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Mario Leis

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Beschreibung

Leni Riefenstahl (1902 - 2003) ist eine der bekanntesten, aber auch umstrittensten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Bis über ihren Tod hinaus wird ihre Rolle als Hitlers Starregisseurin diskutiert. Dabei sind sich ihre Verehrer und Kritiker weitgehend einig, dass ihre Filme Meilensteine der Filmästhetik sind. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Mario Leis

Leni Riefenstahl

Über dieses Buch

Leni Riefenstahl (1902–2003) ist eine der bekanntesten, aber auch umstrittensten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Bis über ihren Tod hinaus wird ihre Rolle als Hitlers Starregisseurin diskutiert. Dabei sind sich ihre Verehrer und Kritiker weitgehend einig, dass ihre Filme Meilensteine der Filmästhetik sind.

 

Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

Vita

Mario Leis, geboren 1963, studierte Philosophie und Germanistik. Promotion über «Sport in der Literatur». Arbeitet u. a. als Lehrbeauftragter (Germanistik) an der Universität Bonn. Bei Rowohlt erschienen die Monographien «Frauen um Nietzsche» (2000) und «Leni Riefenstahl» (2009).

Vorbemerkung[1]

Leni Riefenstahls Leben war eine Gratwanderung: auf der einen Seite die bemerkenswerte Künstlerin, auf der anderen die willfährige Opportunistin, die sich in die Dienste Hitlers stellte und dafür mit Recht massive Kritik erntete. Sie vertraut darauf, dass ihre Schattenseiten im Lauf der Zeit in Vergessenheit geraten. Das Motto ihrer Memoiren (1987), ein Albert-Einstein-Zitat, gibt dieser Hoffnung Ausdruck: «Über mich sind schon massenweise so unverschämte Lügen und freie Erfindungen erschienen, daß ich längst unterm Boden wäre, wenn ich mich darum kümmern sollte. Man muß sich damit trösten, daß die Zeit ein Sieb hat, durch welches die meisten Nichtigkeiten im Meer der Vergangenheit ablaufen.» Aber Riefenstahl strickt vorsichtshalber fleißig an ihrem Selbstbild mit, um vermeintliche Nichtigkeiten verschwinden zu lassen. Immer wieder findet der Leser in ihren Memoiren, aber auch in Interviews und Artikeln Behauptungen, die nicht der Wahrheit entsprechen. In Riefenstahls Selbsteinschätzung überschneiden sich zuweilen die wahren Erlebnisse mit fiktionalen Einschüben; in ihren Lebenserinnerungen gerinnt ihr Leben zu einem Film, in dem sie die Hauptrolle spielt.

Jürgen Trimborn vermutet, «daß Riefenstahl längst an ihren eigenen Mythos glaubte; nur in kurzen Momenten schien es so, daß sie die Widersprüche zwischen ihrem Leben und ihrer Lebensschilderung überhaupt noch spürte, ohne jedoch auf sie einzugehen.»[2] Deshalb wäre es unverzeihlich, ihre Memoiren und sonstigen Äußerungen ohne Gegenstimmen zu lesen, was allerdings nicht immer gelingt, «da über einzelne Lebensphasen (Kindheit, Jugend) und Ereignisse (zum Beispiel ihr Besuch der Hitler-Rede 1932) keine unabhängigen Berichte vorliegen. Das zwingt jeden Autor zu einem schwierigen Balanceakt: die Memoiren sind sowohl Informationsquelle wie Reibefläche der Riefenstahl-Forschung.»[3] Fakt ist aber auch, dass die Künstlerin auf vielen Gebieten mehr oder weniger Achtbares leistete: als Tänzerin, Sportlerin, Schauspielerin, Regisseurin, Produzentin und Fotografin.

«Sie gehört zu jenen Künstlern, die sich ihr eigenes Moralgefüge zimmern. Und da ist keine Grundsatzdebatte mit der Gesellschaft möglich. Der Konflikt muß stumm bleiben: Den individualistischen, auch opportunistischen Zielstrebigkeiten versperrt sich die Auseinandersetzung über das Medium Sprache.»

Norbert Denkel: Die Zeit, Nr. 47, 17. November 1978

Die überaus willensstarke und ehrgeizige Riefenstahl schöpfte ihre Energie aus einem Selbstverständnis, das besonders an ihrer Identifikation mit Heinrich von Kleists Amazonenkönigin «Penthesilea» deutlich wird. In ihren Notizen zu Penthesilea – ein gescheitertes Filmprojekt – projiziert sie ihr Selbstbild auf ihr Vorbild: Sie verkörpert «Schönheit und die Kraft», sie ist ein «Rätsel», eine «Windsbraut», eine «Furie, halb Grazie», «Genährt von Naturkräften und Leidenschaften», «Fürstlich, unerschütterlich, wuchtend in ihrer Haltung».[4] Die meisten dieser Eigenschaften treffen in der Tat auf die kompromisslose Künstlerin zu: «Unerschütterlich» und «wuchtend» arbeitete sie an ihrem Werk und gegen ihre Kritiker. Zuweilen aber, das dokumentieren die folgenden Kapitel, holt die Realität sie ein, etwa als ein Rezensent ihr Tanz-Debüt kritisiert: Der «kühne Eröffnungsmarsch» gelingt ihr nicht, weil «seine kriegerische Wucht weiblich gemildert [ist]: Amazönchen!»[5]

Kindheit und Jugend

Leni Riefenstahl beschreibt in den Memoiren ihre Kindheit und Jugend bereits strategisch: Schon auf der ersten Seite stilisiert sie sich zur geborenen Schauspielerin. Ihre Mutter habe angeblich während ihrer Schwangerschaft – mit den Händen auf dem Bauch – gebetet: «Lieber Gott, schenke mir eine wunderschöne Tochter, die eine berühmte Schauspielerin werden wird.»[6] Riefenstahl beteuert zwar an gleicher Stelle, wie hässlich sie gewesen sei, aber ihre Kameraleute hätten ihr später versichert, ihr «Silberblick» eigne sich hervorragend für das zweidimensionale Medium Film, also kein Grund zu Selbstzweifeln!

Helene Bertha Amalie Riefenstahl[7], später nur Leni genannt, wurde am 22. August 1902 im Berliner Arbeiterbezirk Wedding geboren. Ihre Mutter, Bertha Ida Riefenstahl, geborene Scherlach, war im polnischen Włocławek aufgewachsen. Berthas Vater, gelernter Zimmermann, hatte sich, ursprünglich aus Westpreußen stammend, in Polen niedergelassen, weil er dort eine profitablere Arbeit gefunden hatte. Seine Tochter Bertha war das jüngste von insgesamt achtzehn Kindern. Nach dem Tod ihrer Mutter Ottilie heiratete ihr Vater wenig später die hauseigene Erzieherin, mit der er noch drei weitere Kinder zeugte.

Riefenstahls Mutter musste schon als Kind zum Unterhalt der Familie beitragen, zumal ihr Vater nach der Übersiedlung nach Berlin zunächst keine Arbeit fand. Bertha Scherlach absolvierte in der Hauptstadt schließlich eine Ausbildung zur Näherin und fand auch eine angemessene Stellung, die es ihr erlaubte, ihre Familie zu unterstützen. Ihre Lage verbesserte sich, als sie 1900 auf einem Kostümball Alfred Riefenstahl, einen ehrgeizigen und erfolgreichen Installateur, kennenlernte.

Er wurde am 30. Oktober 1878 in Berlin geboren, wo sein Vater Gustav Hermann Theodor Riefenstahl als Schlossergeselle arbeitete; zusammen mit seiner Frau Amalie hatte er ein Mädchen und drei Jungen großgezogen.

Alfred Riefenstahl, der als lebensfroh, aber jähzornig galt, übernahm nach seiner Meisterprüfung ein Installationsgeschäft; er spezialisierte sich auf Lüftungsanlagen und – was damals höchst modern war – auf Zentralheizungen. Nach seiner Heirat arbeitete er sich bis in den Mittelstand hoch, in dem er sich und seine Familie schließlich finanziell wohlbehütet wusste.

Am 5. April 1902 schlossen Bertha Scherlach und Alfred Riefenstahl den Bund fürs Leben. Ihren Traum, eine große Schauspielerin zu werden, musste Bertha Riefenstahl damit aufgeben, zumal ihr Mann die Autorität im Hause war und in der Regel, wie seine Tochter berichtet, keinen Widerspruch duldete: Selten wagte jemand, ihm zu widersprechen, überall verschaffte er sich wie selbstverständlich Autorität, ob bei seinen Jagdfreunden, bei den Kegel- oder Skatbrüdern oder in der Verwandtschaft. Er allein hatte das Bestimmungsrecht über Frau und Kinder, so sehr ihm auch meine Mutter zu widersprechen suchte.[8] Der dominante Mann zögerte auch nicht, seine Tochter zu verprügeln, wenn sie sich nicht nach seinen Vorstellungen verhielt; auch sein Sohn Heinz, der 1905 geboren wurde, blieb von diesen Wutausbrüchen nicht verschont.

Das distanziert-strenge Verhältnis zwischen Vater und Tochter blieb bis zu seinem Tod bestehen. Mit ihrem Bruder Heinz und der Mutter bildete sie dagegen ein verschworenes Trio. Und nicht selten flüchtete sie, wie sie immer wieder betont, in ihre Traumwelten: Märchen lesen, Kino und Theater standen auf der Tagesordnung.

Obwohl Riefenstahl in einer ausgesprochen turbulenten Zeit groß geworden war, verklärte sie ihre Kindheit und Jugend in den Memoiren. Berlin war damals ein Herd ständiger Unruhen, später tobte der Erste Weltkrieg, und die Massenarbeitslosigkeit trieb immer mehr Menschen in die Armut. Riefenstahl aber erlebte den Krieg nur am Rande. Einmal indessen geriet sie zusammen mit ihrer Mutter in die Nähe einer Straßenschlacht, beiden gelang die Flucht. Dieses Erlebnis nimmt sie in den Memoiren zum Anlass, ihren Lesern zu zeigen, dass ihr schon als Kind Krieg, Ideologien und Politik suspekt gewesen waren; sie bietet dort rückblickend ein Erklärungsmodell für ihr angeblich unpolitisches Verhalten während des «Dritten Reiches»: Das Wort Politik kam in meinem Wortschatz noch nicht vor, und auf alles, was mit Krieg zu tun hatte, reagierte ich mit einer Gänsehaut. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß mir als junger Mensch nationale Gefühle fremd waren.[9]

Auch die Inflation, die im Sommer 1923 einsetzte, belastete sie nicht sonderlich; sie widmet ihr in den Memoiren zwar eine Kapitelüberschrift, aber auf den drei folgenden Seiten berichtet sie vor allem von ihren schönen Urlaubserlebnissen im Allgäu und an der Ostsee.

Mehr als für die politischen Zeitläufte interessierte sich Riefenstahl für Natur und Sport. Sie stilisiert sich in den Memoiren schon auf der ersten Seite zu einem Rousseau’schen Naturwesen: Als «Naturkind» wuchs ich auf, unter Bäumen und Sträuchern, mit Pflanzen und Insekten, behütet und abgeschirmt, in einer Zeit, die weder Radio noch Fernsehen kannte.[10] Ihre Naturliebe zieht sich wie ein roter Faden durch ihr gesamtes Leben, bis hin zu ihren späten Unterwasserexpeditionen.

Die Familie genoss zuweilen ihre Wochenenden am See, zuerst im Dorf Petz, später in Rauchfangswerder am Zeuthener See, südöstlich von Berlin, wo Alfred Riefenstahl ein eigenes Wochenendhaus erwarb. Dort entspannte sich der strenge Vater beim Angeln und überraschte die Seinen durch seine ungewohnt friedfertige Art. Seine Tochter genoss dort die Abgeschiedenheit und testete ihre Kunstfertigkeit: Sie zog sich in eine Gartenhütte zurück, wo sie Verse schmiedete und kleine Theaterstücke schrieb. Riefenstahl verfolgt mit diesem Bericht zwei Ziele: Sie stellt sich als angehende Künstlerin dar, die schon im zarten Alter von neun Jahren an ihrer Karriere arbeitete, ein Star von Kindesbeinen an. Und sie hebt den autonomen Charakter der Kunst hervor, der in Distanz zu der alltäglichen Welt steht. Riefenstahl installiert also schon zu Beginn ihrer Memoiren ihre Rechtfertigungsstrategie, die sie bis zu ihrem Tod immer wieder strapaziert, um ihre Unschuld zu beweisen: Sie habe sich nur für Kunst interessiert, nicht aber für Politik.

Auch der Sport begeisterte sie ihr Leben lang. Er spielt seit ihrer Kindheit eine bedeutende Rolle, später auch eine künstlerische: zunächst als Tänzerin, später als «Sportschauspielerin» in Arnold Fancks Bergfilmen, dann als Regisseurin ihres Olympiafilms bis zu ihrem letzten Zelluloidstreifen Impressionen unter Wasser. Ihr Vater begeisterte sie für den Sport; seine Tochter versteht rückblickend ihr sportliches Tun als Novum, wie so viele andere Leistungen in ihrem Leben: In diesen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg war man noch weit davon entfernt, regelmäßig Sport zu treiben.[11]

Diesmal stimmt ihre Einschätzung. Der moderne Sport verbreitete sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur zögerlich in Deutschland. Zunächst führte er ein Schattendasein, bis er nach und nach die Massen eroberte. So erschien 1904 das Buch «Mein System» des Dänen Jens P. Müller. Der Untertitel des Bandes verspricht, dass «fünfzehn Minuten täglicher Arbeit für die Gesundheit» genügen, um körperlich fit zu werden. Das 125-seitige Bändchen war auch in Deutschland rasch erfolgreich, fast eine Million Exemplare gingen über den Ladentisch. Müllers gesundheitsförderndes Sportkonzept drang auch bis zu Alfred Riefenstahl durch, der ein Bewunderer des Turnvaters Friedrich Ludwig Jahn war und gern Fußball spielte. Daher unterstützte er nur zu bereitwillig das sportliche Treiben seiner Tochter. Er bastelte für die Fünfjährige eine Schwimmweste aus Schilf. Schnell fühlte Leni sich im nassen Element wohl, und sie weiß sogleich, wie könnte es anders sein, von großen Taten zu berichten: In Rauchfangswerder bin ich oft weite Strecken geschwommen […]. Bei diesem Langstrecken-Schwimmen begleitete mich meist meine Mutter mit unserem Ruderboot.[12] Hier zeigen sich zwei wesentliche Charaktermerkmale Riefenstahls schon in frühen Jahren: Ehrgeiz und Willensstärke. Alle Projekte, die ihr zeitlebens am Herzen lagen, setzte sie mit einem enormen Durchsetzungsvermögen um.

Mit zwölf Jahren trat sie in den Schwimmclub «Nixe» ein. Nach einem Unfall, einem schmerzhaften Bauchklatscher vom Fünfmeterbrett, gab sie das Schwimmen allerdings auf und wandte sich mit Leidenschaft und Risikofreude dem Geräteturnen zu. Dann verlagerte sie ihre Aktivitäten auf das Rollschuh- und Schlittschuhlaufen, wobei sie es liebte – hier deutet sich ihr Drang zur Bühne, zur Selbstdarstellung an –, vor Menschen zu brillieren: Nach Schulschluss rollte sie nicht immer gleich zurück zu ihrem Elternhaus, vielmehr stand hin und wieder ein kleiner Abstecher auf dem Programm: Wenn sie [die Schule] aus war, machte ich häufig einen Abstecher zum Tiergarten, wo ich mit meinen Rollschuhkünsten das Publikum anlockte, bis die Polizei erschien und ich Reißaus nahm.[13] Tennis spielte Riefenstahl ebenfalls mit Begeisterung, und am Zeuthener See vertrieb sie sich die Zeit mit Ruder- und Segelboot.

Riefenstahls Schullaufbahn lief eher nebenher. Sie wurde 1908 mit sechs Jahren in Berlin-Neukölln eingeschult. Nach der Volksschule wechselte sie auf das Kollmorgensche Lyzeum, wo sie 1918 die Mittlere Reife erhielt. Der Vater drängte sie, eine Ausbildung in einer Haushaltsschule zu absolvieren, sie hatte aber nur die Schauspielerei im Kopf. In ihren Memoiren behauptet sie, mehrere Regisseure hätten ihr Probeaufnahmen oder gar ein Filmengagement angeboten. Schließlich habe sie sich von einem Filmemacher überreden lassen und heimlich mehrere Tage mit ihm gefilmt. Dies vermeintliche Debüt lässt sich aber nicht nachweisen; der Titel des Films ist nicht bekannt, und der Künstlerin ist erstaunlicherweise sogar der Name des Regisseurs entfallen; sie weiß nur noch, dass er mir eine große Zukunft prophezeite[14].

Auch ihre logistischen Fähigkeiten trainierte Riefenstahl angeblich schon in ihrer Jugend. So saß sie in ihrem Zimmer und zeichnete Flugzeuge, mit dem Ziel, eine zivile Luftfahrt, die es damals noch nicht gab, ins Leben zu rufen. Mit großem Aufwand entwarf sie Pläne, stellte einen Luftfahrplan für eine Verbindung zwischen den bedeutendsten deutschen Städten auf, kalkulierte die Kosten für Maschinen, Benzin und Flugplätze. Diese Arbeit sollte sich für sie, so Riefenstahls rückblickende Einschätzung, als ausgesprochen wertvoll erweisen, weil sie dabei ihr organisatorisches Talent trainierte, eines, das ihr im späteren Berufsleben, wenn sie in einem Filmteam an die 170 Mitarbeiter führen musste, gelegen kam: Damals bemerkte ich schon die in mir schlummernden organisatorischen Fähigkeiten.[15]

Doch Leni Riefenstahl drängte es zunächst nach anderen Ufern: Trotz aller Bewegungslust blieb ich eine Träumerin, die nach dem Sinn des Lebens suchte.[16] Den fand die Träumerin, als die sie sich lebenslang nur zu gern darstellte, zumindest für einen begrenzten Zeitraum im Tanzen.

Die Tänzerin

Leni Riefenstahl verklärte in ihren Memoiren jeden neuen Abschnitt ihrer Karriere als vom Zufall oder Schicksal bestimmt, so auch ihren Start als Tänzerin: Als sechzehnjährige Schülerin erlebte sie eine schicksalhafte Wende, die sich in Form eines kleinen Inserats offenbarte. Sie stieß in der «B.Z. am Mittag» auf eine Annonce, an die sich die Memoiren-Schreiberin folgendermaßen erinnert: «Zwanzig junge Mädchen werden für den Film ‹Opium› gesucht. Anmeldungen in der Tanzschule Grimm-Reiter, Berlin-W, Budapester Straße 6.»[17]

Riefenstahl stellte sich, ohne ihren Vater um Erlaubnis zu bitten, in der Schule vor, wo das Schicksal, wenn man so möchte, den Blick des Mädchens durch die offen stehende Tür einer Tanzklasse lenkte, und dort beobachtete sie Verheißungsvolles: […] ich [hatte] einige junge Tänzerinnen erblickt. Ich hörte ein Klavier und eine Stimme kommandieren, eins-zwei-drei, eins-zwei-drei – ein Hüpfen und Stampfen. Mich überfiel ein unbändiges Verlangen mitzumachen.[18] Sofort meldete sie sich für einen Anfängerkurs an; die Komparsenrolle in «Opium» legte sie zu den Akten.

Nach nur drei Monaten Training schätzte sie sich selbstbewusst als Meisterschülerin ein, was alles andere als realistisch war. Dennoch stockte sie ihr Training auf vier Wochentage in der Grimm-Reiter-Schule auf, aber selbst dieses Pensum genügte ihr nicht. Kein Schmerz war mir zu groß, ich scheute keine Anstrengung und trainierte außerhalb der Schule täglich viele Stunden.[19] Ihre gesamte Freizeit war nun vom Tanzen bestimmt; sie ging nicht über die Fußwege hin, sie tänzelte, jedes Geländer, jede Stange machte sie ihren Übungen dienlich. Die Passanten verbuchten ihr ungewöhnliches Verhalten mit einem herablassenden Kopfschütteln, aber das bekümmerte das Mädchen nicht. Riefenstahl weist in diesem Zusammenhang auf eine zentrale Charaktereigenschaft hin, die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben ziehe: Schon immer hatte ich die Angewohnheit, mich nur mit dem zu befassen, was mich interessierte. Alles andere nahm ich kaum wahr, ich spann mich ein in meine eigene Welt.[20]

Sie erlebte den Tanz als ästhetische Eigenwelt, in der sie sich vom ernsten Alltag und von den Ansprüchen des dominanten und herrischen Vaters distanzieren konnte. Zu Recht hebt Christian Graf von Krockow hervor, dass Sport ein Mittel ist, um Distanz zu schaffen – er kann problementlastend wirken. Denn ihn zeichnet, so seine These, «nicht Weltlichkeit, sondern eine Tendenz zur ‹Entweltlichung›, das heißt zur Ausgrenzung aus der Welt des Ernstes»[21] aus. Das Gleiche gilt auch für die ästhetische Welt, in die sich die Künstlerin zeitlebens einspann und auch deshalb gegenüber Kritik resistent blieb.

Riefenstahl konnte ihr Talent recht schnell bei einem Auftritt unter Beweis stellen. Die Grimm-Reiter-Schule finanzierte sich teilweise mit eigenen Tanzabenden, und das Zugpferd des Programms, Anita Berber, erkrankte drei Tage vor der Aufführung an Grippe. Sie war ein Star auf den Berliner Bühnen; schon die Titel ihrer Darbietungen wie «Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase» oder «Kokain» führten immer wieder zu tumultartigen Szenen in den Etablissements; auch ihre exzessive Lebensweise sorgte für Skandale.

Riefenstahl bot sich Frau Grimm-Reiter enthusiastisch als Ersatz an, witterte sie doch die Gelegenheit, an Berbers Stelle zu tanzen. Die Chefin war erstaunt, gab aber ihrer ehrgeizigen Schülerin die Chance. Die junge Tänzerin gab an jenem Abend eine passable Vorstellung, die Gäste schienen zufrieden. Riefenstahl war von ihrer Leistung begeistert: Nach diesem Abend war ich vor Glück wie betäubt, ich fühlte, daß nur dies meine Welt sein würde.[22]

Ihre Freude aber währte nur kurze Zeit. Ein Bekannter ihrer Familie war Zeuge ihres Debüts. Der Mann gratulierte dem verdutzten Vater, er könne stolz auf die Begabung seiner Tochter sein; das war er aber nicht, ganz im Gegenteil. Alfred Riefenstahl war äußerst aufgebracht; sein Ärger richtete sich auch auf seine Gattin, weil sie hinter seinem Rücken das Mädchen unterstützt hatte. Der Haussegen hing schließlich so schief, dass der Vater einen Rechtsanwalt beauftragte, die Scheidung einzureichen.

Zwischen Vater und Tochter fand nach wochenlangem Schweigen eine Aussprache statt – schließlich war sie bereit, zugunsten des Familienfriedens auf ihre Tanzkarriere zu verzichten. Der Hausherr war einverstanden und zog die Scheidung zurück. Am nächsten Tag schon meldete Alfred Riefenstahl sie in der Staatlichen Kunstgewerbeschule an, wo sie sich dem Studium der Malerei widmete. Sie besuchte zwar fast täglich den Zeichenunterricht, doch der befriedigte sie nicht, ihre Leidenschaft gehörte weiter dem Tanz.

Dem Vater fiel die zunehmende Schwermut und Lustlosigkeit seiner Tochter auf; deshalb war er nach wie vor äußerst misstrauisch, sie könnte ihn wieder betrügen und heimlich Tanzstunden nehmen. So schickte er sie im Frühjahr 1919 in ein Mädchenpensionat nach Thale im Harz. Er gab der Leiterin des Pensionats, Mathilde Lohmann, die strikte Anweisung, die Tochter vom Tanzen fernzuhalten. Doch jene hatte heimlich ihre Ballettschuhe eingepackt und trainierte fleißig in ihrer Freizeit; außerdem war es im Pensionat guter Brauch, Theater zu spielen, und Frau Lohmann unternahm keinen Versuch, das junge Mädchen von der Schulbühne zu verscheuchen.

Nach einem Jahr im Harz sollte sich Riefenstahl auf ausdrücklichen Wunsch ihres Vaters für eine Berufsausbildung entscheiden. Die Tochter grübelte erfolglos über alternative Karrieremöglichkeiten nach – sie blieb beim Tanzen. Von nun an war sie nicht mehr von ihrem Ziel abzubringen, sie nahm den Kampf mit ihrem Vater auf. Sie ging taktisch klug vor. Sie wusste, dass er sie nur zu gern im eigenen Unternehmen als Sekretärin einstellen würde; daher schrieb sie ihm einen wohlüberlegten Brief und bot sich als Arbeitskraft an. Aber sie stellte eine Bedingung: Sie wollte wieder Tanzstunden nehmen, jedoch – und das hat sie sicherlich nur zähneknirschend formuliert – nicht mehr öffentlich auftreten. Zu ihrer großen Erleichterung ging der Vater auf dieses Angebot ein. Neben ihrer Bürotätigkeit trainierte sie dreimal in der Woche in der Grimm-Reiter-Schule.

Trotzdem blieb Alfred Riefenstahl misstrauisch, zumal ihm nicht entging, wie sehr seine Tochter das Tanzen liebte. Schließlich gab er auf, sie durfte nun ihrer Leidenschaft frönen. Der besorgte Vater redete Klartext mit ihr, wenn wir dem Zitat aus ihren Memoiren Glauben schenken wollen: «Ich persönlich», sagte er, «bin überzeugt, daß du nicht begabt bist und auch nie über den Durchschnitt hinauskommen wirst, aber du sollst später nicht sagen, ich hätte dein Leben zerstört. Du wirst eine erstklassige Ausbildung erhalten, und alles andere liegt bei dir allein.»[23] Diese Einschätzung des Vaters ist durchaus realistisch. Als Sportkenner war er sich darüber im Klaren, dass seine Tochter mit sechzehn Jahren eigentlich viel zu spät mit dem Tanzen angefangen hatte.

Alfred Riefenstahl setzte seine Tochter indes noch massiver unter Druck, indem er ihr einen entscheidenden Satz mit auf den Weg gab: «Hoffentlich muß ich mich nicht später zu Tode schämen, wenn ich deinen Namen an den Litfaßsäulen lesen sollte […].»[24] Damit aber stachelte er den Ehrgeiz der Tochter nur an; nun wollte sie ihm unbedingt beweisen, dass sie das Zeug zu einer großen Tänzerin besaß. Und sie wollte auf keinen Fall, das gelobte sie sich ausdrücklich, ihren Vater enttäuschen. Dieses Gelöbnis bestimmte ihr weiteres Leben, wobei es gleich mehrere Maximen implizierte: «Du darfst dir keine Mittelmäßigkeit erlauben (sondern mußt herausragende Leistung zeigen)! Du darfst keine billige Unterhaltung machen (sondern mußt hohe Kunst produzieren)! Du darfst nie anrüchig wirken (zumindest nicht in der Öffentlichkeit)!»[25] Leni Riefenstahl plagten zwar Versagensängste, aber die kompensierte sie mit ihrem unbändigen Ehrgeiz.

Der Vater ging schließlich mit ihr zu der russischen Primaballerina Eugenie Eduardowa. Die Künstlerin war vor den Wirren der russischen Revolution geflüchtet und hatte sich in der Emigration eine neue Existenz aufgebaut. Eduardowa, die in St. Petersburg große Erfolge gefeiert hatte, betrieb seit einem Jahr in Berlin eine Tanzschule, und schnell sprach sich herum, auf welch hohem Niveau die Meisterin ihre Schüler betreute und trainierte. Doch dieser klassische Unterricht allein, den Riefenstahl nun morgens absolvierte, konnte ihren Ehrgeiz nicht stillen. Nach dem Mittagsschlaf ging sie noch in die Jutta-Klamt-Schule, wo sie sich im Ausdruckstanz übte. Dieser hatte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allmählich als Gegenbewegung zum klassischen Ballett etabliert. Die Künstler suchten mit dem Ausdruckstanz, der auch als «freier Tanz» bezeichnet wurde, neue Wege, um die festgeschriebenen und erstarrten Formen des klassischen Balletts aufzulösen.

«Der Ausdruckstanz wurde von den Nationalsozialisten als ‹degenerierter› Tanz aus der Zeit der verachteten Weimarer Republik abgelehnt. Dennoch wurde er nicht als ‹entartet› bezeichnet, diese Diffamierung gab es offiziell erst ab 1937 – da war der Begriff ‹Ausdruckstanz› längst untersagt. Stattdessen sprach man von ‹Tänzerischer Körperbildung›, ab 1937 von ‹moderner Tanztechnik›.»

Gabriele Fritsch-Vivié: Tanz wird nur durch Tanz vermittelt: Mary Wigman (1886–1973). Berlin 2004, S. 71

Die Amerikanerin Isadora Duncan, eine der Galionsfiguren der neuen Bewegung, «tanzte in frei fließenden Gewändern, inspiriert von Botticelli-Figuren, feierte die Befreiung des Körpers als ästhetische Selbstvergewisserung, als Lebensgefühl, das sich an die antiken Vorbilder der Einheit von Körper und Geist anlehnte»[26]. Der Ausdruckstanz bot den Künstlern, im Unterschied zum reglementierten Ballett, ein Mittel, um die eigenen Gefühle expressiv und regellos auszudrücken. Dazu gehörten auch gezielte Provokationen, um den Regelkanon des klassischen Balletts zu unterminieren, auch zu parodieren. Die übliche Begleitmusik wurde zum Beispiel durch Xylophone und Trommeln unterstützt, zuweilen gab es auch Tänze ohne Musik.

Leni Riefenstahl kam der Ausdruckstanz, so wie er in der Schule von Jutta Klamt und ihrem Gatten Gustav Fischer-Klamt betrieben wurde, entgegen: «Dieser Ansatz war für die selbstverliebte Leni wie geschaffen. Sie ignorierte deshalb die künstlerische Marschrichtung, die der Vater vorgegeben hatte, und konzentrierte sich zunehmend auf den Ausdruckstanz.»[27] So konnte sich die Tochter nun endlich ohne strenge Regeln den Rhythmen der Musik hingeben.

Am nachhaltigsten wurde der Ausdruckstanz damals von Mary Wigman, Harald Kreutzberg, Gret Palucca sowie Dore Hoyer geprägt. Wigman gründete in Dresden 1920 eine Tanzschule. Riefenstahl zog es im Sommer 1923 auch dorthin. Ihre Abreise war allerdings nicht nur künstlerisch motiviert.

In der Garderobe des Berliner Schlittschuh-Clubs war sie 1921 dem berühmten Tennisspieler Otto Froitzheim begegnet. Er gewann zwischen 1907 und 1925 siebenmal den Titel bei den internationalen deutschen Tennismeisterschaften, außerdem 1912 die Weltmeisterschaft für Hartplätze. Die Neunzehnjährige fühlte sich von ihm in Bann gezogen. Zwar nahm sich die junge Sportlerin vor, alles daranzusetzen, dem Frauenhelden aus dem Weg zu gehen, doch es kam anders. Zwei Jahre später musste sie sich eingestehen, dass sie den Mann noch immer im Kopf hatte.

Sie bat ihren hartnäckigsten Verehrer, den Tennisspieler Günter Rahn, um seine Kupplerdienste – eine schwere Bürde für den verliebten Mann. Rahn sprach mit Froitzheim; der war einverstanden und ließ Riefenstahl mitteilen, er erwarte sie in seiner Berliner Wohnung. Sie traf dort zum vereinbarten Termin ein. Doch das erotische Intermezzo endete alles andere als harmonisch. Sie war entsetzt über seine Brutalität. Er drückte ihr nach dem Akt auch noch einen Geldschein in die Hand: «Wenn du schwanger werden solltest, kannst du es dir damit wegmachen lassen.»[28] Riefenstahl, zutiefst gedemütigt, zerriss den Schein und verließ fluchtartig die Wohnung und wenig später auch Berlin.