Leni Riefenstahl - Nina Gladitz - E-Book

Leni Riefenstahl E-Book

Nina Gladitz

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Beschreibung

Eine Karriere ohne Scham und Skrupel Leni Riefenstahl ist zweifellos eine Legende, deren zwiespältiger Ruf bis heute anhält. 1902 geboren, 2003 verstorben, ist sie eine Jahrhundertfrau im wahrsten Sinne des Wortes, der es auch nach Kriegsende gelang, sich als Ästhetin des absolut Schönen und Ausnahmetalent in einer männerdominierten Welt zu inszenieren. Allerdings war Riefenstahl keineswegs die naiv-gutgläubige, unpolitische Künstlerin, als die sie sich nach 1945 darzustellen wusste. Vielmehr verstand sie sehr gut die Möglichkeiten zu nutzen, die ihr nicht zuletzt ihre Vertrautheit und Nähe mit und zu den Größen der NSDAP ermöglichten. »Gladitz räumt mit einem Mythos auf.« SZ

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-60419-2© Orell Füssli AG, Zürich 2020© Piper Verlag GmbH, München 2022Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, ZürichCovermotiv: © picture alliance/CPA MediaKonvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte:

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

Teil 1

Manchmal sucht man sich eine Geschichte nicht aus – sondern die Geschichte sucht sich jemanden aus

Ein brisantes Schriftstück

Ein leeres Archiv und ein Sinto voller Erinnerungen

»Vergiss diesen Film«

Die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen – ein neues Archiv

Der Gerichtssaal als Bühne

Die Macht des Wortes

Die Brombeerpflückerin

Das Leben als Camouflage

Die Entführung des Willy Z.

Von der Naziliste der »Gottbegnadeten« zum»künstlerischen Genie und politischen Trottel«der Nachkriegsgeschichte

Goebbels lässt sich einen Film vorführen, von dessen Verbot er erst durch Riefenstahl erfährt

Teil 2

Aus den Trümmern eines Familiendramas erwächst eine internationale Karriere

Die geerbte Lüge

Harry Sokal: Der Vater des Erfolgs

Wie aus dem gescheiterten Traum einer»Untalentierten« eine Weltberühmtheit wird

Die Regisseurin, die keine ist, hat eine neue Liebe:Adolf Hitler

Kunst benötigten die Nazis nicht, sondern Propaganda für ihre Ziele

»Aus den Wolken kommt das Glück«

Arische Muskelspiele, ein schwarzer Held, gestohlene Bilder und ein verstümmelter Prolog – Riefenstahls Olympia Film

Riefenstahl schleicht sich in Zielkes Wohnung und lässt sich alle seine Fotos aushändigen

Aus dem olympischen Spiel wird tödlicher Ernst

Das Inferno – Die falsche Diagnose Schizophrenie

Teil 3

Riefenstahls Rettung vor dem Jüdischsein und Zielkes »Hinrichtung«

Rote Rosen von Goebbels – Riefenstahl lässt Zielke in seiner größten Not im Stich

Friedel wird zur Überbringerin der Hiobsbotschaft

Hitler kommt, um seine Freundin zu rehabilitieren

»Nitschewo« – »Macht nichts«

Riefenstahls großherziges Angebot und Zielkes Zurückweisung

Der Fremde in den Mühlen der Weltpolitik

Ein mysteriöses Filmprojekt

Ein Dieb im Gerichtssaal und die gestohlenen Fotos der Komparsen

Die endlose Bestrafung des klugen »Geisteskranken«

Riefenstahl reist nicht wegen eines Filmes, sondern wegen Hitlers Euthanasiebefehl nach Polen

Die Liste des Ambrosius Kuckelkorn

»Sir! Bin gekommen, um Sie abzuholen« – Zielkes zweite Verweigerung

Teil 4

Tiefland – Vom Einzug ins arische Paradies

Die Verwandlung einer Oper

Tiefland lässt Jud Süß weit hinter sich und wird zum wichtigsten antisemitischen NS-Film

Die Vernichtung des Paradieses

Der Regisseur von Jud Süß berät Leni Riefenstahl am Drehort von Tiefland

Tödlicher Stich in Frankreichs blutendes Herz

Was besagt die Zerstörung von Tiefland über die Künstlerin Riefenstahl?

Die Einstufung als Arier entschied über die Wahl der Komparsen

Zeugnisse aus der Vorhölle: Luigi Colani, Rosa Winter, Maria Krems, Zäzilia Reinhardt

Kunst als Menschenversuch

Casting von Todgeweihten – Riefenstahl bedient sich in den Lagern Maxglan und Marzahn

Das lustige »Zigeunerleben« im Dritten Reich

Die Rettung einiger Komparsen

Willy Zielke muss sich zwischen seinem Tod und dem Teufel entscheiden

Die Liebe findet Willy Zielke – der Tod wollte ihn nicht

Himmler schafft die mörderische Voraussetzung für Tieflands Paradies

Vom »Paradies« in Riefenstahls Gefangenschaft

Die Rettung von Zielke in letzter Minute

Teil 5

Die Riefenstahl-Renaissance als Widerschein des Nazismus

Der Krieg ist aus – die französische Besatzungsmacht begegnet einer mutigen Frau

Das lange wirksame Gift in Zielkes neuem Leben

Riefenstahls Karriere als Diebin von Urheberrechten

Das kenntnisfreie Geschwätz von Alice Schwarzer & Co über die feministischen Vorzeigefrau Leni Riefenstahl

Hollywood entdeckt die Tiefland-Komparsen

Helmut Newtons Blick auf Leni Riefenstahl

Willy Zielke schaut auf sein Leben

Dank

Anhang

Die Komparsenliste von Marzahn

Nachwort

Coda

Stichwortverzeichnis

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Register

Gewidmet ist dieses Buch an erster Stelle meinem geliebten Bruder Peter Krieg (1947–2009), der bedeutendsten Person in meinem Leben, mein bester Freund und Kollege, dessen visionäre Dokumentarfilme wie Bericht von einem verlassenen Planeten bereits vor mehr als vierzig Jahren thematisiert haben, was der heutigen Jugend mit »Fridays for Future« wieder ein Anliegen ist. Seine international bekanntesten Filme waren unter vielen anderen Nestlé tötet Babys und Septemberweizen, die beide zu den wichtigsten Dokumentarfilmen der siebziger und Achtzigerjahre in Deutschland zählen. Er war mir ein unbestechlicher Kritiker und zugleich Ermutiger, der mich immer darin unterstützt hat, dieses Buch zu schreiben.

Ebenso gewidmet ist das Buch zwei Freundinnen, Angehörige der Minderheit der Sinti, Manja Weiss-Schuecker und Gitta Martl, die nicht ahnen, wie bedeutsam ihr Anteil an diesem Buch ist.

Auch Hendrik Berinson, Galerist sowie bedeutendster Sammler der frühen Werke von Willy O. Zielke, ist das Buch gewidmet. Durch seine Unterstützung konnte es erst realisiert werden.

Unsterbliche Verdienste hat sich mein Pariser Jugendfreund Jean-Manuel Guyader für die Beschaffung zweier Faksimile aus Pariser Archiven erworben, ebenso Katherina Bader aus Paris.

Meine mehr als dankbare Erwähnung gilt meinen Agentinnen Lianne Kolf und Isabel Schickinger. Vor allem aber meinem Verleger Stephan Meyer, wie auch meinem Lektor Rüdiger Dammann und meinem Schlussredakteur Martin Janz.

Prolog

Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht.

Mark Twain

In der amerikanischen Zeitung Detroit News erschien am 21. Februar 1937 ein Interview des Reporters Padraic King mit Leni Riefenstahl unter dem Titel The Woman behind Hitler. Darin erklärte sie:

»Für mich ist Hitler der größte Mann, der jemals gelebt hat. Er ist wirklich tadellos, so einfach und außerdem so erfüllt von männlicher Kraft. (…) Er ist wirklich schön, er ist klug. Strahlen gehen von ihm aus. All die großen Männer Deutschlands – Friedrich der Große, Nietzsche, Bismarck – hatten Fehler. Auch Hitlers Mitkämpfer sind nicht makellos. Nur er ist rein.«

War Leni Riefenstahl betrunken, als sie dieses Interview gab? Aus heutiger Sicht möchte man das fast meinen, was jedoch einer verharmlosenden Sicht auf die damaligen politischen Verhältnisse, vor allem aber auf Riefenstahl gleichkommt. Es war ihre entschiedene Meinung über Adolf Hitler, die sich bis zu ihrem Lebensende nicht geändert hat.

Es gab allerdings einen Anlass für den hysterischen Jubel: Einen Erfolg, den sie nur ihm zu verdanken hatte. Denn der Artikel erschien genau acht Tage, nachdem sie den größten Triumph ihrer gesamten Karriere errungen hatte. Am 13. Februar 1937 hatte sie, nach vielen Intrigen, Lügen und nach einer als Einladung getarnten Entführung, ihren ärgsten Feind und Rivalen, den sie paradoxerweise zugleich so sehr bewunderte wie sonst nur Adolf Hitler, wenn auch aus ganz anderen Gründen, endlich niedergerungen und dorthin gebracht, wo er für sie am sichersten aufgehoben war, bis sie ihn wieder gebrauchen konnte. Es handelt sich um den genialen Pionier der Foto- und Filmgeschichte der zwanziger und Dreißigerjahre, Willy Zielke, der jedoch der Öffentlichkeit nie bekannt werden sollte, wofür Riefenstahl zu sorgen wusste; so wie sie schon seinen zweiten Film, Das Stahltier, hinter dem Rücken Goebbels hatte verbieten lassen, damit dieser nicht erfuhr, wer jener Zielke war. Hätte sie ihn, der gleich zu Beginn seiner sechsjährigen Gefangenschaft in Psychiatrien und Lagern zwangssterilisiert wurde, nicht ins Abseits gedrängt, wäre ihre Karriere womöglich an ihrem mangelnden Talent und ihren unzureichenden Erfahrungen gescheitert. Wäre er, dem sie weder in künstlerischer noch in filmästhetischer Hinsicht das Wasser reichen konnte, weiterhin ein freier Mann geblieben, hätte sie befürchten müssen, das ihr von Hitler geschenkte Königreich des Propagandafilms möglicherweise zu verlieren – was ihre einzige Sorge und größte Angst war, seit sie Zielkes Filme kannte: Die Wahrheit von 1932 und Das Stahltier von 1934. Vor allem in letzterem sah sie ein gefährliches Konkurrenzprodukt zu ihrem Triumph des Willens. Diese Gefahren und Risiken waren durch seine Einweisung nun endlich gebannt.

Seit fünfundsiebzig Jahren sind alle Filmhistoriker und Filmografen, mit wenigen Ausnahmen, wie Kinder anbetungsvoll hinter Leni Riefenstahl her getippelt und haben sich in endloser Bewunderung ihren Schauermärchen über ihre Karriere und damit unbeabsichtigt ihrer Sicht auf das Dritte Reich angeschlossen. Ein wenig Kritik an ihr hat man zwar durchaus hier und da einfließen lassen. Aber da sie in ihren Memoiren von Willy Zielke nahezu ausschließlich von einem Geisteskranken spricht, befand man ihn, trotz seiner großen Bedeutung für die deutsche Filmgeschichte, keines Blickes für würdig. Schließlich untersucht man nicht die Lebensgeschichte eines Geisteskranken, wenn Frau Riefenstahl das nicht empfohlen hat. Es spielte ja keine Rolle, dass er mit der falschen Diagnose Schizophrenie hinter den Gittern der Psychiatrie saß.

Zu meinen Recherchen für meinen Dokumentarfilm Zeit des Schweigens und der Dunkelheit über Leni Riefenstahls Missbrauch an 120 in Lagern gefangen gehaltenen Sinti, der im September 1982 auf WDR 3 ausgestrahlt und im Jahr 1984 in einen Prozess von Riefenstahl gegen mich mündete, gehörte auch das Studium von tausenden Seiten Literatur von und über Leni Riefenstahl. Die Lektüre von Doktorarbeiten, Essays, Artikel, Interviews und Filmografien von Filmhistorikern in allen europäischen Sprachen hat Erstaunliches zutage gefördert, das so eindeutig nicht zu erwarten war. Seit der frühesten Beschäftigung der internationalen Filmhistoriker, angefangen mit den US-amerikanischen Autoren wie David Hinton und Charles Ford, aber auch in Frankreich und Deutschland, gab es fast nur apologetische Sichtweisen auf Riefenstahl, die teilweise auf regelrechte und daher auch unkritische Verehrung hindeuten. Seit dem Erscheinen ihrer Memoiren im Jahr 1987 kam zu dieser unkritischen Haltung noch hinzu, dass großzügig aus Riefenstahls Erinnerungen zitiert und von Kollegen abgeschrieben wurde. Ergebnisoffene Recherchen wurden seither nicht mehr vorgelegt.

Davon war nicht nur Willy Zielke betroffen, sondern ebenso ihre 120 anderen Opfer, die ebenfalls vollkommen ignoriert wurden, obwohl durch den Prozess von 1984 Dokumente in Hülle und Fülle vorlagen. Aber auch dafür hat sich die Filmgeschichtsschreibung nicht interessiert. Am stärksten betroffen von dieser Haltung, Leni Riefenstahl durch Unterlassung von Recherchearbeit möglichst nicht zu kritisieren, war ihr einziger, während des NS-Zeit entstandener Spielfilm Tiefland, für den die 120 Sinti als Komparsen missbraucht worden waren. Es ist der einzige Film, über den keine Filmanalyse existiert, mit der Folge, dass der Film seit 75 Jahren als harmlose Liebesschnulze in den Bergen durch die einschlägige Filmliteratur geistert. Dass es sich dabei in Wirklichkeit um den für die Nazis wichtigsten antisemitischen Film handelte, der Jud Süß weit in den Schatten stellt, ist aufgrund des mangelnden Interesses an diesem Film nie aufgefallen.

Riefenstahls Komparsen wurden zwar zu achtzig Prozent in Auschwitz vergast, aber für geisteskrank hielt man sie im Vergleich zu Willy Zielke nicht, wie sie ihn in ihren Memoiren fast ausnahmslos darstellt. Dafür hatten die Komparsen einen anderen gravierenden »Mangel«: Sie waren alle sogenannte »Zigeuner« und gehörten dem Volk der Sinti an. In Riefenstahls Umgang mit ihren Opfern finden sich alle Merkmale einer Täterkarriere. Obwohl sie diese Menschen immer wieder bezichtigte, Täter zu sein, waren sie Riefenstahls Opfer. Es ist ausschließlich ihren Erinnerungen zu verdanken, dass die Dokumente gefunden werden konnten, die zweifelsfrei darüber aufklärten, wer hier gelogen hatte und aus welchem Grund. Auch wenn Riefenstahl vor Gericht verlangte, dass die Erinnerungen der Sinti aus dem Film entfernt werden müssten, hatte sie damit keinen Erfolg, weil der Richter feststellen konnte, dass zwischen den Aussagen in meinem Film und den Dokumenten kein Unterschied bestand. Das führte am Ende dazu, dass Riefenstahl nach angeblich 50 gewonnen Prozessen zum ersten Mal einen verlor. Bis auf einen entscheidenden Punkt, der hier noch eine große Rolle spielen wird und auf die Frage hinausläuft: Was hat Leni Riefenstahl über den Holocaust gewusst?

Es ist Zeit, den Mythos um Leni Riefenstahl infrage zu stellen. Nur wenige, die zur Nazielite gehörten, haben es vermocht, die Attitüde der Verharmlosung nach Kriegsende so auf die Spitze zu treiben wie sie, die sich immer nur für Kunst und Schönheit interessiert haben will, nebenher aber ein siebzehnjähriges Sinti-Mädchen persönlich in ein Vernichtungslager deportieren ließ. Sie habe zwar von nichts eine Ahnung gehabt, wie sie bis an ihr Lebensende nie müde wurde zu betonen, dafür aber wusste sie alles über den Holocaust. Hierüber will dieses Buch berichten, dessen Geschichte aus der Sicht ihrer Opfer erzählt wird.

Dass mich Riefenstahl zwei Jahre nach der Fernseh-Ausstrahlung meines Filmes verklagte, machte mich – wenn auch ein ganzes Universum zwischen mir und den wirklichen Opfern liegt – in gewisser Weise ebenfalls zu einer Betroffenen. Aber auf ganz andere Weise, als sich das manche Leser und Leserinnen vielleicht vorstellen und deshalb womöglich mutmaßen, es handele sich hier um einen privaten Rachefeldzug gegen Leni Riefenstahl, der ja sowieso unnötig ist, weil ich den Prozess bis auf einen Punkt gewonnen hatte. Ich kann mich auch ganz offen dazu bekennen, dass ich Leni Riefenstahl nie der Mühe eines Rachefeldzuges für würdig erachtet habe. Das Motiv für meine jahrzehntelange Forschungsarbeit, die dieses Buch ausmacht, liegt viel weiter in meiner Vergangenheit zurück als jede Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl. Es handelt sich hier auch nicht um eine Riefenstahl-Biografie, die mich nie interessiert hat, sondern allenfalls um den ersten Versuch einer Riefenstahlforschung, die einer neuen Generation von Filmhistorikern vielleicht einmal nützlich sein kann.

Als ich etwas mehr als fünf Jahre alt war, also im Jahr 1951 oder 1952, belauschte ich heimlich ein Gespräch zwischen meiner Mutter und ihrer ältesten Schwester. Was ich dabei hörte, habe ich niemals vergessen, es brannte sich unauslöschlich in meine Kinderseele ein und hinterließ eine tiefe Wunde, die mit mir zusammen aufwuchs, mit mir älter wurde und mich durch mein ganzes Leben hindurch begleitet und zutiefst geprägt hat.

Die beiden Frauen sprachen von einem Ort, an dem unvorstellbar viele Menschen, Kinder, Frauen und Männer, in Gaskammern ermordet worden waren. Die Details, die sie sich erzählten, waren derart grauenvoll, dass ich fürchtete, jeden Moment tot umfallen zu müssen oder in eine Art Trance versetzt zu werden, aus der ich fast keinen Ausgang mehr fand. Verstärkt wurde meine in Verzweiflung geratene Fantasie noch durch die Frage, wer das alles zu verantworten hatte. Ohne auch nur einen Moment zu zögern, war ich der festen Überzeugung, dass meine Mutter an jenem unbekannten Ort an den Mordorgien beteiligt gewesen sein muss. Es war die verzweifelte Antwort eines Kindes, das von Geburt an unter der Eiseskälte seiner Mutter litt. Ich bekam zwar zu essen, doch Zuwendung und Liebe oder das Gefühl von Geborgenheit gab es nicht. Im Gegenteil: Immer wieder bekam ich ihre Standardbeschimpfung zu hören: »Du bist nicht meine Tochter, sondern Zigeunern aus dem Wagen gefallen.« Natürlich wusste ich damals noch nicht, was »Zigeuner« waren. Ich hielt es für einen Familiennamen, so wie Müller oder Meier. Ich konnte mir sowieso nie vorstellen – egal wie groß meine Sehnsucht danach war –, dass meine Mutter tatsächlich meine Mutter sei, weil sie selbst es ja so vehement ablehnte, diese zu sein. Sie war nicht nur geprägt von den Erziehungsmethoden der Nazizeit, sondern verehrte überdies Adolf Hitler und all das, was an verheerender Kindererziehung durch ideologische Ratgeber der schlimmsten Sorte bis weit in die sechziger und Siebzigerjahre erhalten geblieben war. Diese seelischen und körperlichen Misshandlungen erlebten viele nach dem Krieg geborene Kinder. Als Fünfjährige konnte ich mir aufgrund all dieser Erfahrungen leicht vorstellen, dass meine Mutter eine der verantwortlichen Täterinnen für genau jene Gräuel war, von denen ich nun gerade aus ihrem Mund hörte. Natürlich wusste ich irgendwann später, dass dies nicht der Fall war, aber aus der intensiven Furcht, es mir vorstellen zu können, erwuchs für mich die geradezu logische Erklärung für ihren Umgang mit mir. Es war dies vielleicht die Klugheit der Intuition eines Kindes, das zwar nichts verstand, aber die tiefere Wahrheit fühlen konnte.

Meine kindliche Beschäftigung mit den Ermordeten sog mich damals in ein nicht enden wollendes Gedankenkarussell, aus dem ich nicht mehr zu entkommen vermochte, sodass ich all meine eigenen Erfahrungen auf sie projizierte. Was, so grübelte ich von diesem Tag an mehr oder weniger ununterbrochen, werden wohl die letzten Gedanken, Gefühle, Hoffnungen und Wünsche dieser Gequälten im Angesicht des Todes gewesen sein. Meine innere Stimme gab mir eine Antwort, die für ein fünfjähriges Mädchen wenig glaubwürdig klingen mag: Sie werden bestimmt gehofft haben, dass nach ihnen irgendjemand kommt, der von ihrem Schicksal, ihrer Todesangst und Verzweiflung berichtet.

Das war die Antwort. Aus heutiger Sicht scheint es mir kaum verwunderlich, dass ich durch einen puren Zufall sechsundzwanzig Jahre später von der Ausbeutung der 120 gefangenen »Zigeuner« durch Leni Riefenstahl nicht nur erfuhr, sondern so vielen von ihnen dann auch noch begegnen sollte – die ja, laut meiner Mutter, angeblich ohnehin meine Familie waren. Genauso wenig verwunderlich war meine Begegnung mit Leni Riefenstahl selbst, die meiner Mutter in so vielem ähnelte, und von ihr wegen meines Films auch noch bedauert wurde: »Warum kannst du denn keine Filme über Bienchen und Blumen machen?« Sie schien zu spüren, dass meine Auseinandersetzung mit Leni Riefenstahl auch etwas mit ihr zu tun hatte, auch wenn sie nie erfuhr, was ich als Kind damals heimlich belauscht hatte.

Mein Motiv, von den Gequälten zu erzählen, hat also seine Verankerung in jenem Meer von Menschenverachtung und Ungerechtigkeiten zwischen 1933 und 1945 sowie in der Verdrängung und Verleugnung dessen, was im Nationalsozialismus an Schrecklichem geschehen war. Auch darin ähnelten sich übrigens meine Mutter und Riefenstahl. Meine innere Distanz zu Riefenstahl war durch Verachtung geprägt. Schon deshalb wären Rachegefühle, die ich nie empfunden habe, bereits viel zu viel Nähe zu ihr gewesen. Mit einer derartigen Motivation hätte ich wohl kaum die so überaus große Solidarität und Unterstützung von so vielen Historikern und Experten erfahren können, die sich für einen persönlichen Rachefeldzug niemals hergegeben hätten. Sie haben ganz im Gegenteil erkannt, dass ich auf ein dunkles Stück Geschichte gestoßen war, das in krassem Widerspruch zu Riefenstahls internationalem Nimbus als eine der größten und genialsten Filmemacherin des 20. Jahrhunderts steht.

Diese Sichtweise, sie sei eine Große gewesen, hat sich allerdings als eine Geschichtsfälschung herausgestellt, die man mit Fug und Recht als das Weiterleben einer Art Nazi-Prosa bezeichnen kann, deren einzige Aufgabe darin bestand, die kollektive Selbstwahrnehmung der Deutschen als Opfer darzustellen und zu zementieren. Erst waren die Deutschen die Opfer Hitlers, von dessen Verbrechen man angeblich nichts gewusst hatte, dann der alliierten Siegermächte, die die Deutschen umerziehen wollten. Und am Ende kam noch die Vorstellung hinzu, Opfer jüdischer Überlebender geworden zu sein, denen man Auschwitz nicht verzeihen konnte. Daran hat nicht nur Riefenstahl lebenslang geglaubt und es unzählige Male in Interviews, vor allem aber in ihren Memoiren geäußert. Auch heute scheinen jene Überzeugungen von der eigenen Unschuld schon wieder oder immer noch eine weitverbreitete Ansicht zu sein, der man nur mit Aufklärung und Informationen begegnen kann. Meine Recherchen fanden in zwei zeitlich weit auseinanderliegenden Phasen statt, wobei die erste für meinen Film bereits im Jahr 1977 begonnen hatte, dann aber unterbrochen wurde, weil sich während des Prozesses so viele Ungereimtheiten durch Riefenstahls Verhalten ergaben. Die zweite Phase begann erst im Jahr 2009. Auch dieses Buch beginnt mit der ersten Recherche, die in den Riefenstahl-Gladitz-Prozess von 1984 mündete, von dem Riefenstahl in ihren Memoiren später stolz verkünden sollte, sie habe ihn gewonnen.

Teil 1

Manchmal sucht man sich eine Geschichte nicht aus – sondern die Geschichte sucht sich jemanden aus

Ein brisantes Schriftstück

Im Sommer 1977 brachte mir der Briefträger ein brisantes Schriftstück, das ganz harmlos in einem gewöhnlichen Umschlag steckte. Darin die kurze Notiz eines flüchtigen Bekannten, er sei, auf der Suche nach etwas vollkommen anderem, im Archiv des Vereins der Verfolgten des Naziregimes auf den Brief eines Mannes namens Josef Reinhardt an eben diesen Frankfurter Verein gestoßen. Er könne ihn nicht so recht verstehen, weil er kein Filmemacher sei und somit auch keine Ahnung von Filmgeschichte hätte, weshalb er mich darum bat, der Sache auf den Grund zu gehen. Die Erfüllung dieser Bitte benötigte auf ihrer langen Reise von zwei Recherchephasen bis zum fertigen Buch ganze vierzig Jahre. Ich würde den Leser gerne dazu einladen, mich bei der Erzählung meiner Odyssee zu begleiten. Die Reise ist nicht unbedingt angenehm, ja, manchmal sogar schmerzhaft. Sie führt in die dunkelste Zeit unseres Erbes aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts von 1933 bis weit über das Kriegsende hinaus ins Jahr 2018, durch ein oft schier undurchdringliches Gestrüpp von Intrigen, Lügen, Verrat, krimineller Energie, Verbrechen, Todesängsten und Gefahr, zwischen Geltungssucht, Narzissmus, Konkurrenzneid und Machtgier ins Zentrum der alles beherrschenden Macht des Diktators Adolf Hitler und seiner engen Freundin und Propagandafilmmacherin Leni Riefenstahl. Es ist eine so noch nie erzählte Geschichte, die mit der industriellen Vernichtungsfabrik Auschwitz ebenso zu tun hat wie mit Euthanasie. Sie erzählt aber auch von einer großen Liebe, durch die der zweite Protagonist neben Leni Riefenstahl, Willy Zielke, von seiner Geliebten und späteren zweiten Ehefrau in einer mutigen Aktion aus Riefenstahls Haus vor dem sicheren Tod gerettet wird.

All das begann mit jenem Brief von Josef Reinhardt, den er im Jahr 1956 geschrieben hatte. Darin bat er um Unterstützung für sich und den größten Teil seiner Familie, welche als »Zigeuner«, wie sie damals bezeichnet wurden, als Insassen eines KZ-ähnlichen Lagers in der Nähe von Salzburg von Riefenstahl als Komparsen für ihren Spielfilm Tiefland ausgewählt worden waren. Für ihre Arbeit bei den Dreharbeiten in Krün bei Mittenwald in den Jahren 1940 bis 1941 wurden sie nie bezahlt. Dem Brief lagen zwei kleine Schwarz-Weiß-Fotos von erbärmlich gekleideten Kindern ohne Schuhe bei.

Gefangene Sinti im Lager Maxglan 1939.

Aus meinem Studium an der Filmhochschule München wusste ich natürlich, wer Leni Riefenstahl war. Aber von dieser Geschichte hatte ich noch nie gehört. Die Experten offensichtlich auch nicht, denn kein einziges Filmlexikon gab darüber Auskunft. Eine so unbekannte Geschichte war für meine Generation – die, wie ich, 1946 geboren, als der Krieg und das Morden zwar zu Ende waren, die Nazi-Mentalität aber immer noch ungebrochen in der Gesellschaft präsent war – von großer Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit ihr wurde ein zentrales Anliegen meiner Sozialisation und die einer ganzen Nachkriegsgeneration. Für eine ausgebildete Dokumentarfilmemacherin wie mich war dies erst recht ein Thema. Ich entschied also, einen Film über das Schicksal von Josef Reinhardt und seiner Begegnung mit Leni Riefenstahl zu machen, was ich mir allerdings wesentlich einfacher vorgestellt hatte, als es dann tatsächlich war.

Als sich das bei einigen Freunden herumgesprochen hatte, waren einige nicht wenig irritiert und äußerten ganz offen ihre Zweifel: »Du kannst Dich doch nicht auf einen Zigeuner verlassen!« Tatsächlich, so dachte ich, kann man das nicht? Und hielt ihre Bedenken für ordinären Alltagsrassismus. Was hätten sie wohl gesagt, wenn ich über die Geschichte eines überlebenden Juden einen Film hätte machen wollen? Auf Diskussionen ließ ich mich erst gar nicht ein, wenn solche Argumente vorgetragen wurden, weil ich schon wusste, was dabei herauskommen würde: Es gab eben zweierlei Arten von Opfern. Solche, die sich trotz der Shoah zu wehren wussten, weil sie ihre Rechte kannten, lesen und schreiben konnten, und die anderen, die, wie man von manchen Leuten zu hören bekam, wohl vergessen worden waren, vergast zu werden. Das waren die sogenannten »Zigeuner«. Sie konnten, zumindest damals, weder lesen noch schreiben, da sie nur über eine Oral History verfügten, sodass in ihrer Kultur seit Jahrhunderten alles nur mündlich tradiert wurde. Sie besaßen kein eigenes Land, waren nicht selten dunkelhäutig. Ungefähr zwölf Millionen von ihnen waren über den gesamten Globus verstreut.

Wenn ich über dieses dunkle Geheimnis der gemeinhin hoch verehrten Riefenstahl, ihren Opfern und ihrer Täterkarriere, von der niemand etwas wusste, einen Film machen wollte, konnte ich mich außer auf jenen Josef Reinhardt – den ich noch nicht einmal kannte – nur auf Historiker verlassen, die bekannt dafür waren, dass sie hervorragende Kenntnisse über die Filmgeschichte des Dritten Reiches besaßen. Dafür gab es damals nur einen Mann: Den Leiter des Filmarchivs im Bundesarchiv, der später Präsident des Gesamtarchivs wurde, Prof. Friedrich Kahlenberg. Er wurde international wegen seiner Kenntnisse hochgeschätzt. Wenn mir jemand bei meiner Arbeit weiterhelfen konnte, dann er.

Ein leeres Archiv und ein Sinto voller Erinnerungen

Nachdem ich mich bei Kahlenberg angemeldet hatte, fuhr ich nach Koblenz ins Filmarchiv. Auf meiner Reise dorthin war ich mir sicher, er würde eine Schublade nach der anderen aufziehen, um mir alle Dokumente zur Herstellungsgeschichte von Tiefland vorzulegen. Aber mein so naiver wie hoffnungsvoller Traum zerplatzte sofort wie eine Seifenblase, kaum dass ich meinen Recherchewunsch ausgesprochen hatte. Ich konnte fast nicht fassen, was mir Kahlenberg antwortete, nämlich dass er noch niemals von dieser Geschichte gehört habe und sie auch nicht glauben könne. Mir brach der Schweiß aus und mein Herz rutschte mir vor Schreck förmlich in die Hosentasche, als er sagte: »Es gibt absolut keine Dokumente zu Tiefland in unserem Archiv.« Ich wusste sofort, was das bedeutet. Ich müsste mich mutterseelenallein auf eine Suche begeben, ohne auch nur einen einzigen Experten an meiner Seite zu haben. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Mein Gefühl sagte mir, dass das eine Reise durch eine schier endlose Wüste werden würde, aber ohne Wasser im Gepäck. Das Schlimmste aber war, dass mir Kahlenberg nicht glauben wollte oder konnte. Aber da war ja noch der Brief dieses Josef Reinhardt, dem die kleinen Fotos beilagen. Wenn er mir schon nicht glauben konnte, wie würde er dann auf einen Brief eines »Zigeuners« reagieren?

Ich legte ihm alles auf den Schreibtisch und beeilte mich hinzuzufügen, wo der Brief gefunden worden war. Kahlenberg las sich die maschinengeschriebene Seite aufmerksam durch, sah sich die Fotos an und blickte mich verdutzt an: »Haben sie denn den Briefeschreiber schon ausfindig gemacht?«, wollte er von mir wissen. »Nein, und ich weiß nicht einmal, wo ich nach ihm suchen soll und ob er überhaupt noch lebt«, denn inzwischen waren ja bereits über zwanzig Jahre vergangen. Dass ich ohne diesen Zeugen und ohne ein einziges Dokument keinen Film über diese Geschichte würde machen können, wusste ich natürlich. Aber Friedrich Kahlenberg entließ mich mit den tröstenden Worten: »Sie können jederzeit auf meine Unterstützung zählen, wann immer es mir möglich ist.« Und daran hielt er sich auch. So schickte er mir später, als er bereits Präsident des Bundesarchivs war, ein bis heute unbekanntes Dokument zu Leni Riefenstahl.

Nach meiner Rückkehr aus Koblenz stand mir die schier unlösbare Aufgabe bevor, nach Josef Reinhardt zu suchen. Ich wusste nichts über Sinti, nur so viel, dass die Reinhardts eine immer schon in Baden-Württemberg beheimatete große Sippe waren. Und ich wusste auch, dass die Stadt Freiburg, in deren Nähe ich lebte, eine Siedlung für Sinti errichtet hatte, um ihnen die Integration in die Stadt zu erleichtern. Ich nahm mir also das Freiburger Telefonbuch und suchte nach dem Namen Reinhardt. Davon gab es eine große Anzahl. Ich schloss die Augen und fuhr mit dem Finger über all die Reinhardts und hielt irgendwo an. Es war eine Maria Reinhardt, die der Zufall ausgewählt hatte. Ich rief sie an und erklärte, wer ich sei und dass ich diesen Brief von einem Josef Reinhardt bekommen hatte. Ich fragte sie, ob sie ihn vielleicht zufällig kennen würde, weil ich unbedingt Kontakt zu ihm aufnehmen wolle. Sie beantwortete keine meiner Fragen, sondern sagte nur: »Rufen sie mich in einer Woche wieder an.« Ich war unglaublich aufgeregt und konnte es kaum erwarten, bis die Woche vorüber war. Als ich Maria Reinhardt wieder am Telefon hatte, sagte sie nur: »Hier haben sie seine Telefonnummer, er wohnt in Offenburg und erwartet ihren Anruf.« Ich war sprachlos. »Wie haben sie ihn denn so schnell gefunden?«, wollte ich wissen. »Ach, wissen sie, das war kein großes Hexenwerk, er ist ja mein Bruder.« Diese Art des merkwürdigen Zufalls sollte mir im Laufe der Jahrzehnte meiner Forschungen mehrfach begegnen, sodass ich bald kaum mehr an reine Zufälle glauben konnte, bis ich mich dazu entschloss, dieses Phänomen einfach gelassen über mich ergehen zu lassen beziehungsweise es einfach hinzunehmen.

Eine gute Woche später stand ich vor Josef Reinhardts Haus, wo ich mit großer Herzlichkeit von ihm und seiner Frau Renate in Empfang genommen wurde. Seppl, wie ihn alle nannten, war von Beruf Geigenbauer. Er war der Neffe eines der bedeutendsten Jazzmusikers des 20. Jahrhunderts, Django Reinhard, sowie der Cousin des legendären Jazzmusikers Schnuckenack Reinhardt. Auch Seppl spielte Gitarre, wenn auch Welten zwischen ihm und seinem berühmten Onkel lagen.

An diesem Nachmittag und Abend erzählte er mir von der Flucht seiner Familie nach Österreich, dem Leben in ständiger Angst vor Entdeckung in den Wäldern, in denen sie fast eineinhalb Jahre ausharrten. Von ihrem fürchterlichen Hunger und dass es oft nur Gras und Baumrinde zu essen gab und wie gefährlich es war, Feuer zu machen, weil der Rauch sie verraten hätte. Dass die Mutter im Wald auf Tannenzweigen ein Kind gebar und wie unerträglich schmerzhaft sich die eisige Winterkälte an den nackten Füssen der Kinder anfühlte, weil sie keine Schuhe mehr hatten, die ihnen passten. Er berichtete mir, wie sie dann schließlich doch entdeckt und verhaftet wurden, zuerst in den Pferdeboxen der Trabrennbahn zusammengepfercht wurden und dann in ein provisorisches Lager bei Salzburg kamen, das sie dann selbst zu einem KZ-ähnlichen Lager ausbauen mussten, mit Stacheldraht und Wachturm.

Ich erfuhr von ihm, wie er und seine Mitgefangenen zum ersten Mal Leni Riefenstahl im Lager sahen, als sie in Begleitung mehrerer SS-Offiziere und des SS-Lagerleiters Dr. Anton Böhmer das Lager betrat, um sich die zuvor von Böhmer vorausgewählten Komparsen vorführen zu lassen. Seppl berichtete mir von den Dreharbeiten zu Tiefland und welch fürchterlichen Situationen die vielen Frauen und Kinder dort ausgesetzt waren, weil die hygienischen Bedingungen und die Ernährung sogar noch schlechter waren als im Lager: »Wir Kinder waren oft unvorstellbar hungrig und vor allem waren wir erschöpft, weil wir von Sonnenaufgang bis Untergang für den Film arbeiten mussten.«

Schon bei unserer ersten Begegnung begriff ich, warum niemand etwas von diesem Missbrauch Riefenstahls an den wehrlosen Gefangenen wusste. Dafür gab es drei einfache Gründe: Der erste bestand darin, dass Leni Riefenstahl bereits drei Jahre nach Kriegsende, im Jahr 1949, ihren ersten Kritiker, den Verleger Kindler, der ebenfalls über diesen Missbrauch öffentlich in seiner Zeitschrift Revue berichtet hatte, verklagte. Riefenstahl gewann den Prozess. Wie man aus der schriftlichen Urteilsbegründung, die ohne die geringste rassistische Zurückhaltung formuliert war, herauslesen kann, wurde sie von der Öffentlichkeit, vor allem aber vom damaligen Richter, als die eigentliche Witwe und Nachlassverwalterin des »Führers« Adolf Hitler betrachtet. Der zweite Grund war, dass Leni Riefenstahl nach eigenen Aussagen anschließend rund fünfzig Prozesse gegen jeden führte, der irgendetwas über sie schrieb, was ihr nicht gefiel. Jeder Journalist und Filmhistoriker, jeder Zeitungs- oder Buchverleger verzichtete daraufhin lieber, über Riefenstahl zu berichten. Und ich darf in aller Bescheidenheit von mir behaupten, dass es wohl niemand anderen gibt, der besser darüber Bescheid weiß, welche Folgen es hat, wenn man Riefenstahls Täterkarriere öffentlich macht. Aus dem Kindlerprozess wusste man auch bereits, wie der Richter in diesem Prozess mit der einzigen Zeugin – der Auschwitzüberlebenden Sintezza Johanna Kurz, geb. Winter, umgegangen war. Er schleuderte ihr an den Kopf: »Sie werden doch nicht im Ernst denken, dass man einer Zigeunerin mit einer Auschwitznummer auf dem Arm glaubt.«

Das hatte mir Helmut Kindler nicht nur in einem unserer vielen Telefonate erzählt. Auch das schriftliche Urteil des Richters, das ich ebenfalls von ihm bekommen hatte, wie auch das ungeheuerliche Gutachten, das sich Riefenstahl für diesen Prozess hatte anfertigen lassen, bieten nicht den geringsten Anlass, Kindlers Aussage zu bezweifeln. Im Urteil ist fein säuberlich das Heer von Riefenstahls Mitarbeitern aufgelistet, von denen sich jeder einzelne mit eidesstattlichen Versicherungen, bei denen einem noch heute die Haare zu Berge stehen, darin überboten, Riefenstahls fürsorglichen und liebevollen Umgang mit ihren Komparsen zu schildern. Was in den Schilderungen von Riefenstahls Aufnahmeleiter Waldi Traut dazu führte, dass er vor Gericht behauptete, dass ein nachweislich in Auschwitz ermordeter Komparse, den er beim Namen nennt, ihn nach dem Krieg persönlich aufgesucht und sich bei ihm herzlich für die »warmherzige Behandlung« bedankt habe. Ähnliches gab auch die Bäuerin an Eides statt zu Protokoll, die später in meinem Film auftritt, und in deren Heuschober die Gefangenen, zusammengepfercht wie Tiere, auf dem Boden auf Stroh schlafen und sich einen Eimer für ihre Notdurft teilen mussten, weil sie nachts eingesperrt wurden. Dafür hätten sie aber zum Frühstück »frische Buttersemmeln mit Marmelade und Radiomusik« kredenzt bekommen. Auf das historisch einzigartig zu nennende Gutachten gehe ich später noch einmal ein. Alle diese Dokumente sind ein Spiegel der geistig-moralischen und politischen Zustände in Deutschland unmittelbar nach Kriegsende. Was allerdings Riefenstahl anbetrifft, so hatte sich an ihrer Haltung und Sichtweise auch nach dreiundvierzig Jahren nichts geändert, da sie dasselbe Gutachten in meinem Prozess zu ihrer Verteidigung einsetzte.

Filmhistoriker sowie die überwiegende Anzahl von Journalisten hielten sich entweder für zur gut beziehungsweise bereits ausreichend informiert, um sich mit Leuten, die anscheinend nicht zu uns gehören, an einen Tisch zu setzen, um ihnen zuzuhören. Ich wusste zwar, auf welch dünnes Eis und schmalen Grat ich mich mit meinen Recherchen im Umfeld der Sinti begeben hatte. Aber ich hielt die übliche Herangehensweise gleichzeitig für eine absolut lächerliche geistig-moralische Bankrotterklärung, hinter deren Haltung mir zu viel Vorurteil und Dünkel steckte. Ich war einfach nicht dazu bereit, Menschen in zwei Kategorien einzuteilen, in denen eben die einen hinten runterfallen, nur weil sie keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben und aufgrund ihrer eigenen und historischen Erfahrungen wenig Anlass haben, Menschen der Mehrheitsgesellschaft zu vertrauen.

Dass man Riefenstahl nicht ausschließlich mit Dokumenten vom Thron stoßen konnte, auf den sie mit Sicherheit nicht gehört, zumal sie obendrein eine eher unbegabte und schlechte Filmemacherin war, wie sich noch zeigen wird, war ja bereits bei meinem Besuch im Bundesarchiv mehr als deutlich geworden. Dass sich allerdings Nazi-Ideale und Menschenverachtung auch noch unter dem Deckmantel einer Filmikone ausbreiten konnten wie ein Feuer, das nur darauf wartete, die letzten Augenzeugen zu verschlingen, war nicht das, was zu meiner Kultur nach dem Ende der Nazidiktatur gehörte. Riefenstahl und Konsorten, samt ihren Gönnern und Apologeten in der Filmwissenschaft, waren immer Sieger über ihre Opfer in einem ungleichen Spiel geblieben, bis Josef Reinhardt und ich uns begegneten und beschlossen, das gemeinsam zu ändern.

Josef war ein Mann von unübertroffenem Mut, großer Solidarität und einem beneidenswert starkem Selbstbewusstsein, der das alles schon längst durchschaut und erkannt hatte. Und trotzdem oder gerade deshalb besaß er viel Selbstironie. Sein köstlicher Witz war ebenso überwältigend wie seine Offenheit und Herzlichkeit. Ich habe ihm und seinem Volk die wunderbarsten Momente meines Lebens zu verdanken, die nicht das geringste mit sogenannter »Zigeunerromantik« zu tun hatten. Vor allem aber habe von ich Seppl die vielleicht wichtigste Lehre meines Lebens gelernt: niemals aufgeben! Unvergessen ist mir seine Reaktion, wenn wir in seinem prächtigen BMW mit beheizbaren Sitzen durch fremde Orte fuhren – ein Navi gab es damals noch nicht – und er sich ratlos während des Fahrens zu orientieren versuchte und plötzlich versehentlich mitten auf einer gut befahrenen Kreuzung landete. Dann zitierte er immer seinen Vater Jakob, der auf der Flucht in unvergleichlich gefährlicheren Situationen immer gesagt hatte: »Jetzt sind wir alle verloren.« Seppl ergänzte dann immer, »aber aufgegeben haben wir nie«.

Bereits am ersten Abend meines Besuches bei ihm fragte ich ihn, ob er bereit wäre, mit mir einen Film über seine Erlebnisse bei Tiefland zu machen? Er sagte sofort zu. Weder damals noch heute war oder ist es in der Mehrheitsgesellschaft üblich, sich mit einem Sinto zusammenzusetzen und schon gar nicht, sich zu solidarisieren. Aber ich konnte über so viel Ignoranz und Scheuklappendenken immer nur lachen, egal was man von mir dachte oder in Zukunft denken wird. Meine Vorurteilslosigkeit war vermutlich – welche Ironie der Geschichte – ausgerechnet der rassistischen Beschimpfung meiner Mutter zu verdanken, ich sei gar nicht ihre Tochter, sondern die von »Zigeunern«.

Riefenstahl schrieb zu Tiefland in ihren Memoiren. Diese erschienen allerdings erst zehn Jahre nach dem Kennenlernen von Seppl und mir. Mein Dokumentarfilm über das Schicksal ihrer Komparsen, Zeit des Schweigens und der Dunkelheit, wurde genau in dem Jahr (1982) auf WDR 3 ausgestrahlt, in dem Riefenstahl ursprünglich ihre Memoiren veröffentlichen wollte. In letzter Minute ließ sie dieses Vorhaben stoppen. Sie wollte die Kontrolle und Interpretationshoheit über ihre Erinnerungen behalten, die der Journalist und Essayist Fritz Raddatz in einem herrlichen Verriss in der ZEIT vom 9. 10. 1987 »die Erinnerungen einer Hofschranze« nennen sollte –, und holte zum großen Gegenschlag aus. Sie leitete ein Gerichtsverfahren gegen mich ein, das 1984 begann. Erst danach wurden ihre Memoiren 1987 veröffentlicht. Dort liest man über ihren Film Tiefland: »Die Geschichte dieses Filmes, eine Odyssee, wäre für sich allein schon ein Filmstoff.« Dieser Meinung waren Seppl und ich ebenfalls, auch wenn er eine ganz andere Geschichte zu erzählen hatte als die, die Riefenstahl in ihren Erinnerungen zum Besten gab.

»Vergiss diesen Film«

Als mein Freund und Kollege Thomas Mitscherlich aus Hamburg extra zu mir nach Freiburg kam, um mich eindringlich davor zu warnen, diesen Film zu machen, war ich enttäuscht, weil ich mir das genaue Gegenteil davon, nämlich seine Ermutigung erhofft hatte. Er war aber aus einem sehr viel konkreteren Grund beunruhigt. Er bezweifelte nicht die Glaubwürdigkeit von »Zigeunern«, sondern warnte mich inständig davor, mich mit jemandem wie Riefenstahl öffentlich anzulegen. Eindrucksvoll schilderte er mir, wie schlecht es seinem Vater, dem berühmten Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich ergangen war, nachdem er 1964 das gemeinsam mit seiner zweiten Frau Margarethe Mitscherlich verfasste Buch Die Unfähigkeit zu trauern veröffentlicht hatte. Dieses Buch hatte, nebst anderem, Riefenstahls hartnäckige Verleugnung ihrer Unterstützung des NS-Regimes zum Thema gemacht, weshalb das Autoren-Paar vielerlei Anfeindungen ausgesetzt gewesen war. Thomas prophezeite mir: »Du wirst alles verlieren, man wird Dir nie verzeihen, dass Du die Ikone Riefenstahl ankratzt und Dich dafür auch noch mit ›Zigeunern‹ solidarisierst.« Er bat mich noch einmal, diesmal ging er sogar zu meinem Erschrecken vor mir auf die Knie: »Vergiss diesen Film!«

Wie berechtigt die Befürchtungen von Thomas waren und wie hellsichtig seine Prophezeiung, erfuhr ich erst Jahr später, als Riefenstahl mich verklagte und ein langer Prozess vor einer Zivilkammer im Jahr 1984 begann. Es war aber dennoch richtig, nicht auf ihn gehört zu haben. Formal richtete sich Riefenstahls Klage zwar gegen mich, vor allem aber gegen die Erinnerungen der Überlebenden. Sie erreichte für den Film nach seiner Erstausstrahlung 1982 per einstweiliger Verfügung ein Sendeverbot und stellte als erstes einen Strafantrag vor einem Münchner Gericht gegen mich, weil sie sich dort – wie schon 1948 – einen günstigen Ausgang und bessere Chancen ausgerechnet zu haben schien. Aber hätte der Prozess, der zwei Jahre später begann, nie stattgefunden oder wäre ich auf einen vom Richter zunächst angebotenen Vergleich eingegangen, wäre die Geschichte der von Riefenstahl missbrauchten und in Auschwitz ermordeten Komparsen nie bekannt geworden. Das wäre unverzeihlich und durch nichts zu rechtfertigen gewesen.

Und so kam es, dass Josef Reinhardts Geschichte am 20. November 1984 stellvertretend für alle anderen, die sich, weil sie ermordet worden waren, weder in meinen Film noch im Prozess äußern konnten, nun allerdings im Freiburger Landgericht vor dem noch relativ jungen Richter Günther Oswald zur Verhandlung stand – und nicht in München. Mein Anwalt Albrecht Götz von Olenhusen hatte den Münchner Staatsanwalt angerufen und ihn gefragt, ob er Interesse an einem Strafverfahren hätte, in welchem auch ein Gutachten eine Rolle spielt, welches von einem einstigen Lagerleiter und SS-Mann für Riefenstahl angefertigt worden war. Der Staatsanwalt soll hörbar die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen gesagt haben: »Um Himmels Willen, die soll klagen, wo sie will, aber nicht hier.«

Riefenstahl hatte mich in vier Punkten verklagt, zielte aber eigentlich auf ihre einstigen Komparsen, denen sie den Mund verbieten wollte. Sie verlangte, dass alles, was Seppl und die anderen Überlebenden in meinem Film ausgesprochen hatten, entfernt werden müsste. Ich sollte mich also dazu bereit erklären, den letzten Zeugen, die zwei Lager überlebt hatten und deren Volk zu Hunderttausenden ermordet worden war, nun auch noch die Zunge abzuschneiden und mich tatkräftig daran beteiligen, Riefenstahls Karriere als Täterin zu vertuschen. Das kam natürlich nicht infrage.

Die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen – ein neues Archiv

Bis zu diesem Tag, dem 20. November 1984, lag allerdings bereits ein alles andere als einfach zu entscheidender innerer Konflikt hinter mir. Nachdem mein Film Zeit des Schweigens und der Dunkelheit 1980 nach dreijährigen Recherchen abgedreht und auch schon geschnitten war, überkamen mich immer größere Zweifel. Konnte ich mich ausschließlich auf die Erinnerungen von Betroffenen stützen, an deren Wahrhaftigkeit ich selbst nicht den geringsten Zweifel hatte, ohne auch nur ein einziges Dokument ihres Missbrauchs vorlegen zu können, das ihre Aussagen untermauern würde, sollte es zu einem Prozess kommen? Mein Freund und Mentor, der aus dem schwedischen Exil nach Zürich zurückgekehrte Dokumentarfilmemacher Erwin Leiser, hatte mich immer wieder gewarnt und war besorgt. Ich würde Leute wie Leni Riefenstahl falsch einschätzen, womit er recht behalten sollte. Denn ich war der festen Überzeugung, dass sie es nicht wagen würde, noch in den Neunzigerjahren einen solchen Prozess zu führen. Erwin aber erklärte mir immer wieder: »Du kennst die Nazis nicht.« Ich begann langsam zu begreifen, dass ich ohne jeglichen Archiv-Beweis vor Gericht wohl schlechte Karten haben würde, denn Riefenstahl hatte seither nach eigenen Aussagen bereits fünfzig Prozesse geführt und alle gewonnen. Auch gegen Erwin Leiser hatte sie noch während seines Exils in Schweden geklagt. Er hatte einen der wichtigsten Filme nach dem Krieg über den Aufstieg der Nazis gemacht mit dem Titel Mein Kampf und dafür einige Meter aus Riefenstahls Film Triumph des Willens entnommen.

Mein letzter Ausweg aus dieser Situation war eine zweite Reise nach Salzburg, nachdem ich dort bereits mit Seppl gedreht hatte. Diesmal fuhr ich allein zu einem Besuch ins dortige Landesarchiv, wo ich irgendwelche Spuren zu finden hoffte. Ich traf auf den jungen Historiker Ernst Hanisch und bat ihn um Dokumente zum »Zigeunerlager« Maxglan. Es war auch deshalb ein denkwürdiges Gespräch, weil nun zum zweiten Mal eine ziemlich große Überraschung auf mich wartete. Denn der Historiker Hanisch zeigte sich genauso verblüfft wie einst Friedrich Kahlenberg. Ausführlich schilderte er mir, dass er nicht nur noch nie von diesem Lager gehört habe, sondern er erklärte mir darüber hinaus, dass es, selbst wenn meine Informationen zuträfen, gar keine Dokumente geben könne, weil die Nazis alle Unterlagen in eine neu geschaffene Registratur überführt und diese bei Kriegsende vernichtet hätten.

Ich erinnere mich noch gut an meine Heimreise von Salzburg nach Freiburg. Ich dachte ernsthaft darüber nach, den Film, obwohl er bereits fertig war, aus Angst vor den möglichen Konsequenzen eines wahrscheinlichen Prozesses einfach zu Hause liegen zu lassen und ihn nie zur Endabnahme und zur Sendung beim WDR abzuliefern. Was das bedeuten würde, wusste ich. Ich würde die Herstellungskosten von knapp 150 000 DM zurückzahlen müssen, was ich natürlich nicht gekonnt hätte. Aber ohne Beweise würde ich im Falle eines Gerichtsverfahrens womöglich noch mehr verlieren. Ich würde nicht nur meinen Kampf um die Wahrheit, sondern auch mein Haus verlieren, das ich – so wie jeder Dokumentarfilmemacher, der in Personalunion auch noch sein eigener Produzent war – über eine Bankbürgschaft dem Sender übereignen musste. Damit sicherte sich der Sender dagegen ab, sein Geld zu verlieren, falls ihm der Film nicht gefällt oder dieser so schlecht war, dass man ihn nicht senden konnte, oder für den Fall, dass der Filmemacher verstirbt oder sich mit dem Geld des Senders aus dem Staub machen würde. Sollte ich den Film aus Angst erst gar nicht abliefern, wäre es dasselbe, als wäre ich tot oder hätte mich in die Karibik abgesetzt. In diesem Fall müsste die Bank die eingetragene Hypothek auf mein Haus realisieren, um den Betrag an den Sender ausbezahlen zu können. Ich stünde am Ende also mit nichts da und wäre obendrein obdachlos.

Ich würde die Veröffentlichung meiner Suche nach der Wahrheit aufgeben müssen, wenn ich nicht riskieren wollte unterzugehen – ganz so, wie es mir mein Freund Mitscherlich vorausgesagt hatte. Was er nicht geahnt hatte, war, dass ironischer Weise alles genauso kam, weil ich, anstatt in die Karibik zu fliehen, den Film abgeliefert, der Sender ihn gesendet und ich den Prozess gewonnen hatte – und doch grandios gescheitert war und am Ende auch kein Haus mehr besaß. Denn von nun an weigerten sich die sich zumeist politisch links verortenden Redakteure im damals als fortschrittlich geltenden WDR, meinem Haussender, mir weitere Aufträge zu geben. Nachdem ich so Haus und Hof und alles was darin war nach vier Jahren ohne Einnahmen tatsächlich verloren hatte, meine Kamera, die ein Vermögen gekostet hatte, zu einem Schleuderpreis ebenso verkaufen musste wie meinen nicht minder wertvollen Schneidetisch, hatte ich es dennoch nicht gewagt, Thomas Mitscherlich davon zu erzählen, der überdies leider sehr jung verstarb.

Den Film nicht abzuliefern, erschien mir unmöglich. Wie hätte ich gegenüber Josef und den anderen Überlebenden, die in den Höllen verschiedener Lager um weit mehr als nur um ihre finanzielle oder berufliche Existenz hatten kämpfen müssen – um ihr nacktes Leben –, eine solche Entscheidung je rechtfertigen können. Genau so wenig hätte ich die Auseinandersetzungen mit meiner Elterngeneration rechtfertigen können, denen ich ihr moralisches Versagen in der Nazizeit vorwarf. Und was würde mein Lehrer, der holländische Filmemacher und Widerstandskämpfer Joris Ivens, zu dem mein Bruder und ich über Jahre nach Paris gepilgert waren, um von ihm zu lernen, zu mir sagen, wenn ich eine in Bild und Ton eingefangene Wahrheit aus Angst vor Konsequenzen unter den Tisch fallen lassen würde? Wenn ich mich je wieder im Spiegel anschauen wollte, ohne darin eine feige Person sehen zu müssen, die vor der ersten großen Herausforderung ihres Lebens einen Rückzieher machte, war klar, dass ich keine Wahl hatte, aber eben auch keine Dokumente, wie ich nun wusste.

Inmitten all dieser inneren Auseinandersetzungen traf ich die Entscheidung, trotz aller Nöte und Risiken weiterzumachen: Ich nahm alle Risiken auf mich, egal was kommen sollte, und entschied mich für den Film. Im Rückblick scheint es mir, als habe mich das Schicksal zunächst noch auf eine Probe stellen wollen, um meine Standfestigkeit zu prüfen und mir erst dann eine ganz und gar unerwartete Lösung anzubieten. Denn kurz darauf, genau eine Woche nach meiner Rückkehr aus Salzburg, rief mich Ernst Hanisch an. Er berichtete mir, dass ihm mein Besuch keine Ruhe gelassen und er sich im Archiv noch einmal auf die Suche gemacht habe. Und dabei habe er zu seinem allergrößten Erstaunen Dokumente gefunden, von denen er bislang überzeugt gewesen war, dass sie längst vernichtet seien. Darunter den Vertrag zwischen der SS-Lagerleitung Maxglan und der Riefenstahl-Filmgesellschaft, inklusive der Honorarregelung, in der stand, dass das Geld für die Komparsen diesen nicht ausgezahlt werden dürfte, sondern der SS zugutekommt. Außerdem alle Namenslisten mit den Namen der 53 zwangsrekrutierten Häftlinge – ausschließlich Kinder und Frauen und nur ein einziger Mann, soweit interne Korrespondenz bezüglich der Statisten und Aktenvermerke zu Riefenstahl. Ich wusste nicht, ob ich vor Erleichterung weinen oder lachen sollte.

Die Reise, die ich mit meinem Filmprojekt begonnen hatte, war auch zugleich der Versuch eines Heilungsprozesses für diejenigen, denen wir die Anerkennung des Verbrechens an ihrem Volk viel zu lange vorenthalten und verweigert haben. Nichts kann mehr ungeschehen gemacht werden, aber egal, welcher Generation man angehört, die Energie dessen, was geschehen ist, bleibt in der Kultur der Täter als Erbe ebenso erhalten wie in der Trauer und Verzweiflung der Opfer und deren Nachkommen. Heilung und Verzeihen werden erst möglich, wenn man den Schmerz, den man Anderen zugefügt hat, anerkennt und ausspricht, auch dazu sind Filme da. Das gilt für Individuen nicht weniger als für Kollektive.

Dieses archaische Gesetz, das auf Empathie gründet, stellte für mich die entscheidende Erkenntnis auf der ersten Reiseetappe dar und entwickelte sich zu einem außergewöhnlichen Geschenk. Nämlich dem Privileg, dass keiner der Überlebenden mich je mit diesem fragenden Blick ansah, hinter dem sich die Frage vermuten ließ, was wohl mein Vater in jener Zeit des Naziregimes gemacht hatte. Die Sinti dieser Generation, die durch die Hölle gegangen waren und die ich kennenlernen durfte, stellten sich alle als wahre Meister des Verzeihens heraus, allen voran Seppl, der mir auch noch seine Freundschaft und Solidarität schenkte.

Zugleich wusste ich aber auch, dass ich die Frage danach, wie ich mich wohl selbst verhalten hätte, wäre ich wie Leni Riefenstahl im Jahr 1902 geboren worden, weder mit der Arroganz der Nachgeborenen noch moralisch korrekt hätte beantworten wollen oder können.

Da es bereits seit Jahren Spekulationen darüber gibt, was der angebliche Beweggrund für meinen Film über Leni Riefenstahl gewesen sei – als müsste man sich für seine Themenauswahl rechtfertigen –, möchte ich das hier aufklären. Weder war es eine Idee von mir noch hatte ich aus eigenem Antrieb Anlass oder Interesse, mich mit Leni Riefenstahl zu beschäftigen. Im Rückblick sieht es einfach danach aus, als habe das Thema mich gesucht und nicht umgekehrt. Hinzu kam, dass es Ende der Siebzigerjahre und darüber hinaus nicht nur eine breite gesellschaftliche Debatte über die Verantwortung von Medizinern und Juristen während der Nazizeit gab, sondern auch über die unheilige Allianz von Kunst und Macht, Künstlern und Nazis. Sie spiegelte sich vor allem in dem Film Mephisto wider, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Klaus Mann. Ein ebenso großes Echo fand das Stück der französischen Theater- und Filmregisseurin Ariane Mnouchkine, die Klaus Manns Roman als Bühnenfassung herausgebracht hatte. Der Frage zum Verhältnis von Kunst und Macht sollte sich besser kein Filmemacher entziehen, jedenfalls ich nicht. So entstanden am Ende zwei Dokumentarfilme, in denen anhand zweier Beispiele dieselbe Frage gestellt wurde. In Teil eins ging es um die Frage von Macht und Kunst am Beispiel von Leni Riefenstahl, im zweiten Teil um ein Beispiel aus der Nachkriegszeit, woran sich erkennen ließ, dass es auch in der Filmkunst keine »Stunde Null« gegeben hatte, so wenig wie in den staatlichen Strukturen. Mir war bewusst, dass sich das vergiftete Erbe des Nationalsozialismus besonders im Kulturbetrieb wohlzufühlen schien, was schon an Riefenstahls Renaissance in der Öffentlichkeit erkennbar war.

Der zweite Teil meiner beiden Filme untersuchte am Beispiel von Werner Herzogs Dreharbeiten zu seinem Film Fitzcarraldo mit dem Titel Land der Bitterkeit und des Stolzes, wie ungebrochen und zugleich ähnlich der Umgang bestimmter Kulturschaffender bei der Durchsetzung ihrer Kunstauffassung während der Nazizeit und der Nachkriegszeit waren. Sie schienen sich auf dieselbe Vorstellung zu berufen. Ein Verhalten, das sich als Relikt aus der Zeit der Romantik darstellt, als man einem Künstler zugestand, dass er sich zur Herstellung eines Kunstwerkes jeden Mittels bedienen dürfe, das ihm geeignet schien. War er doch als Künstler ein Individuum, das mit besonderen Gaben ausgestattet war, für die die gewöhnlichen Maßstäbe von Ethik und Moral ihre Gültigkeit verlieren. Dieser Vorstellung fielen auch die Mitglieder des Indio-Stammes der Aguarunas und Huambisas am Rio Maranon zum Opfer, als sie sich zunächst weigerten, für Herzogs Film Komparsen zu werden. Er entschied sich, mit ähnlichen Methoden wie Riefenstahl dagegen vorzugehen. Herzog ließ das Militär rufen, das die Ureinwohner mit gezückten Maschinenpistolen zwang, einen Vertrag durch ihre Fingerabdrücke zu bestätigen.

Meine beiden Filme wurden am selben Abend hintereinander auf WDR 3 ausgestrahlt. Danach dauerte es allerdings noch Monate, bis Riefenstahl ihren Anwalt damit beauftragte, alles zu unternehmen, um eine weitere Verbreitung meines Filmes zu unterbinden: »Vor allem in Schulen«, wie sie ausdrücklich betonte.

Der Gerichtssaal als Bühne

Unmittelbar vor Prozessauftakt hatte Riefenstahl dem regionalen Fernsehsender SWR auf dem Gerichtskorridor ein Interview gewährt, in dem sie den Tenor ihrer Verteidigung anklingen ließ: »Das wollen wir doch mal sehen, wem man hier eher einen Meineid zutraut, mir oder dieser Handvoll Dahergelaufener« – womit sie natürlich die »Zigeuner« meinte, die ihr viele Jahre zuvor allerdings nicht »zugelaufen«, sondern von der SS zugeführt worden waren.

Entsprechend begann der erste Prozesstag in angespannter Atmosphäre. Riefenstahl hatte kräftig die Werbetrommel für sich gerührt. Aus dem voll besetzten Gerichtssaal schlug den fünf Zeugen und mir schiere Feindseligkeit entgegen. Zeitungs- und Fernsehreporter traten sich zumindest an diesem ersten Tag gegenseitig auf die Füße. Außer mein Anwalt und ich wurde nur Riefenstahl fotografiert.

Eng hinter ihr stand die Person, die sie an symbolträchtiger Bedeutung weit überragte: Adolf Hitler. Sie war die letzte Überlebende aus seinem Hofstaat, eine echte Freundin jenes nach ihren Schilderungen »größten Mannes der Weltgeschichte«, einem »herzensguten«, ehrenhaften und charmanten Mannes, der von den Verbrechen, die seine verschlagenen Mitstreiter hinter seinem Rücken begangen hätten, nicht die geringste Ahnung gehabt haben konnte.

Dass die überlebenden »Zigeuner« kein Blitzlicht wert waren, zeigte deutlich, welchen Wert man ihnen beimaß. Später erlahmte das Interesse der Medien, von wenigen Ausnahmen wie der Zeit oder der Badischen Zeitung abgesehen, vollkommen. Es hätte womöglich beim Leser ein gewisses Mitgefühl für die »Dahergelaufenen« erzeugt. Wie wenig die Fähigkeit zur Trauer vor allem bei der älteren Generation Platz hatte, machte mir meine Mutter klar: Am Ende eines der vielen traurigen Gerichtstage voller traumatischer Zeugenaussagen sagte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht zu mir: »Die arme Leni Riefenstahl.« Das schienen auch alle Filmhistoriker zu denken, die in ihren Filmografien alle über diesen Prozess berichten sollten, was sie aber nicht davon abhielt, in ihren Filmografien anlässlich des einhundertsten Geburtstages von Riefenstahl über den Prozess so manches zu schreiben, was nicht den Tatsachen entspricht.

Riefenstahl unmittelbar vor Prozessbeginn mit Horst Kettner (links). Verhandlung der Unterlassungsklage in Freiburg i. Breisgau.

Als Richter Oswald am ersten Tag versuchte, sich zunächst einen Eindruck vom »Corpus Delicti« zu verschaffen und meinen Film anzusehen, war an eine ungestörte Betrachtung gar nicht zu denken. Bei jedem Satz und jeder Szene, die Leni Riefenstahl missfielen, und derer gab es viele, stand sie laut schreiend auf und rief ins dämmrige Licht des Gerichtssaals: »Halt, halt, das ist eine unverschämte Lüge. Halten sie sofort den Film an, Herr Richter.« Richter Oswald ließ die Vorführung daraufhin unterbrechen und erklärte der »gnädigen Frau«, wie er Riefenstahl stets nannte, ein ums andere Mal geduldig, dass es keine andere Möglichkeit gäbe, als dass er sich den Film anschaue. Als das dann nach vielen Unterbrechungen gelungen war, machte sich betretenes Schweigen im Saal breit. Man hatte wohl erwartet, ich würde Riefenstahl im Film scheibchenweise tranchieren.

Der Richter wandte sich nun an Riefenstahl und sagte einen Satz, den sie mit Sicherheit nicht erwartet hatte und der zu einem Stimmungsumschwung im Saal führte. »Gnädige Frau, glauben Sie im Ernst, dass Ihnen noch jemals wieder so viele goldene Brücken gebaut werden, wie es in diesem Film versucht wurde?« Er bezog sich auf eine Kommentarstelle, in welcher ich die Frage gestellt hatte: »Warum hatte Riefenstahl nicht gesagt, dass sie zwar die Macht gehabt hatte, sich die Statisten aus zwei Lagern« – außer aus dem Lager Maxglan waren auch aus dem Zwangslager »Rastplatz« in Berlin-Marzahn einige Dutzend »südländisch aussehender« Sinti und Roma zwangsrekrutiert worden – »zu beschaffen; dass ihre Macht aber nicht ausreichte, um sie vor der Vernichtung zu bewahren?« Vermutlich hielt sie meinen Vorschlag zu ihren Gunsten für eine Falle, weil sie fürchtete, zugeben zu müssen, von Vernichtungslagern gewusst zu haben. Dabei ging es in diesem Satz lediglich um ihre Machtstellung, von der ich mir damals nicht im Ansatz vorstellen konnte, wie nahezu unbegrenzt und allumfassend sie tatsächlich gewesen war.

Nun galt es, die vier Klagepunkte abzuarbeiten und Zeugen anzuhören. Riefenstahl verlangte, dass vier Aussagen der Überlebenden aus dem Film entfernt werden müssten. Richtig sei stattdessen: 1. Sie selbst sei nie in einem Lager gewesen, um sich Komparsen auszusuchen, das habe ihr Assistent Harald Reinl erledigt. 2. Die Komparsen seien alle für ihre Arbeit entlohnt worden. 3. Sie habe niemandem versprochen, ihn vor der Einlieferung nach Auschwitz zu retten. 4. Das Lager Maxglan sei kein KZ oder KZ-ähnliches Lager gewesen, sondern ein Fürsorge- und Wohlfahrtslager. Drei dieser Klagepunkte wies Richter Oswald zurück, bis auf Seppls Behauptung in meinem Film, er habe Riefenstahl im Auftrag seines Vaters darum gebeten, die Familie vor der Deportation nach Auschwitz zu bewahren, was sie versprochen habe. Später werde ich noch einmal ausführlich darauf zurückkommen

Es gab nur noch einen einzigen letzten Zeugen, der nie in Maxglan und auch nie Komparse war, weil er von Dachau direkt nach Auschwitz deportiert wurde. Valentin Reinhardt, ein Cousin von Seppl. Seine Aussage ist erschütternd und durch die Art und Weise, wie sie zustande kam, unvergesslich. Sie wirft ein besonderes Licht auf den einzigen Punkt, den ich vor Gericht verloren hatte, aber auch auf Riefenstahls immer brüchiger werdende Behauptung, nichts über das weitere Schicksal der Sinti gewusst zu haben.

Die Macht des Wortes

Nachdem alle vier ehemaligen Komparsen ihre Aussagen gemacht hatten, rief Albrecht Götz von Olenhusen, mein Anwalt, Valentin Reinhardt in den Zeugenstand. Er war gerade deshalb ein besonderer Zeuge, weil er kein Statist gewesen war. Nachdem er Platz genommen hatte und stockend seinen ersten Satz sagte: »Ich war in Auschwitz…«, geriet Riefenstahl völlig aus der Fassung, sprang auf, fuchtelte laut schreiend mit den Armen und verlangte vom Richter: »Stoppen sie diesen Mann sofort, er darf nicht sprechen.« Plötzlich hatte sie nicht mehr diese für sie sonst so typische, süßliche Kleinmädchenstimme, sondern einen harten Befehlston, der mindestens zwei Oktaven tiefer lag als sonst. Mir blieb fast das Herz stehen, so furchterregend war ihr Ausbruch, aber noch schlimmer war ihre Forderung. Auch ihre Anwälte benahmen sich wie von Taranteln gestochen. Sofort beantragten sie ein Redeverbot für den Zeugen, mit der Begründung, seine Aussage hätte nichts mit der Sache zu tun, er sei ja nicht einmal Statist gewesen. Dass er in Auschwitz gewesen sei, sei in diesem Zusammenhang ohne Belang. Ich spürte, wie mir Adrenalin durch den ganzen Körper schoss. Genau darum war es ja gegangen, dass er in Auschwitz etwas von den Komparsen bei deren Ankunft erfahren hatte, worüber er aus eigener Erfahrung nichts wissen konnte.

Es war zwar nachvollziehbar, dass Riefenstahl ihren Namen unter keinen Umständen in einen wie auch immer gearteten Zusammenhang mit Auschwitz in Verbindung gebracht sehen wollte. Aber wenn sie nichts davon gewusst hatte, dass die meisten ihrer einstigen »Lieblinge« dort ermordet worden waren, und sie nie etwas von Auschwitz gehört hatte, wie sie immer betonte, gab es doch auch keinen Grund, nun so außer sich zu geraten.

Riefenstahls Reaktion auf Valentin Reinhardt zeigte, dass sie mit seiner Anwesenheit auf dem Zeugenstuhl zu ahnen schien, dass er in Auschwitz von den ankommenden Komparsen etwas erfahren haben könnte, was für sie offenkundig zum bedeutendsten Punkt ihrer Klage gehörte: ob sie den Verzweifelten – allen voran Seppl, der sie im Auftrag seines Vaters um Hilfe gebeten hatte – Versprechungen gemacht hatte, die natürlich wie ein Lauffeuer bei allen die Runde machten. Noch nie in ihrer Geschichte hatten »Zigeuner« Macht, und doch begann sich durch die Erinnerung der Überlebenden in diesem Verfahren ihre Macht über die »Vernichtung der Vernichtung«, wie der große französische Filmemacher Claude Lanzmann, der den Film Shoah gedreht hatte, die Verleugnung der Verbrechen bezeichnete, zu konstituieren, wofür es nur ihrer Worte bedurfte. Es war derselbe Vorgang, der sich schon im Umgang Riefenstahls mit Willy Zielke gezeigt hatte, der ebenfalls nur seine eigenen Worte zur Verfügung hatte, um seine Würde gegen sie zu verteidigen.

Richter Oswald musste eine Entscheidung zwischen den entgegengesetzten Anträgen treffen. Würde Valentin Reinhardt aussagen dürfen oder nicht? Immerhin war das einer der vier Klagepunkte von Riefenstahl gegen mich. Hatte sie ihren Statisten Versprechungen gemacht, ja oder nein? Dass sie sogar abstritt, auch nur den Gedanken daran gehabt zu haben, den vom sicheren Tod Bedrohten helfen zu wollen, war ohnehin unbegreiflich. Aber selbst diese Möglichkeit, die sie entlastet hätte, nahm sie nicht an, obwohl ich es ihr in meinem Filmkommentar angeboten hatte.

Der Richter zog sich mit seinen Beisitzern zur Beratung zurück. Valentin hatte schon seit Stunden apathisch und blass im Gerichtssaal gesessen. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn und es war ihm anzusehen, wie elend er sich fühlte und wie sehr es ihn quälte, sich seine Erinnerungen an Auschwitz ins Gedächtnis zu rufen. Ich schämte mich dafür, dass ich es nicht fertigbrachte, ihn einfach wegzuschicken, wusste aber zugleich, dass er sich aus freien Stücken zu seiner Aussage bereit erklärt hatte und dass es ausschließlich Seppl zu verdanken war, dass überhaupt so viele Zeugen gekommen waren. Es hatte nie ein Gespräch zwischen uns darüber gegeben, noch weniger eine Absprache. Ich hätte auch niemals gewagt, ihn darum zu bitten, weil ich es ihnen ersparen wollte, genau das durchzumachen, was man Valentin nun so deutlich ansehen konnte. Immer war ich davon ausgegangen, allein vor Gericht zu stehen. Aber sowohl für Seppl