 

Wir mussten lediglich darauf achten, es nicht zu übertreiben, damit wir nicht rausflogen.

Im September 95 stand dann das halbjährige Praktikum an, ich bewarb mich in einem Großhandel für Baumaschinen und Baubedarf in Hannover-Hainholz und erhielt eine Zusage.

Zweimal jährlich hatte ich einen Kontrolltermin in der MHH, zusätzlich zu den engmaschigen Blutentnahmen alle 4 Wochen. Da mein Bauch dadurch, dass er nach der Transplantation offen gelassen wurde, ziemlich gruselig aussah, war ich nicht sehr glücklich damit. Eine dünne Hautschicht, unter der man die Blutgefäße sehen konnte und auch den Darm, wie er sich bewegt. Ich schämte mich, damit schwimmen oder baden zu gehen. Glücklicherweise bot mir die MHH die Möglichkeit einer erneuten OP, einer Revision, an. Ich nahm dankbar an und wurde während meines Praktikums dann am Bauch operiert. Das Ergebnis konnte sich wirklich sehen lassen. Ich war hocherfreut.

Das Praktikum verbrachte ich überwiegend in der Buchhaltung, allein unter 3 älteren Damen. Dank meines speziellen Charmes und meiner schnellen Auffassungsgabe war ich sehr beliebt bei den Damen, die mich auch gerne mal bemitleideten ob meiner Krankheitsgeschichte. Von den Drogen habe ich natürlich nichts erwähnt. So setzten sich die älteren Damen dafür ein, dass ich nach Beendigung des Praktikums übernommen werden sollte. Praktischerweise ging ein älterer Kollege, der für die Fakturierung zuständig war, in Rente, sodass ich ihn und seinen Job beerben konnte. Perfekt. So bekam ich dann im Juni 1996 den Job, den ich bis Ende 2017 auch ausübte, bevor die Firma Insolvenz anmelden musste.

Zurück aus Baltimore (1986)

Das Abenteuer Amerika war vorbei und ich überlegte, wie ich den Spirit dieser Zeit, die mir gut gefallen und mir ein gutes Gefühl gegeben hatte, aufrechterhalten konnte. Na klar, Marihuana oder Hasch mussten an den Start. Ich erinnerte mich meiner früheren Spielkameraden aus dem Viertel, mit denen ich die Orientierungsstufe und Grundschule besucht hatte, die dann aber eine andere schulische Laufbahn eingeschlagen hatten als ich. Ich war einer der wenigen, der eine Empfehlung fürs Gymnasium bekommen hatte. Der Großteil der anderen Kinder/Jugendlichen besuchte die Hauptschule Am Hohen Ufer, einige wenige gingen auch auf die Realschule.

Direkt vor unserer Wohnung in der Behnsenstraße in Linden-Süd war ein Spielplatz, wo sich einige meiner ehemaligen Schulkameraden immer trafen, um dort Tischtennis zu spielen, und, was für mich auf einmal viel wichtiger war, auch den ein oder anderen Joint zu rauchen. Ich hatte es also nicht sehr weit, um die alten Kontakte wieder aufleben zu lassen. Die Jungs wunderten sich, warum ich mich plötzlich zu ihnen gesellte, man grüßte sich zwar noch, aber für sie war ich halt der Streber vom Gymnasium, der noch dazu ständig Sport machte in seiner Freizeit. Ich berichtete von meinem Amerikatrip, was bei den Jungs natürlich gut ankam. Einer aus der Gruppe hatte schon einen Führerschein und schlug vor, zum Raschplatz zu fahren, um uns Hasch zu besorgen. Wir legten Kohle zusammen und machten uns also auf den Weg. Der Raschplatz war damals, 1986, in der Hand von Schwarzafrikanern, die dort ihren Shit an den Mann brachten. Wir kauften also Hasch für einen Zwanni und cruisten danach mit dem Auto quer durch Hannover. Sehr schön, damit wäre das also geklärt. Die Unterhaltungsebene war zwar eine andere als mit den Kollegen vom Gymnasium oder aus dem Wasserballverein, aber das war mir egal. Mir ging es hauptsächlich darum, Gras oder Hasch am Start zu haben.